Hastings House

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Wo ist Genevieve O'Brien? Spurlos ist die Sozialarbeiterin verschwunden, ebenso wie die Prostituierten, um die sie sich gekümmert hat. Privatdetektiv Joe Connolly befürchtet das Schlimmste: Wurden die Frauen Opfer eines Serienkillers? Seine Suche führt ihn zum Hastings House, einem historischen Gebäude in Manhattan, das schlimme Erinnerungen in ihm weckt. Vor einem Jahr kam hier sein Cousin ums Leben. Jetzt wohnt dort Archäologin Leslie McIntyre. Und während Joe der sensiblen Frau mit der seltsamen Gabe, Geister zu hören, näher kommt, gerät auch sie in Gefahr. Denn er ist nicht bei ihr, als sie eines Nachts einem Geräusch folgt, das aus den Tiefen des Kellers zu ihr dringt ...


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955761820
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Heather Graham

Hastings House

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Dead Room

Copyright © 2006 by Heather Graham Pozzessere

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-95576-182-0

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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PROLOG

Das Licht war gleißend hell.

Einen Moment lang schien es, als habe vor diesem Licht nie etwas anderes existiert und als könne es nichts Wunderbareres geben, als ihm entgegenzugehen. Das Leuchten strahlte eine köstliche, anziehende Wärme aus. Inmitten seines hellen Scheines nahm Leslie MacIntyre verlockende Schatten und Schemen wahr, und obwohl sie sie nicht klar erkennen konnte, schienen sie Trost zu spenden. Es war, als würden sie nur darauf warten, Leslie willkommen zu heißen und sie liebevoll in die Arme zu schließen.

“Hey, du.”

Plötzlich drang eine raue, aber liebevolle Stimme an ihr Ohr, die zugleich seltsam verzerrt klang. Leslie sah auf. Es war Matt, der sie angesprochen hatte. Sie wusste zwar nicht, wo sie beide sich befanden, doch solange sie und Matt Connolly zusammen waren, war alles in Ordnung.

Sie kannten sich seit ihren Kindertagen, als Leslie neu ins Viertel gekommen war. Auch wenn Matt ein paar Jahre älter war als sie, nahm er sie mit in seine Clique. Er nannte sie auf seine ganz eigene ironische Weise “die Rebellin”. Eine Weile amüsierte er sich über ihren Südstaatenakzent, bis er auf einmal erklärte, noch nie zuvor etwas so Reizvolles gehört zu haben. Jahrelang betete sie ihn regelrecht an. Doch als sie älter wurden, verwandelte sich ihre Verehrung für ihn in ein intensives Verlangen. Und dann war es ausgerechnet eine Tragödie, die ihre Hoffnungen und Träume Wirklichkeit werden ließ und die Matt schlagartig klar machte, dass das Mädchen, mit dem ihn so viele Jahre einfach nur eine gute Freundschaft verbunden hatte, erwachsen geworden war. Von diesem Tag an war nichts mehr so wie zuvor.

Sie beide waren ein tolles Paar, nachdem Leslie die Highschool abgeschlossen hatte, doch manchmal stand ihnen ihr eigener Stolz im Weg. Nach einem besonders heftigen Streit trennten sie sich. Matt wechselte an ein College in einem südlichen Bundesstaat, um dort Football zu spielen, während Leslie im Yankee-Territorium an der Universität von New York blieb. Obwohl Matt nach dem College sofort in die Profiliga aufgenommen wurde, entschloss er sich nach nur einem Jahr dazu, Sportjournalist zu werden. Leslie dagegen entschied sich für eine Laufbahn als städtische Archäologin in ihrer Wahlheimat New York. Dann verließ Matt die Sportredaktion, um eine Weile über Themen aus aller Welt zu berichten. Doch nach einiger Zeit kam er zurück und übernahm eine Kolumne über das Leben in New York City.

Dort war er ihr dann auch wieder begegnet, als sie im “Dreck wühlte” – wie er scherzhaft meinte. Monatelang versuchte danach jeder von ihnen, einen großen Bogen um den anderen zu machen. Obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschten als ein Wiedersehen, fürchteten sich doch beide vor den intensiven und leidenschaftlichen Gefühlen, die sie einst füreinander empfunden hatten. Ohne jede Vorwarnung stand Matt dann irgendwann nachts um drei Uhr vor Leslies Tür, und alle vernünftigen Argumente waren noch im gleichen Augenblick vergessen. Sie verlobten sich noch in derselben Nacht, und waren anschließend damit beschäftigt, ihre Hochzeit zu planen.

Erstaunlicherweise bewirkte ihre erneute Verbindung einen Karriereschub für jeden von ihnen. Matt schrieb einige seiner besten Zeitungskolumnen, als er seine Sicht der modernen Hochzeit schilderte. Leslie wiederum kam durch Matt mit einem Detective ins Gespräch, der nach einem älteren Mann suchte, der offenbar spurlos verschwunden war. Die Gegend in Brooklyn, in der man ihn zuletzt gesehen hatte, kannte sie genau. Dort existierten unzählige, seit Langem stillgelegte U-Bahn-Tunnel. Leslie half dem Detective nicht nur bei der Suche nach dem Mann, sie war es schließlich auch, die den Polizisten zu der Leiche führte.

Ihr kam es fast so vor, als wäre sie durch irgendeine Kraft zu dieser Stelle geführt worden. Doch sie sagte sich, dass die Logik und ihr Wissen über das städtische Untergrundsystem ihr den Weg gewiesen hatten. Auf jeden Fall interessierten sich von nun an auch etliche andere Detectives für sie. Matt hatte Leslie davor gewarnt, dass die Cops ihr Wissen über die gesamte unterirdische Infrastruktur der Stadt ausnutzen würden, um nach einer ganzen Reihe von vermissten Personen zu suchen. Matt nahm die Angelegenheit sehr ernst und schrieb auch in der Zeitung darüber. Einerseits verschwanden in New York ständig Leute, sodass diese Vermissten schon fast zum Alltag gehörten. Doch bei den jüngsten Fällen schien es einen Zusammenhang zu geben: Bei sämtlichen Vermissten handelte es sich um Prostituierte, die auf der Straße lebten.

In einem seiner Artikel hatte Matt unmissverständlich darauf hingewiesen, dass Polizei und Bevölkerung sich noch nie wirklich um das Schicksal der unterprivilegierten Gesellschaftsschichten gekümmert hatten. Erst wenn daraus eine Bedrohung für die Oberschicht wurde, begann sich diese zu sorgen – natürlich nur um ihr eigenes Wohl, nicht um das der anderen.

Leslie merkte ihm an, dass er sie in die Suche nach den Vermissten einbeziehen wollte. Doch sie hegte ernsthafte Zweifel daran, ihm dabei wirklich helfen zu können. So lieb es ihr auch gewesen wäre, so glaubte sie dennoch nicht daran, hellseherische Fähigkeiten zu besitzen.

Außerdem war da ja noch ihr Job, den sie für wichtig hielt und den sie liebte.

Und der sie hierher geführt hatte. Hierher? Wo genau war eigentlich dieses “Hier”?

Begonnen hatte der Abend im frisch renovierten Hastings House mit einer Spendensammlung, damit die Historische Gesellschaft, bei der Leslie angestellt war, die Ausgrabungen auf dem Nachbargrundstück fortsetzen konnte. Dort wartete eine archäologische Goldmine darauf, erforscht zu werden, und Leslies Arbeitgeber war froh darüber, in Matt Connolly einen so wortgewandten Kolumnisten auf seiner Seite zu haben. Immerhin führte die Stiftung eine erbitterte Auseinandersetzung mit einem großen Baukonzern, in der es um das Recht ging, das Gelände zuerst erkunden zu dürfen, bevor das Erdreich für einen weiteren Wolkenkratzer komplett ausgehoben wurde.

Bislang hatten sie und Matt an diesem Abend kaum Zeit gemeinsam verbracht. Selbst ihre Begrüßung war nur flüchtig ausgefallen, da beide sofort von interessierten Gesprächspartnern umringt waren.

Einige Vertreter des Bauunternehmens, das bereits alle umliegenden Grundstücke aufgekauft hatte, waren anwesend und täuschten vor, sie seien ja so erfreut darüber, einen Ort von solch historischer Bedeutung in ihre Planungen einbeziehen zu können. Greta Peterson, Society-Lady und Botschafterin der Historischen Gesellschaft, war gekommen, außerdem ein paar Broadway-Größen sowie einige lokale Prominente.

Hank Smith vom Baukonzern Tyson, Smith & Tyson hatte sich auf Matt gestürzt, kaum dass der eingetroffen war. Smith hoffte inständig, Matt umstimmen und ihn für die Interessen seiner Firma einspannen zu können. Auch die Stadtverwaltung und die Polizei hatten ihre Vertreter geschickt, darunter Captain Ken Dryer, den charismatischen Sprecher des Departments, sowie Sergeant Robert Adair, der die Ermittlungen wegen der verschwundenen Prostituierten leitete und die meiste Zeit des Abends damit verbrachte, Leslie zu beobachten.

Sie hatte an der entgegengesetzten Seite des Raumes gestanden und sich mit einem Kollegen unterhalten, bevor sie sich entschuldigte, um zu Matt zu gehen – doch was war das?

Auf einmal hockte er neben ihr, so wie damals vor vielen Jahren, als ein Football sie am Kopf getroffen und zu Boden geworfen hatte. Er lächelte genauso wie damals – auf eine interessierte und zugleich ironische Weise, so wie er es immer tat. Doch sein Lächeln wirkte irgendwie gequält, als könne er sich letzten Endes nur über sich selbst lustig machen.

“Matt”, murmelte sie, irritiert darüber, dass sie sich gar nicht daran erinnern konnte, wie sie durch das Zimmer zu ihm hinübergegangen war. Und wieso lag sie auf dem Boden? “Du bist hier.”

“Ja, ich bin hier”, entgegnete er leise. “Aber nur für diesen Augenblick.”

“Nur für diesen Augenblick?”, wiederholte sie ungläubig. Sie wollte ihre Hand nach ihm ausstrecken und sein Gesicht berühren. Er war schon immer so hinreißend gewesen, schoss es ihr durch den Kopf. Auf seine männliche, schroffe Art, wirkte er so natürlich – der ruhige Blick seiner blauen Augen, der großzügige Mund, die ausgeprägte Stirn und die hohen Wangenknochen. Matts Körper war hochgewachsen und so gut in Form, dass ihn jeder Mann hätte beneiden und hassen müssen. Andererseits war er jedoch ein so anständiger Kerl, dass ihn auch Männer gut leiden mochten, und die Frauen liebten ihn.

Trotz ihrer Verwirrung nahm Leslie wahr, dass sie sich langsam erhob und dem Licht zuwandte. Es besaß eine so ungeheure Anziehungskraft, dass sie sich ihr kaum widersetzen konnte. Sie fühlte, dass das Licht ihr versprach, dem Schmerz und den Zweifeln ein Ende zu setzen.

“Nein”, sagte Matt ruhig und fasste sie am Arm. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie wandte sich ihm wieder zu und war noch verwirrter als zuvor. Von dem Streichquartett, das bis eben noch gespielt hatte, hörte sie jetzt nichts mehr. Stattdessen schien es so, als würden Schreie und eine chaotische Unruhe aus weiter Ferne zu ihr durchdringen.

“Du dumme Rebellin”, flüsterte er tapfer lächelnd – Worte, die er auch früher schon so oft zu ihr gesagt hatte. “Du musst hierbleiben. Du kannst noch nicht gehen.”

“Und wer will mich davon abhalten, Matt Connolly?”, erwiderte sie. “Du etwa?”

“Deine Zeit ist noch nicht gekommen”, erklärte er mit Nachdruck. “Leslie, es gibt Dinge, die du erst erledigen musst. Du wirst nicht dem Licht folgen.”

“Hey, willst du mir etwa irgendwas verheimlichen?”, konterte sie ironisch. Als sie sich umsah, entdeckte sie andere Gäste, die ebenfalls aufstanden und in einer Reihe langsam auf das Licht zugingen. “Matt, ich gehöre zu dir. Wenn wir etwas machen, dann gemeinsam. Komm, ich muss mich in die Schlange stellen.”

“Wir stehen schon vom ersten Tag an in der Schlange”, sagte er mit sanfter Stimme. “Aber du bist noch nicht an der Reihe. Du musst hierbleiben. Manche Dinge sollen so sein, wie sie sind.”

“Manche Dinge sollen so sein, wie sie sind?”, wiederholte sie.

“Ja”, beteuerte er und drückte ihre Hand, woraufhin sich eine ungeheure Hitze in ihrem Körper ausbreitete.

Plötzlich wurde sie herumgerissen.

“Hey!”, rief eine tiefe Stimme. “Hier lebt noch jemand!”

Diese ganze Szene kam ihr vor wie aus einem Film – dem falschen Film, den sie sich nicht nur als Unbeteiligte von außen ansah. Nein, an dieser Szene schien sie aktiv beteiligt zu sein. Ein entsetzlicher Gestank hing in der Luft: Es roch nach Feuer.

Plötzlich konnte sich Leslie an eine Explosion erinnern. Jemand hatte “Gas!” gerufen, und dann hatte es eine Detonation gegeben, die die ganze Welt zu erschüttern schien. Ja! Jetzt erinnerte sie sich deutlicher daran … an das Gefühl, hochgehoben zu werden … durch die Luft zu fliegen … und mit voller Wucht gegen eine Wand zu prallen. Aber … sie lag nicht an einer Wand.

Vielmehr lag sie in einer langen Reihe zusammen mit vielen anderen Menschen, die ruhig schliefen. Erstaunt stellte Leslie jedoch fest, dass sie keinen einzigen dieser Menschen kannte. Um sie herum herrschte ein heilloses Chaos. Matt war ihre einzige Hoffnung auf Rettung … aber wo war er? Leslie sah nur Rettungshelfer, die dieses Chaos zielstrebig durchkämmten und für Ordnung sorgten. Die frisch gestrichenen Wände des Raumes waren rußgeschwärzt und verbrannt. Alles deutete auf eine Explosion hin und auf ein anschließendes Feuer.

Ganz plötzlich verspürte sie heftige Schmerzen! Sie war wieder in ihrem Körper angekommen und betrachtete diese ganze grausame und traurige Szenerie nicht länger aus einer sphärischen Perspektive. Erst jetzt nahm sie auch den entsetzlichen Gestank wahr, der ihr in die Nase stieg: Es roch nach verbranntem Holz und nach etwas anderem, etwas Schlimmerem – nach verbranntem Fleisch.

Schlagartig wurde Leslie bewusst, dass die Menschen, die links und rechts neben ihr lagen, gar nicht schliefen.

Sie waren tot.

Leslie blickte in die geöffneten, starren Augen der Frau neben ihr. Und dann bemerkte sie, dass ein Mann neben ihr kniete. Aber es war nicht Matt.

“Die hier lebt noch”, brüllte der Mann.

Natürlich lebe ich noch, dachte sie.

Plötzlich ging wieder alles drunter und drüber. Andere Leute kamen zu ihr gelaufen, gestikulierten und riefen sich aufgeregt etwas zu.

“Schnell, sonst verlieren wir sie”, diese Worte, die an Leslies Ohr drangen, schienen aus weiter Ferne zu kommen. “Sie hat kaum noch Puls!”

Noch mehr Leute drängten sich um sie.

“Fertig!”

Ein Feuer fraß sich durch ihre Brust, jeder Knochen in ihrem Körper schien vor Schmerz zu schreien. Sie wusste, dass sie die Augen öffnen und Luft holen musste.

Es gelang ihr zu blinzeln. Die Lichter, die sie sah, waren bloß der fahle Schein von Neonröhren in der Nacht.

“Wir haben sie! Sie ist wieder da!”

Dann wurde sie auf etwas Sanftes, Flaches gelegt. Wie in Watte gepackt nahm sie wahr, dass jemand mit dem Mann neben ihr sprach. Ihr Bild von der chaotischen Szene war mit einem Mal so gestochen scharf, dass es schmerzte.

Vier Tote lagen an der Wand aufgereiht. Einer von ihnen war … Matt.

Das Licht verschwand ebenso wie die Verwirrung, und zurück blieb nur eine entsetzliche Erkenntnis.

Matt ist tot.

Sie begann zu weinen …

“Beruhigen Sie sich bitte”, sprach ein Sanitäter ihr sanft zu. “Sie leben, und wir wollen, dass das so bleibt.”

Ich lebe? Dann war Matt …

“Bitte, Sie müssen Matt helfen. Er lebt auch noch! Ich habe eben noch mit ihm gesprochen. Sie müssen ihm helfen!”

Sie sah den gequälten Ausdruck in den Augen des Mannes.

“Es tut mir sehr leid …”

Ihr wurde klar, dass sie soeben die Hölle auf Erden erlebte.

Matt …

Nur beiläufig nahm sie die Nadel wahr, die ihr der Sanitäter in den Arm stach.

Dann war sie nur noch von Dunkelheit umgeben.

1. KAPITEL

Ein Jahr später

Einen Moment lang hielt Leslie inne und sah hinauf zum Himmel, der in ein sanftes Violett getaucht war, das reizvoller nicht hätte sein können. Was für ein wundervoller Abend. Davon gab es viele hier, auf dem Land im Norden Virginias, das zu den schönsten Fleckchen Erde auf der ganzen Welt gehörte, doch Leslie erschien er noch schöner als jemals zuvor.

In diesem vergangenen Jahr hatte sie gelernt, einfache Dinge zu schätzen, wie zum Beispiel die Farben des Himmels. Es war ein eigenartiges Jahr gewesen, ein Jahr voller widersprüchlicher Gefühle. Die Wärme der Sonne und die Farbtöne der Morgenröte erschienen ihr viel intensiver und eindringlicher als früher. Doch der Schmerz, mit einem Mal allein durchs Leben gehen zu müssen, durchbrach diese neu entdeckte Schönheit der Welt um sie herum immer wieder. Dieses Leben kam ihr doppelt so wertvoll vor wie vor der Tragödie. Dennoch fand sie, dass ein solch unglaubliches Geschenk mit einem anderen Menschen geteilt werden sollte … aber sie lebte, und Matt war tot.

Es war ein wunderschöner Sonnenuntergang, begleitet von einer angenehmen Abendbrise. Leslie schloss die Augen und spürte die letzten sanften Strahlen des verblassenden Tages auf ihrer Wange. Diese Wärme war einfach wunderbar.

Seufzend widmete sie sich wieder ihrer Arbeit. Sie musste sich beeilen, denn bald würde das Licht nicht mehr ausreichen.

Mit größter Sorgfalt fegte sie die lockere Erde zur Seite, die den gerade freigelegten Abschnitt bedeckte, da …

Ja!!

Unter dem Erdreich kam ein Teil eines Schädels zum Vorschein, und Leslie begann innerlich zu jubeln. Natürlich konnte sie sich nicht restlos sicher sein, doch es sah ganz danach aus, als hätten sie den alten Friedhof von St. Mathias entdeckt, den Professor David Laymon hier vermutet hatte. Sie betrachtete den Schädelknochen genauer, um sich ein Bild von der Größe und Form des Kopfes zu machen. Allerdings war sie nicht auf Knochen spezialisiert. Sie kannte sich dafür mit Gegenständen, Stoffen und Architektur aus – mit allen Dingen, die von Menschen geschaffen wurden. Über die Knochen dieser Menschen wusste sie nur das, was sie bei ihrer Arbeit darüber in Erfahrung brachte.

Die Spuren von Kattunstoff, die neben dem Schädel lagen, deuteten auf jene Art von Haarschmuck hin, die exakt zu Laymons These passte: Dieser Teil des Friedhofs war für Diener, Sklaven und jene Bürger vorbehalten, denen das Geld für eine bessere Bestattung gefehlt hatte.

“Brad!”

“Ja?”

Brad Verdun, ihr guter Freund und Kollege, war ein paar Schritte entfernt in seine Arbeit vertieft. Während sie darauf wartete, dass er zu ihr kam, nahm sie die Pinzette und sammelte die Stoffreste ein, die sie entdeckt hatte. Die Laboranalyse würde ihre Erkenntnis sicherlich bestätigen, dennoch musste jeder noch so kleine Fetzen sorgfältig konserviert werden.

“Bra-ad!”

“Ja, ja.” Endlich klopfte er seine Hände ab, stand auf und kam zu ihr. Nachdem er einen Blick auf ihren Fund geworfen hatte, fluchte er leise und schüttelte den Kopf. “Du hattest wieder mal recht.” Ein wenig skeptisch sah er sie an. “Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, dann hätte ich mich wahrscheinlich der Meinung aller anderen angeschlossen, dass du hellsehen kannst.”

Sie reagierte mit einem leicht unbehaglichen Lächeln. “Du hättest dich für die gleiche Stelle entschieden wie ich”, versicherte sie ihm.

“Ja, wenn keine andere Stelle mehr übrig gewesen wäre.” Er sah hinüber zum Professor, der gut fünfzig Meter entfernt auf dem Boden kniete. “Tja, Prinzessin vergangener Zeiten, du kannst deine Entdeckung verkünden und dem alten Knaben seinen Glücksmoment für den heutigen Abend bescheren.”

“Sag du es ihm.”

“Du hast die Knochen gefunden.”

“Wir arbeiten zusammen”, sagte sie bescheiden. “Du warst nur zwei Meter von mir entfernt.”

“Es ist aber deine Entdeckung.”

“Wir arbeiten als Team, also entdecken wir auch als Team”, beharrte sie stur.

“Ich habe nicht vor, deine Lorbeeren zu ernten!”

“Ich will trotzdem, dass du es ihm sagst. Bitte, ja?”

Mit einem schweren Seufzer erwiderte er: “Ja, ja, schon gut. Ich hole ihn her. Aber ich werde nicht lügen.”

“Du lügst ja auch nicht, wenn du sagst, dass wir die Knochen als Team entdeckt haben.”

Einen Moment lang sah er sie nur an, dann berührte er sie fast liebevoll am Kopf. “Okay, ich verstehe schon, Kleine. Du willst nicht im Mittelpunkt stehen. Ich werde mein Bestes geben, um dir zu helfen. Vorläufig jedenfalls.” Wie ein Bruder strich er ihr über die Wange und lächelte sie aufmunternd an.

“Danke”, erwiderte sie leise.

“Du kriegst das alles schon wieder in den Griff. Du schlägst dich wirklich hervorragend”, versicherte er ihr.

Den Blick zu Boden gerichtet, nickte sie, hatte jedoch ihre Zweifel an Brads Worten. Ein Jahr war inzwischen vergangen. Sie funktionierte zwar, aber den Schmerz spürte sie jeden Tag aufs Neue. Die Arbeit tat ihr gut, und es half ihr immens, dass ihre Freunde zu ihr standen.

Die Nächte jedoch waren eine einzige Qual.

Und das Leben selbst …

Nun, das Leben selbst war ein ganz anderes als vor einem Jahr. Der Unterschied war ihr deutlich geworden, als sie nach der Explosion noch im Krankenhaus gelegen hatte. Hätte sie nicht in einer Zeitschrift diesen Artikel über Adam Harrison und seine Firma Harrison Investigations gelesen …

Vermutlich wäre sie schon längst tot – gestorben vor Angst – oder in einer psychiatrischen Klinik gelandet. Adam Harrison und sein Team, allen voran Nikki Blackhawk, hatten sie vor Wahnsinn und Tod bewahrt. Doch das waren Dinge, über die sie mit niemandem reden konnte – nicht mit Brad und erst recht nicht mit Professor Laymon.

Sie sah Brad nach, wie er zu Laymon ging. Brad war eindeutig einer von den Guten, sogar der Beste. Ein Bruder hätte nicht besser zu ihr sein können als er. Als sie vor Jahren ihre gemeinsame Arbeit begannen, da war er schon bald an mehr als nur an einer kollegialen Beziehung und einer Freundschaft interessiert gewesen. Doch niemand konnte es mit Matt aufnehmen. Hinzu kam noch, dass sich beide bestens verstanden und sich im Laufe der Zeit eine echte Männerfreundschaft zwischen ihnen entwickelte.

Leslie war froh darüber, dass sich sein Verhalten ihr gegenüber nicht verändert hatte. Er unterstützte sie, wo er nur konnte, und es gab keinen Hinweis darauf, dass sich aus seiner Zuneigung ein sexuelles Verlangen entwickeln könnte. Und auch Leslie war felsenfest davon überzeugt, dass sich ihre freundschaftlichen Gefühle für ihn niemals ändern würden.

Brad war groß, muskulös, geduldig, intelligent und witzig. Für jede andere Frau wäre er der perfekte Mann, nur nicht für sie selbst. Das Schöne an ihrer Freundschaft war, dass sie ihrer Arbeit beide mit der gleichen Leidenschaft nachgingen. Nach der entsetzlichen Explosion und dem Verlust von Matt hatte Leslie die Freude am Leben verloren. Erst die ehrliche Begeisterung, die sie in Brads Augen sah, nachdem sie gemeinsam etwas Bedeutsames ausgegraben hatten, ließ sie erneut auf einen Sinn im Leben hoffen. Und noch immer verdankte sie es meist ihm, dass sie sich vergnügen und ihren Spaß haben konnte, wenn sie nach der Arbeit noch zusammen irgendwo etwas tranken oder aßen. Seine Anwesenheit bewahrte sie davor, von anderen Männern angesprochen zu werden. Wenn er aber eine Frau sah, die ihn interessierte, dann stellte Leslie sich ihm nicht in den Weg.

Vor der Explosion hatten sie beide schon gut zusammengearbeitet. Doch inzwischen verließ sie sich noch stärker auf ihn als zuvor – auch wenn sie für gewöhnlich die Vergangenheit klarer “sah” und mit einer beängstigenden Präzision die richtigen Stellen für ihre Ausgrabungen bestimmte. Manchmal sah Brad sie etwas skeptisch an, doch wenn sie es mit einem Schulterzucken abtat, ließ er es auf sich beruhen.

Sie sah zu, wie er mit Laymon redete. Dessen Miene verwandelte sich zusehends in ein ungläubiges Strahlen. Sofort stand er auf und kam zu Leslie gelaufen, während er die anderen aus dem Team – Lehrer, Studenten, Freiwillige – zu sich rief. “Passt auf, wo ihr hintretet”, warnte er sie. “Wir wollen ja nicht, dass die ganze Arbeit vergebens war.” Mit einem Satz sprang er über das Absperrband, das um die gesamte Ausgrabungsstätte verlief und sie gleichzeitig in kleine Flächen unterteilte, damit man die Funde leichter katalogisieren konnte. Laymon wirkte so aufgedreht wie ein kleines Kind, das seine Geburtstagsgeschenke einen Tag früher als erwartet auspacken durfte.

Fragend wanderte sein Blick zwischen Leslie und dem ausgegrabenen Schädel hin und her. Ein breites Lächeln zeichnete sich auf seinem faltigen Gesicht ab. Er schob die Brille hoch und rieb sich seinen weißen Kinnbart, der ihm das Aussehen eines Bilderbuch-Professors verlieh. “Sie haben es geschafft, Leslie”, hauchte er.

Wir haben es geschafft”, berichtigte sie ihn leise.

“Das restliche Skelett legen wir morgen früh frei, und dann schicken wir es den Leuten im Smithsonian. Heute Abend ist es schon zu spät, um noch weiterzuarbeiten. Lasst uns dieses Gebiet aber noch sichern, bevor wir Feierabend machen. Und wenn wir morgen wieder herkommen, wird mit der gewohnten Sorgfalt auf Hochtouren gearbeitet. Leslie, ich könnte Sie umarmen. Nein, ich werde Sie umarmen!” Er zog sie hoch, drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Als die Umstehenden zu applaudieren begannen, überzog eine leichte Röte ihr Gesicht.

“Hey, Leute, hört auf”, protestierte sie. “Wir arbeiten hier alle zusammen, und Brad war derjenige, der diesen speziellen Bereich abgeteilt hat.”

“Trotzdem ein gewaltiger Fund”, widersprach Professor Laymon. “Die Journalisten werden mit Ihnen reden wollen. Das ist eine aufregende Sache nicht nur für diese Gegend, sondern für alle Historiker.”

“Bitte nicht”, sagte sie ruhig, aber entschlossen. “Lassen Sie Brad mit der Presse reden. Oder besser noch: Machen Sie beide das als Team.”

Laymon sah sie ein wenig verärgert an.

“Bitte”, wiederholte sie mit mehr Nachdruck.

Er seufzte und betrachtete sie mit einem traurigen Ausdruck in seinen grauen Augen. “Früher waren Sie nicht so zurückhaltend”, meinte er. “Okay, tut mir leid. Ich verstehe schon. Es ist nur …” Er stockte und schüttelte den Kopf. “Ich verstehe schon. Wenn es Ihnen so lieber ist. Gut, dann werde ich mal die Pressekonferenz anleiern, und Sie bleiben hier. Schnappen Sie sich ein paar Studenten, damit die Ihnen helfen. Und sorgen Sie dafür, dass hier alles gesichert wird, bis wir morgen früh weitermachen. Ich werde sehen, ob ich die Polizei dazu überreden kann, hier die Augen offenzuhalten.”

Leslie war sich nicht sicher, warum jemand einen Armenfriedhof schänden sollte, doch sie wusste, dass in der Vergangenheit schon des Öfteren Ausgrabungsstätten durch Unbefugte beschädigt oder sogar völlig zerstört worden waren. Sie versicherte Laymon, sich um alles zu kümmern und selbst Wache zu halten, bis sie sich schlafen legen würde.

Nach einem langen, forschenden Blick in ihre Augen wandte sich Laymon kopfschüttelnd zum Gehen, dicht gefolgt von Brad, bei dem sich eine kurvenreiche rothaarige Studentin untergehakt hatte. Leslie nahm sich vor, ihn damit später noch aufzuziehen.

Einen Moment lang fragte sie sich, wie Brad wohl über sie redete, wenn er sich für eine Frau interessierte. Meine Freundin Leslie? Oh, das ist rein platonisch. Sie war verlobt, aber dann gab es einen schrecklichen Unfall. Ihr Verlobter starb dabei, und sie selbst hat nur knapp überlebt. Das macht ihr immer noch zu schaffen, darum versuche ich, für sie da zu sein.

Ja, es machte ihr in der Tat noch immer zu schaffen. Aber die ganze Tragödie lag ja schließlich auch noch nicht allzu lange zurück, erst ein Jahr …

Erst ein Jahr.

Sie fragte sich, ob sie je wieder das Gefühl verspüren würde, dass es irgendwo den idealen Mann für sie gab. Im Augenblick verspürte sie nur eines …

Kälte.

Ein Jahr war es her, seit sie Matt zu Grabe getragen hatte – und mit ihm ihr Leben …

Mit einem Kopfschütteln zwang sie sich, diese trüben Gedanken loszuwerden und ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Arbeit zu lenken.

Obwohl sie eigentlich früh schlafen gehen wollte, ließ sie sich doch dazu überreden, ihren Fund mit den anderen zu feiern. Sie entschieden sich für ein Pancake-House an der Hauptstraße – nichts Vornehmes, schließlich gab es ein Budget einzuhalten, das auch so schon an allen Enden zu knapp bemessen war. Als die Gruppe danach aber auch noch für ein paar Drinks in eine Kneipe einkehrte, gelang es ihr, sich zu verabschieden.

Stattdessen ging sie zu ihrer Unterkunft, einem charmanten Bed and Breakfast, das in der Kolonialzeit das Hauptgebäude einer Plantage gewesen war. Nur sie, Laymon, Brad sowie ein paar andere Archäologen waren so vornehm untergebracht. Die übrigen Helfer mussten sich mit schlichteren Quartieren begnügen. Ihre Gastgeberin, eine gut gelaunte Siebzigjährige, stand morgens mit dem ersten Hahnenschrei auf, und ging auch dementsprechend früh am Abend zu Bett. Da sie etwas schwerhörig war, störte es sie nicht, wenn ihre Gäste erst in der Nacht zurückkehrten.

Müde und erschöpft, aber auch sehr zufrieden mit ihrem Fund ging Leslie in die Gemeinschaftsküche und setzte sich einen Tee auf. Vor dem offenen Kamin, in dem noch immer ein Feuer loderte, machte sie es sich in einem Schaukelstuhl gemütlich und nippte vorsichtig an ihrem Tee. Nach einigen Minuten bemerkte sie, dass sie nicht allein war.

Langsam drehte sie den Kopf zur Seite und begann zu lächeln, als sie den Mann sah, der sich zu ihr gesellt hatte. Sein rundlicher Bauch wurde durch die schlichte schwarze Weste ebenso hervorgehoben wie durch den weißen Hemdzipfel, der ihm aus dem Hosenbund gerutscht war. Seine Perücke wirkte ein wenig schäbig, entsprach jedoch ebenso dem Stil seiner Zeit wie der Dreispitz, der perfekt auf seinem Kopf saß. Die Hose war aus dickem, weißem Stoff, der hier und da ein wenig abgenutzt wirkte, und seine Schuhe wurden von glänzenden Schnallen geziert. Der Mann hatte rosige Wangen, die Augen wirkten unter den buschigen Brauen dunkel und klein. Er betrachtete Leslie und erwiderte ihr Lächeln mit einem zufriedenen Seufzer. “Nun, dann ist es also vollbracht?”, fragte er.

Sie nickte. “Und keine Sorge, Reverend Donegal. Es stimmt zwar, dass einige Knochen zur Analyse weggeschickt werden, aber die Leute im Smithsonian behandeln sie mit Sorgfalt und Ehrfurcht. Anschließend schicken sie die Knochen zurück, und wir sorgen dafür, dass sie mit allem ihnen gebührenden Respekt erneut beigesetzt werden. Und ich glaube, dass sich der Park Service mit seinen Plänen durchsetzen kann, sobald wir die Bedeutung dieses Fundes schwarz auf weiß bestätigt haben. Dann wird man eine Gedenkstätte und einen Nachbau der Kirche errichten, damit Generationen von Besuchern nicht nur die Landschaft genießen können, sondern auch alles darüber erfahren, was sich hier während des Freiheitskriegs und des Bürgerkriegs abgespielt hat.” Ihr Lächeln nahm einen leicht traurigen Ausdruck an. “Ich weiß, Sie haben viel geleistet, um den Flüchtlingen während des Freiheitskriegs zu helfen. Und dieses Gebäude gehörte auch zur Underground Railroad, jener Hilfsorganisation, die den Sklaven aus den Südstaaten die Flucht in die Nordstaaten ermöglichte. Im Garten vor dem Haus gab es während des Bürgerkriegs sogar ein Scharmützel. Es ist ein Wunder, dass dieses Haus überhaupt noch steht.”

“Solide gebaut, das gute Stück”, erwiderte Reverend Donegal ernst. “Und es wurde von seinen Bewohnern immer gut gepflegt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich vor vielen, vielen Jahren sonntags nach dem Gottesdienst für meinen Tee hierherkam … ach, war das damals eine wunderbare Zeit. So aufregend und beängstigend. Ein völlig neues, fremdes Land.” Sein Blick verfinsterte sich ein wenig, und einen Moment lang schien er beunruhigt zu sein. “Was für eine Schande … ein Krieg zieht den nächsten nach sich. Es schmerzte mich, hier zu sein … und so viele gute Männer sterben zu sehen, aus dem Norden wie aus dem Süden. Männer, die alle an den gleichen Gott glaubten … Oh, aber was soll’s. Es gibt ja immer noch die Hoffnung, dass der Mensch eines Tages aus seinen Fehlern lernt.” Er hielt inne, sein Blick trübte sich. Leslie wusste, dass er in Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit schwelgte, Erinnerungen, die fest in seinem Kopf verankert waren.

Natürlich kannte sie die Geschichte des Reverends. Er war ein stiller Verehrer der früheren Besitzerin dieses Hauses gewesen. Er hatte sich stets umsichtig verhalten und jede Minute genossen, die er in ihrer Nähe verbringen konnte. Er war ein guter Mann gewesen, der sich immer fürsorglich um seine Gemeinde gekümmert hatte. Sein einziges Vergnügen war der Sonntagstee hier im Haus. An einem jener Sonntage kam er her, trank seinen Tee … und dann bekam er einen Herzanfall und starb in den Armen der Frau, die er so viele Jahre lang insgeheim bewundert und verehrt hatte.

Anfangs hatte Leslie erwartet, einem sehr traurigen Geist zu begegnen, der nach seinem Tod jene Liebe suchte, die er zu Lebzeiten nicht hatte erleben dürfen. Doch das war nicht der Fall. Vielmehr stellte sie fest, dass er mit sich völlig im Reinen war. Seine unerwiderte Liebe zu Mrs. Adella Baxter war einfach nur ein schöner Traum gewesen, dem er nun nicht weiter nachhing. Tatsächlich hatte er sein Leben als Junggeselle genossen und sich um seine Schäfchen gekümmert. Seit jener Zeit hielt er sich in diesem Haus auf, weil er fand, dass so viele Mitglieder seiner Gemeinde es verdient hätten, dass man ihrer gedachte.

Zunächst jedoch hatte er der Archäologin misstraut. Er probierte ein Dutzend Tricks aus, verlegte ihre Bürste, verschloss ihren Koffer oder versteckte den Schlüsselbund. Dabei hatte er nicht erwartet, dass sie ihn sehen konnte. Ebenso wenig war er darauf vorbereitet, dass sie wütend wurde, ihn anbrüllte und von ihm verlangte, mit ihr zu reden! Nachdem diese Hürde aber genommen war, entpuppte er sich als wahrer Charmeur. Durch seine Augen konnte Leslie das Haus und auch das übrige Umfeld so sehen, wie er es zu Lebzeiten erfahren hatte. Sie wurde Zeuge seiner Leidenschaft, als er davon erzählte, was er und so viele andere im Freiheitskrieg hatten durchmachen müssen. Er berichtete von seiner Angst, als Verräter gehängt zu werden, was in den blutigen Jahren des Freiheitskriegs schnell passieren konnte. Und es beunruhigte ihn zutiefst, dass die Menschen, die dieses Haus heutzutage betraten, kaum noch eine Ahnung davon hatten, wie gefahrenreich dieses Ringen um Freiheit seinerzeit war. “Sie können das nicht verstehen”, hatte er Leslie erklärt. “Wir hätten den Krieg beinahe verloren. Dass wir ihn dann doch noch gewinnen konnten, kam einem Wunder gleich. Und die Männer, die die Unabhängigkeitserklärung unterzeichneten, wären um ein Haar aufgeknüpft worden. Für so viele Menschen stand ungeheuer viel auf dem Spiel. Aber Gottes Wege sind und bleiben eben unergründlich.”

In diesem Augenblick schien er seinen Gedanken nachzuhängen.

“Danke für Ihre Hilfe”, raunte sie ihm leise zu.

Der Reverend nickte bedächtig, hob dann aber mahnend den Zeigefinger. “Ich erwarte von Ihnen, dass Sie nicht falschspielen, junge Lady. Sie sorgen dafür, dass meinen Leuten Gerechtigkeit widerfährt. Vor allem der kleinen Peg. Ihr Grab haben Sie doch gefunden, nicht wahr? Dort, wo ich es Ihnen gesagt habe?”

Nun war es an Leslie, mit einem Kopfnicken zu reagieren. Gedankenverloren starrte sie in die Flammen. Es war schon eigenartig. Vor der Explosion hatte sie ihre Intuition besessen, wie in dem Fall, als sie den verschwundenen obdachlosen Mann entdeckte – als könnte sie die Augen schließen und sich auf einen Menschen konzentrieren, um ihn dann aus unerfindlichen Gründen zu lokalisieren. War Logik im Spiel gewesen? Purer Instinkt? Oder irgendetwas ganz anderes? Sie hätte es nicht erklären können. Doch jetzt …

Jetzt tauchten Geister in ihrem Leben auf.

“Ich werde mich darum kümmern, dass Pegs Geschichte erzählt wird”, versicherte sie Reverend Donegal und wiederholte, was sie zuvor von ihm über das Mädchen erfahren hatte. “Zehn ganze Meilen weit ging die zehnjährige Peg durch strömenden, eisigen Regen, um die Männer des Countys zusammenzuholen und vor einem bevorstehenden Angriff zu warnen. Tapfer trommelte sie die örtlichen Truppen zusammen, die den Fluss und die Plantage erfolgreich verteidigten. Ohne Pegs Mut und Tapferkeit hätten sie vermutlich alles verloren. Doch nachdem sie das Unwetter und die feindlichen Linien durchquert hatte, erkrankte das kleine Mädchen an einem Fieber und starb kurze Zeit später. Nach dem Krieg … na ja, die Menschen waren arm, und man beerdigte Peg, so gut man konnte.”

Der Reverend war zufrieden. “Eine Statue wäre eine schöne Sache. Werden Sie jemanden finden, der dafür zahlen will?”

“Notfalls bezahle ich Pegs Statue aus meiner eigenen Tasche”, beteuerte sie.

Er sah sie entrüstet an. “Eine Statue von mir!”, machte er ihr klar. “Aber … natürlich darf auch Peg nicht in Vergessenheit geraten.”

“Sie werden ein eigenes Plätzchen für sich haben, wenn man die Kirche wieder aufbaut, und Peg wird man auf dem Friedhof ehren. Wie klingt das?”, fragte sie, froh darüber, wieder einmal lächeln zu können.

Den Blick auf das Kaminfeuer gerichtet, nickte der Reverend erneut. “Es ist frisch hier”, stöhnte er plötzlich. “Ach, diese alten Knochen …”

“Es ist heute Abend wirklich frisch, aber ich glaube kaum, dass Sie Ihre alten Knochen fühlen”, erwiderte Leslie amüsiert, stellte ihre Tasse weg und stand auf. Mit wenigen Schritten war sie am Kamin angelangt, wo sie ihre Hände wärmte. Als sie sich umdrehte, um dem Reverend noch etwas zu sagen, war er bereits verschwunden.

Sie kuschelte sich wieder in ihren Sessel und hörte kurz darauf, dass auch die anderen zurückkamen. Es war bereits spät, und Leslie vermutete, dass sie sich sofort auf ihre Zimmer begeben würden. Doch dann nahm sie jemanden hinter sich wahr. Diesmal hörte sie ein leises Atmen.

Als sie über die Schulter schaute, sah sie Brad im Türrahmen stehen.

“Hey”, rief sie.

“Hey”, wiederholte er und betrachtete sie weiter.

“Was ist?”, wollte sie wissen.

“Laymon hat es dir wirklich noch nicht gesagt?”, fragte er und machte eine überraschte Miene. “Ich dachte, er würde dich sofort anrufen.”

“Weshalb?”

“In Lower Manhattan wird noch ein Grundstück untersucht”, begann er.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, so als hätte sie jemand mit einem eisigen Schwert berührt. Sie wandte sich ab und sah ins Feuer. Als sie sprach, versuchte sie ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. “Ich bin mir sicher, dass in Lower Manhattan ständig irgendwer irgendwo gräbt.”

“Das hier ist ein sehr großes Projekt.” Eine Zeit lang schwieg er, bis er schließlich hinzufügte: “In der Nähe des Hastings House.”

“Großartig”, murmelte sie und starrte weiter in die Flammen.

Er kam zu ihr und hockte sich neben den Sessel. “Du weißt, es wurde nur das eine Zimmer schwer beschädigt. Inzwischen haben sie alles renoviert, und das Haus ist wieder geöffnet.”

Ihre Fingernägel bohrten sich in die Armlehnen. “Freut mich, das zu hören.”

“Was da geschehen ist, war ein tragischer Unfall, Leslie.”

Sie warf ihm einen kühlen Blick zu. “Ja, das weiß ich, Brad.”

“Ich habe nur das Gefühl, dass dir immer noch nicht klar ist, was das bedeutet. Halt mich bitte nicht für herzlos, Leslie, aber Matt ist gestorben – nicht du.”

Sekundenlang konnte sie ihn nur sprachlos ansehen.

“Ich wäre da beinahe auch gestorben”, flüsterte sie.

“Aber du bist nicht gestorben.”

“Ich weiß, und ich bin auch dankbar dafür, dass ich lebe. Ich weiß das jeden Tag zu schätzen.”

“Es wird Zeit, ins Leben zurückzukehren.”

“Ins Leben zurückzukehren?”, wiederholte sie.

“Du musst die Vergangenheit akzeptieren, in die Gegenwart zurückkehren und dann in die Zukunft schauen. Nein, du wirst Matt niemals vergessen, aber du musst seinen Tod akzeptieren. Seit dem Unfall bist du … na ja, irgendwie seltsam. Vielleicht hilft es dir weiter, wenn du dich deinen Erinnerungen stellst.”

Wieder konnte sie ihn nur anschauen.

Oh Brad. Du verstehst es einfach nicht – und ich werde es dir auch niemals erklären, darauf gebe ich dir mein Wort.

“Wir haben hier noch einiges zu tun”, wandte sie schließlich ein.

Er winkte ab. “Wir sind die Profis, und es gibt genügend Leute, die sich um das Grobe kümmern können. Dir und deinen erstaunlichen Instinkten ist es zu verdanken, dass jetzt nur noch Fleißarbeit zu erledigen ist. Wir können weiterziehen.”

Sie schüttelte den Kopf.

“Hör zu, diese neue Ausgrabungsstätte ist wirklich wichtig. Ich weiß, Laymon will mit dir darüber reden. Er wird zurückfahren, um die Leitung des Teams zu übernehmen, ob du mitkommst oder nicht. Ob wir mitkommen oder nicht”, fügte Brad hastig hinzu.

Ihre Fingernägel bohrten sich noch tiefer in den Stoff der Armlehnen, während sie weiter die Flammen anstarrte. “Ich habe hier einige Versprechen abgegeben”, sagte sie.

Er stutzte. “Versprechen? Wem hast du denn etwas zugesagt?”

“Mir selbst. Ich will dafür sorgen, dass verschiedene Tote geehrt und dass ihre Knochen würdevoll beigesetzt werden.”

“Das können wir Laymon sagen. Er wird schon dafür sorgen, dass deine Wünsche erfüllt werden”, entgegnete Brad. “Es ist ja nicht so, als würden wir das Land verlassen. Bei dem Ruf, den du dir erarbeitet hast, genügt ein Wort von dir, und Himmel und Erde werden in Bewegung gesetzt.”

“Ja, okay”, murmelte sie.

“Laymon bekam den Anruf, als wir auf dem Weg ins Lokal waren. Anschließend hat er dann über nichts anderes mehr geredet”, berichtete Brad. “New York City, Leslie! Du weißt, du liebst es dort.”

“Ich kann nicht dorthin zurück.”

“Du musst dorthin zurück.”

“Brad …”

“Leslie, bitte …”

Sie sah ihn lange an und registrierte das ernst gemeinte Flehen in seinem Blick. Rasch senkte sie den Kopf. Sie wollte nicht, dass er ihre Gedanken erahnte.

Hastings House. Man hatte es renoviert und wiedereröffnet und damit auch zu neuem Leben erweckt. Aber die Toten – sie konnte doch niemand zum Leben erweckt haben …

Einige der Toten hatten das Haus sogar niemals verlassen.

Mit gesenktem Blick saß sie da und biss sich auf die Unterlippe. Es hatte sofort angefangen. Bereits im Krankenhaus glaubte sie, verrückt geworden zu sein. Das Wissen, dass sie Matt verloren hatte, war schmerzhafter, als hätte die Explosion ihr einen Arm oder ein Bein abgerissen.

Die Gehirnerschütterung, die Prellungen, die Schnittwunden und Kratzer, die Verbrennungen – das alles war nichts im Vergleich zu dem Schmerz um Matt.

Unmittelbar nach dem Unglück lebte sie in einem Zustand zwischen Wachsein und Traum. Eines Nachts wachte sie im Leichenschauhaus des Krankenhauses auf, angezogen von einem Mann, der seinen Ehering verloren hatte, als man ihn auf einer Bahre dorthin brachte. Er wollte nur, dass er den Ring zurück an seinen Finger gesteckt bekam, doch das hatte sie nicht gewusst und war in Panik geraten. Sie konnte von Glück reden, dass man sie nicht noch in der gleichen Nacht in die Psychiatrie verlegte. Am nächsten Tag stieß sie in einer Zeitschrift zufällig auf einen Artikel über einen Mann namens Adam Harrison und eine Gruppe von Ermittlern für das Übersinnliche, die für ihn arbeiteten.

Ganz gleich wie sehr der Autor dieses Artikels sich auch bemühte, Harrison aufs Glatteis zu führen, er schaffte es nicht. Harrison ließ sich einfach nicht aus der Ruhe bringen und erweckte nicht den Eindruck eines Spinners, sondern den eines intelligenten und wortgewandten Mannes. Als sie den Beitrag las, begann sie zu zittern. Gleich nach dieser Lektüre rief sie Harrison Investigations an, und zu ihrem Erstaunen besuchte er sie gleich am nächsten Tag persönlich im Krankenhaus. Sie unterhielten sich ausgiebig und trafen sich wieder, als sie entlassen wurde. Nach kurzer Zeit sah sie in ihm nicht nur einen neuen Freund, sondern auch einen Ersatz für ihren Vater, der starb, als sie noch ein kleines Mädchen war.

Als sich der Geist des Kirchenmannes aus der Kolonialzeit an sie wandte, rief sie Adam an, und kurz darauf bemerkte sie in der Gruppe der Schaulustigen an der Ausgrabungsstätte ein Paar, das sich von den anderen Passanten unterschied und das sich ihr auch schon bald als zwei von Harrisons Mitarbeitern vorstellte. Brent und Nikki Blackhawk – er dunkelhaarig und ausgesprochen gut aussehend, seine Frau blond und schön – waren mit ihr zum Haus gekommen, um ihr zu zeigen, wie sie sich mit dem Geist anfreunden konnte. Sie selbst hatten sich sogar mit ihm unterhalten. Leslie wurde damit klar, dass es andere gab, die das Gleiche wahrnahmen. Also war sie nicht verrückt.

“Leslie …” Mit sanfter Stimme holte Brad sie in die Gegenwart zurück. “Ich sagte Laymon, ich würde bei der neuen Ausgrabung mitmachen. Ich werde dort also für dich da sein, aber du musst zurückkehren, damit du die Vergangenheit endlich ruhen und den Schmerz hinter dir lassen kannst.”

Sie sah ihn lange an und begann schließlich zu lächeln.

Brad wusste nichts von Adam Harrison, den Blackhawks und all den anderen, die ihr helfen konnten, wenn es nötig war. Brad wusste auch nicht, dass es Adam und seinen Mitarbeitern zu verdanken war, dass sie in dieser Küche sitzen und mit einem vor langer Zeit verstorbenen Reverend reden konnte, ohne sich dabei wie eine Verrückte vorzukommen.

Doch die Rückkehr nach New York City, die Konfrontation mit ihren eigenen Geistern – das war ein ganz anderes Thema. Das war etwas, wovor sie sich fürchtete, auch wenn auf Dauer kein Weg daran vorbeiführte.

Brad seufzte leise. “Okay, tut mir leid. Ist noch zu früh.”

“Das habe ich nicht gesagt”, murmelte sie sofort. “Womöglich sollte ich dorthin zurück. Ich glaube … ich glaube, ich will vielleicht sogar zurück ins Hastings House.”

Er zögerte. “Ich weiß, du hast ein Apartment in Brooklyn, aber …” Er hielt kurz inne, bevor er fortfuhr: “Im Hastings House stehen für die Archäologen mehrere Zimmer zur Verfügung.”

“Was?”

Sofort schüttelte er bedauernd den Kopf. “Tut mir leid, das hätte ich nicht mal erwähnen sollen.”

“Für wen erfolgt diese Ausgrabung?”, wollte sie wissen.

“Natürlich für die Historische Gesellschaft. Greta wird die offizielle Ansprechpartnerin zwischen der Historischen Gesellschaft, den Bauherren und den Archäologen sein. Und wieder mal sind es die Herrschaften von Tyson, Smith & Tyson, die das Grundstück bebauen möchten. Rechtlich sind sie gezwungen, mit den Bauarbeiten zu warten, bis die historische Bedeutung dieser Fläche festgestellt wurde und die notwendigen Ausgrabungen stattgefunden haben. Laymon sagt, sie hätten es aber gut aufgenommen, und jetzt genießen sie es, sich landesweit als die Guten in Szene zu setzen. Allerdings muss die Zeit, die sie jetzt verlieren, sie ein kleines Vermögen kosten. Auf jeden Fall befindet sich die Ausgrabungsstätte ganz in der Nähe des Hastings House, sie ist nur einen Block entfernt.”

“Und deshalb stellen sie im Hastings House Zimmer zur Verfügung?”

“Ich weiß nicht mal, warum ich das überhaupt erwähnt habe”, meinte er schulterzuckend. “Ich habe mein Apartment in der Stadt, du hast deine Wohnung in Brooklyn.” Er holte tief Luft. “Allerdings hast du da mit Matt zusammengelebt und willst vielleicht gar nicht dorthin zurück. Trotzdem bin ich froh, dass du es nicht aufgegeben hast. Die Immobilienpreise in der Gegend sind in den Himmel geschossen, und … oh Gott, sorry, das kam nicht so raus, wie ich’s meinte. Ich trete wirklich von einem Fettnäpfchen ins nächste.”

“Ist schon gut, Brad.”

“Ja, klar.” Er lächelte sie schief an.

“Ich konnte nicht mal bei seiner Beerdigung dabei sein, weil ich im Krankenhaus lag”, flüsterte sie und starrte erneut in die Flammen.

Plötzlich spürte sie einen schrecklichen Stich im Herzen.

Die Geister kamen zu ihr und baten sie um Hilfe.

Nur nicht Matts Geist.

Der eine Geist, den sie so verzweifelt sehen wollte, um ihm ein letztes Mal zu sagen, wie sehr sie ihn geliebt, wie viel er ihr bedeutet hatte, wie er durch seine bloße Anwesenheit die Welt zu einem wunderbaren Ort machte – dieser Geist zeigte sich ihr nie.

“Ich möchte im Hastings House übernachten”, erklärte sie.

Brad ließ den Kopf sinken. Schlagartig wurde Leslie klar, dass er es tat, weil er lächeln musste. Er war davon überzeugt, genau den richtigen Trick angewandt zu haben, um sie dazu zu bringen, im Hastings House zu wohnen.

Vielleicht hatte er ja auch allen Grund dazu, stolz auf seine Leistung zu sein.

Aber vielleicht war es auch einfach für sie an der Zeit, dorthin zurückzukehren.

“Du willst tatsächlich da übernachten? Meinst du das ernst?”

“Todernst.”

Sie stand auf und klopfte ihm im Vorbeigehen freundschaftlich auf die Schulter. Im Flur blieb sie kurz stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um. “Das war jetzt übrigens keine Anspielung”, sagte sie und grinste ironisch. “Du hast recht. Ich bin bereit für eine Rückkehr. Ich freue mich sogar schon darauf. Gute Nacht.”

Er kniete noch immer neben dem Sessel, als sie weiterging.

Sie freute sich? Mein Gott, was war sie für eine Lügnerin.

Andererseits … andererseits stimmte es auch. Von selbst wäre sie niemals auf den Gedanken gekommen, dem Hastings House einen Besuch abzustatten, geschweige denn, dort zu wohnen.

Aber jetzt war sie im Begriff, dorthin zurückzukehren.

Die Vergangenheit rief sie zu sich, und Leslie sollte sich ihr stellen.

Sie musste unbedingt dorthin zurück.

2. KAPITEL

Es war bereits spät. Eine seltsame Uhrzeit für ein solches Zusammentreffen, fand Joe Connolly. Eileen – die nervöse Frau, die ihm gegenübersaß – sah atemberaubend aus, erinnerte ihn in ihrer Art jedoch an einen hyperaktiven, überzüchteten Windhund. Sie war extrem schlank, ihre langen Finger waren sehr gepflegt und trugen Diamant- und andere Edelsteinringe. Erst heute Morgen hatte sie ihn angerufen und diesen Termin vereinbart. Jetzt saßen sie sich in dem von ihr ausgewählten Treffpunkt – einem kleinen irischen Pub abseits der Wall Street – gegenüber. Er hatte eher mit einem Separe in einem exklusiven Club gerechnet, aber wahrscheinlich wollte sie nicht dort mit einem Privatdetektiv gesehen werden, wo man sie kannte. Womöglich gab es auch einen anderen Grund, weshalb ihre Wahl auf diesen kleinen gemütlichen Pub namens O’Malley’s gefallen war – vielleicht hatte sie diesen Ort als junge Frau häufiger besucht.

Er wusste, dass sie ursprünglich aus bescheidenen Verhältnissen stammte. Die Familie ihrer Mutter war vor zwei Generationen aus Irland eingewandert. Ihr Vater – ein O’Brien – entstammte einer langen Reihe hart schuftender Lohnarbeiter, die um 1840 in die USA gekommen waren. Mit Schweiß und Muskelkraft hatte er es in seinem Fach weit gebracht, und so war aus dem mäßigen doch noch ein ansehnliches Familienvermögen geworden. Dann hatte Eileen O’Brien einen wohlhabenden Mann geheiratet, den mittlerweile verstorbenen Senator und Baumagnaten Thomas Brideswell.

Sie schob ihm ein großformatiges Foto einer jungen Frau über den Tisch, die ihr verblüffend ähnlich sah. Genevieve O’Brien hatte große blaue Augen und wirkte genauso schlank wie ihre Tante Eileen. Ihr Gesicht war wunderschön geschnitten, und ihr dunkles Haar glänzte kastanienfarben. Der Fotograf hatte ihr Lachen, ihren Eifer und den jugendlichen Optimismus perfekt eingefangen.

“Wie alt ist dieses Foto?”, fragte Joe.

“Es wurde vor etwa zweieinhalb Jahren aufgenommen”, antwortete Eileen und stockte. Von Traurigkeit erfüllt senkte sie ihren Blick. “Unmittelbar bevor sie sich mit meinem Bruder Donald und mir zerstritt.”

Joe schüttelte den Kopf. “Tut mir leid. Ich will keine alten Wunden aufreißen, aber ich muss die Zusammenhänge verstehen. Wenn sie aus freien Stücken von zu Hause wegging und Sie beide sich bereits entfremdet hatten, wieso sind Sie dann davon überzeugt, ihr sei etwas zugestoßen?”

“Donald starb, kurz nachdem sie das Elternhaus verlassen hatte”, erklärte Eileen seufzend. “Zu seiner Beerdigung kam Genevieve noch zurück, aber sie wollte sich weiterhin von meiner – wie sie es nannte – lächerlichen Hingabe an eine ebenso lächerlich dysfunktionale Familie distanzieren. Ich glaube, sie war außer sich, weil mein Bruder starb, ohne dass die beiden Frieden hatten schließen können. Aber …” Hilflos hob sie ihre mit Edelsteinen geschmückten Hände. “Ich würde sagen, es war alles andere als schön, im Haushalt meines Bruders aufzuwachsen. Mein Vater und mein Großvater haben viel erreicht, doch der Preis dafür war hoch. Unmögliche Erwartungen an die Kinder. Immer wurde nach einem Schuldigen gesucht, wenn etwas falsch lief.” Sie schüttelte den Kopf, und es rührte Joe zu sehen, wie aufgewühlt sie war. Trotz ihrer Reserviertheit und ihrer Eleganz konnte diese Frau ihre große Traurigkeit nicht völlig überspielen. Schließlich schaute sie ihm wieder in die Augen. “Seit dem Tod meines Bruders rief sie mich alle zwei Wochen mindestens einmal an, doch jetzt habe ich seit über einem Monat nichts mehr von ihr gehört.”

Er lehnte sich zurück und betrachtete sie. In den Jahren bei der Polizei hatte er einiges gelernt, und noch mehr in der Zeit seiner Selbstständigkeit, und so wusste er, dass der Gesichtsausdruck eines Menschen in einem Gespräch mindestens genauso wichtig war wie die Worte, die er sprach.

“Ist bei Ihrem letzten Telefonat irgendetwas angesprochen worden, das die Kluft zwischen Ihnen vertieft haben könnte?”, fragte er.

Für einen winzigen Moment zögerte sie, dann antwortete sie: “Nein.”

Sie log ihn an.

“Ich muss alles erfahren”, sagte er mit Nachdruck.

Wieder machte sie eine fahrige Geste mit der Hand. “Nun ja, es gab da diesen schrecklichen Artikel über unsere Familie in einem von diesen Klatschblättern”, erwiderte sie.

“Und?”

“Sie war davon überzeugt, ihr Vater sei gar nicht ihr leiblicher Vater.”

“Sie ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich darf annehmen, dass Sie und Ihr Bruder sich ähnlich sahen.”

“Sehr sogar”, bestätigte Eileen.

Er wartete ein paar Sekunden lang. “Was für eine Zeitung war das? Wann ist der Artikel erschienen?”

“Diesen Dreck wollen Sie ganz bestimmt nicht lesen”, versicherte sie ihm.

“Ich muss den Artikel lesen, Mrs. Brideswell. Ich tappe völlig im Dunkeln. Ihre Nichte ist sechsundzwanzig, sie ist erwachsen. Wenn ein Erwachsener nicht gefunden werden will, dann ist das sein gutes Recht. Ich habe so gut wie keine Anhaltspunkte. Sie haben mir die Vornamen und Adressen von ein paar Bekannten gegeben, außerdem kenne ich Namen und Anschrift ihres letzten Arbeitgebers – nur dass sie da schon vor einem Monat gekündigt hat. Das kann man bereits als Hinweis darauf deuten, dass sie vorhatte, die Stadt zu verlassen. Und ich habe die Adressen, von denen Sie glauben, dass sie sich dort aufgehalten hat. Sie sollten mir nichts verschweigen, wenn Sie wollen, dass ich sie finde. Aber selbst wenn ich sie finden sollte, kann ich Ihnen nicht garantieren, dass Ihre Nichte sich bei Ihnen meldet.”

“Nein, Sie verstehen mich nicht. Ich bin von ganzem Herzen davon überzeugt, dass sie mich anrufen würde, wenn sie dazu noch in der Lage wäre.”

“Glauben Sie, Ihre Nichte ist tot, Mrs. Brideswell?”, fragte Joe vorsichtig.

Sie verzog schmerzhaft das Gesicht. “Ich weiß es nicht”, flüsterte sie. “Ich … ich weiß, sie liebte … liebt mich. Ganz egal, was zwischen uns auch war, Genevieve würde sich bei mir melden. Und wenn sie irgendwo da draußen ist … und wenn sie um Hilfe ruft, dann ruft sie nach mir. Oh mein Gott, Mr. Connolly, ich gebe zu, es gab schlimme Zeiten in der Familie. Zeiten, in denen sie weggeschickt wurde, weil sie uns mit ihrem Verhalten so sehr in Verlegenheit brachte! Mein Bruder war sehr streng. Wohl aus gutem Grund. Von unserem Vater lernten wir, uns immer anständig zu benehmen – oder wenigstens nach außen hin diesen Anschein zu wahren. Trotzdem liebt sie mich. Und ich weiß, dass sie mich jetzt braucht. Ich musste mich zwangsläufig mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass sie tot sein könnte. Aber verstehen Sie denn nicht? Ich muss es wissen. Ich brauche Gewissheit. Und wenn sie … wenn sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, dann will ich, dass der Täter seine gerechte Strafe erhält, noch bevor ich sterbe.”

Joe fragte sich verwundert, wieso sie mit solcher Inbrunst von ihrem eigenen Tod sprach. Sie war ganz bestimmt noch keine fünfzig, und von ihrem Aussehen her sie ging immer noch für fünfunddreißig durch.

“Einem Verbrechen zum Opfer gefallen”, wiederholte er und fragte geradeheraus: “Vermuten Sie, dass Ihre Nichte ermordet wurde?”

Eileen atmete tief durch und sprach dann in einem verbitterten Tonfall weiter: “Ich habe mich an die Polizei gewandt, Mr. Connolly, wie Sie sich bestimmt denken können. Und ich weiß nicht, ob er Sie vorgewarnt hat, aber Ihr alter Freund Sergeant Adair schlug mir vor, Sie anzurufen. Allerdings erst nachdem er mir einen Vortrag über all die anderen Vermissten gehalten hat, deren Verschwinden ihm Rätsel aufgeben. Ich vermute mal, dass die Polizei die Geschichte mit den Prostituierten nicht an die große Glocke hängen will, auch wenn das natürlich nicht funktioniert. Die Leute reden. Und immerhin verschwinden diese Frauen schon seit über einem Jahr.”

“Ihre Nichte war keine Prostituierte, die in Downtown anschaffen ging”, betonte er.

Erneut reagierte sie mit einer fahrigen Handbewegung. “Das weiß ich. Und wir wissen alle, dass auch Frauen vermisst werden, die nicht … diesem Gewerbe nachgehen. Aber ich hatte das Gefühl, Sergeant Adair sieht einen Zusammenhang zwischen diesen Fällen und der Tatsache, dass ich nichts mehr von Genevieve gehört habe.”

Nun war Joe verwirrt. Er wusste, dass Robert Adair sich verzweifelt die Haare raufte, weil in Downtown immer wieder Prostituierte spurlos verschwanden. Es gab keine Hinweise, keine Blutspuren, rein gar nichts. Die Frauen waren von einem Tag auf den anderen einfach fort und hatten ihr gesamtes Hab und Gut zurückgelassen. Was aber sollte die Tochter eines Millionärs mit ein paar unauffindbaren Prostituierten gemeinsam haben?

“Ich glaube, die Polizei bewegt sich da auf einem sehr heiklen Terrain. Die verschwundenen Frauen waren alle erwachsen, und Erwachsene dürfen ihr altes Leben hinter sich zurücklassen, wenn sie das wollen.”

Eileen sah ihn lange an, dann sagte sie mit wütender Stimme: “Wir kennen doch beide die Wahrheit.”

Natürlich hatte sie recht. Vor über einem Jahr fing es damit an, dass im Abstand von wenigen Monaten zwei Prostituierte verschwanden. Da es keine Spuren und auch keine Indizien gab, die auf ein Verbrechen hindeuteten, wurde keine aufwendige Suche nach ihnen eingeleitet, als Freundinnen die beiden als vermisst meldeten. Als Nächstes verschwand ein obdachloser Transvestit mit Spitznamen “Mimic”, anschließend waren es wieder zwei junge Frauen.

Eileen beugte sich vor und warf Joe einen zornigen Blick zu. Auch wenn sie ein behütetes Leben führte, konnte sie sich nötigenfalls von der harten Seite zeigen. “Prostituierte, die von ihrem Freier umgebracht werden, tauchen früher oder später irgendwo auf. Ein Obdachloser, der im Winter erfriert, wird auf dem Fußweg entdeckt. Aber diese Mädchen sind, wie auch Genevieve, spurlos verschwunden. Es scheint fast so, als hätte es sie nie gegeben. Glauben Sie etwa, dass Außerirdische diese Menschen auf ihr Raumschiff beamen, Mr. Connolly? Ich nicht. Ich glaube vielmehr, dass ein Serienmörder in New York sein Unwesen treibt, der genau weiß, wie er seine Opfer beseitigt, ohne dass sie wiedergefunden werden. Anfangs hielt ich es für unerhört, als ich von den Vermissten erfuhr und sah, mit welchem Desinteresse die Stadt und sogar der ganze Bundesstaat darauf reagierten. Inzwischen bin ich außer mir vor Wut. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin nicht auf den einzelnen Cop wütend, der nur versucht, seine Arbeit zu machen. Aber mich regt auf, dass niemand mit dem Fuß aufstampft und sagt: ‘Schluss damit – jeder Einzelne von ihnen ist wichtig!’ Nun habe ich inzwischen so lange Zeit nichts mehr von Gen gehört, dass meine Sorge um sie jeden Tag weiterwächst. Und auch wenn ich keine Macht habe, so habe ich doch ausreichend Geld, um vielleicht etwas bewegen zu können!”

“Gut, fangen wir noch einmal von vorn an. Ihre Nichte war Sozialarbeiterin …”

“Ja, hier in der Stadt”, entgegnete Eileen leise. “Jedenfalls bis vor etwas mehr als einem Monat. Sie empfand es als entsetzlich frustrierend …” Sie atmete einmal tief durch. “Es betraf nicht nur ihren Job. In meiner Familie wird von einem erwartet, dass man es entweder zu Geld bringt oder aber in eine andere reiche Familie einheiratet. Mein Bruder und ich waren schrecklich streng zu Gen, dabei wollte sie nur den Menschen helfen, die es im Leben nicht so gut haben wie wir. All dieser Frust und der Verwaltungsaufwand wurden ihr schließlich zu viel, aber … nichts davon ist jetzt noch wichtig. Es gibt einen Grund, weshalb ich an einen Zusammenhang glaube. Sehen Sie, Gen hat sich genau in dem Viertel um die Prostituierten gekümmert, in dem noch immer Frauen spurlos verschwinden. Verstehen Sie? Ich bin mir sicher, dass sie etwas über die vermissten Frauen wusste!” Eileen schien jeden Moment zu explodieren.

“Kennen Sie irgendwelche Einzelheiten zu dem Grund ihrer Kündigung?”

“Sie war wütend auf das System. Sie wollte Unterstützungsprogramme auf den Weg bringen und einigen Frauen helfen, damit sie ihre Kinder behalten dürfen. Gen ist wirklich ein außergewöhnlicher Mensch, Mr. Connolly. Es ist so frustrierend mitzuerleben, dass mir niemand glaubt. Dabei weiß ich ganz sicher, dass hier etwas nicht stimmt! Offenbar kann oder will die Polizei nichts unternehmen!”

“Ich verstehe Ihren Frust”, sagte Joe. “Doch Sie müssen auch verstehen, dass es der Polizei nicht besser ergeht. Tatsache ist, dass immer wieder Frauen verschwinden, ohne die geringsten Anhaltspunkte zu hinterlassen. Sämtliche Vermisste hatten einen unsteten Lebensstil, und das macht es zusätzlich problematisch. Man kann diejenigen befragen, die den Opfern am nächsten standen – vorausgesetzt, es sind überhaupt Opfer. Man kann die Leute in der Straße befragen, in der die Person zum letzten Mal gesehen wurde. Die Polizei hat sich die bekannten Zuhälter in einer Weise vorgenommen, die ans Illegale grenzt, aber niemand hat etwas gesehen, das auf ein Verbrechen hinweist. Und nebenbei muss sich die Polizei ja schließlich auch noch um Morde, Vergewaltigungen und Raubüberfälle kümmern – alles Verbrechen, bei denen das Opfer nicht zu übersehen ist. Aber wenn es kein Opfer, keine Mordwaffe, keine Blutspuren und auch keine anderen Spuren gibt, sind selbst der Polizei weitestgehend die Hände gebunden.”

“Blutspuren?”, wiederholte Eileen mit einem zornigen Funkeln in den Augen. “Die Polizei muss herausfinden, was da passiert, und diesem Treiben ein Ende setzen, bevor wir bis zu den Knöcheln im Blut stehen! Und bevor irgendwo der Leichnam meiner Nichte gefunden wird. Aber sie werden nichts herausfinden, weil sie – wie Sie sagten – genug mit den Blutspuren zu tun haben, die man mit dem bloßen Auge sehen kann. Ich will unsere Polizisten ja nicht als unfähig bezeichnen, sie geben sich Mühe. Ich glaube, Sergeant Adair wurde damit beauftragt, die Vermisstenfälle egal wie aufzuklären. Er hat Gens Apartment durchsuchen lassen, aber wenn sie wirklich aus freien Stücken untergetaucht ist, dann hat sie nur ihre Geldbörse bei sich und die Kleidung, die sie am Leib trug. Nicht mal einen Mantel hat sie mitgenommen. Sie waren auch in ihrem Büro, sie haben versucht, Leute auf der Straße zu befragen. Leider weiß ich nichts über ihre engsten Freunde. Oder ob sie mit einem Mann ausging. Die grundlegenden Dinge wurden erledigt, aber sie führten zu keinem Ergebnis. Fest steht nur, dass sie fort ist, und das wusste ich schon vorher. Also habe ich Sie beauftragt.”

“Ich werde mein Bestes tun.”

“Und Sie werden Genevieve finden”, erwiderte sie mit leidenschaftlicher Stimme. “Weil Sie die Suche nach ihr zu Ihrer wichtigsten Aufgabe machen werden, der Sie sich von früh bis spät widmen. Ich werde Sie auch gut dafür bezahlen.”

Er steckte das Foto ein. “Sie kennen meinen Tagessatz. Ich arbeite nicht, um gut bezahlt zu werden. Wenn ich einen Fall übernehme, widme ich mich ihm immer von früh bis spät, bis ich eine Antwort gefunden habe. Aber ich muss jederzeit auf Ihre Hilfe zurückgreifen können. Seien Sie also darauf gefasst, dass ich Sie anrufe, sobald ich eine Frage habe”, warnte er sie. “Ich muss jetzt erst einmal das, was Sie mir heute Abend erzählt haben, sacken lassen und dann schauen, was ich sonst noch in Erfahrung bringen kann. Aber ich brauche mehr Unterstützung von Ihnen. Ich brauche alles – alles, was Sie wissen oder was Ihnen noch einfällt. Und verschweigen Sie mir nichts. Ich arbeite für Sie, also wird nichts von dem, was Sie mir anvertrauen, nach außen dringen. Verschweigen Sie mir nichts, nur weil es Ihnen oder Ihrer Familie peinlich sein könnte. Haben Sie mich verstanden, Mrs. Brideswell? Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie nicht komplett ehrlich zu mir sind, ganz egal, wie viel Geld Sie mir zahlen.”

Sie nickte, griff nach ihrer Handtasche und holte einen kleinen Notizblock heraus. “Ich habe alles aufgeschrieben, was ich weiß, Namen und Orte, die ich mal von ihr gehört habe … alles, was mir noch eingefallen ist und was Ihnen vielleicht weiterhilft.” Sie nahm einen Stift und notierte noch etwas. “Das ist der Titel des Klatschblatts, von dem ich sprach”, erklärte sie leise. “Das ist alles.”

“Ich werde tun, was ich kann.” Er nahm den Notizblock entgegen.

Sie griff nach ihrer Teetasse, während ihr Blick auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet war. Ihr Tee musste längst eiskalt sein.

“Das mit Ihrem Cousin tut mir sehr leid”, sagte sie plötzlich.

“Danke.” Ihre Worte trafen ihn unvorbereitet, aber natürlich wusste er sofort, was sie meinte.

“Sein Tod war ein großer Verlust für die Stadt, und für Sie war es natürlich eine persönliche Tragödie. Daher möchte ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen.” Tränen stiegen ihr in die Augen. “Ich war an dem Abend dort, müssen Sie wissen.”

“Das war mir nicht bekannt”, erwiderte er.

“Erst später erfuhr ich, dass Gen auch gern hingegangen wäre. Rückblickend bin ich froh, dass ich davon nicht früh genug erfahren hatte, um sie noch einzuladen. Sie hatte über die Jahre hinweg viele von den Leuten kennengelernt, die dort zu Gast waren, und es gab auch etliche enge Kontakte zur Polizei. Bei einer Sozialarbeiterin bleibt so etwas gar nicht aus. Und natürlich kannte sie Greta durch mich.”

Joe konnte nicht anders und beugte sich vor. “Was haben Sie von diesem Abend noch in Erinnerung?”

“Die Lichter, die Musik, die wunderschönen Roben, der Glamour … Ich stand im Eingang, als sich die Explosion ereignete. Man trieb uns zusammen und brachte uns sofort nach draußen. Ich weiß noch, wie ich auf der Straße stand und nicht fassen konnte, was sich da gerade abgespielt hatte. Ich erinnere mich an die Sirenen, die Rettungswagen, die Sanitäter … und an die Leichensäcke”, schilderte sie ihre Eindrücke. “Es tut mir so leid.”

“Danke, Eileen. Erinnern Sie Sich an irgendetwas Ungewöhnliches?”, hakte er nach.

Sie lächelte ihn gequält an. “Sie haben jemanden verloren, der Ihnen wichtig war, deshalb suchen Sie nach einem Grund, einer genaueren Erklärung als einer Gasexplosion. Nein, leider ist alles andere an diesem Abend nur noch eine verschwommene Erinnerung. Ich unterhielt mich gerade, als es einen Knall gab, wie bei einem Donnerschlag. Jemand schrie: ‘Feuer!’ Die Leute gerieten in Panik. Dann kam die Polizei und brachte uns nach draußen.”

Joe nickte. Was für eine Antwort hatte er sich denn erhofft?

“Nochmals danke”, sagte er.

Ihre Blicke trafen sich, und Eileen sprach in flehendem Tonfall: “Ich muss Genevieve wiederfinden, Mr. Connolly. Bitte helfen Sie mir dabei.”

Obwohl sie so erhaben und fast schon etwas arrogant vor ihm saß, griff er nach ihrer Hand und drückte sie sanft. “Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht”, versprach er ihr ernst.

Sie schien sich fast zu einem Lächeln durchzuringen, dann drehte sie ihre Hand so, dass sie seinen Griff erwidern konnte. Ihr Händedruck war kraftvoll und vermittelte das gleiche Gefühl von Verzweiflung, das in ihrer Stimme mitschwang.

Einige Minuten lang unterhielten sie sich noch über Genevieve, und während die junge Frau auf dem Foto für ihn langsam lebendig wurde, machte sich Joe bereits erste Gedanken darüber, wo er mit seinen Nachforschungen anfangen würde. Zunächst einmal wollte er sich ansehen, was die Polizeiarbeit ergeben hatte. Dann würde er dort ansetzen, wo die Polizei aus gesetzlichen Gründen nicht ermitteln durfte.

Es waren noch andere im Haus.

Das wusste er von Anfang an.

Zunächst war es nur ein vages Gefühl. Sie nahmen keine Notiz von ihm, schienen ihn nicht zu sehen oder nicht wahrzunehmen. Dennoch war ihm bewusst, dass er nicht allein war.

Zum Beispiel war da diese Frau in der Küche. Sie stand immer am Herd und rührte in etwas, von dem er glaubte, es sei ein Topf über einer offenen Feuerstelle. Sie war jung und hübsch und nach der Mode aus der Kolonialzeit gekleidet, zu der auch eine kleine Morgenhaube gehörte. Er konnte nicht sagen, ob sie eine Geliebte oder eine Dienerin war, er wusste nur, dass sie während ihrer Arbeit eine kleine angenehme Melodie vor sich hin summte. Von Zeit zu Zeit straffte sie die Schultern, drückte den Rücken durch und verzog schmerzhaft ihr Gesicht. Dann drehte sie sich um, riss entsetzt die Augen auf und sank zu Boden … wo ihre Gestalt verblasste und verschwand.

Dann war da der Soldat an der Eingangstür. Er stolperte ins Haus und klammerte sich dabei an die neblige Silhouette eines anderen Individuums. Er flüsterte etwas von Verrat, dann fiel auch er hin und verblasste.

Er wollte keiner von ihnen sein. Er wollte nicht bis in alle Ewigkeit im Anrichtezimmer neben dem Herd stehen, amüsiert über etwas lachen, einen Blick durch den Raum werfen … und dann in der Erinnerung an eine Explosion verschwinden.

Nach einer Weile erkannte er jedoch, dass die anderen mehr taten, als nur wieder und wieder die letzten Augenblicke ihres irdischen Daseins zu durchleben. Sie nahmen sich untereinander wahr, obwohl sie sich zu Lebzeiten vermutlich nie begegnet waren. Von Zeit zu Zeit kamen sie zusammen, während er …

Nein, er musste sich keine Sorgen machen, für immer und ewig das Anrichtezimmer heimzusuchen. Nicht einmal das brachte er zuwege. Er konnte nur … wahrnehmen.

Autor

Heather Graham
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