Historical Saison Band 102

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ZAUBERHAFTE FEINDIN von BRONWYN SCOTT
Rache! An nichts anderes kann Inigo Vellanoweth, der Earl of Tintagel, mehr denken. Er ist überzeugt, dass die schöne Audevere schuld am Tod seines besten Freundes ist. Dafür soll sie büßen! Doch zu Inigos Überraschung ist Audevere nicht nur überwältigend klug und charmant, sondern sie steht ihm zur Seite und will den Übeltäter genauso bestraft wissen wie er. Ist sie wirklich unschuldig oder nur unglaublich raffiniert?

EIN DUKE MIT DOPPELLEBEN von BRONWYN SCOTT
Vennor Penlerick führt ein Doppelleben. Tagsüber ist er der galante Duke of Newlyn; nachts versucht er, die Mörder seiner Eltern zu stellen, da die Polizei den Fall längst aufgegeben hat. Ausgerechnet seine beste Freundin Marianne, die nichts von seinem Doppelleben ahnt, hat sich in den hübschen Kopf gesetzt, die Mörder seiner Eltern ebenfalls zu überführen. Wie soll er nur ihr Leben schützen und gleichzeitig sein Geheimnis vor ihr bewahren?


  • Erscheinungstag 14.10.2023
  • Bandnummer 102
  • ISBN / Artikelnummer 8090230102
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

BRONWYN SCOTT

Historical Saison Band 102

1. KAPITEL

London, September 1824

Die Frau, die einem Mann kurz vor der geplanten Hochzeit den Laufpass gegeben hatte, wollte also heiraten. Fünf Jahre nach dem letzten Versuch, und wieder hatte sie einen Angehörigen des Hochadels im Sinn. Zumindest ließ sich diese Neuigkeit den Gesellschaftsspalten entnehmen, deren Schreiber nur allzu oft richtiglagen. Inigo Vellanoweth legte die Morgenausgabe der Zeitung beiseite und trank einen belebenden Schluck Kaffee – glühend heiß, stark und bitter, um die Nachricht hinunterspülen.

Schließlich hatte es so kommen müssen. Das Überraschende war vielleicht vielmehr, dass es nicht schon deutlich früher geschehen war. Indes änderte das nichts an dem Schock, es schwarz auf weiß vor Augen zu haben.

Die gedruckte Fassung von Neuigkeiten verlieh ihnen gewissermaßen einen offiziellen Charakter. Sie verwandelte Gerüchte in Tatsachen. Inigo hatten diese speziellen Gerüchte die ganze Saison über verfolgt – doch jede Erwähnung von ihr und dem aufrechten Viscount Tremblay wurde von den beiden großen Ereignissen des Sommers überlagert: der Ankunft und dem Tod des hawaiianischen Königs und Cassian Truscotts Werben um Penrose Prideaux.

Der heutigen Frühausgabe der Times zufolge war die Verbindung zwischen der Treulosen und Tremblay eine ausgemachte Sache. Schon bald erwartete man, dass der Viscount um ihre Hand anhielt – im September, wenn die meisten Mitglieder der feinen Gesellschaft London verlassen hatten. Folglich würde wahrscheinlich keiner von Rang und Namen dagegen aufbegehren, noch würde sich jemand um ihre Vorgeschichte scheren. Erkannte außer ihm niemand das Kalkül ihres Vaters, das sich zweifellos dahinter verbarg?

Während Inigo las, kamen ihm immer mehr Fragen in den Sinn, die sich mit Gefühlen vermischten, die er sich lieber nicht eingestand. Er wollte nicht an sie denken, an die Vergangenheit, in der sich ihre Wege gekreuzt hatten, weder an sein Versagen, wenn es um sie ging, noch an ihren verachtenswerten Vater.

Meinte sie es diesmal mit der Ehe ernst, oder ging es nur um eine weitere Gelegenheit, einen Angehörigen des Hochadels zu ruinieren, um dem Vater Vorteile zu verschaffen? Immerhin war sie inzwischen zweiundzwanzig Jahre alt, nicht mehr so jung wie einst, und Viscount Tremblay, ihre neueste Eroberung, war ein Mann, der mitten im Leben stand – eine gute Partie in jeder Hinsicht. Doch für die Treulose hatte es mit Collin Truscott, dem zweitältesten Sohn des Duke of Hayle, bereits die Möglichkeit zu einer vorteilhaften Ehe gegeben – sogar einer ausgesprochen vorteilhaften für die Tochter eines erst kürzlich zum Ritter Geschlagenen. Der ehrgeizige Sir Gismond Brenley stieg eifrig die gesellschaftliche Leiter hoch, wobei er als Mittel zum Zweck alles und jeden benutzte, was ihm zur Verfügung stand – einschließlich seiner eigenen Tochter, der wunderschönen Audevere.

Selbst jetzt, fünf Jahre nach der Tragödie, und in dem Wissen, zu welcher Täuschung sie fähig war und wie sehr er sich vor ihrem Zauber hüten musste, sah Inigo sie vor seinem inneren Auge, wie er sie einst bewundernd betrachtet hatte: ihr glänzendes blondes Haar, der freiliegende Hals, wenn sie lachte – ein tiefes, kehliges Geräusch, das einen Mann von Verführung bei Kerzenschein träumen ließ, und davon, die mit Perlen verzierten Haarnadeln aus der kunstvollen Frisur zu entfernen und ihr prachtvolles Haar zu lösen. Er erinnerte sich an den flirtenden und funkelnden Blick ihrer grünen Augen, in denen Klugheit und Witz aufblitzten, und daran, wie sie mit einem geheimnisvollen Lächeln zu Collin hinübergesehen hatte.

Oh, wie er Collin Truscott, seinen Freund – einen seiner damals besten Freunde –, darum beneidet hatte! Tief in seinem Herzen hatte Inigo sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass eine Frau ihn anlächelte, wie Audevere es bei Collin tat – eine Frau, die ihn mit ihrem geistreichen Humor zum Lachen brachte, eine Frau, die Intelligenz besaß und sich nicht davor fürchtete, sie zu benutzen. Das unterschied sie gewaltig von den anderen Debütantinnen, die sich dem Erben eines Dukes präsentierten. Inigo stieß sich vom Tisch ab und begann, aufgewühlt von den Erinnerungen, im Zimmer auf und ab zu schreiten. Indes bot die Junggesellenwohnung in der Jermyn Street nicht genug Platz, um vor der Wahrheit davonzulaufen.

In seinen dunkleren, ehrlicheren Momenten gestand Inigo sich ein, dass er nicht irgendeine Frau wollte, mit der er solche Augenblicke teilen konnte. Er hatte sie gewollt. Er hatte Audevere begehrt, die Verlobte seines Freundes. Das hatte ihn damals beschämt, und es beschämte ihn noch immer, denn sie war nicht unschuldig an den ruchlosen Machenschaften ihres Vaters. Sie trug eine Mitschuld an Collins Tod. Nur seine Wunschvorstellungen leugneten diese Wahrheit. In ihnen war sie eine unwissende Komplizin, die sich der tiefen Verkommenheit ihres Vaters nicht bewusst war, zuweilen sogar ein Opfer, das gegen den eigenen Willen gezwungen wurde, bei den schäbigen väterlichen Plänen mitzuspielen. Schon vor Jahren hatte Inigo sich angewöhnt, Entschuldigungen für sie und für sich selbst zu ersinnen.

Ganz gleich, wie oft er sich ermahnte, dass sein Begehren eine Sünde und seine damalige Eifersucht erbärmlich war, die Sehnsucht hatte nicht nachgelassen. Dafür verachtete er sich. Er war der Erbe und älteste Sohn des Duke of Boscastle. Er war ein Mann von außergewöhnlichem Wohlstand, der die Gabe besaß, eine gewisse Geldsumme in unvorstellbaren Reichtum zu verwandeln. Er hatte alles, und doch war er auf Collin eifersüchtig gewesen – einen Mann, der niemals einen Titel erben und immer im Schatten anderer leben würde. Außerdem hatte Collin nicht den geringsten Geschäftssinn besessen. Er war ein Mann, den nur sein gutes Aussehen und seine gewinnende Art empfohlen hatten und der immer auf die Verbindungen und den Reichtum seiner Familie vertrauen musste, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Doch diese Einsichten hatten einen Fünfundzwanzigjährigen, der sich verzweifelt verliebt hatte, nicht umstimmen können. Insgeheim war er auf Collin eifersüchtig gewesen, bis der unglückliche Freund vor Porth Karrek weit hinausgeschwommen und prompt ertrunken war. Das war auf den Tag genau eine Woche, nachdem Audevere ihre Verlobung mit ihm aufgelöst hatte, und zwei Wochen, nachdem die letzte geschäftliche Unternehmung mit Audeveres Vater auf desaströse Weise gescheitert war. Viele Menschen hatten ihre Arbeit und ihr Zuhause verloren. Collins Eltern hatten den Tod des Sohnes als Unfall bezeichnet, aber diejenigen, die Collin genauer kannten, wussten es besser. Die Brenleys, Vater und Tochter gemeinsam, hatten seinen unglücklichen Freund in den finanziellen und menschlichen Bankrott getrieben, seinen Lebenswillen gebrochen.

Und dafür würden sie zahlen. Inigo hatte sich am Abend von Collins Tod geschworen, Brenley zu Fall zu bringen. Niemand sollte mehr dessen üblen Intrigen zum Opfer fallen. Das war der Beginn seiner Nachforschungen gewesen, fünf Jahre, in denen er die vielen schmutzigen Spuren von Gismond Brenleys Geld überallhin verfolgt hatte und versuchte, sie wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Doch sehr oft hatte keiner genau hingesehen, nichts war gründlich überprüft worden, vielen war es einfach gleichgültig gewesen. Spielte es eine Rolle? Brenley ging mit Umsicht und Bedacht vor. Auf den ersten Blick tat er nichts offen Gesetzwidriges, nur eben Dinge, die einen widerwärtigen Beigeschmack hatten, je nachdem, ob man Grundsätze besaß oder nicht.

Inigo blieb stehen. Verfügte Tremblay über das nötige Wissen, um seinem künftigen Schwiegervater mit entsprechender Vorsicht zu begegnen? Blickte er hinter die Fassade der vermeintlich glorreichen Heldentaten im Krieg gegen Napoleon, die zu Brenleys Rittschlag geführt hatten? Wusste er, dass Brenley plötzlich immens reich geworden war, als das Parlament die Entscheidung getroffen hatte, neue Straßen durch bestimmte Dörfer und nicht durch andere zu führen? Verstand Tremblay, weshalb es so wichtig gewesen war, Brenley im letzten Jahr aus dem Vorstand der Blaxland Mining Corporation zu drängen, um zu verhindern, dass er sich ein Monopol im Minengeschäft Cornwalls erschlich? Wusste Tremblay von all diesen Dingen, und war es ihm einfach nicht wichtig? Das erschien Inigo unwahrscheinlich, denn er kannte den Viscount als einen gewissenhaften Mann, der sich dem Allgemeinwohl verpflichtet sah. Lief Tremblay blind in sein Unglück, wie es bei Collin der Fall gewesen war – geblendet von Audeveres Schönheit?

Inigo begann wieder, auf und ab zu gehen – noch unruhiger als zuvor. War nicht vielmehr anzunehmen, dass Tremblay Erkundigungen über Brenley hatte einholen lassen? Inigo fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, sich auf Mutmaßungen zu verlassen. Damals hatte er auch angenommen, dass Collin wusste, worauf er sich einließ. Sollte er Tremblay warnen?

Auf keinen Fall wollte er das traurige Geheimnis der Familie Truscott lüften. Er würde seinen Freunden, die sich so bemüht hatten, Collins Ertrinken vor der Welt als Unfall hinzustellen, keinen neuen Schmerz zufügen, indem er ihrer Deutung widersprach. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, Tremblay zu warnen, ohne die Truscotts einem Skandal auszusetzen. Er musste es tun, denn der Viscount war ein Freund, und er durfte ihn nicht ins offene Messer rennen lassen.

Fest entschlossen ging Inigo in den kleinen Raum, der ihm als Arbeitszimmer diente. Er hatte Collin im Stich gelassen. Das würde ihm bei keinem weiteren Freund passieren. Ich werde mich mit Tremblay treffen – ihn vielleicht in den White’s Club einladen – und vor einer verheerenden Entscheidung warnen, bevor sich die Geschichte wiederholt.

„Ich nehme an, dass Tremblay über eure Heirat reden will, wenn wir uns heute Nachmittag bei Tattersall’s treffen.“ Kalt und erbarmungslos wie die See vor den Küsten Cornwalls im Winter brandeten die Worte Audevere Brenley entgegen. Ihr Vater war sich für ihren Geschmack zu sicher, dass sie seinen Anweisungen Folge leistete, und das schüchterte sie aus gutem Grund ein, auch wenn sie ihre Furcht verbarg. Dafür war es noch zu früh an diesem Tag. Furcht und Frühstück gehörten nicht zusammen.

„Sollte er nicht lieber mit mir über eine Ehe reden? Schließlich möchte er nicht dich heiraten.“ Sie nippte an ihrem Tee – einem starken schwarzen Ceylon – und gab sich so gelassen wie möglich. An einem solchen Punkt war sie schon zuvor gewesen. Der kritische Moment, an dem sie als Schachfigur geopfert werden sollte, damit die Falle ihres Vaters zuschnappte. Sie wollte nicht hier in London sein und erneut den Köder spielen, damit ihr Vater sich für seine Nachkommen einen höheren Rang sicherte. Bis seine potenziellen Enkel diesen Titel erben konnten, würde er den aktuellen Träger des Titels für seine Zwecke im Parlament manipulieren. Sie wollte in Cornwall sein, weit weg von Heiratsanträgen ahnungsloser Männer, die keine Vorstellung davon hatten, was für ein Desaster eine Heirat mit ihr bedeutete. Diese Männer sahen nur die wunderschöne Audevere, die Erbin, die nach einer merowingischen Königin des 6. Jahrhunderts benannt war. Ihr Geld war neu, der Name war alt.

Der Vater reagierte auf ihre Bemerkung, wie üblich, mit einer abwinkenden Handbewegung. „Tremblay weiß, dass es beim Ehegeschäft um den Vater geht. Dich zu fragen, ist nur fürs Auge.“

„Das hast du mal wieder bezaubernd ausgedrückt.“ Audevere warf ihm einen Blick zu, der verriet, was sie von dieser Einstellung hielt. „Warum sollte meine Meinung eine Rolle spielen? Es geht schließlich nur darum, wie und mit wem ich den Rest meines Lebens verbringe.“ Ihr Vater traf für sie Abmachungen mit Männern, seit sie sechzehn Jahre alt war. Sie hätte es als Anzeichen für seine Verderbtheit deuten sollen, aber sie war anfangs zu naiv gewesen und hatte sich zu sehr geschmeichelt gefühlt. Damals war sie in erster Linie darum bemüht gewesen, die Zustimmung des zuvor überwiegend abwesenden Vaters zu gewinnen. Die meiste Zeit ihres Lebens war er auf hoher See gewesen, und plötzlich stellte er die einzige Familie dar, die sie hatte.

„Da hast du verflucht recht, mein Mädchen.“ Der Vater wies mit den Zinken seiner Gabel auf sie. „Ein Leben, das zu deiner größten Zufriedenheit arrangiert wurde. Du wirst eine Lady sein, eine Viscountess und Angehörige des Hochadels. Nicht schlecht für die Tochter eines Mannes, der erst vor ein paar Jahren reich geworden ist. Sieh nur, wie rasch und weit wir in kurzer Zeit aufgestiegen sind. Habe ich das nicht gut gemacht?“ Ihr Vater streckte die Arme aus, als ob er das mit Prunk überladene Zimmer und jedes einzelne der kostspieligen, wenngleich geschmacklosen Einrichtungsstücke darin umarmen wollte.

„Ja, das hast du gut gemacht.“ Audevere bemühte sich, höflich zu lächeln. Es brachte nichts, mit ihm zu streiten, wenn er in dieser Stimmung war – unbelehrbar selbstzufrieden und in dem unerschütterlichen Glauben, unantastbar zu sein. In der Tat hatte er viel erreicht in den nur sieben kurzen Jahren, seit er zum Ritter geschlagen worden war. Aber zu welchem Preis? Vor fünf Jahren hatte sich ihr erster Verlobter, Collin Truscott, der zweite Sohn des Duke of Hayle, wegen der Gier ihres Vaters das Leben genommen. Nun hatte ihr Vater einen Viscount im Visier, der auf dieselbe Weise verschlungen werden sollte – durch eine eheliche Verbindung. Die Geschichte wiederholte sich, und es wurde Zeit, dem Einhalt zu gebieten.

„Schau doch, was uns allein die letzten fünf Jahre gebracht haben, Tochter.“ Ihr Vater füllte sich erneut den Teller. Ganz gleich, wie viel Geld er besaß, noch immer aß er wie ein Mann, der sich nicht sicher war, wann es eine nächste Mahlzeit geben würde. „Vielleicht ist das der Ausgleich der Vorsehung dafür, dass wir den Sohn des Dukes verloren haben. Truscott hätte nie einen Titel bekommen, aber Tremblay besitzt bereits einen. Ein Viscount ist ein viel besserer Fang als der zweite Sohn eines Dukes. Natürlich war ich selbst zu diesem Zeitpunkt gerade erst in den Ritterstand erhoben worden. Truscott war das Beste, was wir uns damals erhoffen konnten. Doch jetzt haben wir viel mehr erreicht.“

Angewidert schob Audevere ihren Teller zur Seite. Die taktlose Missachtung Collins und ihrer eigenen Gefühle raubte ihr jeden Appetit. Der junge Mann hatte ihr wirklich etwas bedeutet, und sie hatte aufrichtig um ihn getrauert. Noch immer erinnerte sie sich mit erschreckender Genauigkeit an den Tag, an dem sie von seinem Tod erfahren hatte. Cassian Truscott, Collins älterer Bruder, war durch Wind und Regen nach Truro geritten, um ihnen die furchtbare Nachricht zu überbringen. Sie war in das Arbeitszimmer ihres Vaters gerufen worden, in dem Cassian durchnässt auf sie gewartet hatte. Das Wasser war in Rinnsalen von seinem Paletot auf den teuren Teppich ihres Vaters gelaufen. Cassian war am Boden zerstört gewesen, als er es ihr gesagt hatte. „Collin ist tot. Er ist vor Porth Karrek ertrunken.“

Dabei hatte Cassian sie hart und vorwurfsvoll angestarrt. Sie verstand sofort, was das zu bedeuten hatte: Collin hatte sich dafür entschieden, zu ertrinken. Sie hatte sich von ihrem Verlobten losgesagt, und er hatte sich das Leben genommen. Das alles war ihre Schuld. Niemand ging im April allein im kalten Meer vor der Küste Cornwalls schwimmen. Kurz danach war Cassian aufgebrochen. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, war sie in Tränen ausgebrochen, aber ihr Vater hatte nur geflucht. „Verdammt noch mal! Da haben wir die ganze Saison verschwendet!“

An diesem Tag hatte sie das ganze Ausmaß seiner Verkommenheit erkannt, hatte erkannt, wer ihr Vater wirklich war: ein skrupelloser Opportunist, bereit, über Leichen zu gehen, nur um immer weiter aufzusteigen. Selbst seine Tochter benutzte er nur als Stufe auf seiner Trittleiter. Schon seit ein paar Jahren hatte sie es im tiefsten Inneren geahnt, es aber nicht wahrhaben wollen. Was spielte die Tochter schon für eine Rolle? Das Leben war ihm nicht heilig, und infolge von Collins Tod hatte sie ihn dafür gehasst und sich nicht darum bemüht, das zu verbergen. Dieser Reaktion war er unverzüglich mit der Offenlegung eines Geheimnisses begegnet, das alle Hoffnungen auf eine bessere Zukunft zugrunde richtete.

Ein Geheimnis, das dafür sorgte, dass sie an ihn gebunden blieb.

Ein Geheimnis, das bedeutete, dass sie niemals frei sein würde, solange sie blieb.

Rückblickend war sie zu der Einsicht gelangt, dass er ihr das verdammte Geheimnis aus Angst davor enthüllt hatte, sie würde fortlaufen. Jetzt hasste sie ihn nicht, sie fürchtete sich vor ihm. In Wahrheit hasste sie sich dafür, sich von ihrer Furcht bestimmen zu lassen, sich dieser Furcht gegenüber machtlos zu erweisen und daher machtlos zu sein, ihn aufzuhalten. Zu groß war die Angst davor gewesen, was mit ihr geschehen könnte oder mit einem Menschen, der ihr nahestand, wenn sie es versuchte. Aber das hatte nun ein Ende. Es wurde Zeit, die Angst zu überwinden und das Risiko einzugehen.

„Würdest du mich jetzt bitte entschuldigen, Vater?“ Sie stand vom Tisch auf, und ein Lakai rückte den Stuhl vor. „Ich habe Korrespondenz zu erledigen. In diesen Tagen halten sich die meisten Leute nicht mehr in London auf.“ Es war eine subtile Erinnerung, dass die wirklich angesagte Zeit der Saison längst verstrichen war und sie sich jetzt eigentlich in ihrem Stadthaus in Truro befinden sollten.

Ihr Vater winkte sie hinaus, und sie flüchtete sich nach oben, erleichtert, die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich zu schließen. Sie hätte im Damensalon auf der Rückseite des Hauses Briefe schreiben können, aber in ihrem Zimmer fühlte sie sich sicherer. Auf diese Weise entging sie den neugierigen Blicken der Bediensteten, die der Vater angewiesen hatte, sie genau im Auge zu behalten und jede ihrer Bewegungen zu überwachen. Hier oben hatte sie ein wenig Abstand zu ihrem Vater, der endlos Pläne für seinen gesellschaftlichen Aufstieg schmiedete, und zu den sogenannten Gentlemen, die ihn aus geschäftlichen Gründen aufsuchten. „Aus den Augen, aus dem Sinn“ schien ihr die einzig richtige Strategie zu sein, so weit wie möglich entfernt von den Gedanken ihres Vaters – auch wenn das heutige Gespräch über Tremblay bewies, dass sie nirgends weit genug von den väterlichen Machenschaften entfernt war.

Collins Tod hatte ihr einen zeitlichen Aufschub gewährt, aber nicht mehr. Während ihrer zweiten Saison hatte sein Tod sie wie ein Schutzschild umgeben. Aus Respekt für ihre Trauer hatte niemand sich ihr genähert. Ihr Vater hatte daran nichts ändern können, sonst hätte er in den Augen der feinen Gesellschaft wie der letzte Rüpel gewirkt. Ihre dritte Saison war von den Gerüchten über die üblen Geschäftspraktiken ihres Vaters in Bezug auf die Blaxland Mining Corporation in Cornwall überschattet worden. Er war mit den Cornish Dukes aneinandergeraten, und das war ihm schlecht bekommen. Zu seinem großen Verdruss war zu diesem Zeitpunkt niemand daran interessiert gewesen, ihr den Hof zu machen. Aber das Erinnerungsvermögen der feinen Kreise schien begrenzt. In diesem Jahr war sie Viscount Tremblay ins Auge gefallen, und ihr Vater hatte sich auf eine eheliche Verbindung versteift. Nur zu gut wusste er, dass sie im nächsten Jahr für ihn von weit geringerem Nutzen sein würde. Ein Mädchen, das in der fünften Saison war, galt als Ladenhüter, dem man mit Misstrauen begegnete.

Audevere saß hinter dem zierlichen weißen Schreibtisch am Fenster, durch das sie auf den Garten des Londoner Stadthauses blicken konnte. Sie schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Kopfschmerzen kündigten sich an. Der Gedanke, dass es höchste Zeit war, zu gehen, wurde zu einem immer dringlicheren Hämmern. Sie durfte sich nicht länger für die Manöver des Vaters missbrauchen lassen. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, nicht mehr siebzehn wie bei der Verlobung mit Collin. Mit Jugend und Naivität ließ sich ihre Tatenlosigkeit nicht länger entschuldigen. Es war an der Zeit, sich nicht mehr wie ein hilfloses Opfer zu verhalten. Kein Ritter in eiserner Rüstung würde ihr zu Hilfe eilen. Sie musste sich selbst retten.

Wenn sie nicht wollte, dass ein weiterer Mann den Plänen ihres Vaters zum Opfer fiel, musste sie jetzt handeln. Tat sie es nicht, würde sie noch vor Ablauf des Jahres mit Tremblay verheiratet sein. Diesmal würde sie eine erhebliche Mitschuld tragen, denn längst wusste sie, dass ihr Vater die Verbindung nur für seine Zwecke ausnutzen wollte. Aber wie konnte sie den Vater aufhalten? Er hatte eine ganze Liste von Männern in der Tasche, die ihm einen Gefallen schuldeten, und eine weitere von Männern, die sich davor fürchteten, erpresst zu werden.

Ganz allein würde sie nichts gegen ihn ausrichten können. Das war vollkommen aussichtslos. Sie hatte bereits alles in ihrer Macht Stehende getan, um Tremblay zu vergraulen, ohne dass ihr Vater es bemerken konnte. Dennoch schien der Viscount gewillt, um ihre Hand anzuhalten. Das vermochte sie nicht zu ändern, also musste sie die Hochzeit auf andere Weise verhindern. Schließlich konnte er keine Braut heiraten, die nicht mehr auffindbar war. Wenn sie verschwand, war Tremblay gerettet. Und ein verzweifelter Teil von ihr klammerte sich an eine Hoffnung, die sie schon fast aufgegeben hatte: Ich werde frei sein. Endlich.

Diese Freiheit hatte allerdings einen Preis. Wohin sollte sie gehen? Sie hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte, kannte keinen sicheren Ort, der ihr Zuflucht bot. Einerseits stand ihr die Welt offen. Sie konnte überall hingehen, eine andere sein, alles machen. Andererseits war die Welt ein gefährlicher Ort für eine einsame Frau mit begrenzten Mitteln, eine Frau, die alles würde aufgeben müssen – selbst ihren Namen. Sie nahm an, dass sie den Bediensteten entwischen konnte. Sie würde einen Spaziergang machen und nie wieder zurückkommen. Sie konnte in die Welt hinausgleiten mit nicht mehr als den Kleidern, die sie am Leibe trug, und dem Wenigen, was sie unbemerkt mitnehmen konnte. Doch das war ein unheilvoller Neubeginn, der zum Scheitern verurteilt war.

Audevere blickte in den herbstlichen Garten hinaus, der von den Gärtnern ihres Vaters tadellos gepflegt und herausgeputzt worden war. Sie würde Mut brauchen, um all das hinter sich zu lassen. Der auf zweifelhafte Weise erworbene Reichtum ihres Vaters ermöglichte ihr ein Leben in Luxus, das man nicht leichten Herzens aufgab. Sie hatte sich an die vielen Annehmlichkeiten gewöhnt, lange bevor sie erkannt hatte, dass andere Menschen für ihren Lebensstil gelitten hatten.

Sie holte tief Luft. Sie würde sich nicht mehr von ihrem Vorhaben abbringen lassen. Das Böse gedieh, wenn das Publikum bloß tatenlos zusah, und sie war mehr als eine Zuschauerin. Sie brauchte Hilfe. Sie benötigte einen Freund oder wenigstens einen Verbündeten – ein Mann, der ihr half, von hier fortzukommen. Es musste jemand sein, der die Unmenschlichkeit ihres Vaters kannte und sie deshalb nicht an ihn Vater verraten würde. Zugleich musste es sich um jemanden handeln, der ihr glaubte, dass ihr Vater ihr das Leben zur Hölle machte.

Audevere griff nach einem Bogen Papier und zog eine Linie durch die Mitte. Links notierte sie die Eigenschaften, die ihr Verbündeter besitzen musste: zuverlässig, mutig, mitfühlend, tatkräftig. Auf der rechten Seite machte sie eine Liste mit Freunden. Sie erwies sich als sehr kurz, weshalb sie die Namen von Bekannten hinzufügte – alle, die nichts mit den Geschäften ihres Vaters zu tun hatten oder ihm anderweitig verbunden waren. Insgesamt kam sie gerade einmal auf elf Namen.

Die ersten vier strich sie durch, weil sie dem einen oder anderen Kriterium nicht entsprachen. Die letzten sieben hatten etwas gemeinsam. Sie alle waren mit Collin verbunden: dessen Vater und seine engsten Freunde. Eine Zeit lang waren es durch ihre Verbindung zu Collin auch ihre Freunde gewesen. Für eine Weile war sie Teil dieses außergewöhnlichen Kreises gewesen, in dem jeder für jeden einstand. Sie hatte erfahren, was es hieß, zum Kreis der Cornish Dukes zu gehören. Würden sie ihr erneut ihr Vertrauen schenken, nachdem sie die Verlobung mit Collin gelöst hatte? Nach Collins Tod war der Kontakt zu ihnen abgebrochen. Es erschien lächerlich zu glauben, dass sie bereit sein würden, irgendetwas für sie zu tun. Doch ihre verzweifelte Situation ließ ihr keine andere Wahl, als sich an diese Hoffnung zu klammern.

Zögerlich ging Audevere die verbliebenen Namen durch. Eaton Falmage hatte inzwischen eine Familie. Ihr Vater war in den Mordversuch an Eatons Frau im letzten Jahr verstrickt gewesen. Eaton konnte sie unmöglich fragen. Sie strich seinen Namen durch. Cassian Truscott war in den Flitterwochen und befand sich außer Landes. Vennor Penlerick, der neue Duke of Newlyn, trauerte noch immer um seine Eltern. Es blieb nur ein Name übrig: Inigo Vellanoweth, der Mann, der ihr einst recht deutlich gesagt hatte, dass sie nicht gut genug für Collin war. Es war nicht gerade ermutigend, sich an ihn zu wenden, aber wahrscheinlich blieb ihr nichts anderes übrig.

Inigo Vellanoweth erfüllte alle Kriterien, und es hieß, dass er sich noch immer in der Stadt aufhielt. Im letzten Jahr hatte er sich ihrem Vater entgegengestellt, als es um die Blaxland-Minen gegangen war, und er hatte gewonnen. Vielleicht obsiegte Inigos anhaltender Wunsch, sich an ihrem Vater zu rächen, über die Abneigung gegen sie. Sie würde es nie erfahren, wenn sie ihn nicht fragte. Sie zog einen neuen Papierbogen hervor und begann zu schreiben – eine einfach ausgedrückte Bitte, sie morgen Abend auf dem Ball der Bradfords zu treffen. Jetzt musste sie nur noch unbemerkt in den hinteren Garten gelangen und einem Straßenjungen ein paar Münzen dafür in die Hand drücken, dass er die Botschaft zu Inigos Adresse brachte.

Ab jetzt war Mut gefragt. Von heute an wollte sie mutig sein.

2. KAPITEL

Mut erforderte Geduld, wie es schien. Damit hatte sie nicht gerechnet. Für Geduld brauchte man Nerven aus Stahl, um so zu tun, als ob sich nichts verändert hätte. Schon einen Tag, nachdem sie die Nachricht an Inigo geschickt hatte, ging sie rastlos in ihrem Zimmer auf und ab und ertappte sich dabei, dass sie beim leisesten Geräusch zusammenzuckte. Es war, als wären ihre Sinne geschärft und reagierten auf die kleinsten Veränderungen. Gerade hörte sie, wie sich unten die Haustür öffnete. Ihr Vater war nach Hause gekommen. Sie hatte ihn seit dem gestrigen Frühstück nicht mehr gesehen. Bestimmt brachte er Neuigkeiten mit, und das übliche Gebrüll würde nicht ausbleiben. Einmal Kapitän zur See, immer Kapitän zur See. Sie zählte die Sekunden herunter: drei, zwei, eins. Und wie aufs Stichwort …

„Audevere!“ Die laute Stimme des Vaters donnerte dröhnend über die große Treppe von Brenley House zu ihr nach oben und hallte von den holzverkleideten Wänden wider, als ob er sich noch immer an Bord eines Schiffes befände. Audevere erschauderte. Sie warf einen Blick auf ihre kleine Uhr. Wenn die Zeit doch bloß schneller verginge! Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der abendliche Ball begann. Wenigstens war sie auf die Begegnung mit Inigo vorbereitet. Sie hatte ihren Text einstudiert, jedes Wort, das sie zu ihm sagen wollte. Dabei hatte sie sich auf alle Argumente vorbereitet, die Inigo vorbringen konnte, um ihre Bitte abzulehnen. Zweifellos würde er sich nur schwer überzeugen lassen.

Früher waren sie gut darin gewesen, einander Wortgefechte zu liefern. Einst hatte sie sich sogar auf die Rededuelle mit Inigo gefreut. Er besaß eine rasche Auffassungsgabe und einen scharfen Verstand, wenngleich das alles vor dem Hintergrund von Collins heiterer Art einen finsteren Zug hatte. Die Erinnerung an diese geistreichen Debatten zauberte ein leises Lächeln auf ihre Lippen, während das Gebell der väterlichen Stimme erneut das Treppenhaus erfüllte. „Audevere, auf der Stelle nach unten!“ Ihr Vater mochte sich den Anschein eines Gentlemans geben, die Kleider eines Gentlemans tragen und im Haus eines Gentlemans wohnen, aber er würde stets ein Kapitän zur See sein. In allen Dingen erwartete er unverzüglichen Gehorsam. Rasch hatte sie gelernt, das Rufen des Vaters nicht zu ignorieren, obgleich selten jemand wegen guter Nachrichten zu ihm zitiert wurde.

Sie fand ihn in seinem Arbeitszimmer vor. Breitbeinig, mit geraden Schultern und die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stand er neben dem wuchtigen, polierten Mahagoni-Schreibtisch, von dem aus er seine Geschäfte führte. „Vater, was ist passiert?“ Sie schützte Interesse vor, um ihre Nervosität zu verbergen. Inständig hoffte sie, dass ihr Schreiben an Inigo nicht abgefangen worden war und sie nicht zu ihm zitiert wurde, um bestraft zu werden.

Er lächelte breit, und ihre Befürchtungen verringerten sich. Ihre kleine List schien nicht bemerkt worden zu sein. „Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht. Das ist passiert.“ Er wies auf die lange Schachtel eines Modisten, die auf dem tiefen Tisch vor dem Sofa lag. Sie war mit einem blassrosa Satinband und Schleife umwickelt – dem Markenzeichen eines der feinsten Tuchhändler Londons.

„Für mich?“ Audevere strich liebevoll über die weiche Atlasseide der Schleife, während ihr Verstand längst Alarm schlug. Es handelte sich um ein sehr teures und unerwartetes Geschenk. Allein das Zierband kostete den Monatslohn eines Arbeiters. Sie war fünfzehn Jahre alt gewesen, als ihr Vater reich geworden war, alt genug, um sich an das Leben vor seinem Ritterschlag zu erinnern, bevor der Wohlstand es ihr erlaubte, nicht mehr jeden Penny dreimal umzudrehen. Gleichzeitig war sie zu jung gewesen, um überflüssigen Tand infrage zu stellen, und zu naiv, um zu erkennen, welchen Preis das Vermögen des Vaters hatte.

„Nun, mach schon, Mädchen. Öffne die Schachtel und sieh nach, ob es dir passt.“ Der Vater machte eine ungeduldige Handbewegung. Es war nicht zu übersehen, dass er stolz war, weil er es sich leisten konnte, in einem so teuren Geschäft einzukaufen. Selbst nach mehr als sieben Jahren hatte das für ihn nicht an Reiz verloren, auch wenn es sich bei ihr anders verhielt. Ganz gleich, wie hübsch die Schleife oder die Schachtel waren, kein Geschenk ihres Vaters oder seiner Freunde kam ohne Bedingungen, für alles wurde eine Gegenleistung erwartet. Diese Lektion hatte sie auf schmerzhafte Art und Weise gelernt.

Weiterhin auf der Hut, löste Audevere das Band und legte es behutsam zur Seite. Es war ellenlang, und sie würde einen Teil davon ihrer Zofe schenken. Patsy war innerhalb der Mauern von Brenley House vielleicht ihre einzige Freundin. Die junge Frau würde sich wie eine Schneekönigin darüber freuen. Audevere entfernte das weiße Seidenpapier. Trotz aller Bedenken verschlug es ihr fast die Sprache, als sie das Kleid aus der Schachtel hob. „Oh! Das ist bezaubernd!“

Sie hielt sich das Kleid vor und breitete die Röcke aus. Bezaubernd war eine Untertreibung. Preiselbeerrote Atlasseide schimmerte unter einem Überkleid aus weicher elfenbeinfarbener Spitze, elegant mit einem breiten Band tailliert … Das Kleid war eine atemberaubende modische Hommage an den Herbst. Audevere konnte nur erahnen, wie viele Stunden sorgfältigster Arbeit allein die Herstellung der filigranen Spitze gekostet hatte. Früher hätte sie sich nie erträumt, einmal etwas so Feines zu besitzen.

Sie drehte sich schwungvoll mit dem Kleid im Kreis und wiegte sich für einen Moment in dem Wunschtraum, einen normalen Vater zu haben, der seine Tochter verwöhnte, weil er sie liebte und ihr eine Freude machen wollte. „Ich werde es heute auf dem Ball der Bradfords tragen.“ Kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, löste sich die Wunschvorstellung in Luft auf.

„Davon bin ich ausgegangen. Ich hatte es in der Erwartung bestellt, deine Verlobung zu verkünden …“, sagte er, ohne seine vorwurfsvolle Enttäuschung zu verbergen, „… aber nun brauchen wir das Kleid, um für die Schlacht gerüstet zu sein, oder wir verlieren den Viscount.“

Aha. Daher wehte also der Wind. Die Neuigkeit überraschte sie. „Ihn verlieren?“ Audevere blickte von dem wundervollen Stoff hoch. „Ist etwas bei Tattersall’s vorgefallen?“ Sie legte das Kleid seufzend zurück in die Schachtel. Einerseits war sie erleichtert, dass der Viscount dem Angelhaken ihres Vaters zu entschlüpfen schien. Andererseits würde der Vater nun wieder verstärkten Druck auf sie ausüben, damit sie den Viscount wieder einfing.

„Tremblay ist nicht gekommen. Kannst du dir das vorstellen? Er schickte nur eine kurze Notiz, dass er durch eine Geschäftsangelegenheit aufgehalten sei.“ Die Miene des Vaters verfinsterte sich. „Selbstverständlich wollte ich der Sache auf den Grund gehen. Schließlich war doch im Vorfeld klar, um was es bei dem heutigen Treffen mit mir gehen sollte. Ich fand heraus, dass diese wichtige Geschäftsangelegenheit darin bestand, den Nachmittag mit Inigo Vellanoweth im White’s Club zu verbringen. Und nun weigert Tremblay sich, mich zu empfangen. Mit seinem Verhalten beleidigt er sowohl dich als auch mich.“ Er schlug so fest mit der Faust auf die Schreibtischplatte, dass das Tintenfass nach oben hüpfte. „Den ganzen Sommer über haben wir daran gearbeitet, und so behandelt Tremblay mich jetzt? Immerhin gehöre ich dem Ritterstand an!“

Darum ging es letztlich immer: um ihn, um seinen Titel, seinen Willen. Audevere war nie einem Mann begegnet, der selbstsüchtiger oder gefährlicher war.

Sie dachte rasch darüber nach, was der Vater ihr gerade enthüllt hatte: Tremblay hatte Inigo getroffen. War das wegen ihrer Nachricht geschehen? Oder hatte Inigo ihre Botschaft noch gar nicht erhalten? Wie gern sie das gewusst hätte. Möglicherweise hatte das Treffen unabhängig von ihrer Nachricht stattgefunden, weil Inigo sich noch immer an ihrem Vater rächen wollte – und vielleicht auch an ihr. War sein Hass auf sie auch nach fünf Jahren noch immer so stark? Diese Deutung verhieß für den Abend nichts Gutes. Sie musste noch vorsichtiger vorgehen, als sie gedacht hatte.

„Du musst Tremblay zurückholen“, sagte ihr Vater zornig. „Tintagel flößt ihm Gift ins Ohr. Heute Abend tanzt du mit Tremblay, machst ihm schöne Augen, nimmst ihn mit hinaus auf die Terrasse und küsst ihn. Suche dir ein paar zuverlässige Freunde, die das bezeugen können, wenn es nötig ist“, fügte er mit knurrender Stimme hinzu. „Der Viscount soll endlich unsere Erwartungen erfüllen. Er muss um deine Hand anhalten, bevor er auf die Idee kommt, die Stadt zu verlassen, oder bevor Tintagel unseren Plan vermasselt, wie er es bei dem Geschäft mit den Blaxland-Minen getan hat. Ich will verflucht sein, wenn wir Tremblay jetzt noch entkommen lassen.“ Er hielt inne. „Was ist los? Du siehst entsetzt aus. Was ich von dir verlange, ist doch nichts, was du nicht schon zuvor getan hättest.“

Nein, das nicht, nur mit dem Unterschied, dass sie sich jetzt schuldig fühlte, Mitleid hatte und sich schämte. Seit sie sechzehn Jahre alt war, bezirzte sie auf sein Geheiß seine Freunde und Geschäftspartner. Wie oft hatte sie einem Mann geschmeichelt, bis er sich wichtig fühlte, sodass ihr Vater Aufträge bekam, vorteilhafte Geschäfte abschloss und die weniger Scharfsinnigen hinters Licht führen konnte? Diesmal nicht!, schwor sich Audevere. Es tat nicht weh, heute Abend mit dem Viscount zu tanzen, aber sie würde ihn nicht zur Ehe zwingen und sich auch nicht selbst vor den Altar zerren lassen. Wenn sie noch irgendeinen Zweifel gehegt hatte, ob es richtig gewesen war, sich Hilfe suchend an Inigo zu wenden, sah sie sich nun bestätigt. Sie musste unverzüglich handeln, und der heutige Ball bot ihr die Gelegenheit, mit Inigo zu reden. „Mit gefällt die Idee nicht, Tremblay zu einer Ehe zu zwingen.“

„Wir zwingen ihn zu gar nichts.“ Ihr Vater lächelte frostig. „Wir erinnern ihn lediglich daran, wie gern er dich hat.“ Er kam auf sie zu und hob unsanft ihr Kinn. „Muss ich dir etwa in Erinnerung rufen, was alles für dich auf dem Spiel steht?“

Es war seine unterschwellige Art und Weise, damit zu drohen, was er enthüllen würde, falls sie sich seinen Anweisungen widersetzte. Sie ging nicht davon aus, dass er zögern würde, es zu tun. Er war kein guter Vater. Er hatte dafür gesorgt, dass es für sie keinen Ausweg gab, dass sie keine engen Freunde hatte, an die sie sich wenden konnte, und nicht die geringste Unabhängigkeit besaß. Aber da sie nun gewillt war, das Risiko einer Flucht einzugehen, mochte es sich anders verhalten. Sie durfte nicht den Mut verlieren. Ab jetzt ist Mut gefragt, sagte sie sich erneut. Es ist Zeit, zu gehen.

Er lächelte, als wäre sein Handeln nur von väterlicher Fürsorge bestimmt. „Enttäusche mich nicht, mein Schätzchen.“

Sie hatte ihn schon einmal enttäuscht. Einen weiteren toten Aristokraten konnte sie sich nicht leisten.

Audevere ist hier. Nachdem Inigo ihr fünf Jahre aus dem Weg gegangen war, befand sie sich an diesem Abend plötzlich nur wenige Meter von ihm entfernt. Seine Erinnerungen an sie wurden ihr nicht gerecht. Er wandte den Blick keinen Moment von ihr ab, während sie durch den Ballsaal ging. Er blieb stehen, wenn sie stehen blieb, bewegte sich, wenn sie voranschritt. Er nahm jedes Detail an ihr wahr: Ihr Haar schien ihm heller, ihre Gesichtszüge noch feiner, die grünen Augen noch strahlender. Ihre klassische Schönheit hatte sich in den letzten Jahren vervollkommnet. Er ahnte, dass es nicht die Umgebung bei den Bradfords war, die ihr einen solch überwältigenden Glanz verlieh. Wahrscheinlich würde ihr Anblick ihm den Atem rauben, unabhängig davon, wo sie sich befand, von wem sie umgeben war und was sie getan hatte. Das Letztere konnte er nicht vergessen. Sie hatte bei Collins Schicksal ihre Hand im Spiel gehabt. Dieses Wissen hatte jahrelang seinen Zorn geschürt. Er konnte nicht einfach darüber hinweggehen, ganz gleich, wie sehr ihn ihre Bitte gerührt hatte.

Er hatte ihre Nachricht in der Tasche. Kurz und prägnant.

Ich brauche Deine Hilfe.

Das Wort „brauche“ war zweifach unterstrichen. Was hatte diese Betonung zu bedeuten? Verzweiflung? Dringlichkeit? Er griff sich mit einer Hand an die Tasche und spürte das gefaltete Papier. Brauchte sie wirklich Hilfe? Oder war diese Nachricht an ihn Teil eines rachsüchtigen Komplotts, um Vergeltung an ihm zu üben, weil er Brenleys Versuch vereitelt hatte, die Blaxland-Minen unter seine Kontrolle zu bringen? Er würde es nur erfahren, wenn er sich auf die Begegnung einließ.

Bitte triff mich auf dem Ball der Bradfords. Ich komme zu dir.

Die Ironie an der Geschichte war, dass er ihr hier wahrscheinlich ohnehin begegnet wäre – Tremblay hatte ihn gebeten, vorbeizukommen, und nach ihrem Gespräch im White’s hatte Inigo es für eine gute Idee gehalten, den Freund im Auge zu behalten. Brenley schien – wenngleich aus fraglos anderen Motiven – zu einer ähnlichen Erkenntnis gelangt zu sein. Den ganzen Abend wich er nicht von der Seite des Viscounts, was Inigo gehörig auf die Nerven ging. Sein Erzfeind schien nicht die Absicht zu haben, Tremblay kampflos aufzugeben, und Gismond Brenley war ein hartnäckiger Gegner.

Inigo wandte seinen Blick für ein paar Sekunden von Audevere ab und beobachtete die beiden Männer, die nebeneinanderstanden. Was wollte Brenley bloß so Dringendes von Tremblay? Inigo hatte so seine Vermutungen. Ging es Brenley darum, einen Angehörigen des Hochadels in der Tasche zu haben, den er für die Abstimmungen im House of Lords manipulieren konnte? Hatte er es auf Tremblays riesige Zuckerplantagen auf den Karibischen Inseln abgesehen? Oder ging es um etwas ganz anderes, von dem Inigo nichts ahnte? Seit mehreren Jahren stellte er über Brenley gründliche Nachforschungen an. Er ging davon aus, fast alles über dessen Geschäfte zu wissen, über die sauberen – von denen es nicht viele gab – und die dreckigen, die ausgesprochen zahlreich waren.

Das Orchester legte eine kurze Pause ein, und Inigo nutzte die Gelegenheit, um nach draußen auf die Terrasse zu gehen und frische Luft zu schnappen. Zwar herrschte auf dem Ball kein dichtes Gedränge wie während der Saison, doch es gab genügend Gäste, um den Saal zu erhitzen und mit stark parfümierter Luft zu erfüllen. Er genoss es, kühlen Wind im Gesicht zu spüren, auch wenn diese Vorliebe kaum jemand zu teilen schien. Da es empfindlich kalt geworden war, würden die meisten Gäste im Haus bleiben. Auf der Terrasse war es entsprechend einsam. Er wollte Audevere noch eine Stunde Zeit geben, um sich ihm zu nähern, anschließend würde er den Ball verlassen. Vielleicht gelang es ihm, Tremblay zu überreden, mit ihm aufzubrechen. Gemeinsam konnten sie für einen Schlaftrunk im Club haltmachen. Dann wäre er um Mitternacht in seinem Bett. Verdammt, London wurde außerhalb der Saison immer geruhsamer! Es war längst überfällig, nach Cornwall zurückzukehren.

Wenn er es sich nicht zur Aufgabe gemacht hätte, ein Auge auf Tremblay zu werfen, wäre er schon längst wieder zu Hause, um den Herbst mit seinen Freunden – zumindest den dort verbliebenen – an der Küste zu verbringen. Cassian Truscott, Collins ältester Bruder, befand sich noch mit seiner Braut im Ausland, und Vennor Penlerick weigerte sich, London zu verlassen. Aber die Trelevens waren in Cornwall und die Kittos, ebenso wie Eaton und Eliza. Es sollte ein Herbstkonzert in Kittos Konservatorium geben, auf das er sich ebenso freute wie auf die Trüffeljagd in den Wäldern mit Eaton. Außerdem wollte er Elizas Schulen für den Nachwuchs der Minenarbeiter Besuche abstatten, um sich ein Bild von den Fortschritten der Kinder zu machen.

Er war der Hauptstadt mehr als überdrüssig, ein Zustand, den er einst für unmöglich gehalten hatte. London war weniger aufregend, seit Eaton und Cassian nicht hier waren. Bei Cassian ließ sich das entschuldigen – er befand sich in den Flitterwochen –, aber auch wenn er wieder zurück war, würde er kaum Zeit in der Stadt verbringen. Von ihrem eingeschworenen Freundesquartett blieb derzeit nur Vennor Penlerick übrig. Es war nun mehr als ein Jahr her, dass Richard Penlerick und seine Frau nach dem Theaterbesuch ermordet worden waren, aber Vennors Trauer um die Eltern hatte sich nicht verringert. Wann kam der Moment, an dem man einem Freund sagen musste, dass es Zeit wurde, das Leben fortzusetzen? Wer hatte das Recht dazu? Verhielt es sich bei ihm denn anders? Nach wie vor trauerte er um Collin und versuchte, die Welt vor Sir Gismond Brenleys Verderbtheit zu beschützen. Wer war er, Vennor zu erzählen, er solle sich nicht von der Trauer auffressen lassen?

Inigo lehnte sich gegen die steinerne Balustrade der Terrasse und blickte in den dunklen unbeleuchteten Garten. Vielleicht hatte er das gleiche Problem wie Vennor: Er hatte zugelassen, dass die Trauer sein Leben bestimmte, während die anderen es anders gemacht hatten. Eaton und Cassian hatten Wege gefunden, sich wieder am Leben zu erfreuen, wieder zu lieben. Er nicht, und nun war er mit seiner Trauer allein, gefangen in seinem einsamen Rachefeldzug gegen Brenley, wie es Vennor bei seinen immer einsameren Versuchen war, den oder die Mörder seiner Eltern zu finden.

Hinter ihm öffneten sich die französischen Türen, und ein Lichtschein durchschnitt den Teil der Terrasse, auf dem er stand.

„Ich dachte mir, ich würde dich vielleicht hier draußen finden. Du hattest schon früher eine Vorliebe für dunkle Ecken.“ Diesen warmen kehligen Tonfall hätte er immer und überall wiedererkannt. Audevere Brenley war mit einer verführerischen Stimme gesegnet. Schon erfüllte ihr betörender Duft die Luft. Sie roch nach Sommerblüte und Erinnerungen.

Inigo drehte sich zu ihr um und ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen, ihre Schönheit aus der Nähe zu betrachten: ihr kunstvoll hochgebundenes hellgoldenes Haar, ihren schlanken Hals, ihren bezaubernden Körper, gekleidet in ein preiselbeerfarbenes Seidenkleid mit eierschalenfarbener Spitze. „Ich habe deine Nachricht erhalten.“ Ihre Botschaft hatte auf ihn gewartet, als er aus dem White’s Club zurückgekehrt war.

„Vielen Dank, dass du gekommen bist“, sagte sie leichthin und stellte sich neben ihn an die Balustrade, als ob sie noch immer alte Freunde wären. „Es ist lange her, Inigo.“ Sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln, auf das er nicht vorbereitet war. Da er ihr Verhältnis als feindlich eingestuft hatte, war er davon ausgegangen, dass es sich bei ihr ebenso verhielt. Anscheinend war das nicht der Fall, oder sie spielte mit ihm. Damit musste er immer rechnen.

„Zu lange vielleicht“, sagte er tadelnd, als wollte er darauf hinweisen, dass es zu lange her war, um sich noch mit dem Vornamen anzureden. Dafür war zu viel geschehen. Sie waren keine Freunde – nicht länger, wenn sie es je gewesen waren.

Sie nickte bestätigend. „Vielleicht. Verzeihe mir meine Aufdringlichkeit. Es steht viel auf dem Spiel, und es tut mir leid, wenn ich es an Höflichkeit mangeln lasse.“

Inigo sah sie fest an. Dieser versöhnliche, fast schon verschwörerische Ton schien ihm nicht zu ihr zu passen. Sofort war er auf der Hut. „Ist das deine Strategie? Willst du mir mit Liebreiz Auskünfte entlocken? Hat dein Vater dich angewiesen, alte Bekanntschaften aufzuwärmen, um mich auszuhorchen?“

Ihr Lächeln schwand. Seine Worte trafen sie tief. „Ich habe mich aus eigenem Antrieb an dich gewandt. Mein Vater ahnt nichts davon. Ich hatte gehofft, wenigstens die Ehrlichkeit zwischen uns hätte auch in deinen Augen Bestand.“

„Dann solltest du mich besser direkt fragen, was du von mir wissen willst. Tue nicht so, als ob du nicht wüsstest, dass ich mich gestern mit Tremblay getroffen habe oder was mich dazu bewogen hat.“ Inigo sah, wie ihre Miene versteinerte. Wenn sie in die Enge getrieben wurde, versagte ihre geistreiche Scharfzüngigkeit.

„Also gut. Dann komme ich ohne Umschweife zur Sache: Hast du vor, dich in meine Verlobung einzumischen?“

Inigo lachte trocken. „Das ist ein bisschen voreilig, da noch gar keine Verlobung vorliegt. Tremblay hat dir bisher keinen Antrag gemacht.“

„Noch nicht, aber ich hatte guten Grund, davon auszugehen – bis zum gestrigen Tag.“ Sie hielt seinem Blick stand. „Bis es dir gelungen ist, ihn davon abzubringen. Von früher erinnere ich mich gut an deine Überzeugungskraft.“

„Willst du ihn denn wirklich heiraten?“ Ihn befielen Gewissensbisse. Möglicherweise mischte er sich in etwas ein, das über Brenleys krumme Geschäfte hinausging. Verhinderte er mit seiner Warnung an Tremblay ihr persönliches Glück – ihren Plan, den Klauen ihres hinterhältigen Vaters zu entkommen? Es fiel ihm schwer, Audevere Brenley ein Recht auf persönliches Glück zuzugestehen. Schon lange betrachtete er sie als Feindin, als willige Komplizin ihres Vaters. Aber sie war nicht immer seine Feindin gewesen. Einst hatte er sie wundervoll gefunden und sie sehr gemocht, ja bewundert. Weit stärkere Beschreibungen für seine damaligen Empfindungen ihr gegenüber wären angebracht gewesen, aber damit hätte er sich zu viel eingestanden. Doch ganz egal, in welche Worte er es fasste, seine Gefühle für sie schienen noch immer nicht vollständig versiegt. Er wollte kein Mitleid mit ihr empfinden. Collin war ihretwegen tot. „Es geht mich etwas an, wenn du denkst, du könntest einen anderen guten Mann ruinieren.“

Der Vorwurf schien sie ernsthaft zu verletzen. Sie wusste genau, worauf er anspielte. „Das war nie meine Absicht bei Collin, das musst du mir glauben. Ich war jung und naiv. Ich hatte keine Ahnung, was mein Vater plante, bevor es zu spät war. Und ich ahnte nicht, dass Collin …“ Ihr versagte die Stimme, und sie konnte nicht weiterreden.

Inigo beendete den Satz für sie. „Sich das Leben nehmen würde?“ Es musste zur Sprache gebracht werden. Das war ihm wichtig. Er wollte und konnte nicht so tun, als ob diese Katastrophe nicht zwischen ihnen stünde.

„Ja“, entgegnete sie traurig. „Er war ein so lebenslustiger Mensch. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass er etwas Derartiges machen würde. Bis zu jenem Zeitpunkt habe ich ihn in gewisser Weise für unantastbar gehalten, habe geglaubt, dass die Welt ihm nichts anhaben könnte.“ Sie schüttelte den Kopf. „Inzwischen weiß ich, wie einfältig das von mir war.“

„Es fällt schwer, sich dich als einfältig vorzustellen. Verzeihe mir also, wenn ich mir mein eigenes Urteil dazu gebildet habe.“ Er hatte erwartet, dass sie entrüstet reagieren und sich hitzig verteidigen würde. Darauf war er eingestellt. Vielleicht wollte er sie sogar zornig sehen. Viel schwieriger fiel es ihm hingegen, mit dieser ganz verändert wirkenden Person umzugehen, die nachdenklich, reumütig und verletzlich vor ihm stand. Sie schien seine Trauer um Collin zu teilen. Statt sich mit empörten Worten zu wehren, legte sie ihre behandschuhte Rechte auf seinen linken Unterarm und erschütterte seine Welt.

„Was auch immer du glauben magst, glaube mir dieses eine: Ich habe nicht gewollt, dass Collin stirbt“, sagte sie leise, aber mit Nachdruck.

Nein, wahrscheinlich nicht, dachte Inigo ungnädig. So viel war sicher richtig. Ein toter Collin war nicht gut für ihren Vater. Ein toter Collin war skandalös. Aus einem Skandal ließ sich für eine Frau, die vorteilhaft heiraten wollte, kein Profit schlagen. Vielleicht hatte sie für diesen Tod bezahlt. Zweifellos waren ihre besten Saisons durch die Tatsache verdüstert worden, dass jeder von dem schrecklichen Vorfall wusste: Sie hatte sich von ihrem Verlobten losgesagt, der kurz danach durch einen „Unfall“ ums Leben gekommen war. Nun war sie endlich wieder dabei, voranzuschreiten und nach einem Titel zu greifen. Der damalige Skandal hatte mit den Jahren an Brisanz verloren und wurde längst von anderen überlagert. Das war ihm nicht entgangen. Er hatte immer im Auge behalten, welche Ziele die Brenleys im Laufe dieser Entwicklung verfolgten.

„Ich werde mich den Rest meines Lebens für seinen Tod verantwortlich fühlen“, fuhr sie beharrlich fort, ohne auf seine frostige Miene zu achten. „Vielleicht gab es einen Hinweis, den ich übersehen habe. Wahrscheinlich hätte ich erkennen müssen, wie sehr ihm meine Loslösung zusetzen würde.“

Die Vorwürfe, die sie sich machte, ähnelten seinen eigenen. Inigo geriet in Gefahr, ihr zu glauben, dass Collin ihr wirklich nicht gleichgültig gewesen war.

„Aus genau diesem Grund habe ich dir geschrieben, Inigo. Ich kann nicht zulassen, dass Tremblay mich heiratet. Ich werde mich nicht zum Werkzeug dafür machen lassen, dass ein anderer guter Mann in den Ruin getrieben wird.“

Je länger sie sprach, desto mehr wurde sie wieder zu dem Mädchen, das er gekannt hatte. Sie schien nicht die Feindin zu sein, für die er sie seit Jahren gehalten hatte. Energisch kämpfte er gegen dieses Gefühl an. Er wollte sie nicht bemitleiden. Er wollte überhaupt nichts für diese bezaubernde Schönheit empfinden, die seinen Freund ins Verderben gestürzt hatte. Doch was er ihr auch in die Schuhe schieben mochte, sie blieb unwiderstehlich. Er war sich ihrer Nähe nur zu bewusst, ihres Duftes, ihrer Berührung, ihrer Stimme, ihres Anblicks.

„Was willst du von mir?“, fragte Inigo rundheraus, in der Annahme, dass er durch die Erfüllung ihrer Bitte seinen Freund Tremblay vor einem fatalen Schicksal retten konnte. Damit ließ er sich vermutlich auf einen Teufelspakt ein, der ihn in gefährliche Nähe zu seiner größten Versuchung brachte.

„Ich brauche deine Hilfe, um zu verschwinden, um eine andere zu werden, um irgendwohin zu gelangen, wo ich von Neuem beginnen kann. Ein Ort, an dem mein Vater mich nicht finden und mich niemals mehr als Werkzeug für seine Machenschaften missbrauchen kann.“

Ihre grünen Augen funkelten ängstlich in der Nacht. Ihre herausfordernde Entschlossenheit verbarg nur auf den ersten Blick, wie sehr sie sich vor seiner Ablehnung fürchtete. Inigo deutete es als ein Zeichen, wie viel für sie davon abhing und wie viel Mut es sie gekostet hatte, die Bitte auszusprechen. Obgleich er in Versuchung war, wollte er nicht so leicht nachgeben. „Du willst also fortlaufen? Einfach so verschwinden?“ Er schnippte mit den Fingern. Das Vorhaben schien ungeheuerlich. Hatte sie das wirklich gründlich durchdacht? Es war natürlich nicht vollkommen unmöglich, indes konnte er sich nicht vorstellen, dass die verwöhnte Audevere Brenley so etwas tun würde.

„Ja.“ Sie hielt den Atem an.

„Das soll ich dir also glauben? Dass es sich nicht um einen listigen Plan handelt, um mich in eine Entführung zu verwickeln oder mich zu kompromittieren, damit ich zu einer Ehe gezwungen bin? Für deinen Vater gäbe es sicherlich Grund zur Freude, wenn seine Tochter einen der Cornish Dukes heiratete.“ Man musste klug und umsichtig vorgehen, wenn man in seiner gesellschaftlichen Position Junggeselle bleiben wollte. Immer kreativer wurden die Mütter und Väter dabei, ihre Töchter anzuleiten, ihm entsprechende Fallen zu stellen.

„Ja.“ Sie klammerte sich an seinen Arm. „Bitte, du musst mir glauben, Inigo. Du bist der Einzige, der mir helfen kann. Du allein weißt, wozu mein Vater fähig ist.“

Dieses Argument verfehlte seine Wirkung nicht. Er hätte ihr besser von vornherein die kalte Schulter zeigen sollen und sich nicht auf ein persönliches Gespräch mit ihr einlassen dürfen. Ihr nahe zu sein, machte es viel schwerer, ihre Bitte abzulehnen. War er ihr und der Wirkung, die sie auf ihn hatte, denn nicht aus Loyalität zu Collin seit fünf Jahre bewusst aus dem Weg gegangen? Und hier stand er nun, durch ein paar sanfte Worte im Mondlicht in Versuchung, alle diese Bemühungen zu vergessen und auf Audevere Brenleys Bitte einzugehen.

„Warum denkst du, dass ich mich darauf einlasse, dir zu helfen?“

„Weil du weißt, was mein Vater für ein Unmensch ist. Ich nehme an, dass du dich für Collin rächen willst. Wenn du diese Rache bereits hättest üben können, wäre das längst geschehen – ebenso wie bei mir.“ Sie sah ihn direkt an. „Ich brauche dich, Inigo. Wir brauchen einander. Weder ich noch du vollbringen das allein.“

Das war gekonnt. Wie lange sie wohl gebraucht hatte, um diese kleine Ansprache einzustudieren? Hatte sie genau berechnet, welche Worte ihn zu der Annahme verleiten würden, sie wären Verbündete und keine Feinde? Sollte ihn das überzeugen, dass sie von Anfang an auf einer Seite gestanden hatten?

Um seine Unterstützung zu erlangen, war Audevere Brenley vom Mondlicht beschienen hinaus auf die Terrasse getreten und hatte freundlich auf ihn eingeredet, als ob die finstere Vergangenheit nicht zwischen ihnen stünde. Was hatte sie dazu getrieben, sich ausgerechnet an einen alten Feind zu wenden, um zu verschwinden? Seine Neugier gewann die Oberhand. Er wich ihrem Blick nicht aus und erwiderte besseren Wissens: „Ich gebe dir fünf Minuten, um dein Anliegen zu begründen.“

3. KAPITEL

Sie benötigte dafür nur zwei Minuten, was ein hinlänglicher Beweis war – wenn er noch eines Beweises bedürfte –, dass sie einer gut durchdachten Strategie folgte. Sie hatte das Gespräch mit ihm gründlich vorbereitet, und es schien ihr ernst damit zu sein, aus ihrem jetzigen Leben zu verschwinden. Wie grüne Zwillingsflammen funkelten ihre Augen beharrlich in der Dunkelheit. „Selbst wenn ich die Heirat mit Tremblay aufhalte, wird es nicht enden. Es wird einen weiteren Versuch geben und dann den nächsten, solange ich da bin. Hilf mir, dem zu entfliehen. Hilf mir dabei, nicht für immer die Schachfigur meines Vaters zu sein.“

Sie wandte den Blick ab, doch zuvor hatte Inigo die schiere Angst in ihren Augen erkannt. Das gab ihm zu denken, und plötzlich verspürte er eine Besorgnis um sie, die er weder erwartet noch gewollt hatte. Ihre unübersehbare Angst lieferte den schlagenden Beweis und veränderte den Blick darauf, wie er sie sah: weder als das unbekümmerte Mädchen, das er in der Jugend gekannt und insgeheim angebetet hatte, noch als die Feindin, als die er Audevere nach Collins Tod betrachtet hatte. Erstmals sah er sie als ohnmächtige Spielfigur, als eine junge Frau, die in den Netzen der väterlichen Täuschungsmanöver gefangen war und sich nicht allein daraus befreien konnte. Dennoch musste er seine neue Sichtweise mit Vorsicht betrachten und skeptisch bleiben.

„Weshalb heiratest du nicht Tremblay und sorgst dafür, dass er dem Druck deines Vaters auf dich ein Ende setzt? Tremblays Titel könnte dir doch gewiss den nötigen Schutz gewähren, falls du dich wirklich von deinem Vater lossagen möchtest.“ Inigo hielt inne. Er wollte nicht ungerecht werden. „Tremblay mag dich. Du bedeutest ihm etwas. Er würde dir helfen.“ Es fiel ihm schwer, diese Wahrheit auszusprechen, während die Versuchung seines Lebens vor ihm stand. Die alten Sehnsüchte stiegen wie Dämonen auf, und diesmal gab es keinen Collin, der sie in die Schranken wies.

Audevere schüttelte den Kopf. „Wenn ich Tremblay heirate, ruiniere ich ihn. Mein Vater wird mich dazu benutzen, den Viscount gefügig zu machen, um dessen Einfluss für die eigenen Zwecke zu missbrauchen. Ähnlich wie er es bei Collin gemacht hat. Falls Tremblay sich ernsthaft etwas aus mir macht, verschlimmert das die Lage sogar zusätzlich. Er wird meinem Vater gegenüber nachgeben, weil er denkt, mich dadurch zu beschützen.“

Sie wollte Tremblay vor diesem Schicksal bewahren. Sie war bereit dazu, ihn aufzugeben, um ihn zu retten. War da also echte Zuneigung im Spiel, die er übersehen hatte? Zögerlich stellte er die heikle Frage, wobei er sich nicht sicher war, die Antwort hören zu wollen. Jemanden heiraten oder nicht heiraten zu wollen, war nicht dasselbe, wie jemanden zu lieben. „Liebst du Tremblay?“

Sie seufzte und sah ihn traurig an. „Was ist Liebe, Inigo? Meint Liebe die vergänglichen Leidenschaften, die in Märchen beschrieben sind? Wenn dem so ist, dann nein. Ich liebe ihn nicht. Ist es etwas weniger Feuriges? Etwas, das Fürsorge ähnelt, dem Wunsch, ihn nicht durch die Gier meines Vaters und seiner hinterhältigen Geschäfte ruiniert zu sehen? Dann ja.“

„Jemanden beschützen zu wollen, ist keine Liebe.“ Inigo kreuzte die Arme vor der Brust. Sie versuchte, Tremblay zu beschützen, ebenso wie er es bei seinen Freunden versuchte. Vor dem heutigen Abend war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass er das mit dieser Frau gemein hatte, die er seit Collins Tod als durchtriebene Verführerin betrachtete.

„Ich benötige deinen Schutz, um Unheil zu verhindern. Tremblay kann mir diesen Schutz nicht gewähren. Welche Zuneigung er jetzt auch immer für mich zu empfinden glaubt, schon bald wird er froh sein, entkommen zu sein.“ Sie starrte ihn herausfordernd an. „Wirst du mir helfen, zu fliehen?“

Ihr Ton verdeutlichte, dass sie noch heute Abend eine Antwort haben wollte. Sofort. Indes schien es ihm zu riskant, ihr Hals über Kopf eine Zusage zu erteilen, ganz gleich, wie verletzlich sie im Augenblick wirkte. Stoischer Gleichmut war die beste Waffe hier draußen auf der Terrasse, allein mit ihr – einer Frau, die in Überredungskünsten geschult war und in ihm ein maßloses Begehren hervorrief. „Ich habe Fragen.“

„Dann komme mit hinein und tanze mit mir. Dabei werde ich die Fragen beantworten. Wenn wir hier draußen noch viel länger verweilen, wird es den Leuten auffallen.“

Das war ein gekonntes Manöver. Er sah, dass sie Hoffnung schöpfte, ihn zu überreden. War sie sich ihres Zaubers derartig gewiss, oder glaubte sie, ihn so genau zu kennen? Letzteres bereitete ihm Unbehagen. Auch wenn sie vor all den Jahren durch ihre Verbindung zu Collin viel Zeit miteinander verbracht hatten, konnte er doch kein offenes Buch für sie sein. Erriet sie sein dunkelstes Geheimnis? Er hielt es streng verborgen. Nicht einmal seine engsten Freunde hatten eine Ahnung davon.

„Wie du willst.“ Er verbeugte sich kurz vor ihr und führte sie zurück in den Ballsaal und auf die Tanzfläche. Er würde sie so wenig wie möglich berühren, auch wenn der Walzer weit mehr Berührung mit sich brachte als andere Tänze. Wenn sich Menschen berührten, wurden sie geständig. Sie kapitulierten. Berührungen waren gefährlich, besaßen große Macht.

Er legte eine Hand an ihre Taille, ihre linke Hand ruhte auf seiner Schulter, warm und fest. Die andere Hand ließ sie wie selbstverständlich zwischen seine Finger gleiten, als gehörte sie genau dorthin. Ihre Berührungen waren nicht von jener oberflächlichen und flüchtigen Art. Du liebe Güte, wann hatte eine Frau das letzte Mal erfolgreich versucht, ihn zu verführen? Tat Audevere das gerade, oder bildete er es sich nur ein, weil er winzige Gesten mit viel zu viel Bedeutung auflud? Das ist der Preis, den man als Zyniker zahlt, dachte er. Immer mutmaßt man etwas hinter den Dingen, nichts nimmt man für bare Münze.

Die Musik erklang, und er führte sie über die Tanzfläche. Eins, zwei, drei, eins, zwei, drei. Sie war leicht in seinen Armen und schwebte anmutig über das Parkett. Er erinnerte sich daran, wie gern sie tanzte. Sie wusste, dass sie darin gut war, und ihre Augen glänzten jetzt vor Freude. „Stelle mir deine Fragen, Inigo. Der Tanz wird nicht ewig dauern, und einen zweiten können wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht erlauben.“

„Du willst, dass ich dir helfe, obgleich du meinem besten Freund den Laufpass gegeben hast und eine Mitschuld an seinem Tod trägst? Du bist die Tochter eines Tyrannen, der versucht, alle zu manipulieren. Woher soll ich wissen, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt?“

Sie starrte ihn an. Nun war es ihm doch gelungen, die erzürnte Göttin in ihr zu wecken.

„Du weißt gar nichts über mich und darüber, was für ein Leben ich führe. Ich denke, es würde dich überraschen. Was auch immer ich getan habe, tat ich aus Selbsterhaltung.“

„So wie das jetzt? Diesen Versuch hier, vor deiner Vergangenheit davonzulaufen?“ Es war an der Zeit, Bedingungen zu stellen. „Wenn ich dir helfen soll, verlange ich vollkommene Ehrlichkeit. Kannst du mir die garantieren?“

„Ja. Was ich dir erzähle, wird nichts als die Wahrheit sein.“

Inigo war ihr kurzes Zögern nicht entgangen, bevor sie die Antwort so geschickt formuliert hatte, dass sie nicht lügen musste. Wenn sie einander vertrauen sollten, musste er sichergehen, dass sie nicht in irgendeiner Weise gegen ihn arbeitete. Er würde ihre Ehrlichkeit umgehend auf die Probe stellen. „Warum bist du zu mir gekommen? Die jüngste Vergangenheit legte wohl kaum nahe, dass wir Verbündete sein könnten.“ Das war für ihn die höflichste Art und Weise auszudrücken, welche Feindseligkeit zwischen ihm und Brenley herrschte – und im weiteren Sinne auch zwischen ihm und ihr. Obgleich es ihm schwerfiel, sich das heute Abend in Erinnerung zu rufen, konfrontiert mit dieser verzweifelten und reuevollen Version der bezaubernden ...

Autor

Bronwyn Scott
Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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