Historical Saison Band 121

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SCHNEEFLOCKENKÜSSE FÜR DEN LORD von LARA TEMPLE

Solange Bella denken kann, ist der arrogante Lord Deverill ihr erklärter Feind. Aber als sie mit ihm zusammen einschneit, lernt sie eine ganz andere Seite des Mannes kennen, von dem sie dachte, er hätte ein Herz aus Eis …

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  • Erscheinungstag 15.11.2025
  • Bandnummer 121
  • ISBN / Artikelnummer 8090250121
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Lara Temple, Christine Merrill, Liz Tyner, Elizabeth Beacon

HISTORICAL SAISON BAND 121

Lara Temple

1. KAPITEL

23. Dezember 1818, Innenhof des „The Boar’s Tusk Inn“, Somerset

Bella stieg aus der Kutsche, und sofort trieb der Wind ihr die Schneeflocken ins Gesicht. Sie schimpfte in sich hinein und zog ihren Reisemantel fester um sich. Warum konnten die Leute nicht im Juli durchbrennen statt ausgerechnet am längsten und kältesten Tag des Jahres?

Und warum, oh, warum konnten sie sich dafür nicht eine nette, gemütliche Poststation auswählen? Eine mit fröhlich beleuchteten Fenstern und nach Essen duftendem Rauch, der aus den Schornsteinen aufstieg? Das Gebäude vor ihr war nicht mehr als ein dunkler niedriger Klotz, der sie durch zwei schmutzige Fenster anzustarren schien. Wenn es überhaupt Rauch gab, konnte sie ihn in dem Schneegestöber weder sehen noch riechen.

Vielleicht sah dieser Zufluchtsort am Straßenrand bei Tageslicht charmant aus, aber im Dunkeln wirkte er … unheilvoll.

Bella warf einen Blick zurück auf die wartende Kutsche und empfand zum ersten Mal, seit sie Bath betreten hatte, ein echtes besorgtes Kribbeln. Es war alles so klar gewesen, als sie Rupert Banisters heimlichen Brief an Violet abgefangen hatte. Bella wusste, dass ihre Cousine Rupert nicht liebte, sondern nur begeistert war von dem Gedanken, einen wohlhabenden jungen Mann aus einer der ersten Familien Englands zu heiraten.

Die Tatsache, dass er minderjährig war, war für sie nur eine kleine Unannehmlichkeit. Schließlich war das der Grund, warum man nach Gretna Green flüchtete, oder nicht?

Alle Argumente Bellas – dass Ruperts Familie die Heirat mit der Tochter eines Anwalts aus Bath als nicht standesgemäß betrachten würde, dass Rupert ein netter Junge war und es nicht verdiente, als Trittleiter für Violets sozialen Aufstieg benutzt zu werden, und vor allem, dass Violet selbst etwas Besseres verdiente als einen Jungen, der noch nicht volljährig war und immer noch am Schürzenzipfel seiner Mutter hing – stießen auf taube Ohren.

Bella war sehr versucht gewesen, ihre Hände in Unschuld zu waschen und zuzulassen, dass ihre verwöhnte Cousine ihr eigenes und Ruperts Leben ruinierte, aber sie hatte es nicht fertiggebracht. Zehn Jahre lang hatte sie im Haus ihrer verwitweten Tante gewohnt und von deren spärlicher Unterstützung gelebt. Diese Tante wurde von einer Menge eingebildeter Krankheiten geplagt und hatte sich nie so um sie gekümmert, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Sie verwöhnte Violet und ließ ihr stets freien Lauf, und es blieb Bella überlassen, ihre Cousine davon abzuhalten, sich oder andere in den Ruin zu treiben. Eines Tages würde das vielleicht immer noch geschehen, aber Bella war fest entschlossen, dass heute nicht dieser Tag war … oder vielmehr diese Nacht.

Eine Gestalt erschien in der Türöffnung und warf einen Schatten, der fast bis zu ihren eiskalten Füßen reichte. Er sah viel größer aus als Rupert. Eine Illusion, sagte sie sich und schlang ihren Mantel fester um sich, weil der Wind unter ihre Röcke kroch und über ihre städtischen Kleider zu lachen schien. Sie unterdrückte einen Fluch und ging auf den Mann zu. Am besten erledigte sie dies sofort und schnell, damit sie nach Bath zurückkehren konnte.

„Du bist ein Idiot, Rupert Bannister“, sagte sie laut.

Der Mann legte den Kopf leicht schräg. Im schwachen Licht sah sie ihn von der Seite, und seine Konturen hoben sich von der Dunkelheit ab. Es war nicht das nette Welpengesicht von Rupert Bannister, dem hoffnungsvollen Galan ihrer Cousine Violet. Dieser Mann hatte dunkle, tiefliegende Augen. Vor seinen Blicken liefen Männer davon und Frauen verbündeten sich gegen ihn.

Als Bella Lord Deverill vor einem Monat zum ersten Mal begegnete, war ihr erster Gedanke gewesen, dass Ruperts Cousin eher auf ein Piratenschiff passen würde als in den Grand Pump Room von Bath.

„Was zum Teufel …? Wo ist Ihre verdammte Cousine?“

„Wo ist Ihr verdammter Cousin?“, schrie sie zurück.

„Wartet auf Ihre verdammte Cousine in …“ Er brach ab, und das nächste Geräusch klang ganz deutlich wie ein Knurren. „Davon mal abgesehen – was zum Teufel tun Sie eigentlich hier?“

„Eine Entführung vereiteln. Und was tun Sie hier?“ Es gelang ihr, das „Sie“ noch verächtlicher klingen zu lassen als seins.

Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann sog er den Atem zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch.

„Das Gleiche. Verdammtes Pech.“

Bella kannte mittlerweile Lord Deverills üble Launen und schlechte Manieren. Sein Spitzname Lord Devil war zwar eine humorvolle Verkürzung seines Titels, aber ihrer Meinung nach hatte er ihn sich redlich verdient. Er war arrogant, herablassend und kalt wie ein eisiger Wintertag. Sie hatte ihn vom ersten Augenblick an nicht gemocht, und nichts, was er im vergangenen Monat gesagt oder getan hatte, hatte ihre Meinung auch nur um einen Deut verändert. Ganz im Gegenteil.

Bella hatte von Anfang an gewusst, dass Rupert trotz seiner fünftausend Pfund im Jahr in keiner Hinsicht einer verwöhnten und ehrgeizigen Person wie Violet gewachsen war. Als dann Lord Deverill in Bath auftauchte und ganz offensichtlich Violet Steine in den Weg legen wollte, hatte sie sogar die törichte Hoffnung gehegt, dass sie sich zusammentun könnten, um die beiden jungen Leute von ihrem schrecklichen Fehler abzuhalten.

Diese Hoffnung bekam einen schweren Schlag bei ihrer ersten Begegnung, als Lord Deverill ihr deutlich machte, was er von Violet hielt. Und sie selbst hielt er ganz offenbar für eine habgierige alte Jungfer, die sich eine reiche Partie für ihre flatterhafte, vulgäre und goldgierige Cousine sichern wollte. Jede danach noch verbliebene Hoffnung auf Zusammenarbeit starb eines schnellen Todes, als sie feststellte, dass Lord Deverill einen Schauspieler engagiert hatte, um Violet von Rupert wegzulocken.

Als Tochter eines Vikars nahm Bella ihre Verantwortung ernst. Sie würde, verdammt nochmal, einem eingebildeten arroganten Lebemann wie Lord Deverill nicht erlauben, Violets Ruf zu beschmutzen, nur weil er sie für gesellschaftlich unter ihm stehend hielt. Es hatte ihr großes Vergnügen bereitet, seinen bezahlten Schauspieler in einen Skandal zu verwickeln, der den armen Kerl dazu zwang, aus Bath zu flüchten. Und sie hatte sich auch nicht bemüht, ihre Befriedigung darüber zu verbergen, dass sie es war, die die Pläne ihres frischgebackenen Feindes durchkreuzt hatte. Von da an bekriegten sie einander.

Im Laufe der darauffolgenden Wochen war Bella sogar fast in Versuchung gewesen, Violet zu erlauben, den minderjährigen Jungen zu verführen, nur um Lord Deverill zu beweisen, dass er nicht so schlau war, wie er von sich dachte. Doch dann kam Violets Zofe zu ihr mit Ruperts Nachricht, in der stand, wo Violet sich zu ihm in die Kutsche setzen solle, um mit ihm nach Gretna Green zu fliehen. Nun wurde es Bella klar, dass sie dieser zerstörerischen Affäre ein Ende setzen musste. Also zog sie an diesem Abend ihr Winter-Cape an und zog los, um Ruperts Kutsche ausfindig zu machen und ihm damit hoffentlich das Herz zu brechen.

Als sie aufbrach, hatte sie nicht damit gerechnet, dass die Fahrt mehrere Stunden dauern würde, und erst recht nicht, dass sie plötzlich mitten im Niemandsland Lord Devil selbst gegenüberstehen würde.

„Also … wo ist Ihre Cousine?“, fuhr er sie mit ungeduldiger Stimme an.

„Vermutlich in ihrem Bett. Ihr Cousin hat nicht viel Erfahrung mit Ausflüchten. Ich konnte seine Nachricht an Violet abfangen, in der er ihr seine Pläne mitteilte. Ich ersetzte sie durch die Nachricht, er bedaure sehr, aber ihre Fluchtpläne müssten bis nach Weihnachten verschoben werden. Seine Mama werde sonst sehr ungehalten sein, wenn er nicht an der Familienfeier teilnähme.“

„Und diesen Mumpitz hat sie geglaubt?“

„Dass der arme Rupert Angst vor seiner Mama hat?“

„Ein Punkt für Sie“, sagte er widerwillig, und etwas anderes als Ärger flackerte kurz in seinem Blick auf. „Aber was in aller Welt tun Sie hier an ihrer Stelle?“

Sie rieb sich die eiskalten Hände und schritt an ihm vorbei zu der Gaststätte, aber sie konnte nur mit Mühe der Versuchung widerstehen, ihn mit einem kräftigen Stoß in den Schnee zu befördern. Lord Deverill hielt sich für ein Geschenk Gottes, und diese Meinung wurde geteilt von zu vielen Kriechern beiden Geschlechts. Doch sie kannte die Wahrheit.

Das Innere der Gasthauses war sogar noch trostloser als das Äußere. Es stank nach schalem Bier und Urin. Bella war dankbar für die Zugluft, die durch die windschiefen Holzfenster strich. Sie stellte sich vor ein schwach zischendes Feuer und drehte sich um zu ihrer Nemesis.

„Welch eine idiotische Idee, mitten im Winter durchzubrennen. Was hat sich Rupert dabei gedacht?“

„Er dachte, man würde ihn auf eine lange Auslandsreise mit seiner Mama schicken.“

„Haben Sie das eingefädelt? Machen Sie sich nicht die Mühe zu antworten. Natürlich waren Sie das. Und es war sehr dumm von Ihnen.“

Er biss die Kiefer zusammen, aber sie ignorierte dieses Warnzeichen und fuhr fort. „Sie hätten doch wissen müssen, dass es ihn zum Handeln zwingen würde. Glauben Sie mir, Violet will nicht durchbrennen. Sie träumt von einer großartigen Hochzeit in St. Michael’s, sobald er volljährig wird, wo jeder von Rang und Namen sie bewundern und beneiden kann.“

„Warum hat sie dann mitgemacht?“

„Ich weiß nicht, was Violet denkt, aber ich könnte mir denken, sie tut es, weil sie eben kein Dummkopf ist, im Gegensatz zu Ihrem Cousin. Sie weiß, dass seine Zuneigung wahrscheinlich eine lange Trennung nicht überleben würde. Mit anderen Worten … es ist alles Ihre Schuld, Lord Deverill. Und wenn Sie das nächste Mal eine der Liebsten des armen Rupert entführen wollen, sorgen Sie bitte für wärmeres Wetter.“

„Ich werde es mir merken, Miss Ingram. Und was hatten Sie vor zu tun, wenn Sie Rupert gefunden hätten? Ihn kompromittieren?“

Sie riss die Augen auf. „Meine Güte, was für eine beschränkte Fantasie sie doch haben, Lord Deverill. Abgesehen davon, dass ich sieben Jahre älter bin als er, würde ich mich wahrscheinlich vorher schnellstens aus dem Staub machen, wenn ich eine Woche mit ihm verbringen müsste, geschweige denn ein ganzes Leben. Ihr Neffe ist ein romantisches Mondkalb, und soweit ich weiß, hat er in seinem ganzen Leben noch kein Buch gelesen. Warum sollte ich ihn wohl kompromittieren?“

„Für ein ordentliches Vermögen und möglicherweise einen Titel, falls sein Onkel ohne einen Erben stirbt. Ist das nicht der Grund, warum Ihre Cousine ihn aufs Korn genommen hat? Fünftausend Pfund und eine Stufe höher auf der Gesellschaftsleiter sind durchaus ein Ansporn, um mit einem Mondkalb vorliebzunehmen.“

„Nun ja, ich würde es nicht für weniger als zwanzigtausend tun. Und er wird höchstens ein Baron. Schäbig“, fügte sie fingerschnippend hinzu.

Zum ersten Mal seit er aus dem Gasthof gekommen war, sah sie außer dem Ärger eine Spur von Humor in seinem Gesicht. Der Mann war unberechenbar, aber sie war ziemlich sicher, dass sie ihn richtig einschätzte. Er war weder gewalttätig noch dumm. Wenn er feststellte, dass die Bedrohung vorüber war, würde er sie fortschicken, und damit wäre die Sache erledigt.

„Also … was hatten Sie geplant, wenn Sie Rupert treffen würden?“ Es war immer noch eine Forderung, doch seine Stimme klang nicht mehr ganz so bissig wie vorher.

„Sein Herz zu brechen, indem ich ihm erzählen würde, dass meine Cousine nicht im Geringsten in ihn verliebt ist. Und obwohl mir solche hinterhältigen Maßnahmen nicht gefallen – falls meine Worte ihn nicht überzeugten, würde ich ihm einen Brief meiner Cousine an eine Freundin zeigen, in dem sie Rupert auf eine Art und Weise beschreibt, die er keinesfalls vorteilhaft finden würde. Und sie schreibt, sie habe nicht die Absicht, ihm treu zu bleiben nach der Hochzeit. Wenn das dem Unsinn nicht ein schnelles Ende bereiten würde, weiß ich auch nicht. Wo ist Rupert denn eigentlich?“

„Auf dem Weg zu dem neuen Treffpunkt, wie er in der Nachricht steht, die er von Ihrer Cousine erhalten hat.“

„Vermutlich verfasst von Ihnen?“

„Ja.“

„Du liebe Zeit. Und wohin hat Ihre Violet ihn geschickt?“

„Zu einem anderen kleinen Gasthof, wo er ausharren muss, bis die Stallknechte, die ich bezahlt habe, ihn morgen bei Sonnenaufgang wieder heimbringen.“

„Armer Rupert. Ich finde, mein Plan war besser. Ihrer verzögert nur das Unvermeidbare, und Rupert wird sehr böse auf Sie sein.“

„Entschuldigung, dass ich nicht so hinterhältig bin wie Sie, Miss Ingram. Mein Hauptanliegen war es, ein Zusammentreffen der beiden zu verhindern und Ihre Cousine zu überzeugen, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, andere Optionen zu verfolgen.“

„Ach so. Sie wollen sie bestechen. Wie viel?“, fragte sie neugierig, und sein Mund sah wieder sehr schmal aus.

„Dieser Punkt ist nun irrelevant. Besonders dann, wenn Sie Rupert von Violets Untreue erzählen. Wenn Sie mir den Brief geben, sorge ich dafür, dass er ihn bekommt.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das denke ich nicht. Violet mag eine ehrgeizige und kokette Frau sein, und sie hat oft merkwürdige Ansichten, aber sie ist immer noch meine Cousine. Ich habe bereits eine Grenze überschritten, als ich den Brief von ihrem Schreibtisch mitnahm. Ich werde den Teufel tun und Ihnen Violets persönliche Korrespondenz geben, damit Sie sie in Ihrer Kampagne benutzen können, um sie zu ruinieren.“

„Ich will lediglich meinen Cousin vor dem schlimmsten Fehler seines Lebens bewahren.“

„Schöne Worte, aber es tut mir leid, Lord Deverill – ich traue Ihnen nicht über den Weg. Entweder Sie erlauben mir, Rupert zu treffen und selbst zu entscheiden, ob ich Violets Brief benutzen muss oder nicht, oder Sie finden einen anderen Weg, um all diesen Unsinn zu beenden.“

Er starrte sie sichtlich wütend an, und er rieb sich eine Wange auf ominöse Weise. Er hatte wohl ziemliche Mühe aufgebracht, um die Entführung zu verhindern, und er sah dementsprechend etwas mitgenommen aus. Seine Wangen waren bedeckt von den Bartstoppeln eines langen Tages, seine Stiefel und Hose waren schmutzbedeckt und sein Halstuch sehr nachlässig umgeschlungen.

Er sah müde und unmutig aus, und für einen Moment empfand sie beinahe ein wenig Sympathie und sogar Bewunderung, weil er all dies auf sich nahm, um seinem Cousin zu helfen. Vielleicht sollte sie ihm einen Olivenzweig entgegenstrecken.

„Ich schlage vor, wenn Sie Ihren Cousin abholen, schicken Sie ihn zu mir und ich …“

„Oh nein“, unterbrach er sie. „Ich fürchte, ich traue Ihnen ebenso wenig wie Ihrer nicht so heiligen Violet. Ich werde nicht zulassen, dass Sie gleich zu Ihrer Cousine laufen und ihr erzählen, wo Rupert sich aufhält. Sie, Miss Ingram, gehen nirgendwo hin.“

2. KAPITEL

Zum ersten Mal, seit Miss Bella Ingram aus der Kutsche gestiegen war, las Nicholas leichte Furcht in ihrem Blick. Er entspannte sich ein wenig. Es war ziemlich befriedigend, seine Feindin in seiner Gewalt zu haben.

Miss Ingram war ihm ein Dorn im Auge, praktisch seit er in Bath angekommen war, um seinen Tölpel von Cousin vor Violet Bartlebys Klauen zu retten. Anfangs hatte er sie unterschätzt. Bei all seinen Aktionen – seien sie persönlicher oder geschäftlicher Art – hatte er bisher noch nie eine schlecht gekleidete alte Jungfer in Betracht ziehen müssen. Miss Ingram trug sehr schlichte Kleider, die besser für eine Gouvernante geeignet waren als für die Begleiterin einer kapriziösen jungen Frau, und ihre Frisur war ein unkleidsamer und unmoderner Haarknoten, doch hatte sie es irgendwie zuwege gebracht, ihm auf Schritt und Tritt Steine in den Weg zu legen.

Selbst jetzt noch sah sie so gelassen aus, als warte sie lediglich auf den Beginn eines dieser langweiligen Vorträge, die in Bath so beliebt waren. Doch er wusste, dass ihr ruhiger und ausdrucksloser Blick täuschte. Miss Ingram war in Wirklichkeit ganz und gar nicht so, wie sie aussah.

Zum einen war sie, abgesehen von ihrer Kleidung, keineswegs farblos. Ihre Augen waren eher golden als braun und glänzten wie die einer großen Katze, wenn sie eine in die Enge getriebene Maus belauert. Selbst ihre Haut schimmerte im Kerzenlicht in einem warmen Cremeton. Seit einem Monat hatte sie mit dieser vertrackten Kombination von Heiß und Kalt jeden seiner Schritte verfolgt und jeden seiner Versuche durchkreuzt, seinen Cousin von ihrer Cousine zu trennen.

Und nun war sie hier und offensichtlich ebenso versessen darauf, die Entführung zu vereiteln.

„Wenn Sie tatsächlich dagegen sind, dass Ihre Cousine meinen Cousin heiratet, warum zum Teufel haben Sie mich dann daran gehindert, sie behutsam voneinander zu trennen?“

Sie schaute ihn mit großen Augen an. „Ganz schön unverschämt, Lord Deverill. Sie haben gar nicht versucht, sie ‚behutsam‘ zu trennen, sondern alles in Ihrer Macht Stehende getan, um Violets Ruf zu zerstören. Sogar einen skrupellosen Schauspieler haben Sie engagiert, um den reichen Verehrer zu spielen und ein junges Mädchen zu verführen, das seine Tochter hätte sein können.“

„Ich habe ihn nicht bezahlt, um sie zu verführen“, knurrte er. „Ich wollte Rupert lediglich beweisen, dass Ihre Cousine lieber Geld als Liebe haben würde. Wenn Sie sich nicht eingemischt hätten, hätten wir dem ganzen Unfug schon vor einem Monat ein Ende bereiten können.“

„Wenn ich mich nicht eingemischt hätte, wäre Violets Herz wahrscheinlich gebrochen …“, sie ignorierte sein ungläubiges Schnauben, „… oder ihr Ruf ruiniert worden. Sie mögen uns als so gesellschaftlich unterlegen betrachten, dass Ihnen unser Schicksal und unsere Gefühle gleichgültig sind …“

„Jetzt warten Sie mal einen verdammten Moment, Miss Ingram“, fiel er ihr ins Wort. Wie zum Teufel schaffte sie es eigentlich immer wieder, ihn ins Unrecht zu setzen? „Meine Einwände haben nichts zu tun mit der gesellschaftlichen Position ihrer Familie, aber alles mit dem Charakter Ihrer Cousine. Wenn Sie auch nur einen Funken Anstand hätten, müssten Sie zugeben, dass Violet Rupert zum Frühstück verspeisen und seine Knochen als Zahnstocher benutzen würde. Sein ganzes Leben lang hat seine Mutter ihn wie einen Lakaien behandelt, und ich werde nicht zulassen, dass er sich dazu verdammt, für den Rest seines Lebens so weiterzumachen.“

Wenigstens hatte er es geschafft, sie zum Schweigen zu bringen. Endlich. Sie starrten einander wütend an.

Er wandte sich ab, um zu überlegen, welche Optionen er hatte. Er wollte sich nicht dieser Frau geschlagen geben, die in den vergangenen Wochen seine Nemesis gewesen war. Und er würde nicht zulassen, dass sie nach Bath abzog und mit ihrer Cousine über seine Niederlage lachte, während er sich mit Rupert auseinandersetzen musste. Zum Teufel damit.

Als er seinen Entschluss gefasst hatte, drehte er sich wieder zu ihr um. „Sie werden für heute Nacht der Gast meiner Mutter sein, und morgen zeigen Sie Rupert den Brief. Danach wird meine Kutsche Sie zurück nach Bath bringen. Und mit etwas Glück werden wir uns nie wieder begegnen.“

Sie glättete ihre Handschuhe an ihrem Rock und seufzte. „Rupert hat so gute Manieren.“

Diese offenkundig unlogische Schlussfolgerung verwirrte Nicholas nur für einen kurzen Moment. „Sie finden also, es mangelt mir an guten Manieren, Miss Ingram?“

„Ich erkenne überhaupt keine an Ihnen, Lord Deverill.“

Wieder einmal musste Nicholas beinahe lachen. Das war so verdammenswert an ihr. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Wortgefechte schaffte sie es irgendwie, an seinen Sinn für Humor zu appellieren.

„Meine teure Miss Ingram. Ich wäre entzückt, wenn Sie uns mit Ihrer Gegenwart in Hadley Hall beehren würden. Es wäre so schrecklich nachlässig von mir, Sie hier in diesem Landgasthaus ganz allein der Gnade der Gäste und der widrigen Elemente auszusetzen.“

„Ich wäre keiner Gnade ausgesetzt, denn ich wäre allein und sicher in einem privaten Zimmer, bis ich eine Fahrt in der nächsten Postkutsche buchen könnte.“

Er hob die Hand und zählte an den Fingern ab. „Das ‚The Boar’s Tusk‘ hat nur zwei Gästezimmer, die momentan beide belegt sind. Das nächste Gasthaus ist fünf Meilen von hier entfernt in Upper Bradbury. Dies ist die einzige Stadt in der Nähe mit Unterkünften. Ich glaube, Sie würden es ziemlich schwierig finden – wenn nicht sogar gefährlich – bei diesem Wetter bis dorthin zu laufen.“

Sie schaute zu dem Fenster hoch, wo der untere Rand jeder schmutzigen Fensterscheibe mit einem weißen Lächeln aus Schnee bedeckt war.

Als sie nicht antwortete, fuhr er fort. „Es wäre besser, Sie ergeben sich dem Unausweichlichen und akzeptieren die Gastfreundschaft meiner Mutter. Bedenken Sie – in weniger als einer halben Stunde könnten Sie in einem schönen Zimmer sitzen und sich am Feuer wärmen. Ein warmes Essen stünde auf einem Tablett, und morgen könnten Sie in aller Frühe nach Bath zurückkehren. Nur eine äußerst kaltblütige Person würde dieses Angebot ausschlagen.“

„Also erwarten Sie, dass ich das akzeptiere, was Sie für sich selbst ablehnen würden?“

„Sehr amüsant, Miss Ingram. Also was ziehen Sie vor? Einen eiskalten Marsch durch den Schnee oder die Bequemlichkeit von Hadley Hall?“

„Ich könnte mir vorstellen, dass Ihre Mutter etwas gegen einen unerwarteten Gast am Tag vor Weihnachten einzuwenden hätte.“

Er merkte, dass es ein Rückzugsgefecht von ihr war, aber er konnte sich eine letzte Spitze nicht verkneifen. „An Weihnachten geht es doch um Wohltätigkeit und Nächstenliebe, oder nicht? Was könnte menschenfreundlicher sein, als in der Stunde der Not seinen Feind bei sich aufzunehmen?“

Zu seiner Überraschung lächelte sie, und kleine Fältchen erschienen an ihren Augenwinkeln. Er hatte schon früher gemerkt, wie ihr Lächeln sie veränderte. Es war für ihn das erste Anzeichen gewesen, dass sie und ihre Cousine sehr verschieden waren. Doch er wusste seither auch, dass er sich doppelt in Acht nehmen musste vor ihr. Violet Bartleby war leicht durchschaubar – clever, aber durchschaubar. Doch Bella Ingram war ganz anders geartet.

Bei ihrer ersten Begegnung hatte er den Fehler begangen, sie charmant dazu bewegen zu wollen, etwas über ihre Cousine auszuplaudern, was er gegen sie verwenden konnte. Bevor er noch begriff, wie ihm geschah, hatte sie seinen falschen Charme enttarnt und ihn noch obendrein ausgelacht. Er hatte aus diesem Fehler gelernt und seine Taktik geändert, doch danach hatte er sich stets im Nachteil ihr gegenüber gefühlt.

Er sollte froh sein, dass sie anscheinend auch gegen die Verbindung zwischen Rupert und ihrer Cousine war, doch alles, was er empfand, war … Misstrauen. Von der Art, die jemanden in einem dunklen Wald voller Räuber überfiel, wenn man mit einem Sack voller Juwelen unterwegs war und nichts als einen rostigen Teelöffel zur Verteidigung hatte.

Timeo danaos et dona ferentes. Vergil hatte recht gehabt. Feinden mit Geschenken konnte man nicht vertrauen. Doch ein anderes Sprichwort besagte: Behalte deine Feinde in deiner Nähe. Bis er also wusste, dass Rupert wirklich in Sicherheit war, würde er Miss Ingram soweit möglich in seiner Nähe behalten.

„Nun, Miss Ingram?“

Sie beschäftigte sich längere Zeit damit, ihren Handschuh an ihrem Rock zu glätten. Er trat von einem Bein auf das andere, als wären sie auf einem Boot anstatt in Bentons winzigem Gasthaus. Schließlich schaute sie auf, und ihre goldenen Augen sahen schmal und entschlossen aus.

„Ich habe einige Bedingungen.“

Bella sah, dass Lord Deverill den Mund zu einem langsamen und offenbar zufriedenen Lächeln verzog. Sie wandte den Blick ab von der rauen Schönheit seines Gesichts. Wenn sie ihn ansah, blubberte Groll in ihr wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Er dachte, er habe gewonnen, der selbstzufriedene Kerl. Offenbar glaubte er ihr nicht, dass sie sich für ihre Cousine etwas Besseres wünschte als seinen dummen Cousin.

Nun, sie konnte ihn nicht daran hindern, das Schlimmste von ihr anzunehmen. Aber sie konnte verhandeln.

„Genauer gesagt, drei Bedingungen, Lord Deverill.“

Er machte eine knappte Verbeugung. „Ich kann es kaum erwarten, sie zu hören, Miss Ingram.“

„Ganz gewiss. Erstens wünsche ich, dass Sie Ihren albernen Neffen sofort aus Violets Umgebung entfernen. Unter keinen Umständen darf er nach Bath zurückkehren, bevor er zu seiner Reise auf den Kontinent aufbricht.“

Er zog die Brauen hoch. „Das klingt ziemlich drastisch. Soll ich ihn in Hadleys Kerker stecken?“

Ihre Neugier wurde geweckt. „Es gibt dort einen Kerker?“

„Sehr viele sogar. Mit den Hadleys war früher nicht gut Kirschen essen. Aber keine Sorge, Sie müssen nicht hinein. Nicht, wenn Sie sich gut benehmen.“

„Wenn Sie meine Kooperation wollen, sind abfällige Bemerkungen und Drohungen nicht das richtige Mittel.“

„Entschuldigung. Aber diese Bedingung ist nicht nötig, denn ich habe bereits für Rupert und seine Mutter eine Reise in wärmere Gefilde geplant, wo sie sich nach den Feiertagen erholen kann.“

„Nun, ich schlage vor, Sie behalten ihn im Auge, bis er an Bord des Schiffes ist, damit er Sie nicht wieder überlistet.“

Seine scharfen Gesichtszüge wurden plötzlich rot. „Entschuldigung, dass ich Sie enttäuscht habe, Miss Ingram“, sagte er sardonisch.

„Entschuldigung angenommen. Meine zweite Bedingung ist, dass Sie Violet in Ruhe lassen, sobald Rupert fort ist. Keinerlei Vergeltungsmaßnahmen.“

„Sie müssen mich für sehr engherzig halten.“

„Ich denke, Sie können erbarmungslos sein, wenn man Ihnen in die Quere kommt. Ich möchte Ihr Wort darauf.“

„Wenn Sie mich für erbarmungslos halten, wundere ich mich, dass Sie etwas so Nebulöses wie mein Wort akzeptieren.“

„Ich denke auch, Sie haben sehr viel Stolz und Eitelkeit. Wenn Sie mir Ihr Wort geben, werden Sie es halten, weil Sie sich für etwas Besseres als andere Leute halten.“

Er hatte die Brauen wieder gesenkt, aber nun trafen die beiden scharfen schwarzen Flügel sich beinahe in der Mitte. „Sie halten wohl mit nichts hinter dem Berge, oder?“

„Warum sollte ich? Wie Sie sagten, werden wir uns wohl nach morgen nie wieder begegnen. Zumindest hoffe ich es sehr. Und was meine dritte Bedingung betrifft …“

Er knurrte leise, aber er hielt den Mund geschlossen, und sie fuhr fort.

„Ich will Ihr Wort, dass Sie die Magd aus meinem Haus entfernen, die Sie seit drei Wochen bezahlen. Aber vorher werde ich sie zurechtweisen. Und Sie werden sich nicht mehr in die Angelegenheiten meiner Tante einmischen.“

Die Röte seiner Wangen vertiefte sich und er atmete langsam tief durch. Sie sah, dass er in diesem Moment mühsam gegen seinen Zorn ankämpfte, doch am Ende siegte anscheinend die Vernunft. Er schüttelte den Kopf und lächelte zurückhaltend.

„Wie schade, dass Frauen nicht als Anwälte zugelassen werden. Sie wären bereits in die höheren Ränge aufgestiegen.“ Sie merkte, dass ihre Wangen heiß wurden. Er hatte es nicht als Kompliment gemeint, doch es fühlte sich gut an, wenigstens seinen Respekt verdient zu haben.

„Sie sind zu freundlich. Akzeptieren Sie meinen Vorschlag?“ Sie kämpfte ein wenig, weil ihr die passenden Worte fehlten, aber dann fuhr sie fort. „Ich möchte Ihr Wort auf alle drei Bedingungen.“

Sein Schweigen war sehr lang, aber schließlich nickte er.

„Ich akzeptiere.“

3. KAPITEL

Am Weihnachtsmorgen erwachte Nicholas mit dem nagenden Gefühl, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben.

Er kleidete sich vor dem kleinen Feuer in seinem Zimmer an und versuchte dabei, dieses Gefühl zu vertreiben. Immerhin hatte er jeden Grund, mit sich zufrieden zu sein. Es war nicht nur einer seiner liebsten Tage des Jahres, sondern er hatte fast im Alleingang ein Durchbrennen verhindert, seinen idiotischen Cousin vor einer unstandesgemäßen Ehe gerettet und seine Feindin gefangen.

Nun ja, seine Feindin gezwungen, für eine Nacht bei seiner Mutter zu Gast zu sein.

Nicholas nahm einen langen Leinenstreifen und band ihn zur Krawatte, während er überlegte, was er an diesem Morgen tun würde.

Bald würde die Kutsche mit Rupert eintreffen. Das Gespräch zwischen seinem Cousin und Miss Ingram würde etwa eine halbe Stunde dauern, und danach würde er sie in die Kutsche verfrachten und auf dem schnellsten Wege zurück nach Bath schicken.

Dann war er sie und ihre Familie für immer los.

Er fluchte, weil er zu fest am unteren Ende des Halstuches gezogen hatte. So ähnelte der erwünschte Wasserfall-Knoten eher einem zerdrückten Blumenkohl. Er seufzte. Sein Leibdiener würde sich tagelang hämisch freuen. Der Mann lehnte es ab, wenn Nicholas darauf bestand, sich morgens allein anzukleiden.

Der zweite Versuch war etwas weniger abstoßend, und als er eilig seinen Mantel anzog und nach unten lief, versuchte er sich vorzustellen, was wohl Miss Bella Ingram durch ihr verflixtes Gehirn gegangen war, seit er sie zur Hall gebracht hatte.

Je schneller sie auf dem Rückweg zu ihrer trägen Tante und geldgierigen Cousine war, desto besser für alle Beteiligten. Möglicherweise gefiel Rupert seine Lektion nicht, aber er musste lernen, dass es Menschen gab, die ihm Zuneigung in der Hoffnung auf einen Titel und ein Vermögen nur vorspielten.

Nicholas war ungefähr im gleichen Alter gewesen wie Rupert, als er selbst dies hatte lernen müssen, und er war wahrscheinlich ein noch größerer Dummkopf gewesen. Ein ganzes Jahr war er liebestrunken hinter Mary Farnsworth hergelaufen, bis er den Mut aufbrachte, um ihre Hand anzuhalten. Und er hatte nicht einmal gemerkt, dass sie mit ihm spielte wie auf einer Harfe.

Nicholas war ängstlich wie ein Bräutigam am Hochzeitstag gewesen. Er hielt sogar unterwegs im Wald vor ihrem Haus an, um seinen Antrag zu üben. Dies war eine schicksalhafte Entscheidung. Als er draußen vor ihrer Gartenmauer auf und ab ging, hörte er, wie sie einen ihrer anderen Verehrer verspottete, indem sie ihm sagte, dass sie ihn nicht mehr brauche, weil sie den reichen Erben eines der ältesten Titel in England an Land ziehen werde.

Nicholas hatte sein Bestes getan, um Rupert so einen schrecklichen Schock zu ersparen. Diese eiskalte Enttäuschung, die sich über ihm ausgebreitet hatte wie Frost auf einem Glas. Aber dieser Weg war nun nicht mehr möglich.

Zumindest würde es eine heilsame Lektion sein. Nicholas selbst war danach nie wieder in so eine Falle getappt. Mit der Zeit lernte er, dass Liebe nichts anderes war als aufgestaute Lust, die man auch auf andere Weise abreagieren konnte. Viele Arten davon hatte er während der Jahre seiner Reisen um die Welt kennengelernt.

Wenn er sich verheiratete, wie er es am Ende würde tun müssen, würde er keine so törichten Erwartungen mehr haben. Er würde eine vernünftige Person finden, die seinen Kindern eine gute Mutter sein würde und ebenso wenig Illusionen hatte wie er über romantischen Unsinn.

Doch zuerst musste er sich damit befassen, Rupert das Herz zu brechen. Gestern hatte er zwar Miss Ingrams Beharrlichkeit abgelehnt, die schmutzige Tat zu begehen, aber als der Augenblick der Wahrheit näher rückte, war er eigentlich erleichtert, dass sie es tun wollte. Nicholas hasste den Gedanken, Rupert zu verletzen, obwohl er gute Gründe hatte. Er mochte zwar seine Tante nicht, aber Rupert war für ihn wie ein jüngerer Bruder, und Nicholas fühlte sich verantwortlich für ihn wie für seine eigenen Schwestern.

Doch Verantwortung hat stets einen Preis. Als er die Eingangstür öffnete und hinaus in die eisige Kälte trat, um Rupert mit beschämter Miene aus der Kutsche steigen zu sehen, stellte Nicholas fest, dass der Preis nach seinen letzten Entscheidungen deutlich gestiegen war. Kutsche, Fahrer und Pferde waren von einer dicken Schneeschicht bedeckt, und die Straße hob sich kaum von der Wiese oder vom Himmel ab. Obwohl er sich gewünscht hätte, Miss Ingram unverzüglich aus Hadley Hall zu entfernen, war dies nun keine Option mehr.

Als sie im Haus waren und der Butler die Haustür schloss, wütete draußen der Sturm. Nicholas wandte sich an seinen Cousin. Ein Blick auf Ruperts zerzauste Haare, den niedergeschlagenen Blick und das zitternde Kinn genügte, und Nicholas war dankbar, dass er ihm nicht selbst den tödlichen Stoß versetzen musste.

„Wir unterhalten uns, wenn du dich rasiert und umgezogen hast. Dann sehen wir uns in meinem Studierzimmer, ja?“

Rupert nickte verdrossen und ging mit schleppenden Füßen nach oben. Nicholas schrieb eine Nachricht an Miss Ingram, dann sprach er mit seiner Mutter, der Haushälterin, seiner jüngsten Schwester und zuletzt mit seiner Tante.

Wie vermutet, nahm Tante Agatha seine Mitteilung, Miss Ingram sei nun zu Gast in Hadley Hall, sehr ungnädig auf.

„Auf keinen Fall! Ich weigere mich, mit der Cousine dieses Frauenzimmers unter demselben Dach zu weilen“, verkündete sie. Vor Wut war ihre durchdringende Stimme noch lauter und schriller als sonst.

„Es steht dir jederzeit frei abzureisen, Tante Agatha“, gab Nicholas zurück. Seine Selbstbeherrschung wurde auf eine harte Probe gestellt. „Du solltest dankbar sein, dass sie bereit ist, Rupert davon zu überzeugen, dass ihre Cousine ihn nicht liebt. Ich habe Mama erzählt, dass die Markhams aufgrund des Wetters nicht kommen können. Da sich die Anzahl der Teilnehmenden dadurch auf dreizehn verringert hat, habe ich ihr gesagt, ich hätte eine von Papas entfernten Cousinen eingeladen, um die Anzahl auszugleichen. Du wirst nichts tun, um dieser Geschichte zu widersprechen. Solange Miss Ingram und du als Gäste unter meinem Dach weilen, erwarte ich von dir, dass du dich darum bemühst, dich entsprechend der guten Erziehung zu verhalten, die vermutlich unter all den Schichten deiner Gehässigkeit verborgen ist.“

Mit dieser letzten spitzen Bemerkung ging er leise hinaus und schloss die Tür, bevor sie geifernd antworten konnte.

Als er sein Studierzimmer betrat, war er immer noch übel gelaunt, doch sein Ärger wurde schlagartig von dem Anblick beendet, der sich ihm auf dem Sofa bot. Dort saß Rupert mit Miss Ingram, die ihren Arm um ihn gelegt hatte, und er hatte sein Gesicht in ihrem kastanienbraunen Haar vergraben.

Nicholas hatte in den Ohren ein knirschendes Geräusch. Wie von Kutschrädern, die an der Bremse schleifen, gefolgt vom Rauschen des Windes. So etwas hatte er schon einmal in seiner Kindheit erlebt, als er vom Pferd abgeworfen wurde. Er erinnerte sich noch an das unangenehme Gefühl einer Welt, die völlig geräuschlos an ihm vorüberrauschte.

Dann hörte er jemanden schluchzen. Nicht Miss Ingram… Rupert?

Miss Ingram drehte den Kopf und blickte ihn mit totaler und beinahe komischer Bestürzung an.

„Ich dachte, sie liebt mich“, jaulte Rupert. Seine Worte klangen gedämpft durch ihr Haar.

Sie tätschelte sichtlich verlegen seinen Rücken. „Na, na. Ist ja schon gut. Es tut mir so leid, Rupert. Sie hatte Sie wirklich gern, aber … nun ja, sie ist halt noch sehr jung.“

Rupert schniefte und zog sich zurück, um nach einem Taschentuch zu suchen. „Denken Sie, dass sie vielleicht doch noch …?“

Nicholas schüttelte nun endlich die seltsame Starrheit ab, die ihn gefangen gehalten hatte. „Himmeldonnerwetter, Rupert. Die Frau hat selbst gesagt, dass sie dich heiraten wolle, um an dein Erbteil zu kommen. Kein Weihnachtswunder wird sie plötzlich in den süßen und sanften Engel verwanden, den du in ihr gesehen hast.“

„Gehen Sie weg“, sagte Miss Ingram kurz. „Alles war besser, bevor Sie kamen.“

„Das ist offensichtlich – so wie ihr einander in den Armen lagt …“

Rupert schaute erschrocken. „Ich war nicht … ich habe nicht …“

„Oh, achten Sie nicht auf ihn“, sagte Miss Ingram. „Er ist nur eifersüchtig.“

„Eifersüchtig?“, riefen Rupert und Nicholas gleichzeitig. Eine tiefe und eine höhere Stimme.

Miss Ingram wischte über eine Falte in ihrem dunkelgrauen Rock. „Natürlich ist er das, Rupert. Ihr Cousin hat die emotionale Reife eines Flohs. Solche Männer lehnen alle ab, die tiefere Gefühle haben als sie selbst.“

Empörung vertrieb die letzten verbliebenen Reste des seltsamen Nebels in Nicholas’ Gehirn.

„Nur weil ich keine Illusionen über romantischen Unsinn habe, heißt das nicht, dass ich gar keine Gefühle habe. Außerdem geht Sie das nichts an, Miss Ingram“, fügte er hinzu, als sie die linke Augenbraue hochzog.

Er erkannte die Zeichen. Sie bereitete ihre nächste Attacke vor, und er würde verdammt noch mal nicht dastehen und zulassen, dass sie ihn wieder als Zielscheibe benutzte.

„Sie haben gut reden über tiefere Gefühle. Ich habe noch nie ein Gefühl bei Ihnen entdeckt, nicht einmal Ärger. Es sei denn, Sie nennen überhebliches und selbstgefälliges Verhalten ein Gefühl.“

Nun, offenbar hatte er damit nicht recht, denn sie zeigte nun deutlich ihren Ärger. Obwohl ihr Gesichtsausdruck unverändert blieb. Wenn überhaupt, dann war ihre Miene sogar noch weniger durchschaubar. Doch ihre Augen blitzten und sie ballte die Hände zu sehr ansehnlichen Fäusten.

Rupert räusperte sich und beäugte sie beide auf die gleiche Weise, wie Menschen, die neben einem inaktiven Vulkan leben, auf einen plötzlichen Ausbruch von Rauch aus dem Krater reagieren würden. Nicholas versuchte die Zügel wieder in die Hand zu nehmen und wandte sich an seinen Cousin.

„Rupert. Deine Mutter sucht nach dir. Wenn du nicht möchtest, dass sie dich findet, schlage ich vor, du gehst und versteckst dich im Frühstücksraum hinter den Röcken meiner Schwestern. Und um mich ganz klar auszudrücken – du hast Miss Ingram nicht hier getroffen und wirst sie niemandem gegenüber erwähnen, bis ich es dir erlaube, verstanden?“

Rupert nickte und wartete nicht auf die nächste Aufforderung. Nicholas rechnete fast damit, dass Miss Ingram nach ihm hinausstürmen würde, aber auch sie hatte offenbar beschlossen, sich die Zügel nicht wieder aus der Hand nehmen zu lassen. Sie schaute nicht zu ihm und steckte nur Violets Brief zurück in ihr Retikül.

„Armer Rupert“, sagte sie leise.

„Kommen Sie ja nicht auf die Idee, ihn zu trösten, solange sein Herz noch gebrochen ist“, sagte er missmutig. Sie stand auf und lächelte mit der herablassenden Heiterkeit, die stets seine Temperatur und seine Wut ansteigen ließ.

„Wollen Sie immer weiter darauf herumreiten, Lord Deverill? Sie müssen mich für wirklich sehr hinterhältig halten.“ Sie ging leise lachend zur Tür. „Wie bedauerlich, dass ich keine Gelegenheit bekomme, das Drama kennenzulernen, das Sie für mich geplant hatten. Ich glaube, Sie sind eigentlich zu mir gekommen, um mir zu sagen, dass meine Kutsche wartet. Hätte ich mir Sorgen machen müssen, dass ich es womöglich nicht bis nach Bath geschafft hätte, sondern irgendwo in einem verschneiten Graben abgeladen worden wäre?“

In diesem Augenblick wünschte er beinahe, dies sei sein Plan gewesen, und diese vermaledeite Frau würde irgendwie verschwinden, bis auch die Erinnerung an sie verblasste. Der Gedanke, dass er mit ihrer Anwesenheit zurechtkommen musste, bis der Schnee zurückging …

„Nun?“ Trotz ihres fordernden Tones hörte er eine leichte Besorgnis in ihrer Stimme. Er schob die unfreundlichen Gedanken in den Hintergrund und kehrte in die Gegenwart zurück. Und wieder einmal hatte er das seltsame Gefühl, ein Gemälde anzuschauen und dabei festzustellen, dass etwas völlig anderes dahintersteckte, als im Vordergrund zu sehen war.

„Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten, Miss Ingram. Erinnern Sie sich an Ihre Äußerung über Gefängnisse?“

Sie blinzelte und errötete ein wenig. Dieses unbeabsichtigte Zeichen von Verunsicherung beruhigte ihn ein wenig, trotz seiner Verwirrung. Sie war also doch nur eine junge Frau. Kaum mehr als ein junges Mädchen, trotz ihres scharfen Verstandes. Er machte wohl einen Berg aus einem Maulwurfshügel.

„Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass die Kutsche, mit der Rupert ankam, es kaum durch die Schneewehen geschafft hat. Ich fürchte, Sie werden hier bleiben müssen, bis der Schneefall nachlässt.“

Sie starrte ihn an, schritt zum Fenster und zog die schweren Vorhänge zur Seite. Er stellte sich neben sie und schaute hinaus. Draußen war alles Grau in Grau, auch die Bäume im Hintergrund waren kaum zu unterscheiden im fallenden Schnee. Es war noch Vormittag, aber es sah aus, als setze die Dämmerung über einer Schneewüste ein.

„Das können Sie mir nicht anlasten“, sagte er mild. „Oder doch?“

„Obwohl ich es sehr gern tun würde, Lord Deverill“, erwiderte sie hörbar verärgert. „Aber das würde Ihre Eitelkeit noch verstärken. Doch ich kann nicht hierbleiben. Das ist absurd!“

„Warum? Das Haus ist ohnehin voller lärmender Weihnachtsgäste. Sie werden kaum auffallen.“

„Wie charmant Sie sich ausdrücken. Aber sind Sie nicht besorgt, dass ich in dieser Zeit Ihren heiligmäßigen Cousin verführen könnte?“

Als sie ihn nun von unten her anschaute, fielen ihm die eisgrünen Flecken in der goldenen Augenfarbe auf. Noch einmal der Gegensatz von Kälte und Feuer. Zudem machte sie einen Schmollmund. Ihre Unterlippe verlief in einer blassrosa Kurve, die zu der Wölbung ihres Busens in dem einfachen blauen Kleid passte. Sie war keine Schönheit wie ihre Cousine, doch sie hatte offensichtlich alles, um ihre Drohung auszuführen.

Dennoch … nun, da er seinen Verdacht ausgesprochen hatte, konnte er sich beim besten Willen nicht mehr vorstellen, dass diese fremde Frau sich mit jemandem wie Rupert begnügen würde, nicht einmal für einen Titel und eine Erbschaft. Sie war zu … Er schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was sie war – nur, dass er sie höllisch lästig fand.

„Wie?“, fragte er.

„Wie?“, sprach sie ihm nach.

„Ja. Ich bin neugierig, wie Sie das anfangen würden. Jemanden zu verführen.“

Befriedigt sah er, dass die Röte auf ihren Wangen sich weiter ausbreitete.

„Dies ist eine törichte Konversation, Lord Deverill.“

„Ach ja? Ich bin auf diesem Gebiet eine Art Experte. Vielleicht könnte ich Ihnen … eine Anleitung geben.“

„Wenn Sie mir damit klarmachen wollen, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie man jemandem gefällt, dann weiß ich das bereits, Lord Deverill.“

Er fing ihren Arm ab, bevor er es sich anders überlegen konnte. „Legen Sie mir keine Worte in den Mund.“

Sie blieb stehen und starrte störrisch auf die Tür, aber sie versuchte nicht, sich zu befreien.

Seit ihrer ersten Begegnung standen sie auf Kriegsfuß miteinander, doch er war nicht stolz darauf, sie nun endlich verunsichert zu haben. Nicht auf diese Weise. Er war auch ein wenig überrascht, dass sie seine Worte so missinterpretiert hatte. Aber vielleicht war es auch nicht überraschend. Sie hatte nie einen eifersüchtigen Eindruck gemacht, wenn es um ihre schöne und kokette jüngere Cousine ging. Nicht einmal darüber, dass Mrs. Bartleby ihrer Tochter schöne modische Kleider schenkte, während Miss Ingram mit einfacher Kleidung musste, die besser zu einer Gouvernante passen würden. Doch es gab sicherlich einen gewissen Neid. Obwohl es nicht Neid war, den er in ihrer Stimme gehört hatte. Eher etwas Elementares …

Er versuchte, einen Hinweis in ihrem Gesichtsausdruck zu finden, dass er sich dies nur eingebildet hatte … diese unerwartete Verletzlichkeit … doch sie machte sich von ihm frei, und er hielt sie nicht auf, als sie das Zimmer verließ.

4. KAPITEL

Verdammt, verdammt, verdammt.

Ihr Vater hätte gewiss gesagt, es geschehe ihr ganz recht. Immer dachte sie, dass sie jedem seine Grenzen aufzeigen könne – besonders, wenn es um jemanden ging, der so verschlagen war wie Lord Deverill.

Nun, oft konnte sie es ja. Es war weder ihr Fehler noch sein Verdienst, dass ein Schneesturm biblischen Ausmaßes im ungünstigsten Moment Somerset getroffen hatte.

Es klopfte leise an der Tür, und sie bereitete sich darauf vor, dass die Magd eintrat und sich nach ihrem fehlenden Gepäck erkundigte … sie hatte bestimmt keine gute Meinung von ihr. Schlimm genug, dass sie gestern so spät eingetroffen war, aber nun blieb ihr keine andere Wahl, als zu bleiben.

Aber es war nicht die Magd, sondern eine dunkelhaarige junge Frau stand vor ihrer Tür. Irgendwie war es seltsam, Lord Deverills Augen in einem weiblichen Gesicht zu sehen.

„Hallo, ich bin Philly, Philomena Hadley. Ich bin die Jüngste der Hadley-Schwestern. Wir sind fünf, müssen Sie wissen. Nicholas schickt mich. Er sagte, Ihr Koffer sei im Schnee verlorengegangen. Wie unangenehm!“ Sie schaute Bella von oben bis unten an und lächelte. Ein einzigartig hübsches Lächeln, das sofort alle Ähnlichkeit mit ihrem Bruder auslöschte. „Ich bin ein wenig größer als Sie, aber ich glaube, Sie und Cressy haben die gleiche Größe. Na ja, nicht momentan, denn sie ist verheiratet und nimmt stark zu, aber vorher … Das trifft sich wirklich sehr gut.“

„Ach ja?“, sagte Bella, nur um etwas zu sagen. Was in aller Welt hatte Lord Deverill Lady Philly erzählt?

„Oh ja. Sie hat sich vom armen George eine komplett neue Garderobe kaufen lassen, und darum sind ihre Kleider der vergangenen Saison noch hier. Alles war furchtbar teuer, aber da sie nun bald Mutter ist, wird sie vielleicht vernünftiger. Nicholas sagt, eher würde Napoleon stricken lernen, aber Mama hat noch Hoffnung.“

Bella war die junge Frau auf Anhieb sympathisch, aber es war ihr dennoch peinlich. „Ich kann doch nicht die Kleider Ihrer Schwester tragen, Lady Philly, das wäre nicht richtig.“

„Unsinn. Ich lasse von Sue, meiner Zofe, einige Sachen in Ihr Zimmer bringen, und wir schauen, ob etwas geändert werden muss. Was für schönes Haar Sie haben. Ich habe kastanienbraune Haare immer schon bewundert.“

Bella fasste sich verlegen an die Haare. Sie hatte ihr Haar immer gemocht, aber im Moment war es nicht modern.

„Danke, aber …“

„Dann ist ja alles geregelt. Wenn wir uns umgekleidet haben, gehen wir gemeinsam nach unten zum Weihnachtsessen. Einige der Gäste sind noch nicht eingetroffen, und wahrscheinlich kommen sie gar nicht mehr – bei diesem Wetter. Aber wir haben genügend Unterhaltung, keine Sorge. Wir schmücken immer alles vor dem Essen am Heiligabend, und danach kommen wir zusammen, um zu singen und zu tanzen. Es wird sehr schön. Sie werden sehen.“

Danach ging Lady Philly wieder und ließ Bella noch verwirrter zurück. Inzwischen dachte sie, sie wäre besser dran, wenn sie sich den Weg durch den Schnee zur nächstgelegenen Stadt bahnen würde.

Diese Meinung verging bald, als die Magd hereinkam. Sie war ein rundlicher kleiner Wirbelwind mit Sommersprossen und widerspenstigen Locken, die sich unter der Haube hervorringelten. Bei ihr fühlte sich Bella wohl, obwohl sie immer noch überwältigt von allem war.

„Lady Philly hat recht, dies wird mit Ihrem Haar sehr hübsch aussehen, wenn Sie mir erlauben, das zu sagen, Miss Ingram“, sagte sie und schaute Bella von Kopf bis Fuß an, als sie ein blassgelbes Kleid auf das Bett legte. Es schimmerte und glänzte auf dem blauen Überwurf wie ein Sonnenuntergang.

Bella öffnete den Mund, um zu sagen, dass sie keinesfalls so etwas so Teures anziehen könne, aber es kam kein Ton heraus. Sue schien sich keine Sorgen wegen ihres Schweigens zu machen, sondern plauderte weiter und machte sich an die Arbeit.

Die Magd bewegte Bella hin und her wie eine Gliederpuppe, zog etwas zurecht, wischte und zupfte, bis sie mit einem zufriedenem Seufzer zurücktrat und Bella zum Spiegel zog. Bella schaute schockiert die Fremde vor ihr an.

Sie sah … hübsch aus. Vorsichtig berührte sie den Stoff ihrer Röcke. Er war so weich. So ganz anders als die einfachen dunklen Stoffe, die sie sonst trug. Sie hatte sich nie gestattet, Kritik daran zu üben, dass ihre Tante für ihre neuen Kleider nie genug Geld hatte, während Violet die schönsten Kleider bekam, die die Schneiderinnen in Bath zu bieten hatten.

Sie machte sich keine Illusionen über ihre Zukunft. Arme, unscheinbare und mittellose Frauen fanden keine Ehemänner und kein Glück. Sie hatte ihre Kinderträume begraben, als sie nach dem Tod ihrer Eltern als Siebzehnjährige in das Haus ihrer Tante kam. Dort wurde ihr unmissverständlich erklärt, dass ihre Rolle von nun an darin bestand, alles dafür zu tun, dass Violet eine vorteilhafte Ehe schloss. Betäubt von ihrem Kummer, war es ihr so oder so nicht wichtig gewesen. Und bald begann sie das Leben in Bath zu schätzen. Es gab Bibliotheken und Konzerte und Gärten als Ausgleich für die Langeweile im Haus der Bartlebys. Ihre Tante bestand darauf, dass sie Violet zu den zahlreichen langweiligen gesellschaftlichen Ereignissen begleitete, und in all diesen Jahren war sie nie jemandem oder etwas begegnet, das sie in ihrer komfortablen Gefühllosigkeit erschüttert hätte.

Bis zu dem Tag, als sie Lord Deverill den Krieg erklären musste.

Lord Deverill hatte sie verärgert, doch nun, als sie die Fremde im Spiegel anstarrte, war sie nicht mehr wütend. Eher … ängstlich. Aufgeregt. Hoffnungsvoll?

Sie legte die Hand auf den Bauch. Mulmig.

Sie durfte dies nicht tun. Sie sollte das Kleid ausziehen, ihre Haare wieder in den Knoten stecken und sich unter der Bettdecke verstecken, bis der Schnee schmolz und sie zu der lähmenden Sicherheit der Bartlebys zurückkehren konnte.

Doch bevor sie ihre angstvollen Gedanken in die Tat umsetzen konnte, ging die Tür auf und Lady Philly kam herein. Sie war offensichtlich entzückt.

„Sue! Du bist ein Genie. Sie sehen einfach wunderhübsch aus, Miss Ingram.“

Die Magd schien vor Stolz anzuschwellen. „Das stimmt, Lady Philly. Sie hatten recht bezüglich der Farbe. Jetzt gehe ich zu Bess und helfe ihr mit den anderen.“

Lady Philly hakte sich bei Bella unter. „Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Ingram. Ich sorge dafür, dass sie jeden kennenlernen.“

Mit diesen ominösen Worten zog und schob sie Bella aus dem Zimmer und hinunter in die Höhle des Löwen.

5. KAPITEL

Nicholas sah Philly mit seiner Feindin in den Salon treten. Wenn er nicht die Haarfarbe und ihre ungewöhnlichen Augen gesehen hätte, wäre es ihm schwergefallen, sie zu erkennen. Das blassgelbe Kleid mit der feinen Stickerei und dem tief ausgeschnittenen Mieder lag eng an ihren Kurven an und betonte ihren Busen, der einer griechischen Statue Ehre gemacht hätte. Normalerweise war er gut versteckt unter ihrem Gouvernantenkleid. Ihre Haare waren hochgesteckt und mit cremefarbenen Bändern umwunden. Lange seidige Haarsträhnen fingen das Kerzenlicht ein und umrahmten ihr Gesicht.

Nicht nur ihr Aussehen hatte sich verändert, sondern auch ihr Auftreten. Ihr Blick war offen und nett, als seine Mutter mit ausgestreckten Händen und einem freundlichen Lächeln auf sie zu kam, und sie folgte ihr so sanft wie ein Lamm. Seine Mutter hatte ohne nachzufragen seine Geschichte akzeptiert, wie er angeblich der gestrandeten entfernten Cousine ohne Gepäck begegnet war. Sie lobte ihn sogar, weil er jemanden gefunden hatte, um die Zahl der Gäste auszugleichen, und nun stellte sie Bella Ingram jedermann vor, als sei sie der Gast, auf den alle gewartet hatten. Einzig Tante Agatha begrüßte sie nur mit kalter Höflichkeit und wandte sich rasch ab, als sei eine arme Verwandte unter ihrer Würde.

Als sie schließlich zu ihm kamen, verlor Miss Ingram den neutralen Blick, und kriegerische Röte überzog ihre blassen Wangen. Offenbar hatte sie die Gefechtsstation bemannt.

„Sehen Sie, Miss Ingram?“, sagte er freundlich. „Alle sind entzückt, dass Sie über die Feiertage bei uns sind.“

Sie verengte die Augen bei seinem gönnerhaften Ton, aber bevor sie antworten konnte, erschien Porter und informierte Lady Deverill mit leiser unheilverkündender Stimme, dass die Köchin und Mrs. Bunting, die Haushälterin, sich nicht einigen konnten, ob zum Dinner Punsch oder Cider serviert werden solle.

„Du meine Güte. Liegen sie sich immer noch in den Haaren? Bitte, kümmere dich um Miss Ingram, Nicholas. Ich bin gleich zurück.“

Als er nun allein mit Miss Ingram war, fühlte sich Nicholas plötzlich verlegen und sagte das Erste, was ihm einfiel.

„Die Farbe steht Ihnen gut. Sogar, wenn Sie kriegerisch gerötet sind, Miss Ingram.“

Sie kniff die Augen zusammen, bis nur noch flammende goldfarbene Schlitze zu sehen waren. „Was genau haben Sie ihnen eigentlich über mich erzählt, Lord Deverill?“

„Sie sind eine entfernte Cousine meines Vaters, und ich habe Sie zufällig getroffen, als Sie wegen des Wetters in einem Wirtshaus in der Nähe gestrandet waren. Ihr Gepäck war im Schneesturm verlorengegangen. Daher habe ich Ihnen angeboten, die Feiertage hier zu verbringen.“

Ihre Augen sahen nun etwas weniger zornsprühend aus. „Das ist halbwegs vernünftig. Aber nun finde ich das Entgegenkommen Ihrer Schwester und Ihrer Mutter umso erstaunlicher.“

„Erstaunlich?“

„Sie sind sehr nett zu mir, anscheinend ohne mich zu bemitleiden.“

„Warum erstaunt Sie das? Es sind eben nette Menschen. Ach so, verstehe. Sie dachten, dass jeder, der mit mir verwandt ist, ebenfalls ein Monster sein muss.“

„Durchaus nicht. Rupert ist ein sehr netter Junge. Anscheinend gibt es in Ihrer Familie zwei Extreme.“

An ihrem stolz gereckten Kinn konnte er erkennen, dass sie ihn reizen wollte, aber diesmal flog der Pfeil am Ziel vorbei.

„Es ist Heiligabend, Miss Ingram. Warum rufen wir keinen Waffenstillstand aus, bis die Feiertage vorbei sind?“

Er sah die gleiche beunruhigte Verwirrung, die ihm bei ihrem Eintreten aufgefallen war. „Einen Waffenstillstand?“

Autor

Christine Merrill
<p>Christine Merrill lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie...
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