Hochzeitsnacht mit dem fremden Ritter

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Da ist er! Gebannt späht die junge Lady Constance über die Brüstung hinunter in die große Halle: Dort sitzt Matthew Wintour, breitschultrig im Kettenhemd, nach fünf langen Jahren in Frankreich zurückgekehrt – ihr Mann, der sie noch vor der Hochzeitsnacht für das Schlachtfeld verließ! Als sie das Ehegelübde sprachen, ängstigte Constance der Blick aus seinen eisgrauen Augen. Sie wusste, dass die Heirat ihm nur dazu diente, ihre geerbten Ländereien zu übernehmen. Doch nun ist sie mit ihren neunzehn Lenzen eine selbstbewusste Frau und entschlossen, dem Ritter erst kühn die Stirn zu bieten, bevor sie mit ihm das Schlafgemach teilt!


  • Erscheinungstag 29.10.2024
  • Bandnummer 413
  • ISBN / Artikelnummer 0814240413
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

HISTORISCHE VORMERKUNG

Im 13. Jahrhundert kam Ehen eine grundlegend andere Bedeutung zu, als es heute der Fall ist. Für den Adel spielte Liebe keine nennenswerte Rolle, vielmehr ging es darum, Macht und Einfluss zu erlangen und auch noch ein Vermögen anzuhäufen.

Eheversprechen konnten gegeben werden, wenn Braut und Bräutigam noch Säuglinge waren. Nach dem Kirchenrecht galten Mädchen ab dem zwölften und Jungen ab dem vierzehnten Lebensjahr als heiratsfähig, dennoch wurde manche Ehe noch früher geschlossen. Sie konnten jedoch vor dem Kirchengericht angefochten werden.

In der überwiegenden Zahl der Fälle wurde mit dem Vollzug der Ehe gewartet, bis bei der Braut die Periode einsetzte und sie damit auch Erben zur Welt bringen konnte. Adlige Frauen hatten nur selten Einfluss darauf, welcher Mann derjenige sein sollte, dessen Eigentum sie für den Rest ihres Lebens sein würden.

Im Jahr 1200 und damit ein Jahr nach der Besteigung des Throns von England heiratete König John Isabella, die Tochter des Grafen von Angoulême, nachdem er aufgrund von Blutsverwandtschaft die Aufhebung seiner Ehe mit Isabella of Gloucester bewirkt hatte. Historiker schätzen Isabella auf etwa zwölf Jahre – John war dreiunddreißig.

Angeblich war sie bereits Hugo IX. von Lusignan, genannt „der Braune“, und Graf von La Marche – versprochen gewesen, der sich mit seinem Protest an den französischen König Philipp II. August wandte, was schließlich zu jenen Feindseligkeiten führte, durch die England so viel Territorium auf dem Kontinent verlor.

Dieses Territorium versuchte John 1214 zurückzuerobern, was zur verheerenden Schlacht bei Bouvines am 27. Juli 1214 und zum Ersten Krieg der Barone von 1215 führte.

1. KAPITEL

Lincoln, England – November 1214

Constance kauerte sich neben ihrer Cousine hin und drückte das Gesicht gegen den Spalt zwischen den Latten des Geländers hoch oben auf der Galerie über dem Großen Saal. Im schwachen Lichtschein des Kaminfeuers musterte sie jeden Neuankömmling und wartete darauf, dass eines der Gesichter eine lange vergessene Erinnerung weckte. Doch nichts geschah.

„Und?“ Isabella stieß ihr den Ellbogen in die Rippen. „Welcher von ihnen ist es?“

„Ich weiß es nicht.“

„Aber er ist dein Ehemann! Wie kannst du es da nicht wissen?“

„Weil ich ihm vor fünf Jahren einmal begegnet bin, und da war ich erst vierzehn! Das war noch, bevor ich hergekommen bin, um hier zu lebe. Weißt du noch?“

„Ja, das ich wahr …“ Isabella begann zu kichern. „Ich konnte es nicht fassen, dass du nur ein Jahr älter bist als ich und dass du schon verheiratet warst. Und dann auch noch mit Matthew Wintour!“

„Heute Sir Matthew, sagt mein Onkel.“

„Ganz egal, wer er ist, aber ich habe meinen Vater seitdem verrückt gemacht, dass er mir einen Ehemann suchen soll.“

„Ich weiß.“ Constance warf ihrer Cousinen einen teils liebevollen, teils aufgebrachten Blick zu. „Ich musste mir das auch anhören. Aber wenigstens bist du jetzt verlobt.“

„Endlich! Weißt er, er kennt vielleicht nicht so viele Leute, und er ist womöglich auch nicht so wichtig, aber ich würde Tristan immer und überall wiedererkennen, auch nach fünf Jahren.“

„Vielleicht liegt es daran, dass du verheiratet sein willst, ich aber nicht.“

„Tja, jetzt ist es wohl ein wenig zu spät, um daran noch etwas zu ändern. Aber du musst dich doch an irgendetwas erinnern, was ihn angeht. Was ist mit seinen Augen? Oder mit seinen Haaren? Sind sie dunkel oder hell?“

„Hell … glaube ich.“

Glaubst du? Hast du denn gar keine Zeit mit ihm allein verbracht?“

„Nein. Es gab eine kurze Zeremonie, und dann sind er und sein Vater auch schon abgereist. Seitdem habe ich keinen von ihnen wiedergesehen.“

Sie hob die Hand an den Mund und begann beunruhigt an den Fingernägeln zu kauen. Soweit sie sich erinnern konnte, hatten sie und ihr sogenannter Ehemann am Tag ihrer Heirat nicht ein einziges Wort unter vier Augen geredet. Sie hatten sich ja sogar kaum angesehen, ausgenommen in dem einen kurzen, besorgniserregenden Moment, als er ihr den goldenen Ring an den Finger gesteckt hatte. Natürlich war er älter gewesen als sie, etwa so alt, wie sie heute war. Doch er hatte von ihr so gut wie gar keine Notiz genommen, während sie nur ein paar zögerliche Blicke in seine Richtung geworfen hatte. Sie hatten einfach Seite an Seite dagestanden und ihre Gelübde gesprochen, jeder von ihnen dem anderen so fremd, wie sie es einander nur sein konnten. Kein Wunder, dass sie ihn nicht wiedererkannte!

Dennoch erfüllten Isabellas Fragen sie mehr und mehr mit Unbehagen. Vielleicht hätte sie sich an mehr erinnern müssen, was diesen Mann anging, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen sollte. Aber sie hatte sich an nichts erinnern wollen. Vielmehr hatte sie seit dem Tag ihrer Heirat sogar alles versucht, um ihn möglichst ganz und gar zu vergessen, als könnte sie damit auch vergessen, dass es überhaupt geschehen war. Was sie jedoch nicht hatte vergessen können, war dieser eisige, abweisende Eindruck, den er bei ihr hinterlassen hatte. Warum nur hatte ihr Onkel ausgerechnet diesen Mann ausgewählt? Warum hatte er sie nicht mit einem anderen verheiratet? Seit jenem Tag bereute sie ihr Gelübde, und sie hatte sich vor dem Tag gefürchtet, an dem er herkommen und sie für sich beanspruchen würde.

Jetzt war der Tag gekommen, und sie war mit ihren Nerven am Ende.

„Mehr ist tatsächlich nicht geschehen?“ Isabella klang sehr skeptisch. „Er hat dir nie geschrieben? Nie Geschenke geschickt?“

„Nein, und das weißt du auch.“ Irritiert drehte sich Constance zu ihr um. Nachdem sie fünf Jahre lang ein Schlafgemach geteilt hatten, musste Isabella doch wissen, dass man in diesem Zimmer unmöglich etwas vor dem anderen verstecken konnte.

„Nicht unbedingt“, wandte Isabella ein. „Ich weiß, dass du nicht über ihn reden willst. Deshalb dachte ich, du willst mir nichts verraten oder du hast seine Geschenke weggeworfen.“

„Weder noch. Ich habe seit dem Tag unserer Heirat nichts von ihm gehört. Mir ist nur bekannt, dass er in der Normandie für den König gekämpft hat. Mein Onkel sagt, es ist fünf Jahre her, seit er das letzte Mal in England war.“

„Nachrichten hätte er dennoch senden können“, sagte Isabella und klang so, als wäre sie stellvertretend für Constance beleidigt worden. „Wie seltsam das doch alles ist.“

„Mhm“, gab Constance so zurück, dass es alles Mögliche bedeuten konnte. Genau genommen hatte Isabella ja recht. Er hätte sich von Zeit zu Zeit bei ihr melden sollen. Nicht, dass sie sich das gewünscht hatte. Da er sie aber offensichtlich nicht vergessen hatte, wäre es schön gewesen, wenn er versucht hätte, galant zu erscheinen. Stattdessen tauchte er mit nicht einmal einer Woche Vorwarnzeit im Landsitz ihres Onkels auf und erwartete von ihr, dass sie zur Abreise bereit war. Mit dem einen oder anderen Brief hätte sie sich wenigstens wieder an den Gedanken gewöhnen können, dass sie eine Ehefrau war. Das einzig Gute an seinem Auftauchen war, dass sie endlich nach Lacelby und damit nach Hause zurückkehren konnte. Fünf Jahre fern ihrer Heimat waren einfach zu viel.

„Ich würde keinen Ehemann haben wollen, den ich einfach wieder vergessen kann.“ Ihre jüngere Cousine, die sechzehn Jahre alte Emma, lief in gebückter Haltung die Galerie entlang zu ihnen, um nicht von unten gesehen zu werden.

„Nicht so laut!“, zischte Isabella ihr verärgert zu. „Vater wird toben, wenn er dahinterkommt, dass wir hier oben sind. Außerdem kannst du froh, wenn du mit deinem langen Gesicht irgendeinen Mann abbekommst. Du siehst aus wie ein Pferd.“

„Das tue ich nicht. Nimm das zurück!“

„Nicht, wenn du andere Leute belauschst.“

„Wenn du es nicht zurücknimmst, werde ich Mutter sagen, dass du hier oben spionierst!“

Constance verdrehte die Augen, als die beiden sich gegenseitig zu beschimpfen begannen. Das kam regelmäßig vor, aber wenn sie aufhörten, immer gereizter zu tuscheln, dann würde ihr Vater noch auf sie aufmerksam werden.

Dabei gab es nicht einmal einen Grund für diese gegenseitigen Beleidigungen, denn beide waren sie mit ihren blauen Augen und den flachsblonden Haaren wunderschön anzusehen. Und sie waren von zierlicher Statur, während sie selbst …

Sie schaute grimmig an sich herab. Zunächst einmal war sie für eine Frau viel zu groß geraten, denn sie überragte viele Männer. Außerdem hasste sie ihre Kurven und ihren Busen, der jene Art von Aufmerksamkeit auf sich lenkte, die ihr gar nicht gefiel. Wenn, dann war sie es, die sich zwischen den beiden wie ein Pferd vorkam – ein großes Zugpferd umringt von zierlichen Zeltern. Selbst ihr Gesicht war mit der breiten Stirn und den runden Wangen weit von dem entfernt, was als ansprechend galt, nämlich jene blasse und zerbrechliche Schönheit, die die Natur ihren beiden Cousinen mit auf den Weg gegeben hatte. Das Einzige, was sie an sich leiden konnte, waren ihre dunklen Haare, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Volles, welliges Haar, das hinunterreichte bis zu ihren zu breiten Hüften. Allerdings entsprach selbst der dunkle Zobel-Farbton nicht dem, was gerade Mode war.

Sosehr sie ihre Cousinen auch liebte, war es nicht leicht für sie gewesen, von solcher weiblichen Schönheit umgeben aufzuwachsen. Von Männern wurden sie voller Bewunderung und Ehrfurcht angesehen, als wären Isabella und Emma rein und unberührbar, zwei vollkommene Frauen, die man nur von Weitem anhimmeln durfte. Sie selbst wurde dagegen nur mit Blicken bedacht, die finster und beängstigend waren. Unweigerlich fragte sie sich, ob ihr Ehemann sie auf die gleiche Weise betrachten würde. Oder würde er nur enttäuscht sein, weil er nicht eine ihrer strahlenden Cousinen geheiratet hatte?

Natürlich war es nicht wichtig, wie er über sie dachte, hielt sie sich vor Augen. In ihrer Ehe ging es nicht ums Aussehen, auch nicht darum, ob sie beide zusammenpassten. Und mit Liebe hatte das erst recht nichts zu tun, mit diesem allumfassenden Gefühl, von dem die Minnesänger in ihren Liedern erzählten. Hier ging es nur um ihr Erbe, um Eigentum und Vermögen, von dem kein Mann glaubte, dass es einer Frau zustand, darüber zu verfügen oder es selbst zu verwalten. Niemanden kümmerte es, ob sie bei ihrer Erziehung etwas gelernt hatte, was sie dafür vorbereitet haben könnte.

Sie war das einzige Kind von Philip und Eleanor Lacelby. Nachdem beide Elternteile kurz vor Constances vierzehntem Geburtstag mit nur wenigen Wochen Abstand der gleichen Krankheit zum Opfer gefallen waren, war sie mit einem Mal zur begehrtesten Erbin im Osten des Landes erklärt worden. Sie hatte sich in einer Position wiedergefunden, in der sie Schatzjägern, Verführern und Schurken gleichermaßen schutzlos ausgeliefert gewesen war. Nachdem sie wochenlang alles versucht hatte, um ihre Selbständigkeit zu erlangen, war ihr schließlich klar geworden, dass jeder Protest vergebens und eine Heirat unausweichlich waren. Erschöpft und vor Trauer immer noch wie benommen, hatte sie sich damit einverstanden erklärt, zum Schein zu heiraten, bis sie erwachsen war. Auf die Folgen war sie dennoch nicht vorbereitet gewesen …

Eine Heirat mit Matthew Wintour, dem ältesten Sohn des in der Nähe lebenden Barons, war die sicherste und praktischste Lösung gewesen. Doch diese Verbindung bedeutete für ihn, dass er eines Tages einer der mächtigsten Männer des Landes sein würde, während für sie nichts weiter dabei herauskam, als dass sie von nun an seine Ehefrau war. Innerhalb weniger Augenblicke war alles, was ihre Eltern ihr hinterlassen hatten – darunter auch das Zuhause und das Land, das sie so geliebt hatte –, zu seinem Eigentum geworden. Zu allem Überfluss hatte er gleich darauf Lacelby zur langen Liste seiner Besitztümer hinzugefügt, die alle von seiner Familie kontrolliert wurden. Dann hatte er festgelegt, dass sie nicht mitkommen, sondern im Haushalt ihres Onkels aufwachsen sollte. Er hatte nicht einmal den Anstand besessen, es ihr persönlich zu sagen. Stattdessen war er wenige Tage später schon wieder aufgebrochen, um England vorerst zu verlassen, ohne sich wenigstens von ihr zu verabschieden. Es fiel ihr schwer, sich nicht darüber aufzuregen, auch wenn seitdem fünf Jahre vergangen waren. Und es fiel ihr noch schwerer, in diesem Mann etwas anderes als seinen kaltherzigen, arroganten und rücksichtslosen Tyrannen zu sehen.

„Du bist nur eifersüchtig!“, rief Emma mit schriller Stimme und holte Constance ins Jetzt und Hier zurück. „Jeder sagt, dass ich die Schönste bin! Sogar Tristan!“

„Stimmt doch gar nicht!“ Isabella sah aus, als wollte sie auf ihre Schwester losgehen. „Wann soll er so was gesagt haben?“

Seufzend wandte sich Constance wieder dem Spalt im Treppengeländer zu und verdrängte alle Erinnerungen, um sich ganz auf die Männer dort unten zu konzentrieren. Sie waren zu dritt, wenn sie ihren Onkel nicht mitrechnete. Im dämmrigen Lichtschein war so gut wie gar nicht auszumachen, ob die Männer dunkle oder helle Haare hatten. Nach ihrer Kleidung zu urteilen, mussten sie Soldaten sein. Sie trugen Kettenhemden über Gambesons aus braunem Leder und rötliche Surkots. Jeder von ihnen wirkte ein wenig schmuddelig, was jedoch kein Wunder war, hatte es doch fast den ganzen Tag über geregnet.

Voller Unruhe kaute sie an ihrem Daumennagel, während sie nachdenklich nach unten sah. Ihre durchnässte Kleidung begann in der Wärme des geschlossenen Raums zu dampfen, was es so aussehen ließ, als wären sie von Nebelschwaden umgeben, die ihr die Sicht nahmen und der Szene etwas Unheimliches verliehen. Ihr wäre schon damit geholfen gewesen, wenn sie mal den Kopf in ihre Richtung gedreht hätten, doch so, wie sie beisammenstanden, konnte sie nur mal flüchtig den einen oder anderen im Profil sehen. Kaum war ihr aber dieser Gedanke gekommen, betrat eine Dienerin den Saal, und sie alle drehten sich in deren Richtung, sodass sie freie Sicht auf die Gesichter der drei Männer erhielt.

Gebannt hielt sie den Atem an und musterte jeden Mann so gründlich, wie es der kurze Moment erlaubte. Einer von ihnen war mindestens Anfang fünfzig und damit zu alt, sodass es nur noch einer der beiden anderen sein konnte. Das half ihr aber nicht weiter, da keiner von ihnen etwas Vertrautes an sich hatte.

Beide waren sie überdurchschnittlich groß, zudem breitschultrig und deutlich vom Wetter gezeichnet. Doch während der Mann links vom Kaminfeuer freundlich wirkte und gut aussah und wohl kastanienbraunes Haar zu haben schien, machte der Mann rechts von ihm den Eindruck, als hätte er in seinem ganzen Leben noch nie gelächelt. Womöglich war er auch gut aussehend, doch wegen seiner extrem finsteren Miene konnte sie das nicht mit Sicherheit sagen. Man hätte meinen können, dass er die Dienerin verdächtigte, neben dem Tablett voller Krüge auch noch einen Dolch bei sich zu tragen, um ihn damit anzugreifen. Der Gedanke genügte, um Unruhe in ihr wach werden zu lassen. Über was mochten die Männer sich wohl unterhalten, dass er jederzeit mit einem Attentat zu rechnen schien?

Sie kaute am nächsten Fingernagel, als sie voller Bestürzung feststellte, dass seine Haare heller zu sein schienen als die der anderen Männer. Zudem schimmerten sie wie mit einem Hauch von Kupfer durchwirkt. Sein Gesicht war in jeder Hinsicht kantig und markant, vom deutlich unrasierten Kinn bis hin zu den hohen Wangenknochen. Die verliehen seiner Miene etwas leicht Gefährliches, was durch die zusammengezogenen Augenbrauen und durch das Gefühl von Rastlosigkeit unterstrichen wurde, das sie ihm anmerken konnte, obwohl sie sich am anderen Ende des Saals befand. Je länger sie hinsah, umso stärker begann sie zu glauben, dass er etwas Vertrautes an sich hatte. Es hatte etwas mit der straffen Haltung seiner Schultern zu tun, aber auch mit der Art, wie er sich hingestellt hatte – so, als sei er auf das Schlimmste gefasst. Genauso hatte er am Tag ihrer Heirat dagestanden.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, ausgelöst durch die Eiseskälte, die er auch jetzt wieder ausstrahlte und die sie mit aller Macht zu vergessen versucht hatte. Nicht er! Nein, ihre Erinnerung musste ihr einen Streich spielen, und sie irrte sich. Sie musste sich irren! Bedauerlicherweise glaubte sie aber nicht daran. Der düstere Blick, die Körperhaltung, dieses Gefühl von Anspannung, die mit aller Macht zurückgehalten wurde … das alles kam ihr viel zu vertraut vor. Ihr Herz krampfte sich fast schon brutal zusammen, ehe es bis in ihre Magengegend sackte.

„Mutter kommt!“

Sie machte fast einen Satz in die Luft, als ihr fünfjähriger Cousin William seinen Kopf durch die Tür zur Galerie steckte, da er dort kauerte, um für die anderen Ausschau zu halten.

„Komm!“ Isabella fasste nach ihrer Hand und zog sie hoch, während Emma bereits davoneilte.

„Warte! Ich glaube, ich weiß jetzt, welcher es ist.“

„Dafür haben wir jetzt kein Zeit!“

„Aber das da ist er! Das da ist mein Ehemann!

Sie zeigte über die Schulter und sprach ihre Worte genau in dem Moment, als der Mann den Kopf hob und nach oben sah. Trotz der Düsternis war Constance davon überzeugt, dass er ihr einen finsteren Blick zuwarf.

Sir Matthew Wintour verzog ablehnend den Mund, als ihm mehr Wein angeboten wurde. Vor allem heute Abend brauchte er einen klaren Kopf, auch wenn keiner von seinen Gefährten das Gefühl zu teilen schien, dass sie Vorsicht walten lassen sollten. Vor allem Laurent leerte seinen Becher so zügig, als würden sie nur untereinander auf ihre Gesundheit anstoßen, aber nicht über die Zukunft eines ganzen Königreichs reden. Als wäre Verrat ein Anlass, um sich zu betrinken.

Gerade eben waren von der Galerie Geräusche zu hören gewesen, die nach leisen Stimmen und nach dem Rascheln von Röcken geklungen hatten. Mit Erleichterung hatte er gleich darauf feststellen können, dass es tatsächlich Röcke gewesen waren, die da geraschelt hatten, denn in der Düsternis hatte er Konturen mindestens einer Frau ausmachen können. Ob er mit seiner Vermutung, um wen es sich bei ihr handelte, richtiglag, konnte er nicht sagen.

Dass seine Ehefrau im Haushalt ihres Onkels lebte, war ein guter Vorwand, um den zunehmend argwöhnisch werdenden Hof des Königs zu verlassen und schon so kurz nach seiner Rückkehr nach England Roul d’Amboise zu besuchen. Der Vorwand war umso besser, da er Jerrard und Laurent mitnehmen konnte, um mit – erheblicher – Verspätung seine Hochzeitsfeier nachzuholen. Allerdings wäre es ihm lieber gewesen, wenn er das Wiedersehen mit seiner Ehefrau noch eine Weile hätte hinauszögern können. Vorzugsweise noch einmal fünf Jahre, doch da sie inzwischen für eine Ehe ein deutlich passenderes Alter erreicht hatte, würde er das nicht vermeiden können.

Es war schon eigenartig, wieder in England zu sein, doch noch seltsamer war der Umstand, dass er tatsächlich eine Ehefrau hatte. Immerhin war ihm von ihr kaum mehr in Erinnerung geblieben als ein Paar ängstlich dreinschauender Augen. Es änderte nichts daran, dass er und Lady Constance unbestreitbar verheiratet waren. Sein Handeln und seine Fehler waren der Grund, wieso sie nun eine Wintour war. Deshalb blieb ihm auch keine andere Wahl, als das Richtige für sie zu tun, auch wenn ihm das bislang bei keiner anderen Frau in seinem Leben gelungen war.

Ganz gleich, dass man ihn zu dieser Vereinigung gezwungen hatte, und ganz gleich, wie wichtig all die anderen Dinge waren, um die er sich kümmern musste – er war für ihr Wohlergehen genauso verantwortlich wie für den Fortbestand ihrer Ländereien und ihres sonstigen Eigentums, allem voran ihre Burg bei Lacelby. Sein Vater hatte sich um die Burg gekümmert, während er selbst sich außer Landes aufgehalten hatte. Doch jetzt, da er zurück in England war und wohl auch auf Dauer hierbleiben würde, war es nun sein … nein, ihr gemeinsames Zuhause. Dort würden sie leben, gleich nachdem sie Wintercott besucht hatten – was er auch gern vermieden hätte, wenn es möglich gewesen wäre.

„War unsere Niederlage in Frankreich tatsächlich so schlimm?“

Ihr Onkel Roul sah Jerrard mit düsterer Miene an, nachdem der als erfahrenster Soldat der Gruppe von den jüngsten Feldzügen der englischen Armee berichtet hatte.

„Sie war verheerend.“ Jerrard war jemand, der nie um den heißen Brei herumredete. „John hat große Pläne, aber keine Ahnung, wie man eine Armee handhabt und Soldaten in eine Schlacht führt. Er glaubt, mit Geld alles lösen zu können, und sobald der Feind sich ihm auf fünfzig Meilen nähert, ergreift er die Flucht, und das oftmals auf Kosten unserer Verbündeten. Wir haben fast alle unsere Gebiete auf der anderen Seite des Kanals verloren. Anjou, Maine und Touraine. Die Franzosen dürften sich vor Lachen nicht mehr einkriegen, wenn sie sehen, wie leicht er es ihnen macht.“

„Was sagen seine Soldaten über ihn?“

„Hinter seinem Rücken nennen sie ihn Angsthase, weil er vor jedem Kampf davonläuft. Man wirft ihm vor, ein Feigling zu sein, und man verachtet ihn dafür, dass er Söldner anheuert.“

„Die er bezahlt, indem er daheim Abgaben und Steuern erhöht.“ Laurent hatte endlich aufgehört zu trinken. „Das Anwesen meines Vaters steht kurz vor dem Ruin, und so ergeht es nicht nur ihm. Jeder weiß, dass John der schlimmste König ist, den wir je hatten, und unsere Familien leiden, weil er unfähig und korrupt ist. Es wird Zeit, Stellung gegen ihn zu beziehen.“

„Vielleicht sollten wir das nicht ausgerechnet hier besprechen“, merkte Matthew an und warf einen unmissverständlichen Blick in Richtung der Galerie. „Schließlich sind das gefährliche Worte.“

Roul wirkte ein wenig vor den Kopf gestoßen. „Ihr habt hier nichts zu befürchten. Ich bürge für jeden, der unter diesem Dach lebt.“

Was keinem von ihnen helfen würde, sollte irgendjemand ihnen Verrat zur Last legen, wollte Matthew fast erwidern. Allerdings schienen die anderen sich mit dieser Beteuerung zu begnügen.

„Es ist schier unvorstellbar, dass John und Löwenherz Brüder waren“, seufzte Jerrard. „König Richard war der geborene Anführer, aber Johns Unvermögen macht unsere Feinde nur umso mutiger. Wenn wir nicht aufpassen, brockt er uns noch eine Invasion durch die Franzosen ein. Vierzig Jahre lang herrschte Frieden in England, und nun leben wir abermals in unsicheren Zeiten.“

„Und was genau wollt Ihr von mir?“, fragte Roul und trank seinen Wein aus, während er die Miene eines Mannes aufsetzte, der sich auf eine unangenehme Antwort gefasst machte.

„Für den Augenblick gar nichts“, antwortete Matthew, als Jerrard zögerte. „Aber den Baronen reicht es jetzt. Einige sind für eine sofortige Revolte, andere warten einfach ab, aber alle sind sich einig, dass Johns Verhalten geregelt werden muss. Es ist die Rede von einer Charta, die seine Rechte beschneiden soll, damit er nicht einfach tun und lassen kann, was er will. Wir holen Unterstützer auf unsere Seite und wenden uns an die, von denen wir glauben, dass sie sich uns anschließen werden, wenn der Augenblick der Konfrontation gekommen ist.“

„Welche Art von Konfrontation?“ Roul blickte nervös in die Runde. „Ihr wisst ja, als ich Eure Heirat mit meiner Nichte arrangierte, ging es mir darum, ihr eine sichere Zukunft zu geben. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ich sie mit einem Rebellen verheirate.“

„Ich bin kein Rebell.“ Matthew hielt dem eindringlichen Blick des anderen Mannes mühelos stand. „Ich bin ein treuer Diener Englands und der Krone, und deshalb möchte ich nicht tatenlos zusehen müssen, wie John beides zerstört. Mit etwas Glück könnte er zur Vernunft gebracht werden.“

„Und wenn das nicht klappt?“

„Wenn er sich weigert, werden die Barone entscheiden, was getan werden soll. Ich weiß nur, dass Machtmissbrauch angeprangert und ein schlechter König notfalls zur Rechenschaft gezogen werden muss.“

„Ich stimme Euch zwar zu. Aber das wird nicht jeder machen. Zum Beispiel Euer Vater.“

„Mein Vater interessiert sich nicht mehr für Politik.“

„Aber er war doch einmal ein enger Vertrauter des Königs, oder nicht?“

Früher ja.“ Matthew presste die Lippen zusammen, um sein Temperament im Zaum zu halten. Gleichzeitig warf ihm Jerrard einen warnenden Blick zu. Er konnte wohl anderen kaum einen Vorwurf machen, wenn man ihm unterstellte, dass seine Loyalität nicht nur einem Herrn galt, auch wenn er den Gedanken als Beleidigung empfand. An deren Stelle hätte er wahrscheinlich genauso gedacht, aber keiner von ihnen hatte eine Ahnung, aus welchem Grund und in welchem Ausmaß es zum Zerwürfnis zwischen ihm und seinem Vater gekommen war. „Deshalb habe ich ihm von unseren Absichten nichts gesagt, und das werde ich auch weiterhin nicht tun. Mein Vater und ich sind in sehr vielen Dingen gegensätzlicher Ansicht. John ist dabei noch das geringste Problem.“

Roul nickte ernst. „Auf jeden Fall unterscheiden sich eure Charaktere sehr voreinander, auch wenn Ihr Euch sehr ähnlich seht. Allerdings muss ich gestehen, dass ich seit seiner Heirat im letzten Jahr nicht mehr oft von ihm gehört habe.“

„Er hat schon wieder geheiratet?“, fragte Laurent ungläubig. „Die wievielte Stiefmutter ist das jetzt für dich, Matthew?“

„Die vierte.“ Er verzog mürrisch das Gesicht. Noch so eine bedauernswerte Frau, die zweifellos kaum älter war als seine eigene Braut …

„Was kommt denn da jetzt zusammen? Fünf Ehen und vier tote Ehefrauen? Man sollte meinen, dass die Frauen inzwischen zu viel Angst haben müssten, um ihn noch zu heiraten. Schließlich könnte es sie ja als Nächste treffen.“ Laurent fing an zu lachen, presste dann aber schnell die Lippen zusammen. „Tut mir leid, Matthew. Ich habe geredet, ohne zu denken. Der Wein …“

„Eure Mutter fehlt immer noch allen sehr“, warf Roul taktvoll ein. „Ich möchte behaupten, dass Ihr vom Wesen her ganz nach Eurer Mutter kommt.“

„Ich will es hoffen.“ Über die andere Möglichkeit wollte er gar nicht erst nachdenken.

„Und deswegen werde ich Euch auch vertrauen. Wenn Ihr Euch gegen den König stellt, dann habt Ihr meine Unterstützung. Ich gebe Euch mein Wort und versichere Euch mein Schweigen.“ Roul klopfte Matthew auf die Schulter und lächelte, als wäre das Thema damit erledigt. „Gut, nachdem das geklärt wäre, können wir uns angenehmeren Dingen widmen. Meine Frau plant für morgen ein Bankett, um Euer Wiedersehen mit meiner Nichte zu feiern. Ich glaube, es wird Euch gefallen. Constance ist zu einer feinen und vollendeten jungen Dame herangewachsen.“

„Ich freue mich schon darauf“, versicherte Matthew ihm gegen seinen Willen. Dann nahm er einen Krug und hob ihn an die Lippen, damit man ihm seinen Mangel an Begeisterung nicht ansehen konnte. Sie mochte die feinste und vollendetste junge Dame von ganz England sein, aber ein Ehegelübde war immer noch ein Ehegelübde, und das zu wahren war seine Pflicht.

„Auf Lady Constance“, sagte er und hob den Krug, während er zu einem hoffentlich begeistert klingenden Toast ansetzte. „Auf meine Ehefrau!“

2. KAPITEL

Constance saß barfuß in ihrem Baumwollunterkleid auf der Bettkante, während Isabella ihre Truhen durchwühlte. „Du musst dir schon ein wenig Mühe geben, dich für ihn angemessen zu kleiden“, erklärte ihre Cousine entschieden. „Was ist mit deinem roten Kleid? Das mit den weißen Perlen?“

„Nein.“

„Aber es steht dir gut.“

„Auf keinen Fall!“

Sie schüttelte den Kopf und knabberte an den schroffen Überresten ihrer Fingernägel, während sie den Blick von dem Kleid abwandte, das in kräftigem Karmesinrot leuchtete. Es stimmte, dass Rot ihr am besten stand, zu ihrer Haarfarbe passte und ihren olivfarbenen Teint strahlen ließ. Aber dieses Kleid, das ihr Onkel und ihre Tante ihr zum Geburtstag geschenkt hatten, brachte sie in Verlegenheit. Ihr war es nämlich lieber, im Hintergrund unterzutauchen, anstatt sich derart deutlich von allen anderen abzuheben. Die Aussicht darauf, ihren Ehemann wiederzusehen, kostete sie so schon genug Nerven, da verspürte sie kein Verlangen, sich auch noch für ihn angemessen zu kleiden, wie Isabella es gesagt hatte. Schließlich wollte sie den Mann lieber gar nicht wiedersehen!

Bis zum Bankett, das ihre Tante vorbereitet hatte, waren es nur noch wenige Stunden, und sie musste gegen die Versuchung ankämpfen, einfach zurück unter die Bettdecke zu kriechen und nie mehr aufzutauchen.

„Warum denn nicht das rote?“ Isabella sah sie schmollend an.

„Weil es zu grell ist! Mein grüner Bliaut und der Surkot werden genügen.“

„Aber die sind so trübsinnig anzusehen! Dieser Surkot hängt wie ein Leinensack an dir herunter.“

„Er sitzt nur locker, das ist alles.“ So war es ihr auch am liebsten. Eng anliegende Kleidung betonte nur unnötig ihre Kurven …

„Nein!“ Isabella stützte die Hände in die Hüften. „Mutters blaues Kleid. Das du letztes Jahr am Michaelstag getragen hast. Ich werde sie fragen, ob sie es dir noch einmal borgt.“

„Nein!“ Constance hob entsetzt die Hände und deutete ungelenk auf ihre Brust. „Es war zu eng … hier oben!“

„Ich weiß.“ Isabella kicherte. „Darum wird es ihm ja auch gefallen. An dem Tag hat kaum ein Mann woanders hinsehen können.“

„Es war entsetzlich.“

„Sie waren wie Hunde, die zu sabbern beginnen, wenn sie ein Stück Fleisch sehen. Ich würde das als Kompliment ansehen.“

„Du warst ja auch nicht das Stück Fleisch.“

„Aber jetzt ist es ja etwas anderes. Dein Ehemann darf schließlich sabbern, nicht wahr? Außerdem …“ Isabella legte den Kopf schräg und musterte sie aufmerksam. „Du hast seitdem abgenommen. Du fühlst dich nicht schlecht, oder?“

„Nein, nur nervös.“ Constance drehte sich weg, um ihren schuldbewussten Gesichtsausdruck zu verbergen. Seit dem Sommer gab sie sich alle Mühe, weniger als üblich zu essen, doch ihre Hüften und ihre Brüste hatten keine Veränderung erkennen lassen. Nur Arme und Beine schienen dünner geworden zu sein.

„Es wird schon gut ausgehen.“ Isabella setzte sich zu ihr und legte ihr einen Arm um die Schultern. „Vater würde dich niemals mit einem Ungeheuer verheiraten.“

„Ich weiß. Und mir ist auch klar, dass er nur tat, was er für das Beste hielt. Aber ich wünschte, er hätte mich mit niemandem verheiratet.“

„Das musste er aber, und das weißt du auch. Lacelby wurde doch praktisch von Männern belagert, die alle um deine Hand anhalten wollten, nachdem deine Eltern gestorben waren. Die hätten dich niemals in Ruhe gelassen, solange du dich nicht für einen von ihnen entschieden hättest. Und es bestand die Gefahr, dass der König einen Vormund bestimmt und dein ganzes Erbe an sich nimmt. Das hat er früher auch schon so gemacht, sagt Mutter. Er steckt unverheiratete Frauen in den Tower und behauptet, das sei zu ihrer eigenen Sicherheit. In Wahrheit will er nur sicherstellen, dass sie niemals heiraten und keine Erben bekommen, damit er alles für sich beanspruchen kann. Ohne den Schutz deines Ehemanns hättest du womöglich dein Erbe verloren.“

„Dann soll ich ihm dafür dankbar sein, dass er es stattdessen an sich genommen hat?“

„Nein …“ Isabella klang kleinlaut. „Ich wollte nur sagen, dass es auch schlimmer hätte kommen können.“

„Du hast recht.“ Constance ließ betreten den Kopf zur Seite sinken, bis ihre Wange auf der Schulter ihrer Cousine ruhte. „Es tut mir leid, dass ich so gemein zu dir war. Ich weiß, du hast recht, trotzdem hasse ich ihn dafür. Er hat mein Erbe an sich genommen und mich aus Lacelby weggeschickt, als wäre ich noch ein Kind. Er hat kein Wort mit mir geredet, er hat mich nicht gefragt, was ich will. Selbst wenn er kein Ungeheuer ist – was soll sein, wenn ich nicht aufhören kann ihn zu hassen? Was, wenn wir uns gegenseitig das Leben zur Hölle machen werden?“

„Die Gefahr besteht bei jeder Ehe. Manchmal mache ich mir um Tristan Sorgen.“

„Tatsächlich?“ Erstaunt hob Constance den Kopf. Bislang hatte Isabella immer nur von ihrem Verlobten geschwärmt. „Aber du liebst Tristan. Du hast gesagt, dass er vollkommen ist.“

„Nein, ich habe gesagt, dass er vollkommen zu sein scheint. Das bedeutet nicht, dass er es auch wirklich ist. Jeder kann vollkommen erscheinen.“

Jeder, nur nicht ihr eigener Ehemann, dachte Constance verbittert. Er war ihr nicht einmal freundlich erschienen. Wenn sie bis zu ihrer Heirat doch bloß noch ein paar Jahre hätte warten können, dann wäre sie vielleicht in der Lage gewesen, ihren Ehemann selbst auszusuchen, einen Mann, der sie nicht wie ein Kind behandelt, sondern ihr ihren eigenen Willen gelassen hätte. Vielleicht hätten sie dann nach einer Weile Zuneigung zueinander empfunden, womöglich sogar Liebe, so wie in den Balladen … Sie biss fest auf den nächsten Fingernagel. Ein Blick auf Matthew Wintour genügte, um zu wissen, dass sie für ihn niemals das empfinden konnte, was Isabella für Tristan empfand.

„Wir können nur das Beste hoffen“, sagte Isabella und sprang vom Bett. Die düstere Stimmung war wie weggeweht. „Jetzt werde ich Mutters Kleid holen, und von dir will ich kein Widerwort mehr hören. Das Kleid wird deine Augen türkis schimmern lassen.“ Auf halbem Weg durch das Gemach blieb sie stehen. „Weißt du, was witzig ist? Dass wir uns fünf Jahre lang ein Zimmer geteilt haben und ich noch immer nicht genau weiß, welche Augenfarbe du hast.“

„Grau.“

„Nicht ganz. Die Farbe verändert sich je nach Lichteinfall. Im Moment sehen sie zum Beispiel grün aus.“

„Dann sollte ich wohl besser meinen grünen Surkot anziehen.“

„So leicht mache ich dir das nicht. Notfalls werfe ich den ins Kaminfeuer.“

„Schon gut, schon gut, du hast gewonnen. Ich werde das blaue Kleid tragen.“ Constance lächelte, da sie zu schätzen wusste, dass ihre Cousine versuchte sie aufzumuntern, auch wenn das vergebens war. „Isabella?“, rief sie ihr hinterher. „Du wirst mich doch auf Lacelby besuchen, oder?“

„Solange du zu meiner Hochzeit kommst.“

„Du weißt, die würde ich auf keinen Fall versäumen.“ Sie kniff die Augen zu und kämpfte gegen ihre Tränen an, während sich Isabella auf die Suche nach dem Kleid machte. Natürlich wollte sie zur Hochzeit ihrer Cousine kommen und sie auch so oft wie möglich besuchen, doch das alles hing von ihren Ehemännern und davon ab, was sie ihnen gestatten würden und was nicht. Tristan schien so verliebt, dass er Isabella wohl alles erlauben würde. Doch sie hatte keine Ahnung, was sie von Matthew erwarten konnte, der ihr Erbe an sich genommen und das alleinige Sagen über ihr Leben hatte.

Wieder kochte Wut in ihr hoch, die sich so sehr steigerte, dass es sich anfühlte, als hätte sie Fieber, als Isabella mit dem Kleid über dem Arm zu ihr zurückkam. Es war unbestreitbar wunderschön. Seine Farbe war die des Himmels an einem warmen Sommerabend. Der Ausschnitt war quadratisch, das Mieder war eng geschnitten, und eng lagen auch die Ärmel an, die erst am Handgelenk weit ausgestellt waren. Dennoch hätte Constance in diesem Moment das Kleid am liebsten auf den Boden geschleudert, um darauf herumzutrampeln.

„Ich habe auch noch einen goldenen Gürtel gefunden“, sagte Isabella und bedeutete ihr aufzustehen, dann zog sie ihr den Seidenstoff über den Kopf. „Du wirst wunderschön aussehen, das verspreche ich dir.“

„Natürlich wird sie das.“ Isabellas Tante folgte ihr ins Gemach, sah Constance abschätzend an und begann, vorsichtig an den seitlichen Schnüren zu ziehen, um das Kleid in Form zu bringen. Wie ihre Töchter war sie blond, schlank und wunderschön, obwohl sie fünf Kinder zur Welt gebracht hatte. „Deine Eltern wären stolz auf dich.“

„Meinst du wirklich, Tante?“, fragte Constance mit einem Kloß im Hals.

„Ich weiß es sogar. Du bist eine tugendhafte junge Dame, die ihrer Familie zur Ehre gereicht. Was mehr könnte ein Mann haben wollen?“

Eine ganze Menge, antwortete Constance in Gedanken. Zum Beispiel Schönheit …

„Wenn nur meine Töchter lange genug aufhören könnten, über ihr Aussehen nachzudenken, um sich so wie du zu benehmen.“ Ihre Tante schürzte die Lippen, als sie Isabella anschaute. „Nun müssen wir uns beeilen. Er wartet bereits in meinem Privatgemach.“

„Jetzt schon?“ Constance spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. „Ich dachte, das Bankett beginnt erst in ein paar Stunden.“

„Das ist auch so, doch dein Onkel und ich hielten es für besser, wenn ihr beide euch erst einmal wieder besser kennengelernt habt.“

„Du meinst … nur er und ich?“ Ihr Mund war mit einem Mal wie ausgedörrt, sodass die Worte ihr nur wie ein Krächzen über die Lippen kamen. „Aber wir haben uns doch schon bei der ersten Begegnung gar nicht kennengelernt.“

„Dann bekommst du jetzt ja eine neue Chance.“

„Aber …“

„Warum konnte er das nicht schon gestern Abend machen?“, warf Isabella ein. „Über was hat er sich denn sonst mit Vater unterhalten?“

„Wichtige Angelegenheiten, die dich nichts angehen.“ Der Tonfall ihrer Tante war ungehalten.

„Was kann es Wichtigeres geben, als nach fünf Jahren seine Ehefrau wiederzusehen?“

„Hatte es damit zu tun, dass der König auf der anderen Seite des Kanals so viele Gebiete verloren hat?“, wollte Constance wissen und sprach dabei mit deutlich leiserer Stimme. Sie hatte genügend Gerüchte gehört, um erahnen zu können, was so wichtig gewesen sein mochte. Doch bislang hatte sich ihr Onkel beharrlich geweigert, mit ihr darüber zu reden.

„Pschhht, Kind!“ Ihre Tante sah sie ernst an. „Das sind Angelegenheiten der Männer, nicht unsere.“

„Aber wieso nicht unsere? Er ist doch auch unser König.“

„Genug jetzt!“ Ihre Tante beendete das Thema, indem sie Constance eine Hand gegen die Wange drückte. „Erinnerst du dich noch daran, worüber wir vor Kurzem abends gesprochen haben?“

„Ja, Tante.“ Constance wünschte, dass das nie geschehen wäre, weil jene Unterhaltung dafür gesorgt hatte, dass sie sich noch viel mehr vor der Rückkehr ihres Ehemanns fürchtete. Das Ehebett war bis dahin für sie ein mysteriöser Ort gewesen, jetzt verband sie damit nur noch den schlimmsten Schrecken.

Ganz zu schweigen davon, dass nur einen Tag zuvor ihre monatliche Periode eingesetzt hatte. Als hätte ihr Magen nicht schon genug rumort, nun waren auch noch diese Krämpfe hinzugekommen.

„Gut.“ Ihre Tante tätschelte ihr die Wange. „Vergiss nicht, dass die meisten Bräute es zuerst als schmerzhaft empfinden. Aber es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Das Beste ist, wenn du es einfach hinter dich bringst, damit du das Bankett genießen kannst. So.“ Sie zog ein letztes Mal an den Schnüren, dann machte sie einen Schritt nach hinten und schien nicht zu bemerken, in welches blanke Entsetzen sie Constance mit ihren Worten gestürzt hatte. „Ich glaube, du bist bereit.“

„Aber …“ Constance hatte das Gefühl, dass ihre Füße fest mit dem Boden verwachsen waren, da sie sich nicht von der Stelle rühren konnte. Sie fühlte sich alles andere als bereit! Das Beste ist, wenn du es einfach hinter dich bringst? War es das, was ihre Tante damit gemeint hatte, dass sie ihren Ehemann wieder kennenlernen würde? Sie hatte sich gerade erst mit dem Gedanken abgefunden, ihn wiederzusehen, mehr aber auch nicht! Sie war davon ausgegangen, dass der Rest später geschehen würde, wenn sie zurück auf Lacelby waren … oder noch viel später, bis er gar nicht mehr daran dachte.

„So, dann ab mit dir.“ Ihre Tante begann ungeduldig zu klingen. „Und denk immer daran, ihm das Reden zu überlassen. Sei zurückhaltend und gehorsam, und stimme allem zu, was er sagt.“

„Und wenn ich nicht seiner Meinung bin?“

„Dann ist er der Letzte, dem du das sagen solltest.“ 

„Aber …“

„Kein Aber! Eine gute Ehefrau lässt ihren Mann nicht warten. Gib dein Bestes und mach deinen Onkel und mich stolz.“

„Ja, Tante.“ Constance drückte ihre Hand auf ihren Bauch und spürte dabei, wie ihr Magen sich verkrampfte. Sie fühlte sich hin und her gerissen zwischen Ablehnung, Furcht und dem dringenden Wunsch, einfach so weit wegzulaufen, wie ihre Füße sie trugen. „Ich werde mein Bestes geben.“

3. KAPITEL

Eine halbe Stunde lang stand Matthew nun schon da, tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden, starrte weiter ins Kaminfeuer und wartete immer noch darauf, dass sich seine Ehefrau endlich zeigte. Wo zum Teufel blieb sie nur? Sie hatte heute Morgen schon gefehlt, als der Rest der Familie zum Frühstücken zusammengekommen war. Allerdings hatte er es zu diesem Zeitpunkt als eine erfreuliche Überraschung empfunden. Die Situation war unangenehm genug, ohne dass er auch noch ein Publikum benötigt hätte. Doch jetzt wünschte er, sie hätten ihr Wiedersehen da schon hinter sich gebracht. Dann müsste er jetzt nicht hier sein, auf sie warten und damit wertvolle Zeit vergeuden, wenn es so viel wichtigere Angelegenheiten gab, die er genau jetzt anderswo hätte besprechen können. Wenn sie die Schüchterne spielte, weil sie dachte, das würde sie irgendwie interessanter für ihn machen, dann irrte sie sich gehörig. Es war nicht seine Gewohnheit, auf eine Frau warten zu müssen.

Allerdings sollte er wohl bei seiner Ehefrau eine Ausnahme machen können. Jedenfalls dieses eine Mal, da er nicht die Absicht hatte, das auch noch ein zweites Mal hinzunehmen. Als Ritter im Dienste des Königs hatte er es stets für den besten Weg gehalten, neue Soldaten sofort wissen zu lassen, was von ihnen erwartet wurde. Allerdings würde er sich bei einer Dame etwas gemäßigter ausdrücken müssen. Eigentlich hätte er die Wartezeit damit verbringen können, sich etwas galant Klingendes zu überlegen, das er zu ihr sagen konnte. Aber inzwischen war er viel zu verärgert, als dass er so etwas jetzt noch hätte versuchen können.

Er sah zum Bett in der Mitte des Gemachs, dann stapfte er zum Fenster. Nach der Vielzahl kunstvoll arrangierter Kissen auf der Decke und dem Krug mit Wein auf dem Tisch gleich daneben zu urteilen, wurde von ihnen wohl erwartet, dass sie so bald wie möglich die Ehe vollzogen. Es hatte etwas sehr Unbehagliches, mit einer völlig fremden Frau intim werden zu müssen, mit der er dann den Rest seines Lebens verbringen würde. Was erwartete man von ihm? Dass er sie mit lieblichen Worten und mit Komplimenten dazu brachte, sich sofort mit ihm auf dieses Bett zu begeben? Selbst wenn er solche Worte und Komplimente gekannt hätte, wäre es ihm lieber gewesen, sich für eine Weile einfach nur schlafen zu legen. Hätte er gewusst, wie lange sie ihn warten lassen würde, dann hätte er allein schon die Zeit nutzen können, um zu schlafen.

Tatsache war, dass er keine Ahnung hatte, was es hieß, ein Ehemann zu sein. Sein Vater war in dieser Hinsicht kein Vorbild, sondern eher das genaue Gegenteil davon gewesen. Damit wusste er zwar, wie er sich nicht verhalten sollte, doch was den Rest anging, war er völlig ahnungslos. Er war es gewohnt, von Männern umgeben zu sein, in einem Zelt zu schlafen und am Tag über militärische Taktiken und Nachschubwege zu reden, aber er war nicht den Umgang mit Damen gewohnt. Er wusste nicht, worüber er mit einer Dame reden sollte, und keiner seiner unverheirateten Gefährten hatte ihm mit einem Ratschlag weiterhelfen können. Wenn es stimmte, was Laurent sagte, dann war das Wichtigste, nicht mürrisch dreinzuschauen.

Das stellte für ihn ein Problem dar, denn ein mürrischer Gesichtsausdruck war das, was er für gewöhnlich zur Schau stellte. Ihm war schon gesagt worden, dass seine Miene eine recht einschüchternde Wirkung haben konnte – dabei sollte er diese Frau besser kennenlernen, ihr aber keine Angst einjagen.

Er konnte nur hoffen, dass sie nicht so war wie ihre beiden Cousinen. Die galten seiner Meinung nach nur der Mode entsprechend als schön, für sein Empfinden dabei aber ein wenig fade und zugleich ihres Aussehens so sehr bewusst, dass er sie nicht als wahrhaft anziehend empfinden konnte. Die Jüngere der beiden hatte am Morgen so maßlos kokett mit den Wimpern geklimpert, dass er sich veranlasst gefühlt hatte, darauf mit einem wirklich finsteren Blick zu reagieren. Wenn er jetzt darüber nachdachte, war vermutlich seine Reaktion der Grund für Laurents Ratschlag gewesen. Ihm selbst wäre eine Ehefrau lieber, die nicht mit Männern schäkerte. Wenn er eines nicht gebrauchen konnte, dann war das eine zweite Blanche …

Ein knappes Klopfen an der Tür lenkte ihn dankenswerterweise von seinen Erinnerungen ab, dann ging die Tür einen Spaltbreit auf und das Gesicht einer Frau tauchte auf.

„Tretet ein.“

Er wandte sich vom Fenster ab und bemerkte das kurze Zögern der Frau, ehe sie ins Zimmer kam und leise die Tür hinter sich schloss. Es wirkte, als hätte sie bis gerade eben noch mit sich gerungen, ob sie nicht die Flucht ergreifen sollte.

Sein erster, erfreuter Eindruck war der, dass sie mit ihren Cousinen nichts gemeinsam hatte. Sie sah sogar so gänzlich anders aus, dass er Mühe hatte, irgendeine Art von Verwandtschaft in ihr zu erkennen, weder im Erscheinungsbild noch im Verhalten. Sie hatte nichts Kokettes an sich – nicht in der gleichmäßigen Art zu gehen, nicht in der Tatsache, dass ihr Gesicht mehr auffallend als schön war mit seinen alles andere als faden Zügen und den dichten Augenbrauen. Eingerahmt wurde dieses Gesicht durch ihr dunkles Haar, das zu einem schier endlos langen Zopf geflochten war, der über ihrer Schulter lag.

Sein Blick folgte diesem Zopf und wanderte nach unten über das leuchtend blaue Kleid, das ihn an eine Sommerwiese denken ließ. Einen verunsichernden Moment lag kam es ihm so vor, als könnte er tatsächlich den Duft von Wildblumen riechen. Es war so, als wäre mit ihr ein Schwall frischer Luft in das Gemach getragen worden. Der bloße Gedanke reichte aber schon, um ihn wieder grüblerisch dastehen zu lassen. Es war nicht seine Art, poetisch zu werden oder an Blumen zu denken. Oder sich darüber zu freuen, dass eine Frau glänzende dunkle Haare hatte und weitaus anziehender aussah, als er es in Erinnerung hatte. Mit einem Mal kam ihm das gemachte Bett gar nicht mehr so übel vor …

„Mylord?“ Sie blieb abrupt stehen, beugte sich vor, um einen Knicks zu machen. Dann nahm sie eine Haltung wie ein Soldat an, auf den eine Inspizierung wartete.

„Lady Constance?“

„Ja, Mylord.“

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