In den Armen des Ritters (3in1)

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Frankreich, 12. Jahrhundert: Drei stolze Ritter im Rausch der Gefühle

RITTER DER LEIDENSCHAFT
Ein burgunderrotes Cape, goldenes Haar, so strahlend wie die Sonne und grüne Augen, die wie Smaragde funkeln! Als Ritter Lucien vor den Toren seiner Burg die selbstbewusste Schönheit sieht, ist er wie geblendet. Dass es sich bei der hinreißenden Fremden um Lady Isobel, seine ihm versprochene Verlobte, handelt, sollte ihn freuen. Doch schönen Frauen gegenüber ist Lucien skeptisch, schließlich wurde er schon einmal bitter betrogen. Und als Isobel sich schon kurz nach ihrer Hochzeit seinem Willen widersetzt, steht sein Entschluss fest: Diesmal wird er seine widerspenstige Braut zähmen, und zwar um jeden Preis …

DER RITTER UND DIE SCHÖNE SKLAVIN
Clare spürte den brennenden Wunsch, sich mit dem Kopf an seine breite, vom Kettenhemd geschützte Brust anzulehnen. Champagne, 1174: Sklavenhändler in der Stadt! Die junge Clare ist außer sich vor Angst. Aus Apulien ist sie vor ihnen geflohen, hat gegen einen den Dolch erhoben. Haben sie sie gefunden? Clare entkommt aus Troyes. Doch ein tapferer Ritter holt sie ein: Sir Arthur Ferrer, der sie bei den Rittersspielen erblickt hat, glaubt, sie sei die Tochter des Comte Myrrdin de Fontaine, Herrscher über Ländereien in der Bretagne. Er soll die Fliehende zu ihrem Vater bringen, den sie nie kennengelernt hat. Für Clare beginnt eine schicksalhafte Reise an der Seite des hochgewachsenen Ritters, dessen Berührungen eine brennende Sehnsucht in ihr wecken …

RAUSCH DER LUST IN DEN ARMEN DES RITTERS
Frankreich, 12. Jahrhundert: Frei und ungebunden reist die wunderschöne Elise durch die Lande. Mit ihren romantischen Liedern bezaubert sie ihre Zuhörer - und weckt das Interesse des stolzen Ritters Gawain Steward. Einen Rausch der Lust findet sie in seinen starken Armen, obwohl sie genau weiß: Für den adligen Vertrauten des Königs ist sie nicht die Richtige. Schweren Herzens verlässt sie ihn, ihre heimliche Liebe zu ihm tief in ihrem Herzen verborgen. Doch ein Jahr später sieht sie Gawain im prächtigen Troyes wieder. Die Sinnlichkeit erwacht erneut, auch wenn er nie erfahren darf, welche Folgen ihre Liebesnacht hatte …


  • Erscheinungstag 12.10.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783745752700
  • Seitenanzahl 768
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Carol Townend

In den Armen des Ritters (3in1)

1. KAPITEL

Oktober 1173 – im Ostturm von Ravenshold, in der Champagne

Mit der Dolchspitze stocherte Lucien Vernon, Comte d’Aveyron, an etwas herum, das ihn an einen toten Spatz erinnerte.

„Ist es das, wonach es aussieht?“ Er verzog das Gesicht, während er einen Tisch voller Unrat inspizierte. Eine Handvoll winziger Knochen lag dort, eine Tonschale, gefüllt mit Schmetterlingsflügeln und ein Mörser, worin sich neben einem abgenutzten Stößel noch ein Stück knorrige Borke befand, und der sicher weder in der Küche noch in einem Krankenhaus jemals Verwendung fände. Die Tischplatte war unter einer Schicht aus toten Fliegen, Blättern, Bucheckern und Eicheln kaum mehr zu sehen.

„Vertrocknete Fledermaus?“, vermutete sein Freund Sieur Raoul de Courtney. „Oder eine Kröte?“ Halb angewidert, halb neugierig untersuchte er ein Glas, voll mit einer milchigen Flüssigkeit. Er hielt es gegen das Licht, das durch die hohen, schmalen Fenster fiel, vor denen dicke Spinnweben hingen, und betrachtete den Inhalt. „Mon Dieu!“, rief er, jetzt nur noch angewidert, und stellte das Glas so heftig zurück auf den Tisch, dass der Staub aufwirbelte. „Grundgütiger, Luc, hast du noch nicht genug gesehen? Lass uns hier verschwinden.“

Lucien fuhr sich über das Gesicht und verharrte einen Moment an der zackigen Narbe an seiner Schläfe. Sie pochte, wie immer, seit er von Morwennas vorzeitigem Tod erfahren hatte, und wie eigentlich auch schon immer, wenn er an sie dachte.

„Ich bitte um Verzeihung, Raoul, aber ich habe gedacht, ich würde hier vielleicht etwas finden … etwas, das ihren Tod erklärt. Wusstest du, dass ich Pater Thomas bestechen musste, damit er mir die Erlaubnis gegeben hat, sie auf dem Friedhof beerdigen zu lassen?“

Raoul schüttelte mitfühlend den Kopf.

„Ich habe die Gerüchte über Hexerei gehört. Weißt du, wer sie dieses Mal in die Welt gesetzt hat?“

„Nein. Ich hatte gehofft, hier Antworten zu finden, aber …“ Lucien schüttelte den Kopf. Bedauern erfasste ihn – wenn doch nur alles anders gekommen wäre. Wie lange hatte er Morwenna nicht gesehen? Zwei Jahre? Und jetzt war sie nicht mehr. Schuld und Reue hinterließen einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge. Er wandte sich dem Tisch zu. „Trotz allem, was du hier siehst, war sie keine Hexe.“

„Das weiß ich.“

„Sie war nur … besessen.“ Er atmete tief durch. In dem Raum roch es modrig. Nach Tod. Es war, als wäre die Zeit oben im Ostturm stehen geblieben – als wäre alles mitten im Verfall erstarrt. „Früher war sie nicht besessen …“

„War sie schön?“

„Eine Göttin. Raoul, wenn du sie nur hättest sehen können, ehe wir geheiratet haben …“

„Luc, ich weiß, dass du nichts mit Hexerei zu schaffen hast, aber mir scheint, sie hat dich behext.“

Lucien lachte kurz auf.

„Ich war fünfzehn. In dem Alter werden viele junge Männer behext. Du auch, wenn ich mich recht entsinne …“

Abwehrend hob Raoul die Hand.

„Schon verstanden. Kein Grund, meine Vergangenheit ins Spiel zu bringen.“ Angeekelt beäugte er einen verschimmelten Haufen Kastanien. „Ehrlich, du wirst hier gar nichts finden. Ich rate dir, alles in diesem Raum zu verbrennen. Es wäre nicht gut, wenn Madame Isobel das sähe.“

„Das hat keine Eile“, entgegnete Lucien. „Madame Isobel wird frühestens in einem Monat eintreffen.“

„Ah, Luc … was das angeht …“ Raoul rümpfte leicht die Nase. „Egal, das sage ich dir draußen.“

„Die große Halle und die Gemächer gehen vor“, sagte Lucien und ging in Gedanken noch einmal alles durch, was es zu erledigen gab, ehe seine Verlobte anreiste. „Dann kommen die Stallungen …“

„Vergiss die Küche nicht“, warf Raoul ein. „Lass uns gehen, die Luft hier drin ist widerlich. Ich sage dir: Verbrenne das alles.“

Lucien schüttelte den Kopf.

„Erst, wenn ich mich vergewissert habe, dass Morwennas Tod kein Unfall war.“

„Aber es war ein Unfall; Arthur war sich sicher. Luc, vielleicht ist es besser, wenn du akzeptierst, dass es manchmal keine Antworten gibt. Durchsuche diesen Turm, solange du willst, aber du wirst nichts finden, außer Morwennas Träumen.“ Er griff nach dem Riegel der Tür. „Wie du schon gesagt hast, es gibt genug andere Dinge zu erledigen.“

Lucien nickte. Raoul hatte recht. Seine Verlobte, Madame Isobel de Turenne, würde in einem Monat hier sein, und Ravenshold konnte man in diesem Zustand nicht einmal einem Bettler herzeigen, geschweige denn der zukünftigen Herrin der Burg. Das Waffenlager und die Sattelkammer mussten wieder in Schuss gebracht, die große Halle musste von oben bis unten gereinigt werden, in den Ställen hausten die Ratten, der Küchengarten war verwildert, die Obstbäume mussten beschnitten werden … Und Lucien war noch nicht einmal bis zum Keller vorgedrungen. Er erschauderte bei dem Gedanken daran, was sich noch alles auftun würde. Überall herrschte Chaos und Vernachlässigung. Häusliche Pflichten hatten bei Morwenna nicht gerade an oberster Stelle gestanden.

Lucien sah sich noch ein letztes Mal im Turm um. Morwenna hatte es ihr Arbeitszimmer genannt. Der Putz fiel von den Wänden, unter dem Tisch türmte sich ein Haufen Schutt, ein Stuhl war zerbrochen, es lagen Rollen vergilbten Pergaments herum …

„Das ist kein fröhlicher Ort.“ Nachdrücklich schloss Lucien die Tür hinter sich. „Morwenna hat sich an ihre Träume geklammert. Schade, dass sie es nie über diese Kammer hinaus geschafft haben.“ Schade, dass sie nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten.

Raoul flüchtete förmlich die gewundene Treppe hinunter, die nach draußen in den Hof führte.

„Lass uns noch über die Ringmauer gehen, Luc. Ich brauche frische Luft.“

„Amen. Aber ich muss noch den Keller und die Küche kontrollieren.“

„Kontrolliere deinen Weinvorrat später.“

Im Hof angelangt, blinzelte Lucien in die grelle Herbstsonne und atmete einmal tief durch. Nach der trostlosen Atmosphäre im Turm würde ihm eine kurze Abwechslung guttun. Dummerweise offenbarte die Sonne hier draußen den Verfall noch schonungsloser. Die Wassertröge hatten Risse, in den Ecken häufte sich welkes Laub, und wo im Vorhof erst die Straße frisch gepflastert worden war, sah man nun schon wieder tiefe Spurrillen.

Auf dem Wehrgang sprach Raoul mit Sergent Gregor. Lucien folgte ihnen die Treppe hinauf. Von hier oben konnte er einen Großteil seiner Ländereien sehen. Er ließ den Blick an der Kirche vorbei und über das Dorf schweifen, hin zu den gepflegten Weingärten und Feldern. Welch ein Segen, dass er Morwenna über die Burg hinaus keine Befugnisse eingeräumt hatte. Der Kontrast zwischen dem desolaten Zustand innerhalb der Mauern und der Ordnung außerhalb war immens. Die Felder waren bereits abgeerntet, jetzt grasten Schafe zwischen den Stoppeln. Auch der Wein war schon gepflückt.

Aus einem Baum flogen Saatkrähen auf, und in der Ferne entdeckte er das verräterische Aufblitzen eines Helms, der die Sonne reflektierte. Über die Straße von Troyes kam eine kleine Gruppe Reiter heran. Vermutlich Händler. Mit einer Schulter an der Steinmauer lehnend, nickte er Sergent Gregor zu, als der vor ihm salutierte und sich dann wieder auf seinen Posten begab. Raoul wirkte ernst. Zu ernst. Lucien verschränkte die Arme vor der Brust und hob eine Augenbraue.

„Was ist los?“

Raoul zögerte.

„Sag mir nicht, der Schmied konnte deinen Helm nicht reparieren und du willst meinen für das Turnier.“

„Nein, das ist es nicht.“

Seine Zurückhaltung machte Lucien Sorgen.

„Raoul?“

„Sergent Gregor hat Neuigkeiten aus Troyes.“

„Oh.“

„Sie ist hier, Luc.“

Lucien wurde plötzlich ganz ruhig.

„Sie? Wer?“

„Madame Isobel de Turenne. Deine Verlobte.“

Augenblicklich fühlte Lucien sich zurückversetzt in die kühle, schattige Abtei in Conques. Er war ein Bursche von fünfzehn Jahren und zitterte im Angesicht der gewaltigen Lüge, zu der sein Vater ihn nötigte. Madame Isobel war gerade elf gewesen, erinnerte er sich. Lucien hatte sich furchtbar geschämt und sich so schuldig gefühlt, dass er sie kaum hatte ansehen können. Sie war so klein gewesen. Ein Kind noch. Und er war gezwungen worden, einen heiligen Eid zu schwören, dass er sie heiraten werde, obwohl er nicht wusste, ob er den je würde halten können.

„Isobel? In Troyes?“ Er fuhr sich mit der Hand durch sein nachtschwarzes Haar. „Was zum Teufel hat das zu bedeuten? Wir erwarten sie nicht vor nächstem Monat.“

„Sie ist vergangene Nacht in der Stadt angekommen“, erklärte Raoul. „Ich schätze, sie will dich so bald wie möglich sehen.“

Lucien fluchte unterdrückt. Nein! Das war das Letzte, was er wollte. Er war nicht bereit, seine Verlobte zu empfangen – Ravenshold war einfach noch nicht bereit. Er gestikulierte in Richtung des von Laub bedeckten Innenhofes, zu der Halle und den Türmen, die mit Efeu zugewuchert waren. Das Klappern von Hufen und Klirren von Zaumzeug sagten ihm, dass der Händler das Torhaus fast erreicht hatte.

„Sieh dich hier doch nur um! Sie kann nicht herkommen.“

„Das liegt selbstverständlich bei dir. Aber du solltest wissen, dass Madame Isobel und ihr Gefolge in der Abtei von Notre-Dame-aux-Nonnains in Troyes logieren.“

Luciens Magen zog sich zusammen.

„Zur Hölle mit dieser Frau, sie ist viel zu früh.“

Raoul sah ihn verwundert an.

„Du hast gleich nach Morwennas Tod nach ihr geschickt; was macht ein Monat für einen Unterschied?“

„Ich habe Vicomte Gautier in meinem Brief klar zu verstehen gegeben, dass Ravenshold nicht vor Advent bereit ist, seine Tochter aufzunehmen.“

„Scheint so, als wäre es nicht bloß Ravenshold, das nicht bereit ist“, sagte sein Freund gutmütig.

Lucien kniff leicht die Augen zusammen.

„Was soll das heißen?“

„Luc, Morwenna gegenüber hast du deine Pflicht erfüllt, das ist Vergangenheit. Du verdienst etwas Besseres, du verdienst eine Ehe, die dir Söhne und Töchter bringt. Du bist mein Freund, ich will, dass du glücklich bist.“

„Du – ein unverheirateter Mann – setzt die Ehe mit Glück gleich? Womit begründest du das?“

Raoul packte ihn bei der Schulter.

„Du hast für Morwenna getan, was du konntest. Mon Dieu, du hast mehr getan, als jeder andere getan hätte. Geh nach Troyes, und geh noch heute. Triff dich mit Madame Isobel, dann wirst du sehen, dass sie keine zweite Morwenna ist. Sie ist weit davon entfernt. Madame Isobel ist zu einer entzückenden jungen Frau herangewachsen.“

Lucien runzelte die Stirn.

„Woher weißt du das?“

„Ich bin ihr vergangenes Jahr in der Abtei in Conques begegnet. Noch bevor ihre Mutter gestorben ist. Sie waren dort zu Ehren von Sainte Foy, der heiligen Fides von Agen.“

„Das hast du nie erwähnt.“

„Wozu auch? Ich wusste, dass du Morwenna nie verlassen würdest.“

Luciens Gedanken wirbelten wild durcheinander. Ja, er brauchte Erben, und entgegen Raouls Befürchtungen war er sehr wohl bereit für eine zweite Ehe. Auch wenn er zugeben musste, dass er gehofft hatte, ihm bliebe noch mehr Zeit. Isobel würde gewiss eine Erklärung für die lange Dauer ihrer Verlobung haben wollen. Neun Jahre! Bislang war ihm noch keine taktvolle Begründung eingefallen. Wenn er ihr die Wahrheit erzählte, war es, als verriete er Morwenna.

„Mit Liebe wird das nichts zu tun haben“, sprach er seine Gedanken laut aus. Die Liebe hatte ihn schon einmal betrogen, das würde er nicht noch einmal zulassen. „Ich werde dieses Mädchen heiraten, weil mein Vater es so wollte. Ich werde mich an das Gelübde unserer Verlobung halten, und sie wird mir Erben schenken. Weiter wird es nicht gehen.“

„Ich nehme an, sie wird dich heute sehen wollen“, sagte Raoul und musterte seinen Freund.

„Heute? Gott, Morwenna ist kaum begraben.“

„Es ist nicht zu früh.“

„Ich habe Madame Isobel vernachlässigt. Ich habe sie belogen.“

„Mach das mit ihr aus. Du hast Charme, oder zumindest …“ Raoul grinste, „… hattest du einmal Charme.“

Die Hufschläge kamen näher, der Händlertrupp hatte das Tor erreicht. Er hörte eine Frau lachen. Offenbar hatte der Händler sein Weib dabei. Es klang hell und heiter.

„Danke, Pierre“, sagte die Frau. „Ich habe den Ritt sehr genossen. Er war sehr belebend, besonders nachdem Capitaine Simund uns gestern untersagt hat, schneller als im Schneckentempo zu reiten.“

Es folgte eine kleine Pause, dann murmelte eine Männerstimme, Pierre vermutlich: „Gerne geschehen, Madame.“

Madame? Das klang nicht nach einem Händler und seinem Anhang. Madame?

Erneut sprach die Frau.

„Das ist es? Ravenshold?“

„Ja, Madame, das ist Ravenshold.“

Ein Pferd schnaubte, ein Gebiss klirrte.

„Es scheint, deine Gastfreundschaft wird gleich auf die Probe gestellt.“

„Nicht, wenn ich es verhindern kann. Die Burg könnte keinem Bettler vorgezeigt werden.“

Raoul beugte sich über die Schießscharte und zuckte zusammen.

„Oh, Herr.“

„Was?“ Lucien lehnte sich über die nächste Schießscharte und reckte den Hals, um zu sehen, was Raoul sah. Da war kein Händler, nur eine junge Frau mit einer kleinen Eskorte. Vier bewaffnete Männer? Für eine junge Frau? Sie musste wichtig sein. Sie musterte die Ringmauer, als habe sie nie zuvor eine gesehen.

Das Mädchen hatte blondes Haar. Eine wahre Schönheit, gehüllt in ein weinrotes Kleid und einen ebensolchen Umhang. Ihren Schleier hatte sie für den Ritt fest um Kopf und Hals geschlungen, doch ein paar goldene Strähnen lugten darunter hervor und umrahmten ihr zartes Gesicht. Sie hatte rosige Wangen und Lippen rot wie Kirschen. Lucien erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf ihre Augen. Sie waren smaragdgrün und von dichten, dunklen Wimpern umrandet. Er wünschte, er hätte sie länger betrachten können.

Aber Raoul packte ihn am Gürtel und zog ihn von der Schießscharte fort. Seine Mundwinkel zuckten leicht.

„Raoul, was zur Hölle …?“

„Wenn du nicht bereit bist, Besucher zu empfangen, solltest du dich ihnen auch nicht zeigen.“

Die Stimme der jungen Frau hallte wieder zu ihnen hinauf.

„Pierre, bitte frage den Wachmann am Torhaus, ob der Comte d’Aveyron zugegen ist.“

„Sehr wohl, Madame.“

Der Mann ritt los, und Lucien sah, als er sich aus Raouls Griff befreit hatte und sich wieder über die Zinnen lehnte, wie die junge Frau ihm gleich folgte. Sie ritt ihre schwarze arabische Stute so elegant und natürlich, dass es schien, als wäre sie im Sattel geboren.

„Ich habe die Wache angewiesen, keine Besucher einzulassen.“

„Sehr weise, angesichts der Umstände“, sagte Raoul und kämpfte wenig erfolgreich darum, sich ein Grinsen zu verkneifen.

„Was ist?“

Jetzt war es ihm gänzlich unmöglich, sein Grinsen zu verbergen.

„Nichts.“

„Raoul?“

Raouls Augen funkelten amüsiert, aber als er nicht antwortete, wandte sich Lucien wieder der Schießscharte zu. Das Mädchen und sein Gefolge waren bereits wieder auf der Straße Richtung Troyes, nachdem Luciens Wachmann sie vertröstet hatte.

„Dieses Mädchen ist außergewöhnlich reizvoll.“ Ihm schien, das lag vor allem an der unschuldigen Lebensfreude, die sie versprühte.

Raoul lachte so laut auf, dass er damit eine Taube von den Zinnen scheuchte.

„Findest du nicht?“, fragte Lucien stirnrunzelnd.

„Du hast sie nicht erkannt, Luc, oder? Du hast keine Ahnung.“

„Was redest du da?“

„Das reizvolle Mädchen ist nicht irgendein Mädchen. Oder vielmehr irgendeine Dame.“

„Dann kennst du sie, Raoul?“

„Natürlich. Und du ebenfalls.“

Lucien befürchtete, dass ihm nicht gefallen würde, was er gleich hörte.

„Luc, sie ist dein. Das ist Madame Isobel de Turenne. Deine Verlobte. Als ich sie getroffen habe, habe ich bereits vermutet, dass sie sehr … direkt ist.“

Luc sah durch die Scharte und glaubte in der kleinen Staubwolke am Horizont, wo die Straße hinter den Weinfeldern im Wald verschwand, noch einen Hauch von Burgunderrot gesehen zu haben.

„Isobel“, murmelte er atemlos. „Verdammt. Was hast du noch gesagt, wo sie logiert?“

„In der Abtei von Notre-Dame-aux-Nonnains.“ Raoul schmunzelte. „Deine Verlobte scheint dich sehnlichst treffen zu wollen.“ Er schob Lucien mit dem Ellbogen zur Seite, um noch einen Blick auf die Straße zu werfen, aber der kleine Konvoi war bereits vom Wald verschluckt worden. „Vergiss deine Schuldgefühle“, meinte er dann ernsthaft. „Du kannst sie ehrenvoll für dich beanspruchen. Sie hat lange gewartet.“

Lucien rieb sich den Nacken.

„Ich gestehe, ich bin wirklich überrascht, sie so früh zu sehen.“

„Ich habe schon geahnt, dass ihr Vater sie ohne zu zögern fortschicken würde, sobald dein Brief ihn erreicht hat. Er konnte es wohl kaum erwarten, sie loszuwerden.“

Lucien spürte, wie eine kalte Hand nach ihm packte.

„Was stimmt nicht mit ihr?“ Herr, bitte sag nicht, dass ich wieder so eine Plage zur Frau bekomme … eine zweite Morwenna.

„Wärst du mit Turenne in Kontakt geblieben, wüsstest du, weshalb Madame Isobel dort unerwünscht ist. Vicomte Gautier hat wieder geheiratet. Seine neue Madame ist gewiss ganz versessen darauf, Turenne für sich allein zu haben.“

„Verstehe.“

„Armes Ding. Von ihrer Stiefmutter hinausgeworfen.“ Raoul schnalzte mit der Zunge. „Und dann kommst du und schickst sie fort, weil Ravenshold ein wenig heruntergekommen ist.“

„Ein wenig heruntergekommen?“, sagte Lucien verärgert. Er hasste es, in die Enge getrieben zu werden, und mit ihrer verfrühten Anreise hatte sie genau das getan.

„Dann verstehe ich dich richtig, dass du heute Nachmittag nach Troyes reiten wirst?“

„Ja, verflucht seist du, das werde ich.“

Comte Lucien d’Aveyron machte auf dem Absatz kehrt, lief über den Wehrgang und hinunter in den Hof. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Raoul grinste.

2. KAPITEL

Es ist ungerecht, dass sie dich auch bestrafen“, flüsterte Madame Isobel de Turenne ihrer Gefährtin Elise zu. „Du hast Troyes ja nicht unerlaubt verlassen.“

Isobel und Elise saßen in einem sonnenbeschienenen Winkel des Kreuzgangs der Abtei Notre-Dame-aux-Nonnains und besserten eine blaue Altardecke für den Advent aus. Es war eine komplizierte Stickerei, mit dutzenden Knoten und Schlaufen. Die Äbtissin hatte sie Isobel gegeben, damit sie für ihr eigensinniges Benehmen Buße tue. Isobel entging nicht, dass das Altartuch in dem gleichen Blau gefärbt war wie Comte Luciens Wappen. Ob das beabsichtigt war?

„Ihr hättet meine Erlaubnis einholen müssen“, hatte Äbtissin Ursula bei Madame Isobels Rückkehr in die Abtei gesagt. „Und was das Verlassen der Stadt selbst anbelangt … nun! Ihr müsst besser auf Euch achtgeben. Es hätte so vieles passieren können. Der Winterjahrmarkt steht vor der Tür, in der Champagne wimmelt es nur so vor Bettlern und Dieben.“

Natürlich hatte Isobel der Äbtissin versichert, dass ihre Eskorte sie durchaus beschützen konnte, und dass keinerlei Diebe und Bettler in Sicht gewesen waren. Und insgeheim verstand sie ohnehin nicht, weshalb es eine so große Sünde gewesen sein sollte, hinaus nach Ravenshold zu reiten, war doch Comte Luciens Einladung der Grund, weshalb sie überhaupt nach Troyes gekommen war.

Sie wollte ihn treffen. Sie wollte Ravenshold sehen. Äbtissin Ursula hingegen war der Meinung, es wäre anständiger zu warten, bis der Comte selbst kam, um sie zu holen. Die Äbtissin leitete das zur Abtei gehörende Pensionat für junge Damen, und ihre Mündel zur Disziplin zu erziehen war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Da Isobels Verhalten so gar nicht dem einer Dame entsprochen hatte, musste sie nun Buße tun.

Isobel und Elise nähten schon seit Stunden. Es war ihr ein Rätsel, weshalb sich die arme Elise, die kurz nach Isobels Ankunft Zuflucht in der Abtei gesucht hatte, ihrer Buße anschließen musste, aber da sich ihre Zofe Girande auf der Reise nach Troyes ein Leiden zugezogen hatte und seither im Krankenhaus lag, war Isobel dankbar für Elises Gesellschaft.

„Es tut mir leid, Elise“, sagte sie. „Ich wünschte, du müsstest nicht die Nadel schwingen, um für meine Sünden zu büßen.“

„Mir macht das Nähen Freude, Madame. Es ist so friedvoll.“

Darauf wusste Isobel keine Antwort. Elise mochte es friedvoll finden, Isobels Finger dagegen waren nach den vielen Stunden des Stickens schon ganz verkrampft. Und sie hasste das Stillsitzen.

Die Äbtissin hatte sie angewiesen, während der Arbeit über ihre zukünftigen Pflichten als Comte Luciens Gemahlin nachzudenken. Stattdessen ertappte Isobel sich dabei, wie sie über den Charakter ihres Verlobten sinnierte und über die Frage, weshalb er so viele Jahre gebraucht hatte, um nach ihr zu schicken. Neun Jahre. Ich habe neun Jahre auf diesen Mann gewartet. Aus welchem Grund? Fand er mich so abstoßend? Sie hatten damals kaum ein Wort miteinander gewechselt, also war es äußerst unwahrscheinlich, dass sie ihm Grund gegeben hatte, sie abstoßend zu finden, aber obgleich Isobel sich das immer wieder sagte, blieb das unsichere Gefühl.

Die Wache hat Comte Lucien verleugnet, aber ich habe doch jemanden oben auf dem Wehrgang gesehen. Natürlich hätte das auch ein weiterer Wachmann sein können, aber Comte Lucien ist gewiss hier in der Champagne. Wann wird er mich nur endlich aufsuchen?

Die Zweifel breiteten sich immer weiter in ihr aus. Hat er denn kein Gespür dafür, was es bedeutet, mit einem Mann verlobt zu sein, der einen derart meidet? Oder hat er davon gehört, dass Mutter keinen Sohn gebären konnte? Lehnt er mich ab, weil ich ihm vielleicht keinen Erben schenken kann?

„Konntet Ihr den Comte d’Aveyron sehen, Madame?“, fragte Elise leise.

Das Sonnenlicht spiegelte sich auf der Nadel, als Isobel eben einen silbernen Faden durch den Stoff zog.

„Nein, ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen.“

„Ihr wurdet als Kinder verlobt?“

„Als ich elf Jahre alt war.“

Elise hatte den Kopf über das Altartuch gebeugt.

„Wart Ihr erfreut, von einem so großartigen Turnierkämpfer gewählt zu werden?“

„Unsere Väter haben die Verlobung arrangiert. Damals war Comte Lucien noch kein siegreicher Ritter – das kam erst später.“ Isobel seufzte und bewegte ihre Finger, um den Krampf etwas zu lösen. „Aber ja, ich war erfreut. Damals.“

Sie äußerte sich nur ungern zu ihren Gefühlen für Lucien Vernon, Comte d’Aveyron. Kurz nach ihrer Verlobung hatte man sie in die Klosterschule von St. Foy gesteckt, um zu lernen, was die Gemahlin eines Comte können musste, und im Laufe der Jahre hatte sie gewisse Gefühle für ihn entwickelt. Isobel lebte in einer Zeit, in der Mädchen früh verheiratet wurden, und obwohl es Aspekte der Ehe gab, über die sie sich nicht ganz im Klaren war, wollte sie trotzdem, dass diese Hochzeit stattfand.

„Meine Freundin Madame Jenna de Maurs hat mit zwölf geheiratet“, murmelte Isobel.

„Madame?“

„Kurz darauf hat sie St. Foy verlassen. Eine andere Freundin, Madame Nicola, wurde mit dreizehn verheiratet. Die Ehen wurden erst später vollzogen, aber sie waren verheiratet. Sie hatten ihren gesellschaftlichen Stand. Helena und Constance haben das Kloster mit fünfzehn verlassen, Anna mit sechzehn …“

„Comte Lucien hat Euch warten lassen.“

Isobel heftete den Blick auf die geriffelten Säulen, zwischen denen hindurch das Sonnenlicht auf die Steine fiel.

„Ich bin zwanzig, Elise. Es war beschämend, das älteste Mädchen in St. Foy zu sein, das nicht für den Dienst an der Kirche bestimmt war.“

Isobel verfiel in Schweigen. Sie fühlte weit mehr als Scham, sie fühlte sich vergessen. Ungewollt. Ungeliebt. Was stimmt nicht mit mir? Weshalb hat er mich nicht früher zu sich gerufen?

Jemand räusperte sich.

„Verzeihung. Madame Isobel?“

Schwester Christine hatte den Kreuzgang betreten und war an den Säulen stehen geblieben.

„Schwester?“

„Ihr habt Besuch. Er erwartet Euch an der Pförtnerloge.“

Ein Besucher? Er? Isobel spürte Elises Blick auf sich.

„Wer? Wer ist es?“, fragte sie, auch wenn sie die Antwort längst kannte.

„Comte Lucien d’Aveyron, Madame. Euer Verlobter.“

Plötzlich wurde ihr Mund ganz trocken. Endlich! Zu ihrer Überraschung waren ihre Hände vollkommen ruhig, als sie Elise das Ende des Tuches reichte. Lebhafte blaue Augen tauchten in ihren Gedanken auf. Nie hatte sie diese Augen vergessen.

Sie räusperte sich.

„Elise, würdest du mich begleiten?“

Elise zögerte.

„Schwester Christine wird bei Euch sein. Braucht Ihr mich denn auch?“

„Ich würde deine Unterstützung sehr begrüßen.“

„Dann werde ich sie Euch nicht verweigern.“ Vorsichtig faltete Elise das Altartuch und legte es sorgsam in den Nähkorb.

„Einen Augenblick, Schwester“, sagte Isobel und blieb kurz stehen. Während sie ihren Schleier zurechtrückte, spähte sie durch den Wanddurchbruch in Form eines Vierpasses, der ihr den Blick in die Pförtnerloge erlaubte.

Lucien Vernon, Comte d’Aveyron, stolzierte die lange Seite der Loge auf und ab, seine Stiefel hallten laut auf dem gepflasterten Boden. Durch die hohen, schmalen Fenster fiel das Licht genau auf ihn und ließ eine hohe Gestalt und Haar so schwarz wie Pech erkennen. Ein Blick genügte, um seine Ungeduld förmlich spüren zu können. Er war ganz offensichtlich ein Mann, der es nicht gewohnt war, auf irgendjemanden warten zu müssen.

Isobel sah markante, ebenmäßige Gesichtszüge; auch die zackige Narbe an seiner linken Schläfe blieb ihr nicht verborgen. Gewiss stammte sie von einem seiner Turnierkämpfe, denn am Tage ihrer Verlobung war dort keine Narbe gewesen. Seltsamerweise schadete es seinem Äußeren kein bisschen, ganz im Gegenteil. Er war ein kraftvoller, ansehnlicher Mann.

„Madame Isobel.“ Schwester Christine drängte sie in die Loge, und noch eh sie sich versah, stand sie direkt vor ihm. Comte Lucien d’Aveyron, Sieger zahlloser Turniere. Ihr Verlobter.

Sie sank in einen Knicks.

„Comte d’Aveyron.“

Mit zwei schnellen Schritten war er bei ihr, griff entschlossen nach ihrer Hand und küsste ihren Handrücken. Isobel erschauerte. Endlich. Comte Lucien mochte es nicht gewohnt sein zu warten, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, sie selbst warten zu lassen. Neun lange Jahre.

„Meine Wache hat mir gesagt, dass Ihr heute Morgen zu Pferde nach Ravenshold gekommen seid“, begann er. „Ich muss mich entschuldigen, dass man Euch weggeschickt hat, aber ich habe Euch nicht vor Advent erwartet.“

Sein tadelnder Tonfall ließ sie erröten.

„Als mein Vater Euren Brief erhalten hat, war er sehr bestrebt, mich ohne Verzögerung abreisen zu lassen.“

Er musterte sie aus seinen blauen Augen.

„Ich hoffe, Eure Reise war nicht zu anstrengend. Habt Ihr Euch gut erholt?“

„Ja, danke, Sieur. Ich reite gerne.“ War Comte Lucien immer schon so groß gewesen? Im ersten Moment war er ihr vollkommen fremd. Er wirkte nicht wie der Mann, mit dem sie vor so langer Zeit verlobt worden war. Doch dann trafen sich ihre Blicke, und sie wusste, dass er es war. Nie hatte sie vergessen, wie unsagbar blau seine Augen waren, wie der Himmel an einem warmen Sommertag. Eine Farbe, wie man sie bei seinen sonst so dunklen Zügen kaum erwartet hätte. Unvergesslich. An die Wärme, die in ihnen lag, hatte sie sich nicht mehr erinnern können, aber als sie sie nun wieder darin fand, ermutigte es sie zu sagen: „Es ist lange her.“

„Zu lange. Das weiß ich, und ich bitte um Vergebung. Aber ich freue mich sehr, Euch wiederzusehen.“ Er führte sie ins Licht, hielt sie aber etwas auf Abstand, während er sie forschend betrachtete. „Ich wäre schon früher gekommen, aber …“

„Ihr hattet viel mit Euren Ländereien und den Turnieren zu tun.“ Isabel reckte das Kinn und spürte, wie sie errötete, während er sie von oben bis unten musterte – Haare, Lippen, Brüste … Seit Jahren schon war er ihr Verlobter, und dennoch machte er sie nervös – verunsicherte sie, auf eine ihr unbegreifliche Art. Weshalb wurde sie unter seinem Blick nur so verlegen? Sie wünschte, sie könnte seine Gedanken lesen. Was ging in seinem Kopf vor?

Und weshalb lungerte Elise da im Schatten des Korridors herum, obwohl sie ihr zu verstehen gegeben hatte, dass sie eine gewisse Unterstützung gebrauchen könnte?

„Ihr seid zu einer bemerkenswert schönen Frau herangewachsen“, sagte Lucien sanft. „Ich bereue zutiefst, dass meine Pflichten uns so lange voneinander getrennt haben.“

Isobel sah ihn geradeheraus an. Es war eine große Erleichterung gewesen, als Comte d’Aveyrons Einladung sie endlich erreicht hatte, und sie wollte ihn wissen lassen, dass es keine Freude gewesen war, so lange warten zu müssen.

„Pflichten, Sieur?“ Sie war sich Christines Anwesenheit im Korridor bewusst und senkte die Stimme. „Es waren neun Jahre. Sieur. Ich weiß, Ihr seid ein herausragender Turnierkämpfer, aber müsst Ihr wirklich an jedem Turnier im Königreich teilnehmen?“

Er verzog das Gesicht, kaum merklich und nur für einen winzigen Augenblick.

„Ich bitte tausendfach um Vergebung, Madame. Da König Henry und König Louis derartige Wettkämpfe missbilligen, muss man manches Mal sehr weit reisen, um die besten zu finden.“ Er zuckte leicht die Schultern. „Das Preisgeld ist nicht zu verachten.“

Isobel sah ihn zweifelnd an. Lucien Vernon besaß so viel Land, dass er sich wohl kaum um seine Einkünfte sorgen musste. Er hatte Ländereien in der Champagne, der Normandie und der Auvergne – das waren doch gewiss genug Reichtümer? Irgendetwas daran war seltsam. War er wirklich so ehrgeizig – so gierig –, dass er jeden Preis in der weiten Christenheit gewinnen musste? Und wenn dem so war, weshalb hatte er sie dann nicht früher geehelicht? Schließlich war sie eine Erbin.

Später. Das werde ich später herausfinden. Solange Schwester Christine uns an den Lippen hängt, kann ich ihm keine enthüllenden Fragen stellen.

Comte Lucien lächelte und traf sie damit bis ins Mark. Jetzt sah sie auch, dass seine Augen gar nicht von reinem Blau waren. Sie hatten schwarze und graue Flecken, und sein Blick war unglaublich intensiv. Verstörend. So hatte sie ihn gar nicht in Erinnerung.

Aber sie hatte sich gegen ihn gewappnet. Es war zu schmerzhaft, in diese von dichten Wimpern umrahmten Augen zu sehen und sich daran zu erinnern, dass er sie so lange verschmäht hatte. Auch wenn die Verlobung von ihren Vätern arrangiert worden war, hatte sie sich vom ersten Tag an zu Lucien hingezogen gefühlt. Als sich dann herausstellte, dass sich ihre Vermählung immer weiter hinauszögern würde, und sie begriff, dass er nicht das Gleiche fühlte wie sie, hatte sie beschlossen, ihre Zuneigung zu ihm zu verbergen, wenn sie ihm das nächste Mal begegnete. Eine Zuneigung, die sie trotz all der Jahre immer noch verspürte.

Schon damals hatte er einen Hauch von Ruchlosigkeit an sich gehabt, und nun war es noch viel stärker. Sie konnte es in seiner Berührung spüren – daran, wie ein Lächeln, ein Blick ausreichte, ihre Selbstbeherrschung zu schwächen. Die Nonnen hatten nie erwähnt, dass Männer solch eine Macht besaßen. Es war … verunsichernd, auf eine sehr aufregende Art, die sie innerlich erbeben ließ.

Eine solche Macht war gefährlich. Einer solchen Macht musste man widerstehen. Besonders, wenn sie dem Mann zu eigen war, der sie so sehr beschämt hatte. Jahrelang hat er mich ignoriert! Er wird keine Macht über mich haben.

Comte Lucien Vernon war ihr Verlobter, so viel war gewiss, und sie hatte nie vorgehabt, dieser Ehe zu entkommen, aber wenn sie den Respekt vor sich selbst bewahren wollte, musste sie ihr Herz schützen. Bald schon würde dieser Mann ihren Körper einfordern. Das war das Recht eines Ehemannes, und sie war realistisch genug zu wissen, dass sie ihn, selbst wenn sie wollte, nicht davon abhalten konnte. Ihre Seele aber würde er nie berühren.

Neun Jahre hat er mir keinerlei Beachtung geschenkt …

„Madame, wie Euch zweifellos bewusst ist, habe ich nach Euch gerufen, weil es Zeit für unsere Vermählung ist. Sie wird schon bald stattfinden.“ Sanft drückte er ihre Finger, und wieder breitete sich diese Wärme in ihr aus.

Hinter ihnen kam plötzlich Bewegung auf. Äbtissin Ursula war in die Loge gekommen – der Rubin in der Mitte ihres silbernen Kreuzes flammte glutrot. Elise hatte sich an ihre Fersen geheftet und huschte im Schutze ihres Schattens unauffällig hinter ihr her.

„Comte Lucien. Ich nehme an, Ihr seid gekommen, um Eure Vermählung zu arrangieren. Habt Ihr einen besonderen Tag im Sinn? Es wäre wohl günstig, bis nach der Jahreswende zu warten?“

„Nach der Jahreswende? Aber nein. Da Madame Isobel nun hier ist, sehe ich keinen Grund, noch länger zu warten.“

Die Äbtissin sah ihn verwundert an.

„Comte Lucien, der Advent steht vor der Tür. Sicher ist Euch bekannt, dass während der Adventszeit keine Hochzeiten stattfinden können, und vorher bleibt nicht viel Zeit. Mir ist bewusst, dass Madame Isobel die Einschränkungen hier nicht sehr schätzt, aber ihre frühe Ankunft hat alles etwas durcheinandergebracht und …“

„Ja, das alles ist mir bekannt“, entgegnete der Comte trocken. „Und ich gedenke mich so schnell wie möglich selbst um Madame Isobel zu kümmern. Unsere Vermählung wird noch vor der Adventszeit stattfinden.“ Er wandte sich Isobel zu. „Wollt Ihr den Tag aussuchen, Madame?“

Isobel dachte schnell nach.

„Ich würde gerne am Tag vor Allerheiligen heiraten.“

„Der Tag vor Allerheiligen“, wiederholte er nachdenklich. „Ich habe am nächsten Tag einen Wettkampf, aber das ist wohl machbar.“

Äbtissin Ursula runzelte die Stirn.

„Aber mein Herr, das lässt uns kaum Zeit für die Vorbereitungen.“

„Ich denke, der Bischof wird uns gefällig sein. Und sollte es Schwierigkeiten geben, bin ich sicher, Ihr, als eine Cousine König Louis’, könnt Euren Einfluss geltend machen.“

Isobels Gedanken rasten. Sie war wie in einem Schockzustand. Die ganze Zeit über hatte er nicht das geringste Interesse an ihr gezeigt, sodass sie sich schon mit seiner Ablehnung abgefunden hatte. Aber jetzt schien er wirklich gewillt, sie zu heiraten. Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, er hätte nicht so deutlich gemacht, dass er die Vermählung noch vor eines seiner, ach, so wichtigen Turniere quetschte …

Die Äbtissin seufzte.

„Das ist nicht der beste Tag für eine Eheschließung, mein Herr. Vielleicht wisst Ihr es nicht, aber in manchen Teilen des Landes wird er auch die Nacht der Hexen genannt.“

„Tatsächlich?“, erwiderte Comte Lucien steif.

Vielleicht war es reines Wunschdenken, aber es schien, als würde ihm Äbtissin Ursulas Ablehnung von Isobels Vorschlag missfallen. Stellt er sich für mich gegen sie? Ist er doch mein Ritter? Das war ein ganz neues Gefühl, und Isobel spürte, wie es etwas in ihr erweichte.

Du Närrin, haben dich all die Jahre nichts gelehrt? Du bedeutest ihm gar nichts.

„Ehrwürdige Mutter, sind Vermählungen am Tag vor Allerheiligen nicht gestattet?“, fragte er.

Die Äbtissin schüttelte den Kopf.

„Doch, Sieur, aber …“

„Dann wird sie an diesem Tag stattfinden.“

Die Äbtissin nickte knapp.

„Wie Ihr wünscht, Sieur.“

„Ihr wisst, dass Euer Vater die Nachricht nicht mehr rechtzeitig erhalten wird?“, fragte er an Isobel gewandt. „Vicomte Gautier wird bei der Hochzeit nicht anwesend sein.“

„Darauf bin ich bereits vorbereitet“, entgegnete sie. „Es ist schon seit einer Weile gewiss, dass er an der Zeremonie nicht teilnehmen wird.“

„Ach?“

„Seine Gesundheit lässt es nicht zu.“

In Luciens blauen Augen lag tiefstes Mitgefühl, als er Isobel ansah.

„Mit Bedauern habe ich vergangenen Sommer vom Tod Eurer Mutter gehört. Ich wusste nicht, dass es um Euren Vater ebenfalls nicht gut steht.“

Isobel nickte. Sie wandte den Blick ab, hin zu dem Fenster hinter ihr, das in einem Nebel aus Tränen verschwamm. Ihre Wunden waren noch zu frisch, um über den Tod ihrer geliebten Mutter zu sprechen.

„Vater hat wieder geheiratet. Das hat er in seinen Briefen an Euch sicher erwähnt.“

„Ja, das hat er getan.“

Für Isobel fühlte es sich an, als habe ihr Vater ihre Mutter betrogen, weil er so früh eine zweite Ehe einging, aber darüber sagte sie nichts; die Worte blieben ihr förmlich im Halse stecken.

Zudem ärgerte es sie zutiefst, dass Comte Lucien nach all den Ausflüchten jetzt nur mit den Fingern hatte schnipsen müssen, und schon hatte sie herbeieilen müssen. Ihre Stiefmutter, Madame Angelina, war von seiner Einladung ganz entzückt gewesen und hatte keine Zeit verschwendet, Isobel fortzuschicken. Dabei hätte sie auch bis zur Hochzeit in St. Foy bleiben können, aber ganz offenbar war das für Madame Angelinas Wohlbefinden immer noch zu nah bei Turenne. Und trotz allem war es ihr, als würde sie ihren Vater hintergehen, wenn sie sich beschwerte, weil man sich ihrer so einfach entledigte.

Wenn er doch nur nach St. Foy gekommen wäre, um ihr Lebewohl zu sagen. So weit war Conques von Turenne nicht entfernt. Isobel wusste, dass sein Gesundheitszustand ihn wohl davon abgehalten hatte, aber sie hatte sich wenigstens eine persönliche Nachricht erhofft, in der er ihr eine gute Reise wünschte. Stattdessen hatte er Comte Luciens Einladungsschreiben einfach an Mutter Edina gesandt. Mutter Edina ihrerseits hatte es ordnungsgemäß an Isobel weitergeleitet, mit der Nachricht, dass ihre Eskorte bereits draußen warte und sie bitte unverzüglich ihre Sachen packen solle.

Isobel räusperte sich.

„Sieur, trotz seiner zweiten Vermählung ist mein Vater in keiner guten Verfassung. Er wird in Turenne bleiben.“

„Ich hoffe, er erholt sich bald“, sagte der Comte.

Er sah so finster drein, dass Isobel ein ungutes Gefühl beschlich. Wenn ihr Vater und Angelina einen Sohn bekämen, was trotz seines Zustandes durchaus möglich war, wäre sie nicht länger seine Erbin. Ob Comte Lucien bereits bereute, die Hochzeit mit einer Frau arrangiert zu haben, die vielleicht niemals eine Erbschaft machen würde?

Ich wünschte, Comte Lucien würde mich um meinetwillen heiraten. Er darf mich nicht zurückweisen, bloß weil ich vielleicht keine gute Partie bin.

Wie erniedrigend dieses Gefühl war.

„Comte Lucien, auf ein Wort, wenn ich bitten darf.“ Die Äbtissin bedeutete ihm, ihr unter eines der Fenster zu folgen. „Ich muss leider anmerken“, begann sie mit vertraulich gesenkter Stimme, „dass Madame Isobel ein wenig mehr … Disziplin benötigt. Ich fürchte, ihr Vater hat ihr in Turenne zu viel Freiraum gelassen.“

Comte Lucien hob das Kinn.

„Madame Isobel hat die meiste Zeit im Kloster St. Foy gelebt. Ich wage zu behaupten, dass viel mehr als ihr Vater die guten Nonnen dort für ihre Erziehung verantwortlich sind. Sie wird Eure Gastfreundschaft nicht länger als nötig in Anspruch nehmen. Ich werde Vorkehrungen treffen, damit sie in Comte Henris Palast logieren kann.“

„Madame Isobels Zofe ist krank, Sieur. Sie wird hierbleiben müssen, bis sich das Mädchen erholt hat.“

Ehe sie sich versah, war Isobel vorgetreten.

„Ich bin durchaus in der Lage, meine Habseligkeiten selbst zu packen, Ehrwürdige Mutter.“

„Und ich wäre erfreut, ihr dabei zu helfen“, sagte Elise plötzlich aus dem dämmrigen Hintergrund, in dem sie noch immer stand.

Die Äbtissin hob eine Braue.

„Na schön. Ich nehme an, ich hätte nichts anderes erwarten dürfen.“

„Wie meint Ihr das?“

„Madame Isobel, seit Eurer Ankunft habt Ihr wenig Anstand gezeigt.“ Sie stieß einen Seufzer aus und sah stirnrunzelnd zu Comte Lucien. „Eure Verlobte braucht eine strenge Hand, Sieur. Heute Morgen erst hat sie ohne Erlaubnis das Kloster verlassen. Es schmerzt mich, Euch sagen zu müssen, dass sie durch das Land gestreift ist wie die Tochter eines wandernden Krämers.“

Lucien sah, wie Isobel errötete, dabei aber stur auf ein Kreuz an der Wand starrte. Sie kam, um mich zu sehen. Sie mochte einen Monat verfrüht in Troyes angekommen sein, doch das gab Äbtissin Ursula nicht das Recht, sie zu schikanieren.

„Madame Isobel ist nach Ravenshold geritten“, sagte er. „Unglücklicherweise hatte ich meine Männer angewiesen, niemanden einzulassen, sodass man sie wieder fortgeschickt hat.“

„Wie dem auch sei, Madame Isobel hätte die Abtei nicht ohne mein Einverständnis verlassen dürfen.“

Isobel trat noch einen Schritt vor.

„Meine Eskorte hat mich begleitet.“ Mit ihren großen grünen Augen sah sie Lucien an. „Die Soldaten meines Vaters haben mich auch von Turenne hierherbegleitet. Sie sind mir nicht einen Augenblick von der Seite gewichen.“

Äbtissin Ursula schnalzte mit der Zunge.

„Madame Isobel hätte nicht ohne Erlaubnis gehen dürfen. Solch Ungehorsam! Solche Widerspenstigkeit! Es tut mir sehr leid, Euch dies sagen zu müssen, Comte d’Aveyron, aber Ihr seht, Madame Isobel braucht eine sehr strenge Hand.“

„Ich bin sicher, Ihr übertreibt.“ Bislang war Comte Lucien überraschend zufrieden mit seiner Verlobten. So sehr sogar, dass er schon hoffte, das Glück sei wieder auf seiner Seite. So schien es zumindest.

Isobel war hübsch, nein, hübsch war gar kein Ausdruck für diese goldene Schönheit. Sie war wunderschön. Und sie hatte etwas so Sittsames an sich – die zierliche Gestalt, das schlichte Gewand –, das die Warnungen der Äbtissin Lügen strafte. Isobel schien genau die Art anständige, fügsame Frau zu sein, die er sich wünschte. Eine Dame. Eine, die – im Gegensatz zu Morwenna – geboren war, um ihren Pflichten nachzukommen und gehorsam zu sein. Isobel de Turenne würde ihm Kinder gebären und sie umsorgen. Und Lucien hätte weiterhin die Freiheit, sein Leben und seine Ländereien zu führen, wie er es immer getan hatte. Man musste sie nur einmal ansehen. Das unter ihrem Schleier verborgene goldene Haar schien weicher zu sein als das der Königin Guinevere. Und waren diese kirschroten Lippen ebenso süß, wie sie aussahen?

„Ich übertreibe nicht, das versichere ich Euch“, sagte die Äbtissin. „Ihr werdet erfreut sein zu hören, dass ich diesem Verhalten ein Ende bereitet habe. Ich habe ihre Eskorte fortgeschickt.“

Lucien wurde ganz ruhig. Isobel war kein Kind mehr, und bald schon würde sie sein Eheweib. Es war eine Sache, sie zur Ordnung zu rufen, solange sie in der Obhut der Äbtissin war, aber Vicomte Gautiers Eskorte fortzuschicken war unglaublich.

„Ihr habt was getan?“

„Ich habe sie zum Schloss Troyes geschickt.“

„Dazu habt Ihr kein Recht, Ehrwürdige Mutter“, sagte Lucien leise. „Vicomte Gautier hat Madame Isobel diese Eskorte mitgegeben, um für ihre Sicherheit zu sorgen.“

„Meine Abtei ist ein Haus Gottes, keine Kaserne!“

„Und trotzdem hättet Ihr sie nicht fortschicken dürfen. Ich bin mir sicher, wenn Vicomte Gautier seinen Männern das Vertrauen schenkt, seine Tochter sicher von Turenne hierher zu geleiten, sind sie auch kompetent genug, Madame Isobel zu schützen, während sie die Champagne erkundet.“

Verdrießlich sah Äbtissin Ursula seine Verlobte an.

„Wie Ihr wollt, Sieur. Da Madame Isobel etwas zu lebhaft für meine Abtei zu sein scheint, werde ich es nicht bedauern, wenn Ihr sie mir vom Halse schafft. Es wäre nicht gut, wenn sie meine anderen Mädchen in Aufruhr bringt.“ Mit wogendem Busen rauschte sie Richtung Tür. „Comte Lucien, sagt nicht, ich hätte Euch bezüglich ihrer Widerspenstigkeit nicht gewarnt. Ich wünsche Euch viel Freude. Kommt, Schwester, ich möchte Euren Vorschlag für den Stand auf dem Winterjahrmarkt besprechen.“

„Was für ein Drache“, murmelte Lucien, während er ihr nachsah.

Isobel war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte.

„Sieur?“

„In etwas über einer Woche werden wir vermählt sein. Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr mich Lucien nennt. Und ich würde gerne Isobel zu Euch sagen dürfen, wenn das für Euch akzeptabel ist.“

„Ich … ja, gewiss“, sagte Isobel, ein wenig verwirrt, dass ihr dieses Privileg zuteilwurde, nachdem er sie anscheinend jahrelang vergessen hatte. Vielen Ehefrauen wurde nie die Erlaubnis erteilt, diese Förmlichkeiten zu umgehen. Jahrelang ignoriert er mich, und jetzt darf ich ihn Lucien nennen? Das ergab keinen Sinn.

Er wandte sich Elise zu, die vor Schüchternheit förmlich erstarrt schien und es nicht wagte, ihn anzusehen.

„Wer ist das?“

„Eine Freundin. Sie… Lucien, das ist Elise … Elise, das ist mein Verlobter, Comte Lucien d’Aveyron.“

Den Kopf weiterhin gesenkt, machte sie einen Knicks.

„Guten Tag, Comte d’Aveyron.“

„Guten Tag, Elise.“ Der Comte – Lucien – warf einen Blick durch die Tür, dann sah er wieder zu Isobel. „Ist Eure Zofe sehr krank?“

„Ich glaube nicht, dass es ernst ist, aber man hat sie ins Krankenhaus gebracht.“

„Was fehlt ihr denn?“

„Ich bin mir nicht sicher. Ich denke, sie hat etwas Falsches gegessen. Es ging ihr sehr schlecht.“

„Kann sie reisen? Wenn nicht, werden wir jemanden schicken, um sie zu holen, sobald es ihr besser geht.“

Isobel wurde ganz warm ums Herz.

„Dann werde ich die Abtei schon vor unserer Vermählung verlassen?“

„Wenn Ihr zustimmt, wüsste ich keinen Grund, weshalb Ihr nicht abreisen solltet. Aber Ravenshold ist … noch nicht bereit für Eure Ankunft. Ich habe Comte Henri gebeten, Euch solange als Gast in seinem Palast hier in der Stadt aufzunehmen. Ich erwarte noch seine Antwort.“

Ein aufgeregtes Kribbeln erfüllte Isobel, und sie musste lächeln, obwohl sie Lucien ihre Freude darüber, dass er endlich gekommen war, sie zu begrüßen, nicht hatte zeigen wollen. Sie hatte gelassen sein wollen, doch sein Angebot, sie vielleicht noch heute aus der Abtei zu holen, hatte sie vollkommen überrascht.

Heute! Mein ganzes Leben wurde ich von einem Kloster ins andere geschafft, und heute ….

Freiheit!

Ich muss mich beruhigen. Er darf nicht sehen, wie sehr ich diesen Tag herbeigesehnt habe. Vor den Kopf stoßen darf ich ihn aber auch nicht. Ich muss versuchen, ihm zu gefallen.

Mit einem Mal verflüchtigte sich ihre gute Laune. Weil sie wieder an ihre Mutter denken musste und daran, dass sie im Kindbett gestorben war. Wenn mich nicht das gleiche Schicksal wie meine Mutter ereilen soll, wie soll ich ihn in meinem Bett empfangen?

Noch eine Erinnerung kam ihr in den Sinn, die an ihre Freundin Madame Anna. Kaum einen Monat, nachdem eine vor Glück strahlende Anna St. Foy verlassen hatte, um zu heiraten, war sie Hals über Kopf schon wieder zurückgekommen. Ganz blass und dünn war sie geworden. Sie hatte Isobel zur Seite genommen und ihr von den Schrecken – ja, Schrecken hatte sie es genannt – des Ehebettes erzählt. Kurz darauf war ihr Gemahl gekommen, um sie zurückzuholen. Isobel hatte nie wieder etwas von ihr gehört, bis man ihr ein Jahr später sagte, dass Anna gestorben war. Im Kindbett, wie ihre Mutter.

Ich werde ihm niemals einen Erben schenken können. Mutter hat wieder und wieder versucht, meinem Vater einen Sohn zu gebären und ist dabei gestorben. Wird es mir ebenso ergehen?

„Ich werde mich erkundigen, wie schnell sich alles arrangieren lässt.“ Dann schenkte er Elise ein charmantes Lächeln. „Wenn Eure Freundin einwilligt, Euch zu begleiten, wird auch der Anstand gewahrt. Nicht einmal die Äbtissin könnte an diesen Vorkehrungen etwas auszusetzen haben. Nun, Isobel, was sagt Ihr?“

Isobel wollte eben antworten, als eine Schwester in die Loge eilte.

„Wo ist die Äbtissin?“, keuchte sie, blass vor Schreck.

„Sie spricht mit einer der Schwestern“, antwortete Lucien. „Warum?“

„Die Reliquie!“ Die Novizin zitterte am ganzen Leib. „Madame, die Reliquie wurde gestohlen!“

Isobel erstarrte.

„Wie bitte?“ Als sie aus dem Kloster in Conques gekommen war, hatte man ihr eine Reliquie mitgegeben – ein Stück Stoff, das vom Gewand der heiligen Fides stammen sollte. Es wurde von den Nonnen im Süden gut gehütet, und es war eine große Ehre, dass man es ihr anvertraut hatte.

„Der Altar in der Marienkapelle ist zerstört worden und …“ Die Novizin knickste flüchtig. „Verzeiht, Madame, ich muss die Äbtissin finden.“ Womit sie ebenso schnell verschwand, wie sie erschienen war.

Fragend sah Lucien Isobel an.

„Reliquie?“

„Ein Stück vom Gewand der heiligen Fides.“

„Ihr habt es hergebracht?“

Isobel nickte.

„Die Reliquie wird der Abtei bis zum Ende des Winterjahrmarkts geliehen. Da mein Vater mir eine Eskorte mitgegeben hat und ich den Nonnen für ihre Gastfreundschaft danken wollte, habe ich angeboten, sie herzubringen. Es zieht Pilger an …“

„Und Einkünfte“, bemerkte Lucien trocken.

„Gewiss bringt es Geld, aber …“ Isobel sah ihn ernst an. „Verzeiht, Lucien, ich fühle mich durchaus verantwortlich für diese Reliquie.“ Ohne ein weiteres Wort raffte sie ihr Kleid und eilte aus der Loge.

Lucien folgte ihr, irgendwie belustigt darüber, welches Interesse seine Verlobte an dem Diebstahl eines Stückchen Stoffs hatte, das vielleicht, vielleicht aber auch nicht, einmal irgendeiner längst verstorbenen Heiligen gehört hatte. Sie war größtenteils von Nonnen aufgezogen worden, das mochte es erklären. Er folgte ihr in den gepflasterten Hof, vorbei an einigen Säulen – dem Kreuzgang, der an die Abteikirche angrenzte. Sie bewegte sich so grazil vor ihm her, dass er einen wunderbaren Blick auf ihre erfreuliche Figur genoss, und als sich der Schleier beim Laufen etwas lüftete, kam darunter ein dicker, goldener Zopf zum Vorschein, der in der Sonne glänzte wie poliertes Gold.

Die kleine Novizin war auf der Suche nach der Äbtissin in einem der Gänge verschwunden, Lucien aber eilte weiter hinter Isobel her, bis sie den kühlen, schattigen Eingang der Kirche erreichten. Ein hölzerner Wandschirm trennte das Hauptschiff von einer Reihe kleinerer Nebenkapellen. Isobel blieb vor einer dieser Kapellen stehen, die Augen vor Schreck geweitet, und stützte sich geistesabwesend mit einer Hand an einer geschnitzten Engelsfigur ab. Sie hatte zierliche Hände, feingliedrig und damenhaft. Lucien hatte beim Anblick einer Hand nie an Schönheit gedacht, bei Isobel tat er es.

Es mussten einige Leute bei der Andacht gewesen sein, als der Dieb zugeschlagen hatte, denn jetzt pressten sich etliche Nasen, von Stadtbewohnern ebenso wie von ein paar Nonnen, gegen den kunstvoll geschnitzten Wandschirm, um zu sehen, was dort vor sich ging.

Als er Isobel erreichte, überkam ihn der Impuls, seine Hand über ihre zu legen. Aber er war in einem Gotteshaus, und die Nonnen würden das gewiss missbilligen. Versuchsweise legte er dennoch seine Finger auf ihren Handrücken.

Augenblicklich spannte sich Isobels ganzer Körper an. Ihre grünen Augen blitzten, und ganz langsam nur, kaum merklich schob sie ihre Hand zur Seite, bis sie neben seiner auf dem Holz ruhte. Beinahe berührten sie sich, aber eben nur beinahe. Eine feinsinnige Geste, die ihm dennoch einen leichten Stich versetzte. Jetzt begriff er, dass es für Isobel de Turenne nicht leicht war, ihm die so lange hinausgezögerte Vermählung zu vergeben. In ihr steckt viel Wut.

Am Eingang der Kapelle standen Statuen gleich dunkel gewandete Nonnen, wie betäubt angesichts des Sakrilegs. Lucien sah an ihnen vorbei zu der Altarfront. Die bunt bemalte Platte aus Sandstein, graviert mit kleeblattförmigen Mustern, war in der Mitte aufgebrochen worden. Auf dem gefliesten Boden lagen ein Seil, eine Brechstange und etliche Stücke des Sandsteines.

Mit wehenden Röcken eilte Isobel zwischen den Nonnen hindurch zum Altar. Sie bückte sich und schaute in das Loch in der Sandsteinplatte. Die Reliquie musste dort versteckt gewesen sein.

Isobel richtete sich wieder auf und sah Lucien an.

„Die Reliquie ist tatsächlich verschwunden.“ Ihr Blick wanderte an ihm vorbei zu einem der Schaulustigen.

„Lucien, seht nur!“

Ein Mann in einer schäbigen brauner Kutte, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, mühte sich eben damit ab, den Knoten an einem Beutel zu öffnen. Lucien sah etwas Goldenes aufblitzen und den Glanz von blauem Email. Ein Limoges-Reliquiar. Die Schatulle selbst wäre schon beinahe soviel wert wie deren Inhalt. Der Mann schlich zur Kirchentür und schlüpfte nach draußen.

„Habt Ihr das gesehen?“, keuchte sie und drängte sich an Lucien vorbei.

Lucien nickte.

„Ein Reliquiar aus Limoges.“

„Was für eine Unverfrorenheit, sich als Pilger auszugeben.“ Isobel hatte das Kirchenschiff schon fast durchschritten. „Ich muss ihn zu fassen kriegen.“

Stirnrunzelnd eilte er ihr nach und hielt sie an der Hand zurück.

„Ihr? Es ist nicht Eure Aufgabe, Diebe zu fassen.“ Als er das Funkeln in ihren Augen sah, packte er sie noch fester. „Isobel …“

Aber Isobel befreite sich aus seinem Griff und verschwand nach draußen.

3. KAPITEL

Ungläubig sah Lucien ihr nach. Sie hat mir nicht gehorcht! Es kam selten vor, dass ihm jemand nicht gehorchte, aber es kam vor. Manchmal machten ihm junge Knappen Schwierigkeiten, wenn sie neu zu ihm kamen, aber sie lernten schnell, dass sie gehorchen mussten, wenn sie etwas erreichen wollten. Er ging hinaus in den sonnigen Innenhof. Mit Isobel war es das Gleiche, sie würde bald lernen.

Kurz verspürte er einen scharfen Stich bei dem Gedanken, wie er sich seine Braut vorgestellt hatte – hübsch, sittsam, gehorsam. Lucien hatte gehofft, seine zweite Gemahlin würde seine Wünsche an erste Stelle stellen; er hatte gehofft, sie würde sich in stillem Einvernehmen um die häuslichen Aufgaben kümmern, während er sich ganz den militärischen widmen konnte.

Er respektierte den Verlobungsvertrag mit Isobel de Turenne, denn es war der Wunsch seines Vaters gewesen, und er hatte lange bedauert, ihn nicht erfüllen zu können, ebenso wie er den daraus resultierenden bösen Streit bedauert hatte. Ein Streit, der nie beigelegt werden konnte. Jetzt, da dieser Vertrag nun endlich erfüllt wurde, war es wie ein Schlag ins Gesicht, dass Madame Isobel nicht die demütige Dame war, die er sich gewünscht hatte. Sie würde noch Erziehung brauchen.

Er biss die Zähne zusammen. Sie schien klug zu sein, hoffentlich würde sie wirklich schnell lernen. Als er sah, dass sie schon das Hoftor erreicht hatte und mit wehenden Gewändern hindurcheilte, beschleunigte er seine Schritte. Ein Jammer, dass es den Nonnen nicht gelungen war, ihr die Bedeutung von Gehorsam etwas näherzubringen. Offensichtlich war es nun an ihm, sie in dieser Tugend zu unterweisen …

Isobel raffte ihre Röcke, lief durch das Tor und stürzte auf die Straße hinaus. Sie wusste selbst nicht, weshalb der Drang, den Mann mit der Kapuze zu fangen, sie zu einem so wenig damenhaften Verhalten anspornte, aber sie war von einem unwiderstehlichen Eifer gepackt. Er muss gefasst werden!

Ihr Herz raste. Sie hatte die Reliquie aus dem Süden hergebracht und fühlte sich dafür verantwortlich. Es war nur eine Leihgabe an die Abtei hier und wenn sie verloren ginge, würden die Schwestern in St. Foy einen ernstlichen Verlust erleiden. Die Pilger kamen in Scharen, um sie zu sehen, und ihre Spenden versprachen die so dringend benötigten Einkünfte. Diese Nonnen hatten jahrelang für sie, Isobel, gesorgt. Sie konnte nicht einfach dastehen und zusehen, wie dieses wertvolle Relikt gestohlen wurde.

Hinter sich hörte sie schnelle Schritte. Comte Lucien. Sie hörte, wie er der verwirrten Nonne am Hoftor etwas sagte.

Die Reliquie!

Direkt vor ihr war der Dieb – Isobel hatte seine schäbige Kutte erkannt – und verschwand eben um eine Ecke. Sie stürmte ihm nach. Die Gasse war schmal und voller hölzerner Marktstände, an denen Händler und Einwohner der Stadt lautstark über Preise feilschten. Der Winterjahrmarkt war noch nicht offiziell eröffnet, sodass es sich hierbei vermutlich um einen gewöhnlichen Markt handelte. Links und rechts ragten die Häuser hoch über ihr auf, und sie erspähte einige Läden darin, die direkt zur Straße hin geöffnet waren. Sie eilte knapp an einem Töpfer und einem Weinhändler vorbei.

„Verzeihung bitte.“

„Passt doch auf! Nicht drängeln.“

Ein Stück vor ihr sah sie die braune Kapuze immer wieder in der Menge auf- und niederhüpfen.

„Haltet den Mann!“, rief Isobel und zeigte mit dem Finger auf ihn. „Haltet den Dieb!“

Die Leute drehten sich um, starrten sie aber bloß an. Mit heftig klopfendem Herzen kämpfte Isobel sich weiter durch das Gedränge. Der Mann war verschwunden … sie konnte ihn nicht mehr sehen. Die Brust wurde ihr eng, und als sie das Ende der Straße erreichte, schmerzten ihre Lungen. Er war weg.

Sie blieb an der kleinen Kreuzung stehen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, als Lucien sie einholte.

„Wo lang, Lucien? Ihr seid größer als ich, habt Ihr gesehen, wohin er gelaufen ist?“

Eine dunkle Haarsträhne fiel genau über die Narbe an seiner Schläfe, als er seine starken Hände um die ihren schloss.

„Madame – Isobel – was ist denn nur in Euch gefahren?“

Sie gestikulierte in Richtung der Kreuzung.

„Wo ist er hin? Habt Ihr ihn gesehen?“

Er ließ ihre Hände los und packte sie nun fest am Handgelenk.

„Es ist nicht sehr klug, zu dieser Zeit im Jahr ohne Begleitung durch die Straßen Troyes’ zu laufen.“

„Aber, Lucien, der Dieb …“ Sie wehrte sich gegen Luciens Griff und blickte suchend eine dunkle Gasse hinab. Ein Liebespaar hielt sich dort eng umschlungen. Der Mann hatte die Röcke der Frau hochgeschoben, sodass Isobel eine schockierend freie Sicht auf einen weißen Schenkel hatte. Errötend wandte sie den Blick ab und runzelte verlegen die Stirn.

„Lucien, bitte lasst mich los.“

Der Ausdruck auf dem Gesicht der Frau … sie sah aus, als wäre sie ganz verzückt. Verzückt? Das passte nicht zu dem, was ihr die Nonnen oder ihre Mutter erzählt hatten. Oder Anna …

„Ich lasse Euch los, sobald Ihr begriffen habt, wie gefährlich es ist, alleine in der Stadt herumzulaufen. Gott, haben Euch die Nonnen denn gar nichts gelehrt? Ihr solltet besser auf Euch achtgeben! Wie Ihr bereits gesehen habt, ist die Stadt zu dieser Jahreszeit voll von Dieben.“

Isobel wand ihr Handgelenk in seinem Griff, aber ihr Verlobter war noch nicht fertig.

„Madame, der Winterjahrmarkt zieht allerlei Gesindel an. Ich erwarte Euer Versprechen, besser auf Euch achtzugeben. Und ich erwarte, dass Ihr in Zukunft mein Nein auch als solches akzeptiert.“

Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen.

„Aber Luc … Sieur?“

„Habt Ihr nicht verstanden, was ich in der Kirche zu Euch gesagt habe? Ihr werdet meine Comtesse sein. Es ist nicht Eure Aufgabe, Diebe zu jagen.“

„Ich bitte um Vergebung, Sieur.“ Isobel biss sich auf die Unterlippe. Luciens blaue Augen bohrten sich hart wie Saphire in die ihren. Sie hatte ihn verstanden. Aber sie hatte nur daran gedacht, den Dieb nicht aus den Augen zu verlieren. Heilige Mutter, bitte sag mir, Lucien wird sich nicht als ein ebensolcher arroganter Rüpel herausstellen wie der Gemahl der armen Anna. In ihrer Vorstellung war Lucien immer ein großer Ritter gewesen, kein grober Klotz.

Um seinem kalten Blick auszuweichen, wagte sie einen Blick in eine weitere Gasse. Aber auch dort war nichts von dem Mann mit der braunen Kapuze zu sehen.

„Er ist entkommen.“

„Isobel, lasst es gut sein. Comte Henris Ritter werden sich darum kümmern.“

„Aber, Lucien, wir müssen doch etwas tun können. St. Foy ist nicht so wohlhabend wie die Abtei hier, sie können es sich nicht erlauben diese Reliquie zu verlieren.“

Erneut spürte Lucien einen scharfen Stich, wie schon seit Jahren nicht mehr. Langsam verrauchte sein Ärger, und er verstand nicht einmal, weshalb, außer vielleicht, weil Isobels grüne Augen einfach zu hinreißend waren. Ihre Brust hob und senkte sich nach dem Lauf durch die Straßen noch immer heftig, und ihre Wangen waren gerötet vor Anstrengung. Einige ihrer blonden Haarsträhnen hatten sich aus dem Zopf gelöst und fielen ihr lockig ins Gesicht. Sie sah so viel menschlicher aus als in der Pförtnerloge des Klosters. Und um einiges verführerischer. Er fühlte etwas wie einen Besitzanspruch, etwas wie Stolz. Sie gehört mir. So leicht zerzaust war Isobel de Turenne extrem begehrenswert. Er konnte sich genau vorstellen, wie sie nach einer leidenschaftlichen Liebesnacht aussah …

Ein Schauer rann durch seinen Körper. Es war pure Begierde. Sie zu verfolgen war so belebend gewesen, als habe es etwas ganz Primitives in ihm erweckt, etwas, das viel zu lange schon in ihm geruht hatte. Sie ist wunderschön. Wie viele Jahre war es her, dass Lucien es sich gestattet hatte, ein solches Verlangen zu spüren? In jedem Fall waren es viel zu viele. Und dennoch wurde er sich bewusst, dass sich unter dieses Verlangen noch etwas anderes, etwas Unerfreuliches mischte. Reue. Und Unsicherheit. Was wird geschehen, wenn sie von Morwenna erfährt?

„Isobel, es gibt Wachmänner in der Stadt, die sich um solche Belange kümmern. Diebe zu fassen ist ihre Pflicht, nicht Eure. Ihr …“ er machte eine Pause, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, „… seid eine Dame. Nicht eine von Graf Henris Schutzwachen.“

„Schutzwachen?“

„Der Comte de Champagne hat eine Garde von Rittern aufgestellt, die während des Winterjahrmarktes für Recht und Ordnung sorgen. Er wäre gewiss beleidigt, wenn er erführe, dass Ihr deren Pflichten übernehmen wollt. Seine Ritter ebenfalls.“

Sie wandte den Blick ein wenig ab, als würde sie die Mauer hinter ihm genauestens untersuchen wollen.

„Ja, Sieur.“

Langsam löste er seinen Griff, und als er sicher war, dass sie nicht gleich wieder in irgendeine Seitenstraße stürmen würde, atmete er tief durch. Was für einen herrlichen Anblick sie trotz allem geboten hatte, als sie durch die Straßen rannte! Lucien hatte nicht gewusst, dass ein Mädchen mit all den Röcken und Umhängen so schnell laufen konnte. Sie ist leichtfüßig wie ein Reh.

„Ihr wollt diesen Mann wirklich fangen?“

„Wie ich gesagt habe, St. Foy ist kein wohlhabendes Kloster, Lucien. Sie haben keine Schatzkammern voller Gold und Silber. Die Nonnen brauchen die Reliquie, sie ist fast alles, was sie haben.“

Lucien lehnte sich mit der Schulter gegen eine Hauswand. Es schien ihr wirklich wichtig zu sein. Möglicherweise hatte sie den Diebstahl nur genutzt, um der Abtei zu entfliehen. Wahrscheinlich war sie zu lange Zeit in Klöstern eingesperrt gewesen. Er schob seine Schuldgefühle beiseite, konnte ihre Gefühle jedoch auch verstehen. Er selbst würde durchdrehen, wenn man ihn so einsperrte.

„Man hat mir gesagt, Ihr seid eben erst in Troyes angekommen?“

„Das ist richtig, wir sind gestern in der Abtei eingetroffen.“

„Und vorher? Wie lange wart Ihr im Kloster von St. Foy und wie lange in Turenne?“

„Ich habe die meiste Zeit bei Nonnen gelebt, Lucien. Ich bin nur gelegentlich nach Hause gekommen …“ Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. „Wenn meine Mutter mich gebraucht hat.“

Ja, es besteht kein Zweifel. Der Diebstahl war nur ein guter Grund für sie, der Enge der Abtei zu entkommen. Und sie trauert sehr um ihre Mutter.

Bei der Trauer um ihre Mutter konnte Lucien ihr nicht helfen, aber es gab etwas anderes, das er tun konnte.

„Da wir unseren Dieb wohl verloren haben“, sagte er und bot ihr seinen Arm, „wollt Ihr mir gestatten, Euch die Stadt zu zeigen?“

Als Antwort erhielt er ein strahlendes, unschuldiges Lächeln, das nicht wieder dieses verstörende Sehnen in seinem Leib hätte auslösen sollen. Verlangen.

„Ich danke Euch, Lucien. Das würde mir sehr gefallen“, antwortete sie und legte ihre Hand in seine Armbeuge.

Sein Angebot hatte ihn selbst etwas überrascht. Ich mag sie. Ich mag Isobel de Turenne. Natürlich musste sie noch gehorsamer werden, aber vielleicht würde sich sein Glück nach neun Jahren in der Hölle nun doch noch wenden. Ich werde sie schon lehren, sich anständig zu benehmen. Außerhalb meines Schlafgemachs. Innerhalb … wie auch immer …

Er warf ihr einen Blick zu. Sie ging manierlich neben ihm her, wieder ganz die Dame, was sehr vielversprechend war. Wäre die Erinnerung an ihre wilde Verfolgungsjagd nicht noch so lebendig, würde er fast glauben, er habe das nur geträumt. Eine verräterische Locke, die sich irgendwann während der Hatz gelöst hatte, ringelte sich ihre Brust entlang. Isobel hatte etwas Wildes an sich. Sie hatte sich eine tugendhafte Fassade angeeignet, aber dahinter verbarg sich ein Hauch von Wildheit und eine gewisse Arglosigkeit. Ihm gefiel das.

Gemütlich spazierten sie die Allee hinunter, bis sie einen viereckigen Platz in der Nähe eines der Kanäle erreichten.

„Diese Kanäle treiben die Wassermühlen an. Von denen gibt es einige in Troyes“, erklärte er. „Und natürlich muss ich Euch Comte Henris Palast zeigen.“

„Sehr gerne. Ich habe bisher nicht viel gesehen.“

Die lose Haarsträhne kräuselte sich und glänzte wie gesponnenes Gold. Und Isobels Lippen – sie hatten wirklich die Farbe von reifen Kirschen.

„Äbtissin Ursula hat von mir verlangt, mich nicht aus dem Bereich der Abtei zu entfernen, nachdem ich …“ Sie errötete leicht. „… nach Ravenshold geritten war.“

„Ach?“

„Ich hatte keine Erlaubnis eingeholt.“ Ihre Wangen röteten sich tiefer. „Um ehrlich zu sein, wusste ich, dass sie mir die Erlaubnis verweigern würde, also habe ich nicht gefragt. Ich hatte Ravenshold nur von der Straße aus gesehen und wollte es gerne auch von innen sehen.“

Lucien murmelte etwas darüber, dass er sie durchaus dort begrüßt hätte, wenn ihm nur ihre frühe Anreise bekannt gewesen wäre. Er ging mit ihr auf die Brücke, die über den Kanal führte.

„Das war also der Grund, weshalb sie Eure Eskorte fortgeschickt hat?“

„Als wir in die Abtei zurückgekommen sind, hat sie sie gleich zu den Kasernen verfrachtet. Zwei von ihnen haben Turenne bislang nie verlassen, ich hoffe es geht ihnen gut. Pierre vermisst Turenne bestimmt.“

„Und Ihr? Vermisst Ihr es?“

Ihr Blick war nicht zu deuten.

„Ich? Nein, Lucien.“ Sie machte eine kurze Pause und fügte dann sanft hinzu: „Ich wurde geschult, Eure Gemahlin zu sein. Mein Heim ist bei Euch.“

Wie sanft auch immer sie es aussprach, es klang doch wie ein Tadel. Luciens Gesichtszüge spannten sich an. Er war Kritik nicht gewohnt. Allerdings hatte sie jeden Grund, gekränkt zu sein, nachdem er sie so lange hatte warten lassen.

Auf der Suche nach einem weniger heiklen Thema lehnte Lucien sich auf das Brückengeländer und sah hinüber zum Palast von Comte Henri. Es war ein großes, dreistöckiges Gebäude, das längs des Kanals gebaut war. Die unteren Fenster hatten altmodische, römische Bögen, auf dem Mauerwerk über den oberen Fenstern dagegen prangten arabeske Motive, wie er sie aus Aquitanien kannte. Die oberen Fenster waren sogar verglast.

„Das ist Comte Henris Palast, dort werdet Ihr bis zu unserer Vermählung bleiben.“

Sie musterte das Gebäude mit ihren klugen, grünen Augen.

„Da ist ein Anlegesteg.“

„Ich glaube, er wird nicht oft genutzt, nur für Lieferungen für die Küche und Ähnlichem.“ Er beobachtete sie von der Seite, während sie den Palast betrachtete … und den Anlegesteg … den Kanal … und widerstand nur mühsam dem Verlangen, mit einem Finger die zierliche Nase entlangzustreichen. Er wollte ihr Gesicht zu sich drehen und diese verlockenden kirschroten Lippen kosten …

„Danke, dass Ihr ihn mir gezeigt habt. Ich freue mich, dort zu wohnen.“

Lucien räusperte sich.

„Wie bereits erwähnt, hatte ich gefragt, ob Ihr schon heute einziehen könnt, aber aufgrund des Winterjahrmarktes platzt die Stadt aus allen Nähten, und es wird wohl ein paar Tage dauern, ehe dort ein Gemach für Euch frei wird.“

„Ich benötige kein Gemach für mich alleine, Lucien. Ich weiß, ich bin zu früh angereist. Es würde mir genügen, mir eines mit anderen Damen zu teilen. Daran bin ich gewöhnt.“

„Das werde ich berücksichtigen. Kommt, gehen wir zur Garnison, das ist nicht weit von hier.“

„Ich darf meine Männer sehen? Das ist sehr aufmerksam von Euch, Lucien. Auch wenn ich bald zurück zur Abtei sollte. Die Äbtissin wird …“

„Die Äbtissin wird kaum etwas dagegen einzuwenden haben, wenn ich Euch die Stadt zeige. Ich bin Euer Verlobter.“

„Ich wünschte nur, wir hätten die Reliquie gefunden“, sagte sie. „Habt Ihr gewusst, dass sie Wunder vollbringen kann?“

Lucien rann es eiskalt den Rücken hinunter. So unschuldig Isobels Bemerkung auch gewesen sein mochte, es verkrampfte sich sofort alles in ihm. Er würde nicht noch eine Frau ertragen, die an Wunder glaubte. Dank Morwenna hatte er für den Rest seines Lebens genug von solch einem Unsinn …

„Gestern ist eine junge Frau in die Kirche gekommen“, sagte sie. „Ihre Beine waren gelähmt, aber nachdem sie die Reliquie berührt hat, ist die Lähmung verschwunden.“

Lucien spürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken.

„Ihr glaubt das?“

Sie musterte ihn eindringlich, und er sah, wie sie leicht die Stirn runzelte. Offenbar hatte sie ein besseres Gespür für die Stimmung ihrer Mitmenschen als Morwenna.

„Ich glaube, dass die junge Frau es geglaubt hat, Sieur. Und ich weiß, dass sie auf ihren eigenen Füßen aus der Kirche gegangen ist, weil ich es mit eigenen Augen gesehen habe. Ob das nun ein echtes Wunder war …“ Sie zuckte die Schultern. „Wer weiß das schon? Ich weiß, dass die Reliquie den Nonnen gute Einkünfte beschert, die sie wiederum für gute Zwecke nutzen. Nun, die Schwestern in St. Foy …“

Während sie zum Palast von Troyes schlenderten und Isobel ernsthaft all die guten Taten aufzählte, die die Nonnen in Conques leisteten, verbarg er sein Unbehagen; seine Gedanken schweiften ab. Oberflächlich betrachtet schien Isobel de Turenne genau das zu sein, was ein Mann sich wünschte. Sie hatte Anstand, war wunderschön und gut erzogen. Und ihr wohnte dieser verführerische Hauch von Wildheit inne. Es würde ihn nicht wundern, wenn Madame Isobel de Turenne Thema vieler Minnelieder wäre. Ritter würden sich glücklich schätzen, ihre Gunst zu erlangen und für sie zu kämpfen.

Und dennoch war die Erwähnung dieses Wunders besorgniserregend.

„Ich glaube nicht an Wunder“, sagte er vorsichtig. „Ich glaube, dass es nichts weiter als eine giftige Mischung aus Täuschung und Wunschdenken ist.“

„Giftig?“ Ihre grünen Augen durchbohrten ihn förmlich. „Manchmal kann eine Täuschung auch etwas Gutes sein, Lucien.“

„Ach ja?“

„Ihr seid zu zynisch, Lucien. Ihr vergesst, dass ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie das Mädchen wieder gehen konnte. Sie konnte jahrelang nicht laufen.“

Lucien schüttelte den Kopf. Isobels klösterliche Unschuld war erfrischend, aber eine derartige Naivität konnte ebenso gefährlich sein.

„Ich frage mich nur, woher Ihr wisst, dass dieses Mädchen so lange nicht laufen konnte.“

„Ich habe sie gefragt.“

„Und Ihr glaubt alles, was man Euch sagt?“

Isobel hob eine Braue.

„Nicht alles, aber ich glaube, die junge Frau hat die Wahrheit gesagt. Nun werdet Ihr gewiss einwenden, dass ihre Lähmung nur durch eine Lähmung des Geistes verursacht wurde. Ich habe aber gesehen, wie jemand wieder fähig war zu gehen. Täuschung?“

„Möglicherweise.“

Sie griff Lucien am Ärmel.

„Lucien, ist es von Bedeutung, was die Lähmung dieses Mädchens verursachte? Ist es von Bedeutung, was sie heilte? Wenn ein Stück Stoff ihr geholfen hat, weiß ich nicht, was falsch daran sein soll. So oder so, der Glaube hat sie geheilt.“

Am Ende der Straße sahen sie schon den Graben und die Zugbrücke von Schloss Troyes. Lucien legte seine Hand auf die Isobels und geleitete sie die Straße entlang.

„Isobel, glaubt Ihr nicht, dass es in der Kirche auch solche gibt, die die Leichtgläubigkeit der Menschen mit diesem Gerede von Glaube und Wundern für ihre Zwecke ausnutzen?“

Ihr Schleier lüftete sich etwas, als sie den Kopf schräg legte, während sie seine Frage überdachte. Dann lächelte sie ihn an, und er glaubte fast, die Welt würde unter seinen Füßen beben. Sie ist so lieblich. So unschuldig. Beinahe wäre er ins Straucheln geraten. Einst war es Morwenna gewesen, die seine Vorstellung von Perfektion erfüllte, was zweifellos der Grund war, weshalb Isobels goldenes Haar und ihre bemerkenswert grünen Augen in ihm nun eine unerwünschte Frage aufwarfen.

Spiegelt sich Isobels äußerliche Schönheit auch in ihrem Herz und ihrem Geist wider?

„Ja, Lucien, das ist mir schon in den Sinn gekommen, aber ich glaube nicht, dass es wichtig ist.“

„Nicht?“

„Nein“, sagte sie leise, doch bestimmt. „Wenn jemand eine Reliquie nutzt, um anderen den Glauben daran zu geben, gesund zu werden, dann ist das in meinen Augen etwas Gutes.“

„Womit wir wieder beim Glauben wären.“

Sie lächelte.

„Das sind wir.“

„Isobel, denkt Ihr nicht, wenn jemand den Glauben nutzen kann, um gesund zu werden, dass auch das Gegenteil möglich ist? Dass man ihn nutzen kann, um krank zu werden?“

„Vielleicht, ich weiß nicht. Aber diese Überlegungen gehen mir zu weit. Ich weiß nur, dass ich gesehen habe, wie diese junge Frau wieder ihre Beine gebrauchte.“ Sie verzog leicht die Mundwinkel. „Da ich es war, die die Reliquie hierhergebracht habe, fühle ich mich nun einmal dafür verantwortlich. Ich bin den Nonnen etwas schuldig. Ist es denn falsch, wenn ich sie ihnen zurückbringen möchte?“

Wieder spannte sich alles in ihm.

„Ich sage Euch, überlasst das den Wachmännern.“

Das Fallgitter und der Wachturm waren nur ein paar Schritte entfernt auf der anderen Seite der Zugbrücke. Sie hatten die Kasernen fast erreicht. Lucien entging nicht, wie Isobel seinem Blick auswich. Seine tadelnden Worte hatten genau ins Schwarze getroffen.

„Ich bin Euch auf die Schliche gekommen, Isobel“, sagte er amüsiert. „Wenn Ihr ganz ehrlich seid, war die Verfolgung des Diebes nicht der einzige Grund, hinaus auf die Straße zu laufen.“

Sacht biss sie sich auf die Unterlippe.

„Hm?“

Lucien neigte sich ein wenig zu ihr, und sogleich umgab ihn ihr leichter Duft. Als würde man die frische Sommerluft einatmen. Sie roch nach Geißblatt und Rosen.

„Ihr wolltet die Stadt auskundschaften.“

Die leichte Röte, die ihr in die Wangen stieg, verriet ihm, dass er den Nerv getroffen hatte.

„Lucien, ich …“

„Kein Grund, es zu leugnen. Ihr seid keine Frau, die man in einen Käfig sperrt, nicht einmal in einen goldenen. Eure Loyalität gegenüber den Schwestern im Süden ist bewundernswert, und ich werde Euch nicht vorhalten, dass Ihr die Gelegenheit genutzt habt, um ein bisschen Freiheit zu schnuppern.“ Dann deutete er zu dem Wachturm. „Hier werden wir Eure Männer finden. Kommt, gewährt mir die Freude, Euch dorthin zu begleiten.“

Während sie über die Zugbrücke gingen und schließlich den Hof erreichten, wurde ihm klar, dass er das nicht bloß dahingesagt hatte. Es war wirklich eine Freude, sie zu begleiten.

Nach all den Jahren im Kloster war es ein ganz neues Gefühl, an der Seite eines Mannes zu sein, der so einflussreich war wie Lucien Vernon. Bei der Garnison reichte ein Wort ihres Verlobten, und sie gingen über leise raschelndes Binsenkraut in eine Halle, die größer war als jede, die Isobel jemals im Süden gesehen hatte. Sie konnte es durchaus mit der Kathedrale in Conques aufnehmen.

Mit großen Augen sah sie sich um. Zweifelsohne war dieses Gebäude für Soldaten gedacht, aber sie hatte noch nie etwas so Prachtvolles gesehen. Von den Dachbalken hingen dicht an dicht die Banner der Ritter und leuchteten, angestrahlt vom Licht, das durch mit Maßwerk gezierte Fenster hineinfiel, in sämtlichen Farben – rot, grün, golden, blau, silbern. In einem großen Kamin loderte ein Feuer. Antike Waffen glänzten an den Wänden. Der lange Tisch, der am Ende des Raumes auf einem erhöhten Podest stand, war von einem blendend weißen Tuch aus Damast bedeckt. Hölzerne Servierplatten stapelten sich auf einem Beistelltisch neben Weinkrügen und Bechern aus Ton …

„Die Comtesse de Champagne ist die Tochter König Louis’, nicht wahr?“, fragte sie.

„Sie ist die Tochter, die er mit seiner ersten Frau hatte, Königin Eleanor“, antwortete er abwesend. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf einen Mann, der an einem Nebentisch saß und Bier trank. Der Bekleidung und den Sporen nach zu urteilen war er ein Ritter. Als Lucien auf den Mann zuging, vernahm Isobel hinter sich ihren Namen, und als sie sich umsah, verneigte sich einer der Männer ihres Vaters vor ihr.

„Madame Isobel, ich bin erfreut, Euch zu sehen.“

„Danke, Hauptmann, ich freue mich auch. Ich muss Euch um Verzeihung bitten, weil man Euch aus der Abtei geschickt hat.“

„Grämt Euch nicht, Madame, ich verstehe das.“ Hauptmann Simund sah zu ihrem Verlobten. „Ist das der Comte d’Aveyron, Madame?“

Isobel nickte.

„Ich stelle ihn Euch vor, sobald er das Gespräch mit seinem Bekannten beendet hat. Sagt, Hauptmann, ist Eure Unterkunft Euch genehm?“

„Ist sie, Madame.“

„Und die anderen, geht es ihnen gut? Ich habe mir Sorgen um Pierre gemacht.“

„Wir sind alle bester Dinge, Madame. Wenn ich so frei sein darf“, fuhr er zögernd fort, „den Männern geht es hier besser als in der Abtei. Wir müssen nicht auf Zehenspitzen herumlaufen und – vergebt mir, Madame – wir müssen nicht auf jedes Wort achten, das uns über die Lippen kommt.“

„Das höre ich gern, Hauptmann“, entgegnete Isobel warmherzig. „Ich habe befürchtet, Pierre würde Turenne vermissen.“

„Kein bisschen, Madame.“

Nachdem Isobel Hauptmann Simund ihrem Verlobten vorgestellt hatte, verließen sie und Lucien die Garnison wieder.

„Ich werde Euch noch mehr von Troyes zeigen. Ihr werdet Euch besser fühlen, wenn Ihr Euch hier etwas auskennt“, meinte Lucien.

„Danke, Lucien, das glaube ich auch.“

Und so kam es, dass sie durch ein Wort ihres Verlobten Zutritt zu dem hölzernen Wehrgang der Mauern erlangten, der die Stadt umschloss. Auf der einen Seite erstreckte sich hinter dem ausgetrockneten Wehrgraben die Champagne bis zum Horizont, auf der anderen lag die Stadt. Es war, als würde man hinunter auf eine riesige auf Pergament gemalte Karte von Troyes blicken. Tiefschwarze Rauchschwaden stiegen aus unzähligen Schornsteinen gen Himmel. Falls die Straßen je einem Bauplan gefolgt waren, taten sie dies längst nicht mehr. Die Stadt war vollgestopft mit Holzhäusern, die wie Kraut und Rüben durcheinanderstanden. Keines glich dem anderen.

„Die Häuser müssen alle mit Ziegeln gedeckt sein, Ziegel dienen als Schutz gegen Feuer“, erklärte Lucien ihr.

„Was ist mit dem da?“, fragte Isobel und deutete auf ein Haus mit einem Strohdach.

Lucien zuckte die Schultern.

„Es halten sich nicht alle an die Vorschriften. Ich schätze, Comte Henri wird demjenigen, der dort wohnt, eine Strafe auferlegen.“

Sie sah ordentliche Dächer und durchhängende – manche waren von Moos überzogen und manche schwarz von Schimmel. Hier und da ragte ein Baum aus einem Garten oder Hof hervor. Gassen und Seitenstraßen führten in sämtliche Himmelsrichtungen. Dieser Ort war ein gigantisches Labyrinth.

„Von hier aus kann man gut erkennen, dass die Kasernen innerhalb der alten römischen Mauern stehen“, erklärte Lucien und deutete in die Richtung. „Genau wie die Kathedrale St. Pierre, in der unsere Vermählung stattfinden wird. Seht, da ist der Bischofspalast …“

Während Lucien erzählte, schlenderten sie die Mauer entlang. Seine Hand ruhte auf ihrer. Isobel glaubte nicht, dass ihm bewusst war, was er tat, sie dagegen war sich seiner sogar sehr bewusst. Sanft strich er mit dem Daumen über ihre Knöchel, und sie spürte, wie er sich langsam auch ihrem Handgelenk widmete.

Etwas in ihr erbebte, und ihre Wangen wurden ganz heiß. Lucien verwirrte sie. Warum hatte sie niemand gewarnt, dass sie so auf ihn reagieren könnte? Eigentlich hatte er gar nicht viel gemacht. Nur ihr Handgelenk ganz leicht mit seinen schlanken Fingern gestreichelt … war ihre Reaktion überhaupt normal? Sie wusste es schlichtweg nicht. Nonnen – an ein Leben im Zölibat gebunden – sprachen nicht über solche Dinge.

Isobel sah über die Dächer der Stadt in der Hoffnung, Lucien werde denken, sie lauschte jedem seiner Worte aufmerksam, anstatt sich Gedanken über Empfindungen zu machen, die sie nie zuvor verspürt hatte. Äußerst verstörende Empfindungen …

„Und dieses Viertel hier …“ Luciens Stimme veränderte sich etwas. Sie wappnete sich noch, ehe sie ihn ansah, doch das Lächeln, das sie dann erblickte, traf sie trotzdem völlig unerwartet. Er sollte öfter lächeln, das lässt ihn so jung aussehen. Er zog leicht die Nase kraus. „Ich würde Euch nicht empfehlen, dorthin zu gehen.“

Es blieb ihr nicht verborgen, dass sein Blick an ihren Lippen haftete.

„Ist es dort gefährlich?“, fragte sie. Ihre Gedanken wirbelten wild durcheinander, dann wurde ihr plötzlich etwas klar. Lucien fühlt sich zu mir hingezogen. Vielleicht genauso, wie ich mich zu ihm hingezogen fühle …

Wie soll ich ihn nur auf Abstand halten, wenn diese Anziehung von uns beiden ausgeht? Bei der Vergangenheit meiner Mutter kann ich keine Schwangerschaft riskieren. Sie konnte die schmerzerfüllten Schreie ihrer Mutter noch immer hören. Sie hatte so sehr dafür gekämpft, einen Erben zu gebären. Das wird nicht auch mein Schicksal sein.

„Sie sind gefährlich, wenn Ihr eine empfindliche Nase habt.“ Lucien zog eine Grimasse. „Dort sind die Gerbereien.“

Ein beißender Geruch bestätigte seine Worte. Sie hielten die Luft an und eilten weiter, bis sie schließlich bei einem Getreidemarkt wieder von der Mauer herabstiegen. Nachdem sie über einen Platz gegangen waren, auf dem sich einige Händlerstände befanden, betraten sie eine dunkle Gasse, in der die oberen Stockwerke der Häuser sich bis auf wenige Zentimeter zu denen auf der gegenüberliegenden Straßenseite neigten.

Isobel fiel ein Mann auf, der sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte. Sie hatte ihn nur flüchtig gesehen, aber es hatte gereicht. Ein unrasiertes Gesicht, das unter einer braunen Kapuze hervorlugte. Sofort packte sie Luciens Arm. „Lucien!“

Lucien kniff die Augen zusammen, während er die Straße hinabsah, doch immer wieder versperrte ihm jemand die Sicht.

„Da, Lucien, bei der Taverne.“

Er sah Isobel fest an.

„Isobel, ich warne Euch …“

„Er geht hinein!“

Die Tür schloss sich hinter ihm. Isobel ließ Luciens Ärmel los und raffte ihre Röcke.

„Einen Moment, Madame.“ Eine entschlossene Hand hielt sie zurück. „Das ist das Schankhaus ‚Zum Schwarzen Keiler‘. Ihr gedachtet hoffentlich nicht, ihm dort drin Eure Beschuldigung entgegenzuschleudern?“

„Er darf die Reliquie nicht behalten.“

Sie machte einen Schritt, doch Lucien stellte sich ihr in den Weg und schüttelte den Kopf.

„Isobel, ich muss Euch nicht daran erinnern, dass dies nicht Eure Aufgabe ist.“

Isobel öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, aber die Missbilligung in seinem Blick ließ sie verstummen.

Er fuhr fort: „Erstens, der Mann wäre verrückt, wenn er die Reliquie noch bei sich trüge, er hat sie vermutlich längst an jemand anderen weitergegeben. Zweitens, es könnte gefährlich für Euch werden, ihn zu stellen. Ihr müsst besser auf Euch achtgeben. Es ist möglich, dass er Euch aus der Abtei hat laufen sehen – Ihr wart nicht gerade diskret.“

„Aber …“

„Und drittens ist es im Rahmen des Möglichen, dass die Frauen dort drin Euch in Stücke reißen.“ Er fuhr sich mit einer Hand durch den Nacken. „Isobel, der ‚Schwarze Keiler‘ ist kein Ort, an dem sich eine Dame von edler Herkunft aufhalten sollte.“

Isobel brauchte nur einen Augenblick, um zu begreifen, was er meinte.

„Das ist ein Freudenhaus?“

„Isobel!“

Sie reckte das Kinn.

„Ihr seid schockiert? Ich mag die meiste Zeit meines Lebens in Klöstern verbracht haben, aber ich habe schon von solchen Orten gehört. Und ich muss Euch auch nicht fragen, weshalb Ihr wisst, dass es ein Freudenhaus ist. Ich wurde gut unterrichtet.“

„Gut unterrichtet? Das möchte ich ernsthaft bezweifeln.“

Sie reckte das Kinn noch höher. Sie ahnte, dass ihre Wangen förmlich in Flammen standen.

„Ich habe genug gelernt, um zu wissen, dass Frauen ihr Mannsvolk niemals nach solchen Dingen befragen dürfen.“

Jetzt waren es Luciens Wangen, die sich ganz dunkel färbten.

„Isobel, ich versichere Euch, ich habe nie einen Fuß in den ‚Schwarzen Keiler‘ gesetzt.“

Isobel sah ihn zweifelnd an. Sein Tonfall – und dieser ernste Ausdruck in seinen blauen Augen – bestätigten ihr, dass er die Wahrheit sagte.

„Ich muss zugeben, es erleichtert mich, das zu hören.“

Sie hakte sich bei ihm unter und sah zu ihm auf. Wieder schaute er auf ihren Mund, seine Miene war nicht zu deuten. Es mochte nur Einbildung sein, aber es schien, als würden sich seine Mundwinkel zu einem zögerlichen Lächeln heben.

„Lucien, ich bin kein Feigling. Wenn Ihr bei mir seid, bin ich sicher, dass alles gut wird …“

Er schüttelte den Kopf, obgleich Isobel sah, dass er tatsächlich lächelte. Dieser Mann sollte wirklich öfter lächeln.

„Ich werde natürlich Euer Ritter sein.“

Er findet mich amüsant.

„Danke, Lucien.“

Lucien öffnete die Tür zur Taverne und sie traten ein. Sie war wirklich erleichtert, dass er niemals dort gewesen war, aber Isobel fragte sich natürlich, ob er dafür denn nicht vielleicht in einem anderen Etablissement gewesen war.

4. KAPITEL

Rauch stieg von einer Feuerstelle mitten im Raum auf. Die Klappläden waren geschlossen, die Luft schlecht. Der Gestank war überwältigend. Kerzentalg, geschmortes Hammelfleisch und menschlicher Schweiß. Männer hockten ums Feuer herum, Lederkrüge in den Händen. Binsenlichter flackerten schwach, und dünne, rußige Rauchfäden stiegen davon empor.

„Hier zieht’s teuflisch“, brüllte jemand, und ein Junge sprang zur Tür und schloss sie. Es wurde noch düsterer im Raum.

Isobel griff Luciens Arm fester. Er hatte recht gehabt, sie vor diesem Ort zu warnen. Bei all ihrer Tapferkeit war sie doch noch nie in einem Gasthaus wie diesem gewesen. Eine vollbusige Frau lehnte an einer Küchendurchreiche, der Schnitt ihres Kleides hätte Äbtissin Ursula glatt einen Herzanfall beschert.

Gäste drehten sich zu ihnen um, ihre Gesichter wirkten im flackernden Licht ganz unmenschlich.

Isobel konnte den Dieb nicht sehen. Einige Mädchen bewegten sich zwischen der Kundschaft – leuchtende Haarbänder blitzten in der Dunkelheit auf; gelb, violett, blau. Die Kleider der Mädchen waren so geschickt geschnürt, dass sie schwellende Brüste und schlanke Taillen zur Schau stellten. Isobel merkte selbst, wie sie starrte.

Ein Schankknecht tauchte vor ihnen auf.

„Was zu trinken?“ Er musterte Isobel von oben bis unten. „Oder wollt Ihr eine Kammer, Monsieur?“

Isobels Wangen brannten. Luciens Gesichtsausdruck dagegen erhellte sich – er amüsiert sich immer noch – und sie wich seinem Blick aus.

„Wir hätten gerne einen Schluck von eurem besten Roten, danke“, sagte er. „Wir trinken ihn da hinten in der Ecke.“

Sie entdeckte den Dieb an einem von einer dämmrigen Lampe aus Horn beleuchteten Tisch, im Gespräch mit einer Frau, die ein mottenzerfressenes Tuch um die Schultern trug. Lucien führte Isobel zu einer Bank nur wenige Schritte entfernt.

„Geht es nicht näher heran?“, murmelte Isobel.

Lucien schmunzelte, während er sich neben sie setzte. Er nahm ihre Hand und hob sie an seine Lippen. Ihr Magen verkrampfte sich. Mit seinen blauen Augen sah er sie so eindringlich an, als wäre er ihr Liebhaber.

„So nah, wie Ihr wollt, mein Täubchen.“

Isobel keuchte unterdrückt. Lucien saß fast schon auf ihr, sie konnte seinen Schenkel ganz dicht und warm an ihrem spüren. Energisch befreite sie ihre Hand und sah ihn wütend an.

„Lucien, das habe ich nicht gemeint, und das wisst Ihr auch.“

Luciens Hand – ebenso warm wie sein Schenkel – glitt um ihre Taille.

„Ihr müsst versuchen, etwas ermutigender dreinzublicken“, murmelte er. Seine Stimme liebkoste sie fast ebenso wie seine Hand. „Die denken, wir sind ein Liebespaar. Wenn Ihr weiter so finster schaut, wird ihnen das suspekt erscheinen. Dann erfahren wir gar nichts. Im Augenblick dulden sie Eure Anwesenheit nur, weil sie hoffen, ich werde für eine Kammer bezahlen.“

Isobel schluckte. Luciens Lächeln war, wenn auch äußerst charmant, viel zu gut einstudiert. Sie erinnerte sich, wie er errötet war, ehe sie eingetreten waren. In einem solchen Gasthaus war er vielleicht bislang noch nicht, aber er ist nicht unerfahren. Er … Ihr Herz schien zu stolpern, als sie sah, wie er den Blick auf ihren Mund senkte, und sie ahnte, was nun kommen würde.

„Oh … nein.“

„Oh, ja. Komm her, mein Täubchen.“ Er zog sie an sich und neigte sich zu ihr.

Isobel erstarrte. Ihre Finger ballten sich zu Fäusten, Fäuste, die sie gegen seine Brust drückte, um ihn fortzuschieben. Aber nicht zu fest. Sie war neugierig. Und aufgebracht.

Wie kann er nur!

Seit Jahren hatte sie auf ein Zeichen seiner Aufmerksamkeit gewartet. Irgendein Zeichen – vielleicht einen Brief an das Kloster in Conques … eine simple Nachricht hätte gereicht. Aber er hatte sie ignoriert – Jahr um Jahr.

Und dann besaß er die Frechheit zu warten, bis sie in einem verrauchten Gasthaus saßen, um sie zu küssen. In einem Hurenhaus, um genau zu sein. Sie hörte ein ersticktes Geräusch, und als sie merkte, dass es von ihr kam, ließ sie es verstummen. Er küsste sie nur zum Schein, der Teufel. Er begehrte sie gar nicht. Sie wünschte, er würde aufhören, sie bekam kaum Luft. Sie würde in Ohnmacht fallen. Herrgott, nein, doch nicht. Ihr gefiel dieser Kuss.

Seine Lippen wurden sanfter, und er zog sich zurück.

„Entspannt Euch, Isobel, so werdet Ihr niemanden überzeugen.“

Sie schlug mit der Faust gegen seine Brust, ohne Erfolg. All ihre Kraft hatte sie verlassen.

Er legte seine Hand an ihre Wange, streichelte sie sacht und zog mit seinen Fingerspitzen winzige, liebkosende Kreise, bis jeder einzelne Nerv vor Sehnsucht zu kribbeln schien. Sie biss sich auf die Lippe, um ein leises Stöhnen zu unterdrücken. Welch ein Glück, dass seine Hand ihr Gesicht vor Zuschauern verbarg. Sie fühlte sich heiß und verwirrt und … ihr Leib schien sehnsuchtsvoll zu schmerzen. Er will das eigentlich nicht. Er kennt mich gar nicht. All die Jahre, die sie im Süden gelebt hatte, hatte er sich nicht um ihr Wohlergehen gekümmert. Ich bin nur eine weitere Trophäe. Ich bin nur ein Preis. Lucien heiratet mich nur, um einen Erben zu bekommen.

Dann war sein Mund wieder auf dem ihren, und ihre Gedanken zerstoben. Isobel vergaß, dass sie im ‚Schwarzen Keiler‘ waren; sie vergaß, weshalb sie hier waren; sie vergaß alles. Die Nonnen, die Reliquie, der Dieb – sie existierten gar nicht mehr. In dieser Welt gab es nur noch Lucien, seinen Arm um ihre Taille gelegt, seine Lippen auf ihren. Es gab nichts anderes mehr.

Sie war eingehüllt in seinen maskulinen, geheimnisvollen Duft, jede seiner Berührungen schien ihr Blut etwas mehr zu erhitzen, und ihre Brüste fühlten sich seltsam gespannt an. Der Drang, ihre Fäuste zu öffnen und die Arme um seinen Hals zu legen, war unwiderstehlich. Sie wollte seine Wangen küssen, die Narbe an seiner Schläfe, es war …

Sie spürte seine Zunge an ihrer und keuchte. Seine Zunge? Abrupt zog sie den Kopf zurück.

„Wa … was tut Ihr da?“

Seine Augen wirkten im schummrigen Licht der Gaststube fast schwarz.

„Ich küsse meine Verlobte“, murmelte er.

Jemand knallte etwas auf den Tisch.

„Euer Wein“, sagte der Schankknecht bedeutungsvoll grinsend. „Seid Ihr sicher, dass Ihr keine Kammer wollt, Monsieur?“

Isobel seufzte beschämt, und noch mehr schämte sie sich, als sie merkte, dass sie ihr Gesicht am liebsten an Luciens Brust verborgen hätte.

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, danke. Wir … verhandeln noch. Vielleicht später.“

„Verhandeln?“ Wütend funkelte sie ihn an. „Ich hasse Euch. Ich hasse Euch wirklich.“

„Nein“, antwortete er sanft. „Glücklicherweise glaube ich das nicht.“

Mit dem Küssen war er offenbar fertig. Seine starken Hände strichen ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Schleier gelöst hatten. Noch immer saß er dicht bei ihr, den Arm um ihre Taille gelegt, besitzergreifend. Und genau so war es wohl auch gemeint. Ich bin seine Verlobte. Seine reiche Erbin. Und seine neuste Trophäe.

Lucien lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, zog Isobel mit sich und legte ihren Arm um seine Mitte.

„Ist es nicht eine Erleichterung, dass wir das nun hinter uns haben?“

„Was hinter uns haben?“, fragte Isobel knapp, in der Hoffnung, ihre neuste Erkenntnis vor ihm verbergen zu können. Es gefiel ihr, so nah an ihm zu lehnen, genau wie es ihr gefallen hatte, ihn zu küssen. Es fühlte sich an, als gehörten sie zusammen. Aber sie empfand nicht bloß Vergnügen. Sie war auch wütend – nur wusste sie nicht, ob sie wütender auf ihn oder auf sich selbst war.

Er hat mich so lange nicht beachtet. Und jetzt bin ich nur ein Mittel zum Zweck.

„Unseren ersten Kuss.“ Sacht berührte er ihre Nase. „Im Großen und Ganzen war es doch sehr erfreulich. Viel besser, als ich gedacht hatte.“

Isobel biss die Zähne zusammen. Im Großen und Ganzen …

„Lucien, ich schwöre …“

„Ja, ja, Ihr hasst mich.“ Er neigte sich zu ihr und küsste ihr Ohr, nur ganz zart, denn er nutzte diesen gehauchten Kuss, um ihr leise etwas ins Ohr zu flüstern. „Hört zu … könnt Ihr sie verstehen?“

Isobel ignorierte das leise Kribbeln, das sein Kuss bei ihr entfacht hatte, so gut sie konnte, und versuchte zu verstehen, was die Leute am Nachbartisch sagten. Die beiden, der mit der Kapuze und die mit dem Schal, hatten ihre Köpfe dicht zusammengesteckt.

„Der Mann hat gesagt, ich solle dir ausrichten, dass er bei dem nächsten Turnier sein wird.“

Der Dieb wischte sich die Nase mit seinem zerfetzten Ärmel.

„Verstehe ich das richtig, du meinst nicht den Tjost am Dreikönigsabend im Schloss Troyes?“

Die Frau lachte. Es klang trocken, wie raschelndes Laub.

„Sei kein Narr, da wird es nur so von Comte Henris Wachen wimmeln. Ich rede vom Turnier an Allerheiligen auf dem Vogelfeld. Man hat mir gesagt …“, die Frau senkte die Stimme, sodass Isobel kaum noch etwas verstehen konnte. „… dein Mann hat schon einen Käufer im Sinn. Er wird gut bezahlen für eine Reliquie aus St. Foy.“

„Besser als letztes Mal?“

Viel besser. Er wird dich zu Beginn des Turniers treffen, vor der Vesper, während die jungen Ritter zeigen, was in ihnen steckt.“

Vor der Vesper?“, versicherte er sich.

„Ja.“

„Und wo soll ich ihn treffen?“

„Er wird dich finden.“ Die Frau gab ein grunzendes Lachen von sich. „Er sollte dich inzwischen kennen.“ Das Tuch sorgfältig umgeschlungen, stand sie auf und hastete nach draußen.

Langsam drehte sich Isobel zu Lucien und fragte leise: „Habt Ihr ihr Gesicht gesehen?“ Wo ist das Vogelfeld? Sie platzte fast vor lauter Fragen, aber sie biss sich auf die Zunge. Der Mann mit der Kapuze war noch zu nah.

Lucien legte seinen Arm fester um sie.

„Nein. Ihr?“

„Kein bisschen.“ Isobel seufzte und versuchte, etwas mehr Platz zwischen ihnen zu schaffen, aber sie stellte entsetzt fest, dass er sich, während sie dem Gespräch am Nachbartisch gelauscht hatten, auch noch ihrer anderen Hand bemächtigt hatte. Ihre Finger waren miteinander verschlungen. Wie hatte ihr denn das entgehen können? Unter dem Vorwand, nach ihrem Wein greifen zu wollen, entwirrte sie hastig ihre Hände.

Vorsichtig nahm sie einen Schluck. Der Wein war erdig und schwach säuerlich und hatte einen Unterton, der sich nicht identifizieren ließ. Normalerweise hätte sie ihn wohl kaum getrunken, aber sie war heilfroh, eine Entschuldigung zu haben, um sich aus Luciens Armen zu befreien. Flüchtig warf sie ihm einen Blick zu und erwischte ihn, wie er sie beobachtete. Distanziert, aber aufmerksam.

„Müsst Ihr mich so ansehen?“, fragte sie.

„Ihr seid ganz anders, als ich erwartet hatte.“

„Hättet Ihr Euch einmal zu einem Besuch nach Conques bequemt, hättet Ihr mich kennenlernen können.“

Seine Gesichtszüge verhärteten sich.

„Es ist nicht notwendig, eine Frau zu kennen, um sie zu heiraten.“

Fassungslos sah sie ihn an.

„Ihr seid ungehobelt, Sieur.“ Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. „Ihr wollt nur mein Land.“

Lucien neigte sich zu ihr. Seine Augen wirkten nicht mehr so schwarz wie noch zuvor, als sie sich küssten, jetzt lag ein aufmerksames Glitzern darin. Rücksichtslos, er ist vollkommen rücksichtslos. Diese Augen waren die eines Mannes, der sein Ziel immer fest im Blick hatte.

„Ich gebe zu, Euer Land ist sehr nützlich“, sagte er ruhig. „Madame, nur ein Narr würde sich die Gelegenheit entgehen lassen, seine Ländereien zu vergrößern. Aber das ist nicht der einzige Grund, weshalb ich Euch heiraten werde. Ich tue es, weil ich bei unserer Verlobung einen Eid geschworen habe. Meinen Vater hat diese Verzögerung schwer enttäuscht. Ich habe ihm Unrecht getan, was unsere Vermählung angeht, und habe viele Jahre unter diesem Fehler gelitten. Die Zeit ist gekommen, es wiedergutzumachen.“

Isobel runzelte die Stirn.

„Euer Vater ist schon vor einigen Jahren gestorben. Weshalb habt Ihr bis jetzt gewartet, Euren Schwur einzulösen?“

Es war, als habe er ihre Worte nicht gehört. Geistesabwesend griff er nach seinem Weinbecher.

„Ich brauche einen Erben.“

Ihre Hand zuckte so heftig, dass Wein aus ihrem Becher auf den Tisch schwappte. Einen Erben. Er meint einen männlichen Erben. Das Einzige, was meine Mutter meinem Vater nicht geben konnte. Das, was Isobel fürchtete, ihm auch nicht geben zu können. Seine Lippen, die eben noch heftige Gefühle in ihr ausgelöst hatten, waren zu einer dünnen, harten Linie zusammengepresst. Wenn er das wirklich wollte, wäre er erbarmungslos. Was würde mit ihr geschehen, wenn sie dabei genauso scheiterte wie ihre Mutter? Zwei große Ängste wirbelten ihr durch den Kopf: Ich bin vielleicht nicht fähig, ihm einen Erben zu schenken. Ich werde vielleicht bei dem Versuch sterben.

Er nahm einen Schluck von dem Wein und schüttelte sich.

Mon Dieu, Isobel.“ Er entriss ihr den Weinbecher und zog sie mit sich auf die Beine. „Rührt diese Pi … ähm … dieses Gesöff nicht an, oder Ihr werdet Eurer Zofe im Krankenhaus Gesellschaft leisten können. Wir gehen.“

Als sie sich an den Tischen vorbeiquetschten, sah der Dieb auf, verzog leicht den Mund und griff nach seinem Dolch.

Isobel wimmerte ängstlich, doch Lucien schirmte sie mit seinem Körper ab, während er sie am Feuer vorbeischob.

„Wie ich befürchtet habe, hat er Euch bei der Verfolgung erkannt.“ Er warf dem Schankknecht eine Münze zu. „Ich sollte Euch zurück zur Abtei bringen.“

„Danke, Lucien.“

Draußen atmete Isobel tief die frische Luft ein. Lucien nahm ihre Hand, hakte sie aber nicht bei sich unter, wie es die Form verlangte, sondern hielt sie einfach fest, wie es ein Liebespaar getan hätte. Während er ihrer beider Finger miteinander verschränkte, verkrampfte sich schmerzhaft etwas in ihr. Als würde man sich nach etwas sehnen, das man nie bekommen konnte. Sie und dieser Mann waren kein Liebespaar – er würde sie heiraten, weil sein Vater es so gewollt hatte. Er wollte Turenne. Und einen Erben.

„Lucien?“, fragte sie, während sie in eine Seitengasse abbogen. „Wo ist das Vogelfeld?“ Auf Luciens Wappen war ein schwarzer Rabe, und die Comtes d’Aveyron und die der Champagne waren schon lange Verbündete, sodass sie vermutete, dass sich der Turnierplatz auf Luciens Land befand.

Ein Nerv zuckte unter der Narbe an seiner Schläfe.

„Ich hatte gehofft, Ihr hättet das nicht gehört.“

Sie eilten durch eine schmutzige Gasse, überall lagen Küchenabfälle herum, und Isobel hob ihre Röcke etwas an, ehe sie weitersprach.

„Lucien, in der Abtei habt ihr ein Turnier am Tage nach unserer Vermählung erwähnt. Ich nehme an, es handelt sich dabei um dieses? Ist das Vogelfeld auf Eurem Land?“

„Ja.“ Es klang abweisend. „Mein Vater war seinerzeit Schirmherr einiger Turniere auf dem Vogelfeld. Ich hatte nicht viel damit zu tun.“

Angesichts seiner sonstigen Begeisterung für Turniere und Erfolge war seine Antwort überaus seltsam. Und bildete sie sich das ein, oder mied er ihren Blick?

„Weshalb nicht?“

„Vor einigen Jahren habe ich meinen Besitz in der Champagne in die Hände eines Verwalters gegeben. Bis vor Kurzem hat es für mich keinen Grund gegeben, persönlich herzukommen.“

„Vermutlich gab es genug andere Turniere?“ Erwartungsvoll sah sie ihn an, aber sein Blick blieb verschlossen. Unzugänglich. „Ich war noch nie auf einem Turnier, Lucien. In Turenne hat der Minnesänger meines Vaters …“

Sein Blick wurde hart wie Stein.

„Isobel, ein Turnier besteht aus mehr als hübschen Frauen, die ihren verehrten Rittern Bänder an die Lanzen heften. Ein Turnier ist ein Kriegsspiel.“

„Nichtsdestoweniger möchte ich gerne eines sehen.“

„Dann rate ich Euch, nicht gerade mit dem auf dem Vogelfeld zu beginnen. Ich habe gehört, es geht dort nicht sehr gesittet zu.“

„Weshalb?“

„Seit der Zeit meines Vaters, so habe ich gehört, wurde es immer … unkontrollierter. Es wird schmutzig, vielleicht blutig. Es erinnert nicht gerade an König Arthus und die Tafelrunde.“

Unsicher sah Isobel ihn an. Die Seele dieses Mannes hatte etwas Düsteres an sich, das sie sich nicht erklären konnte.

„Sieur?“

„Nun, das erwartet Ihr doch von einem Turnier, nicht? Heldentaten. Abenteuer.“ Er sprach schroff. „Das Turnier auf dem Vogelfeld ist … nun ja, es ist Krieg. Wenn Ihr Königin Guinevere spielen wollt, müsst Ihr auf den Tjost am Dreikönigsabend im Schloss Troyes warten. Das sollte mehr nach Eurem Geschmack sein.“

Luciens Tonfall störte sie. Er wollte sie bloß davon abhalten, sich das Turnier an Allerheiligen anzusehen, aber das würde ihm nicht gelingen! Es war gemeinhin bekannt, dass die Könige Frankreichs und Englands nicht viel von solchen Turnieren hielten, aber ein Ritter wie Lucien würde doch nicht einen der härtesten Wettkämpfe scheuen. Sorgte er sich vielleicht um sie?

In Wahrheit klang das Turnier am Dreikönigsabend in Troyes tatsächlich mehr nach ihrem Geschmack. Dummerweise aber würde der Reliquiendieb zum Turnier an Allerheiligen gehen, also musste sie ebenfalls dorthin …

„Ihr müsst Euch nicht um mich sorgen“, sagte sie sanft. „Ich kann schon auf mich aufpassen. Lucien, sind die Wettkämpfe auf dem Vogelfeld sehr gefährlich?“

„So hat mir Sieur Arthur gesagt – mein Verwalter. Wie bereits erwähnt, habe ich seit Jahren nicht teilgenommen.“

„Werdet Ihr dieses Mal antreten? Ich würde so gerne hingehen.“

Lucien ließ ihre Hand los.

„Isobel, ich rate Euch, diese Diskussion jetzt als beendet zu betrachten.“

„Ihr werdet teilnehmen!“ Sie hob den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. „Es würde sich doch kein Ritter, der etwas auf sich hält, die Gelegenheit nehmen lassen, an einem echten Wettkampf teilzunehmen. Wenn es so ein harter Wettbewerb ist, ist das Preisgeld gewiss sehr gut. Wo ist das Vogelfeld?“

Er durchbohrte sie nachgerade mit einem Blick aus seinen blauen Augen.

„Isobel, ich sehe, worauf das hinauslaufen wird, aber ich werde es nicht zulassen. Der Schurke wird dort nach Euch Ausschau halten.“

„Er wird mich nicht sehen, ich werde ganz vorsichtig sein.“

Lucien schnaubte missbilligend.

„Ich glaube nicht, dass Ihr die Bedeutung dieses Wortes überhaupt kennt. Isobel, ich verbiete Euch, hinzugehen. Ich werde keine Zeit haben, auf Euch aufzupassen.“

„Aber, Lucien …“

„Isobel, ich wünsche nicht, dass Ihr dort erscheint. Habe ich mich klar ausgedrückt?“

Es klang unnachgiebig. Sie kannte diesen Tonfall von Männern bereits und wusste genau, was sie zu tun hatte. Einsicht heucheln, wie sie es schon bei ihrem Vater stets getan hatte.

„Ja, Sieur“, sagte sie und sah ihn ausdruckslos an. „Vollkommen klar.“

Zurück in der Abtei erwartete sie Schwester Christine bereits am Tor.

„Madame Isobel, was habt Ihr Euch dabei gedacht, so ungestüm in die Stadt zu laufen?“

Lucien verbeugte sich, lächelte knapp und machte dann auf dem Absatz kehrt. Das Tor schloss sich, und schon war er außer Sicht. Hoffentlich schickt er bald nach mir. Isobel hatte für den Rest ihres Lebens genug Klöster von innen gesehen, und selbst ein so halsstarriger Mann war dem Leben hinter Klostermauern noch vorzuziehen.

Das silberne Kreuz der Nonne hob sich hell von der dunklen Kutte ab.

„Madame, ich sollte Euch warnen, die Äbtissin ist außer sich.“

Isobel biss sich auf die Unterlippe – sie mochte Schwester Christine, und sie sah nur ungern, dass sie ihr Unannehmlichkeiten bereitet hatte.

„Schwester, bitte sagt mir nicht, dass Ihr die ganze Zeit hier gewartet habt?“

„Gewiss – ich habe das Offizium verpasst.“

„Oh, Schwester, das tut mir leid.“

Schwester Christine verbarg die Hände in den Ärmeln ihrer Kutte.

„Ihr wart lange fort; wo seid Ihr nur gewesen?“

Isobel wollte eben erklären, dass Lucien die ganze Zeit bei ihr gewesen war, aber die Schwester schüttelte den Kopf.

„Sagt es nicht mir, sagt es der Ehrwürdigen Mutter.“ Sie deutete zu der Klosterkirche. „Ihr findet sie in der Marienkapelle.“

Isobel schluckte einen Seufzer hinunter und ging zur Kirche hinüber, wo sie an dem hölzernen Wandschirm stehen blieb, der die Kapelle vom Hauptschiff trennte. Die Äbtissin räumte zusammen mit Elise und einigen Novizinnen noch die Scherben weg. Als sie Isobel sah, reichte sie ihren Besen an eine Novizin weiter und kam auf sie zu.

„Madame Isobel, ich verstehe, wie sehr Euch dieser Diebstahl erschüttert haben muss, aber Ihr seid ohne Euren Umhang in die Stadt gelaufen. Ohne eine Zofe. Was habt Ihr Euch dabei gedacht?“

„Bitte vergebt mir, Ehrwürdige Mutter, ich durfte keine Zeit vergeuden. Und Comte Lucien war als meine Eskorte zugegen.“

„Ihr seid so schnell gelaufen, Ihr habt doch gar nicht darauf geachtet, ob der Comte Euch überhaupt folgt. Zu Eurem Glück tat er es. Auch wenn er gewiss entsetzt war über diese Ungehörigkeit. Madame Isobel, Ihr müsst lernen, Euch zu zügeln, und mehr Anstand wahren. Ihr dürft Eure Stellung nicht einen Augenblick vergessen. Bald schon werdet Ihr die Comtesse d’Aveyron sein – Ihr solltet nicht durch die Straßen Troyes laufen wie ein ungebärdiges Kind. Und ganz gewiss solltet Ihr nicht darauf vertrauen, dass der Comte d’Aveyron Euch hinterherläuft, um für Eure Sicherheit zu sorgen.“ Ihre Nasenflügel bebten. „Ich nehme an, Euch ist nichts geschehen?“

„Nein.“

„Gottlob. Ihr habt Glück, dass Comte Lucien ein so ehrenhafter Mann ist. Ein weniger gewissenhafter hätte die Gelegenheit genutzt und sich Eurer bemächtigt.“

Isobel blickte starr auf das Kreuz an Äbtissin Ursulas Brust. Was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass wir beide gemeinsam dem Dieb in ein Freudenhaus gefolgt sind? Was würde sie sagen, wenn sie wüsste, dass Lucien, der ach so ehrenhafte Mann, die Gelegenheit nutzte, mich zu küssen? In aller Öffentlichkeit. Im ‚Schwarzen Keiler‘?

Elise warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Äbtissin Ursula behandelte sie wie ein ungezogenes Kind, aber sie ließ sich nicht einschüchtern. Es war, wie die Äbtissin gesagt hatte, bald schon war sie die Comtesse d’Aveyron.

„Ehrwürdige Mutter, ich bin hinab in die Stadt gerannt, weil ich den Dieb gesehen hatte. Ich hatte gehofft, ich könnte ihn fassen.“ Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. „Er hat an der Nordtür herumgelungert und gerade etwas in einen Beutel gesteckt. Ich bin mir sicher, dass es das Kästchen aus Limoges war, ich habe blaues Email und Gold gesehen…“

„Sei es, wie es sei, das ist nicht Eure Angelegenheit. Ihr hättet nicht dermaßen unziemlich nach draußen laufen dürfen.“ Die Äbtissin wandte sich Elise zu. „Und was Euch betrifft, Ihr hättet es ebenfalls besser wissen müssen! Warum habt Ihr sie nicht aufgehalten?“

„Ich bin ganz allein für mein Benehmen verantwortlich, bitte gebt Elise nicht die Schuld daran“, sagte Isobel. „Bitte, Ehrwürdige Mutter, ich bitte um Vergebung, wenn Euch mein Verhalten falsch erschienen ist.“

„Ihr habt geglaubt, Ihr selbst könntet den Dieb fangen?“ Die Äbtissin zog so hochmütig eine Braue hoch, dass Isobel sich an deren königliche Verwandtschaft erinnert fühlte. Es ließ sie sehr majestätisch wirken. „Was, wenn Comte Lucien Euch nicht gefolgt wäre? Was, wenn man Euch mit Gewalt begegnet wäre?“

„Ich habe lediglich versucht zu helfen. Euer Orden war stets gut zu mir, und ich bin besonders dankbar für die Fürsorge, die mir in St. Foy zuteilwurde.“

„Ihr vergütet es uns nicht, indem Ihr Euch in Gefahr bringt. Vicomte Gautier hat Euch zu uns geschickt, damit wir Euch bis zu Eurer Vermählung Schutz bieten. Sollte Euch in der Zwischenzeit etwas zustoßen, wird das dem Ruf unseres Ordens schaden, vielleicht dauerhaft. Wer sollte seine Töchter zu uns schicken, wenn man sie hier nicht in Sicherheit weiß?“

„Ich bitte nochmals um Vergebung, Ehrwürdige Mutter.“

„Da sind noch andere Dinge, die Ihr in Eurer Hast nicht bedacht habt …“

Isobel biss die Zähne aufeinander.

„Ja?“

„Durch Euer ungestümes Handeln habt ihr riskiert, Comte Lucien zu beleidigen. Hat es Anzeichen dafür gegeben, dass ihn Eure Tollkühnheit abgeschreckt hat?“

Isobel wusste nicht, weshalb, aber Äbtissin Ursulas Worte weckten die Erinnerung an einen sinnlichen Mund, der sich auf ihren presste, an einen maskulinen Arm, der sich besitzergreifend um ihre Taille schlang …

„Comte Lucien schien in keiner Weise abgeschreckt“, murmelte sie. Wir haben ein wenig die Klingen gekreuzt, aber ich habe ihn doch nicht abgeschreckt.

„Ihr seid wahrlich gesegnet.“ Die Äbtissin gab einen missbilligenden Ton von sich. „Die Stadt füllt sich jedes Jahr, wenn der Markt ist, mit lauter Gesindel. Deshalb gibt es die Schutzwache. Es ist deren Pflicht, sich um solche Schurken zu kümmern, nicht Eure.“

„Ja, Ehrwürdige Mutter, Comte Lucien hat es mir erklärt.“

„Tatsächlich? Das ist nur gut. Lassen wir diese Torheit hinter uns. Ich vertraue darauf, dass Ihr in Zukunft zweimal überlegt, ehe Ihr einer solchen Regung nachgebt. Wenn Gott will, wird die Reliquie zurückgebracht werden. Ich vertraue darauf, dass Er sich ebenso des Mannes annimmt, der diese Freveltat begangen hat.“ Stirnrunzelnd warf die Äbtissin einen Blick auf die zerstörte Altarfront, dann wandte sie sich dem Hauptschiff zu. „Schwestern, folgt mir. Madame Isobel und Elise können den Rest aufkehren. Und danach wartet noch ein beträchtliches Stück des Altartuchs darauf, bestickt zu werden.“ Sie sah Isobel fest in die Augen. „Ich sähe gern, dass so viel wie möglich davon fertig würde, ehe Ihr die Abtei verlasst.“

5. KAPITEL

Isobel vermutete, dass der Palast voll belegt war, da sie am nächsten Morgen nichts von Lucien hörte. Während sie auf eine Nachricht von ihm wartete, nutzte sie die Arbeit an dem Altartuch, um sich von der Sorge abzulenken, Lucien könne sie ein weiteres Mal im Stich gelassen haben.

Über Nacht war ein frischer Ostwind aufgekommen, sodass sie und Elise nicht mehr draußen im Hof, im hellen Tageslicht, sticken konnten, sondern Schutz in einem ruhigen Winkel des Kreuzgangs vor einer kleinen Vorratskammer suchen mussten. Die Kammer selbst hatte keine Fenster, also saßen sie auf der Türschwelle, die Umhänge um die Schultern gelegt und das Tuch zwischen sich. Wenn sie sich etwas nach vorn lehnte, konnte sie den Himmel über sich sehen. Die Wolken zogen vorbei wie eine Herde Schäfchen.

Isobel war froh, hier in Ruhe mit Elise sprechen zu können – sie hatte viel zu lernen, und sie ahnte, dass Elise ihr helfen konnte. Ein ganzer Schwall von Fragen wäre dennoch nicht angemessen, sie musste es vorsichtig angehen.

Elise, weshalb bist du in die Abtei gekommen?

Nein, das konnte sie nicht fragen, das war zu aufdringlich.

Eigentlich brannte ihr eine Frage am meisten unter den Nägeln – Elise, wie ist es, mit einem Mann das Bett zu teilen? Das in eine Unterhaltung einzuflechten war allerdings auch nicht leicht, kannte sie Elise doch erst seit ein paar Tagen. Selbst Madame Anna, die Isobel schon seit Jahren kannte, hatte sich eher in Zurückhaltung geübt, wenn Isobel hatte wissen wollen, was so schlimm daran gewesen war, bei ihrem Gemahl zu liegen.

Näheres war nicht angesprochen worden. Aber Isobel musste einfach mehr erfahren. Wie war es? Tat es jedes Mal weh? Sie wusste nicht, weshalb sie glaubte, Elise könne ihr mehr darüber sagen, es war nur so eine Ahnung. Elise wirkte nicht mehr unschuldig.

Die Nonnen in St. Foy hatten die Pflichten einer Ehefrau sehr ausführlich besprochen, über die körperlichen Aspekte einer Ehe hatten sie jedoch völliges Stillschweigen bewahrt. Das war nicht verwunderlich. Wie hätten in Keuschheit lebende Nonnen von solchen Dingen wissen sollen? Jegliche körperliche Erfahrung war ihnen strikt untersagt. Stattdessen aber wussten sie sehr genau, wie wichtig es für ein Eheweib war, sich selbst hintanzustellen. Bei einer Frau musste – das wurde immer wieder betont – der Ehemann immer an erster Stelle stehen. Selbstverleugnung war ihr Leitsatz.

Als sie einmal ihre Mutter, Madame Maude, fragte, hatte die nur einfach wiederholt, was die Nonnen sagten. Madame Maude hatte höchst nachdrücklich auf die Pflicht verwiesen. Pflicht.

Ihre Mutter sprach von Pflichten, die Nonnen von Selbstaufgabe. Aber darin unterrichtet zu werden, beantwortete Isobel nicht ihre Fragen. Sie wollte alles wissen. Sie wollte nicht im Kindbett sterben wie ihre Mutter. Viel zu wissen war lebenswichtig.

Besonders da, nachdem Lucien und sie sich geküsst hatten, nun offensichtlich war, dass sie sich zueinander hingezogen fühlten. Sie war unter seinen Berührungen ganz schwach geworden. Es hatte sie auf wenig anständige Gedanken gebracht. Ehe sie ihn zum ersten Mal wiedergesehen hatte, war sie sicher gewesen, es würde ganz leicht werden, ihn von sich fernzuhalten. Der Kuss im ‚Schwarzen Keiler‘ hatte ihr das Gegenteil bewiesen. Es würde nicht leicht werden, ihn zurückzuweisen. Dieser Kuss … Verstohlen berührte sie ihre Lippen. Diese Gefühle, die Lucien in ihr wachgerufen hatte – diese Gedanken …

An Pflicht hatte sie dabei nicht gedacht. Und was die Selbstaufgabe betraf …

Wäre es möglich, dass sie ganz andere Erfahrungen im Ehebett machen würde als Anna?

Sie unterdrückte ein Seufzen und sah Elise an. Wenn sie auch nicht gewohnt war, solche Dinge anzusprechen, sie würde einfach mit einem unbefangenen Thema beginnen.

„Lebst du schon lange in Troyes, Elise?“

„Erst ein paar Monate, Madame.“

Sie wartete einige Nadelstiche lang ab, in der Hoffnung, Elise würde noch mehr sagen, aber sie schien an diesem Tag nicht sehr gesprächig, also versuchte Isobel es erneut: „Wie ist es, wenn der Winterjahrmarkt beginnt?“

„Ich bin zum ersten Mal zum Jahresende hier, Madame. Aber ich denke, es wird ebenso lebhaft zugehen wie beim Sommerjahrmarkt.“ Kurz hob sie den Kopf und sah Isobel an. „Im Sommer ist die Stadt ein regelrechtes Tollhaus.“

„Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es noch voller hier sein wird, als es gestern schon war.“

„Aber doch, das wird es. Manchmal kommt man kaum noch durch das Gedränge.“

Isobel machte ein ermutigendes Geräusch und wartete erneut etwas ab, dann sagte sie: „Wenn wir mit dem Teil des Tuchs fertig sind, würde ich gerne noch einmal ausgehen. Da sind einige Stadtviertel, die ich gerne noch erkunden möchte.“

Damit hatte sie schließlich Elises Aufmerksamkeit.

„Ist das klug, Madame? Es wäre vermutlich besser, den Anweisungen der Äbtissin Folge zu leisten, besonders da Eure Eskorte nicht hier ist. Es ist nicht mehr lang bis zu Eurer Hochzeit. Ich bin sicher, Comte d’Aveyron wird Euch eine Eskorte zur Verfügung stellen, sobald Ihr vermählt seid.“

Isobel fädelte einen neuen Faden in das Nadelöhr.

„Ich gebe zu“, sagte sie bedächtig, „dass ich meiner Vermählung ein wenig besorgt entgegensehe.“

Elise sah sie flüchtig an, wandte sich aber sogleich wieder dem Stoff zu.

„Ihr seid bereits seit einigen Jahren mit dem Comte verlobt. Er ist sehr angenehm und viel vernünftiger, als ich dachte …“

Isobel verstummte einen Augenblick.

„Du hast gehört, Comte Lucien sei unvernünftig?“

Elises Wangen färbten sich puterrot.

„Ich … vergebt mir, Madame, das war unangemessen.“

„Wenn dir etwas zu Ohren gekommen ist, wäre ich dankbar, wenn du mir davon erzählst …“

Elise schüttelte vehement den Kopf.

„Es tut mir leid, Madame. Ich habe gar nichts gehört.“ Eine Weile schwieg sie, dann schaute sie Isobel schließlich an. „Wegen Eurer Vermählung, Mylady. Ich bete, dass alles gut wird. Ich habe nichts Grausames an Comte Lucien entdecken können.“

Isobel machte große Augen.

„Nichts Grausames?“

„Männer können grausam sein, Madame, und Adlige noch mehr als die meisten anderen“, sagte Elise schulterzuckend. „Sie haben Macht, und aus Macht erwächst Grausamkeit. Was ich nur sagen wollte, ist, dass ich bei Comte Lucien keinerlei Anzeichen für Grausamkeit entdecken konnte.“

„Ich bin erleichtert, das zu hören“, sagte Isobel offen. Elises Bemerkung hatte sie erschüttert und sie zugleich in ihrer Vermutung bestärkt, dass das Mädchen nicht mehr unschuldig war. „Ich habe Comte Lucien all die Jahre nicht mehr gesehen, bis heute. Ich habe lange befürchtet, er würde mich vielleicht nicht mögen.“

„Nicht mögen?“ Elise hielt in ihrer Arbeit inne, ihr Ton verschärfte sich leicht. „Madame, ich bezweifele, dass dem so ist. Und selbst wenn, es ist nicht von Bedeutung, bei Eurer Ehe geht es um die Dynastie. Ihr solltet dankbar sein, dass Euer Vater eine so günstige Verbindung arrangieren konnte.“

„Gewiss bin ich sehr dankbar“, presste Isobel hervor. Allerdings sprach sie gerade mehr von der Angst, die sie seit Monaten verfolgte, innerlich fühlte sie alles andere als Dankbarkeit. Sie fühlte sich unwissend. Wie sollte sie etwas über die körperlichen Aspekte einer Ehe erfahren, wenn es so verpönt war, darüber zu sprechen? Annas düstere Andeutungen hatten bloß eine Menge Angst geschürt. Isobel aber wollte Gewissheit, nicht nur darüber, was sie im Ehebett erwartete, sondern auch, was die Konsequenzen anging. Jeden Tag starben Frauen bei der Geburt.

„Ich sollte Comte Lucien näher kennenlernen, ehe wir heiraten.“

Elise lächelte leicht.

„So Gott will, werdet Ihr Jahre haben, um Euch kennenzulernen. In jedem Fall ist Comte Lucien doch kein völlig Fremder. Ihr habt ihn schon bei eurer Verlobung getroffen. Bestimmt habt Ihr ihn seither einige Male gesehen?“

Isobel berührte Elises Arm, auf der Suche nach Zuspruch, doch sie fürchtete, ihn bei dem Mädchen nicht finden zu können. Elises Reaktion war freundlich, aber doch distanziert. Sie hält Abstand. Etwas – jemand – hat sie verletzt, und sie will mir nicht vertrauen.

„Vor dem gestrigen Tag habe ich Comte Lucien nur bei unserer Verlobung gesehen. Ich war elf, er … er war fünfzehn. Elise, ich fürchte … fürchte …“ Erschrocken hörte sie, wie ihre Stimme brach, als sie an ihre arme Mutter dachte, die alles gegeben hatte, um Turenne einen Erben zu schenken. Die Strapazen haben Mama das Leben gekostet. Isobel war das einzige überlebende Kind. Hilflos hatte sie zusehen müssen, wie sich das Gesicht ihrer Mutter vor Schmerz verzerrte. Ihre Schreie hatten sie bis ins Mark erschüttert. Madame Maudes Tod hatte bei Isobel eine entsetzliche Furcht vor der Geburt ausgelöst. Ich muss meine Ängste überwinden. Ich muss!

„Ihr denkt an Madame Maude, nicht wahr?“, fragte Elise.

„Ich … ja.“

„Habt Ihr mit Äbtissin Ursula über Eure Ängste gesprochen?“

Isobel starrte auf die Reihe kannelierter Säulen, die den Kreuzgang bildeten.

„Ich habe es versucht. Sie hat gesagt, ich solle auf Gott vertrauen. Aber ich muss immerzu denken, dass das alles schön und gut ist für eine Nonne, die sich Gebeten und vollkommener Abstinenz hingegeben hat. Aber es ist nicht so leicht für jemanden, der gesehen hat, wie das Leben der eigenen Mutter verging.“

„Was Eurer Mutter geschehen ist, muss Euch nicht auch geschehen.“

„Das weiß ich“, sagte Isobel, den Blick auf die blaue Seide in ihren Händen gesenkt, ohne wirklich etwas zu sehen. „Aber …“

„Eure Angst wird sich legen.“

Isobel nickte knapp.

Nach einigen weiteren Stichen sah Elise erneut auf.

„Es gibt Wege, die Empfängnis zu verhindern, Madame.“

Das ließ Isobel hellhörig werden. „Mir scheint, du kennst sie. Bitte, fahr fort …“

„Einige Methoden sind besser als andere. Madame, wenn Ihr Erkundigungen einholen wollt, sollte ein örtlicher Apotheker behilflich sein. Wenn Ihr vermählt seid, könnt Ihr einen suchen und …“ Leise Schritte unterbrachen sie, da zwei Nonnen sich näherten. „Später, das erzähle ich Euch später.“

Isobel neigte sich zu ihr und flüsterte: „Weißt du, wo es in Troyes eine Apotheke gibt?“

Elise nickte.

„Du musst sie mir so bald wie möglich zeigen. Heute Nachmittag?“

„Was ist mit der Äbtissin?“

Stirnrunzelnd sah Isobel zu den Nonnen, die den Weg zwischen den Säulen hindurch wählten.

„Ich habe genug davon, eingesperrt zu sein. Außerdem muss ich noch etwas anderes erledigen.“

„Ach?“ Elise strich den blauen Stoff auf ihren Knien glatt und fuhr unbeirrt mit ihrer Stickerei fort.

„Ich interessiere mich für das Turnier auf dem Vogelfeld und muss herausfinden, wie ich dorthingelange.“ Aus Angst, Elise würde ihr die Begleitung verweigern, verschwieg sie, dass Lucien ihr eigentlich untersagt hatte, dorthinzugehen. Auch über die gestohlene Reliquie und ihren Wunsch, sie zu finden und zurück nach Conques zu bringen, verlor sie kein Wort. Nicht, solange es nicht zwingend notwendig wäre.

„Das Vogelfeld?“, meinte Elise nachdenklich. „Ihr könntet Comte Lucien fragen, sein Wappen …“

„Ist ein Rabe, ich weiß. Ich habe vergessen, ihn zu fragen.“ Isobel beugte sich über ihre Stickerei, beschämt, wie leicht ihr diese Lüge über die Lippen gekommen war. „Elise, wusstest du, dass Comte Lucien ein berühmter Turnierkämpfer ist?“

„Davon habe ich gehört.“

Isobel seufzte sehnsüchtig.

„Ich war noch nie bei einem Turnier.“

„Comte Henri richtet am Dreikönigsabend einen Tjost aus.“

Isobel schüttelte den Kopf.

„Mir wurde versichert, das wird eine sehr langweilige Angelegenheit. Die Kämpfe auf dem Vogelfeld sollen viel anspruchsvoller sein. Viel aufregender. Das möchte ich sehen.“

„Ihr wollt Comte Lucien sehen. Madame, wenn ich Euch einen Rat geben darf, dann wartet bis zum Dreikönigsabend. Es ist nicht umsonst so, dass der König von Frankreich diese Art der Kämpfe missbilligt.“

„Wie schade, dass du den Weg zum Vogelfeld nicht kennst. Aber das macht nichts, ich weiß, wo ich fragen muss.“

„Wieso überrascht mich das nicht?“, murmelte Elise seufzend und warf Isobel einen langen Blick zu.

Die Nonnen hatten sich inzwischen direkt gegenüber von ihnen auf einer Steinbank niedergelassen, und eine von ihnen holte ein Gebetbuch aus ihrem Ärmel. Für Isobels Geschmack wirkten die beiden viel zu behaglich.

„Beobachten die uns?“, fragte sie ganz leise.

Elise lächelte flüchtig.

„Ich bin nicht sicher, aber es scheint fast so.“

„Solange sie da sitzen, werden wir hier nicht fort können. Aber später wirst du mir die Apotheke zeigen, ja?“

„Wenn Ihr das wünscht.“

„Ich danke dir. Dann kann ich auch in Erfahrung bringen, wie ich zum Vogelfeld komme.“ Stirnrunzelnd schaute sie zu den Nonnen. „Wir warten bis zum Nachmittag, wenn die Nonnen bei ihrem Offizium sind. Solange wir nur zurück sind, wenn sich alle zum Nachtmahl einfinden, wird uns niemand vermissen.“

„Das war leicht“, meinte Isobel und warf sich den Umhang um die Schultern, nachdem Elise und sie durch das Tor nach draußen geschlüpft waren.

„Es mag nicht ganz so leicht werden, wieder hineinzugelangen“, merkte Elise an, während sie das Tor hinter sich zuzog.

„Darum können wir uns später sorgen“, sagte Isobel. Sie fürchtete schon, Elise könne die Nerven verlieren und würde sie doch nicht weiter begleiten wollen, war aber fest entschlossen, das zu verhindern, ehe sie nicht den ‚Schwarzen Keiler‘ erreicht hatten. „Erst finde ich heraus, wie ich zum Vogelfeld komme, dann kannst du mir die Apotheke zeigen.“

Während sie die schmalen Gassen entlang auf den Marktplatz zusteuerten, zankten sie halbherzig miteinander. Isobel hatte nicht groß etwas dazu äußern müssen, auch so hatte Elise schon vermutet, dass der Comte nicht sehr angetan wäre, wenn Isobel zum Turnier auf dem Vogelfeld ginge.

„Ich weiß wirklich nicht, weshalb ich zugestimmt habe, Euch zu begleiten“, sagte Elise. „Dem Comte wird das gar nicht gefallen.“

„Du tust das, weil du meine Freundin geworden bist“, erwiderte Isobel. „Und weil ich deine Hilfe brauche.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob Ihr überhaupt jemandes Hilfe benötigt. Ihr würdet das gewiss auch ohne mich schaffen. Wie auch immer, Ihr solltet nicht alleine hier draußen herumspazieren.“ Elise schüttelte den Kopf. „Madame, Ihr müsst mehr auf Euch achtgeben. Die Unschuld wird nicht für immer Euer Schutzschild sein.“

„Wie meinst du das?“

„Ich meine nur, dass Ihr Comte Lucien wegen des Vogelfeldes fragen solltet. Er wird es ebenso wenig billigen, dass Ihr durch die Stadt streunt, wie es die Äbtissin gebilligt hat, als Ihr nach Ravenshold geritten seid.“

Isobel wappnete sich gegen jegliche Argumente. Und sie weigerte sich zuzugeben, dass der Comte ihr längst untersagt hatte, zu dem Turnier zu gehen. Es mochte seltsam anmuten, aber je mehr Elise ihr einreden wollte, wie ungehörig es für eine Dame war, ohne die Erlaubnis ihres Gebieters zu solch einer Veranstaltung zu gehen, desto dringender wollte sie hin. Und nicht nur, um nach dem Dieb Ausschau zu halten. Luciens Heldenmut auf dem Kampfplatz war legendär. Sie verzehrte sich danach, ihn im Turnier zu sehen.

Je weiter sie das Kloster hinter sich ließen, umso besser wurde ihre Laune. Troyes füllte sich rasch mit Menschen, die Einwohnerzahl schien sich über Nacht verdreifacht zu haben. Händler aus sämtlichen Gegenden kamen, sie sah Männer in exotischen Tuniken, in deren Stoffe die kompliziertesten Muster gewebt waren, die, wie Isobel wusste, aus Byzanz und von noch weiter weg stammten. Von Kopf bis Fuß in Seide gehüllte Mädchen blickten sie aus schwarzen, mandelförmigen Augen an, dunkelhäutige Soldaten marschierten neben vollbeladenen Packtieren. Maultiere schrien. Horden von Menschen liefen hierhin und dorthin und plapperten in fremdartigen Sprachen wie die Spatzen wild durcheinander.

Inmitten der Menschenmasse ließ Isobel sich einfach vom Strom treiben, bis sie das Schild ‚Zum Schwarzen Keiler‘ über ihrem Kopf baumeln sah. Die Tür des Schankhauses war, wie auch am Vortag, geschlossen, ebenso die Klappläden. Schwarzer Rauch stieg aus einem kleinen Schornstein auf dem Dachfirst empor. Plötzlich flog die Tür auf, und ein junger Bursche torkelte wild lachend auf die Straße.

„Da ist es!“, rief Isobel erfreut auf. Sie hatte befürchtet, den Weg nicht wiederzufinden. Elise war bedenklich still geworden. „Elise, stimmt etwas nicht?“

„Madame, Ihr … Ihr gedenkt hoffentlich nicht, dort hineinzugehen?“

Elises Augen weiteten sich erschrocken. Sie war entsetzt. In Isobel breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Von außen sah der ‚Schwarze Keiler‘ wie viele andere Schenken am Straßenrand aus. Ein wenig armselig. Der Putz fiel vom unteren Teil des Gemäuers, und ein neuer Anstrich hätte nicht geschadet, aber es war, von der geschlossenen Tür einmal abgesehen, nicht erkennbar, dass Männer hier für mehr zahlen konnten als nur für Speisen und Unterkunft …

Elise kennt den ‚Schwarzen Keiler‘.

„Du kennst diesen Ort“, sagte Isobel ruhig.

Elise griff nach ihrer Hand.

„Ich weiß, dass es kein Ort für die zukünftige Comtesse d’Aveyron ist. Madame, geht nicht hinein. Es wäre besser, wenn wir die Apotheke fänden.“

Lucien ritt in Begleitung seines Knappen Joris zur Abtei. Comte Henris Verwalter hatte ihm ausgerichtet, dass in Kürze ein Schlafgemach mit Blick auf den Kanal frei werden würde. Zwar würde es nicht vor dem nächsten Tag bereit sein, aber da der Palast wegen des Wintermarktes bald aus allen Nähten platzte, konnte sich Lucien glücklich schätzen, für seine Verlobte überhaupt eine anständige Räumlichkeit bekommen zu haben. Und aufgrund der Unpässlichkeit seitens einer Cousine der Comtesse war sogar ein kleines Solar verfügbar.

Isobel wird erfreut sein.

Die Pferde trotteten gelassen zwischen Händlern mit Karren und Handwagen und Hausfrauen mit Körben am Arm den Weg entlang.

Lucien konnte es kaum erwarten, Isobel von dem Zimmer zu berichten. Er wollte sehen, wie diese grünen Augen vor Freude leuchteten. So viel Zuneigung sie den Nonnen im Süden auch entgegenbringen mag, sie hat wahrlich genug vom Klosterleben. Verübeln konnte er ihr das nicht.

Er hatte die Abtei schon fast erreicht, als er die beiden erblickte. Isobel und Elise – das schüchterne Mädchen, das er in der Abtei kennengelernt hatte – schlichen sich eben durch das Tor hinaus. Er zügelte sein Pferd und beobachtete, wie sie ihre Kapuzen aufsetzten und ins Gedränge huschten. Was haben sie vor?

Er wartete noch, bis sie das Ende der Straße erreichten, ehe er Demon seine Fersen in die Flanken stieß. Er musste sich ein Grinsen verkneifen und rief sich ins Gedächtnis, dass man Frauen nicht trauen durfte. Wenn er auch sonst nichts von Morwenna gelernt hatte, das schon. Frauen sind einfach unzuverlässig.

„Wer sind die beiden, Sieur?“, fragte Joris.

„Die rechte ist meine Verlobte, Madame Isobel de Turenne. Die andere ist ihre Freundin, Elise.“

Da sie als Reiter doch eher auffällig waren, stieg Lucien ab und bedeutete Joris, es ihm gleichzutun.

„Wir verfolgen sie, Sieur? Weshalb ruft Ihr ihnen nicht zu?“

Lucien schüttelte den Kopf.

„Dann finde ich nicht heraus, was sie vorhat.“

„Weshalb fragt Ihr sie nicht, Sieur?“

Lucien warf ihm einen mitleidigen Blick zu und ging weiter. Joris musste noch viel lernen.

Schon bald wurde ihm klar, wohin sie wollte. Es war nur schwer vorstellbar, dass ein vornehm erzogenes Mädchen wie Madame Isobel de Turenne bewusst an einen Ort wie den ‚Schwarzen Keiler‘ zurückkehrte, aber er könnte schwören, dass sie genau in diese Richtung unterwegs waren. Er hatte versucht, sie abzuschrecken, aber das kümmerte sie gar nicht.

„Stur“, murrte er, als die Schenke in einiger Entfernung vor ihnen in Sicht kam. Wie er es vorhergesehen hatte, standen Isobel und Elise direkt davor. „Dieses eigensinnige Frauenzimmer.“ Isobels Hartnäckigkeit erheiterte und faszinierte ihn überraschenderweise mehr, als dass sie ihn ärgerte. Was hat sie nur vor?

Isobel und Elise diskutierten irgendetwas. Er konnte die Worte nicht hören, doch es war nicht schwer zu erahnen, worum es ging. Elise wollte nicht in das Schankhaus. Sie hatte offenbar genug Verstand.

„Und das ist auch gut so“, murmelte er.

„Sieur?“

„Schon gut.“ Lucien reichte Joris die Zügel seines Pferdes. „Warte hier“, sagte er, eilte seiner eigensinnigen Verloben hinterher und erreichte die Schenke, kurz nachdem die zwei Frauen hineingegangen waren. Elise mochte Verstand haben, aber Isobel …

Im Gastraum wurde es still, als er eintrat. Der Mief war noch schlimmer als am Vortag. Der Rauch brannte in seinen Augen und kratzte ihm im Hals. Gott, was für eine Kaschemme. Überall roch es nach gekochtem Kohl und Knoblauch.

Isobel – seine zukünftige Comtesse mit ihrer nur widerwillig folgenden Gefährtin im Schlepptau – marschierte selbstbewusst zum Schanktisch. Elise hatte vernünftigerweise ihren Schleier vors Gesicht gezogen und sah aus wie eines der arabischen Mädchen. Isobel nicht. Sie schlug die Kapuze ihres Umhangs zurück und erlaubte jedem, der mochte, freien Blick auf ihr offenes, unschuldiges Gesicht.

Zweifellos glaubte sie, ihr könne nichts geschehen, weil sie schließlich nichts Böses getan hatte. Lucien lehnte sich gegen einen Holzpfeiler, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete ab. Isobel musste lernen, dass klösterliche Unschuld einen nicht beschützte. Nicht hier drin. Seine Zukünftige brauchte eine harte Lektion. Die Mädchen hier würden die zwei bloß als frische, hübsche Rivalinnen betrachten, schließlich zogen sie alle Blicke auf sich. Gott sei Dank habe ich sie entdeckt. Sie werden sich noch Rettung wünschen. Er freute sich fast schon darauf.

Isobel sprach mit dem Schankknecht – Lucien sah Silber aufblitzen, als sie ihm etwas in die Hand drückte. Langsam dämmerte ihm, was sie tat. Durch die Rauchschwaden sah Lucien, wie sich ihre Lippen bewegten, doch in dem Stimmengewirr des Gastraumes gingen ihre Worte unter.

Aber Lucien musste gar nicht hören, was sie sagte, um zu begreifen, dass sie sich nach dem bevorstehenden Turnier erkundigte. Ich sagte ihr, sie solle nicht hingehen. Ich war um ihre Sicherheit besorgt, und doch ist sie hier und spottet meiner Autorität. Von Augenblick zu Augenblick kam mehr und mehr von Isobels Charakter zum Vorschein. Sie war stur, sie war töricht, und allem voran war sie ungehorsam. Die Konsequenzen seiner übereilten ersten Ehe hatten Lucien die Bedeutung von Disziplin klargemacht. Von Gehorsam. Sein Vater hatte ihm nie vergeben, dass er, indem er Morwenna ehelichte, Isobels Ehre beschmutzt hatte. Seither hatte er alles daran gesetzt, seine jugendliche Unzulänglichkeit wiedergutzumachen. Und er bemühte sich, stets ehrenvoll zu handeln.

Er bereute zutiefst, seinem Vater nicht mehr zeigen zu können, dass er sein Versprechen an Isobel schlussendlich nun doch erfüllen würde. Er seufzte. Es war eine Schande, dass die Braut, die sein Vater ausgewählt hatte, soviel Eigensinn zeigte. Lucien hatte geglaubt, eine Dame, noch dazu mit einer klösterlichen Erziehung, wäre über jeden Tadel erhaben. Und da war sie, im örtlichen Bordell bei dem Versuch, einen Schankknecht zu bestechen.

Irgendwo in der dunklen Ecke rechts neben dem Schanktisch ließ eine vollbusige, rothaarige Frau plötzlich eine Schimpftirade los. Ihre Stimme klang rau, und die Worte waren nicht gerade für die Ohren einer edlen Dame geeignet. Isobel wandte sich ihr zu, als die Frau eben aus dem Schatten hervortrat.

Wenn er wollte, dass seine zweite Ehe besser wurde als die erste, musste er alles daransetzen, dass Isobel seine Autorität anerkannte. In der Ehe ging es um nichts anderes. Bei Morwenna hatte er den Fehler gemacht, zu lange zu warten, bis er klargestellt hatte, wer der Herr im Hause war, und als ihm das bewusst geworden war, hatte sich schon die Gewohnheit eingeschlichen und Morwenna war schon zu verstockt, als dass sie sich noch hätte ändern können. Gut, er war noch ein Grünschnabel gewesen – und Morwenna fünf Jahre älter als er –, als sie geheiratet hatten, aber nichtsdestoweniger hatte er einen großen Fehler gemacht, den er kein zweites Mal begehen würde.

Mit Isobel würde ihm das gewiss nicht noch einmal passieren.

Lucien setzte sich langsam in Bewegung, als die rothaarige Frau Isobel streitlustig ansah. Ihr üppiger Busen hob und senkte sich unter ihren wütenden Atemzügen.

„Wer zur Hölle seid ihr?“, fragte sie mit einer Stimme, scharf wie eine Säge.

Isobel war eine solche Unschuld, dass sie die Frau tatsächlich bloß anlächelte.

„Sprecht Ihr mit mir, Madame?“

Die Rothaarige stemmte die Fäuste in die Hüften.

„Wenn ihr zwei nach Arbeit sucht, verschwendet ihr hier eure Zeit. Wir haben genug Mädchen. Gute Mädchen, die ihr Handwerk verstehen. Du siehst nicht aus, als würdest du dich auskennen mit ….“

Sich laut räuspernd trat Lucien ins flackernde Kerzenlicht.

„Meine Damen, wenn ich unterbrechen darf?“

Erschrocken fuhr Isobel herum. Elise wurde ganz blass und ging hinter dem Schankknecht in Deckung.

„Habt Ihr unsere Verabredung vergessen?“ Er griff in seine Tasche und zog ein paar Münzen hervor, die er in Richtung der Rothaarigen warf, dann bot er Isobel seinen Arm. Isobel reckte stolz das Kinn, nahm seinen Arm aber dennoch an, während die Rothaarige noch auf dem Boden herumkroch und die Münzen einsammelte.

Elise senkte beschämt den Kopf. Isobel dagegen wartete kaum ab, bis sie die Türschwelle überquert hatten, da zog sie schon ihre Hand von Luciens Arm.

„Ihr habt uns verfolgt?“ Ihre Augen schienen grüne Funken zu sprühen. „Dazu habt Ihr kein Recht.“

Das war also der Dank. Er presste die Lippen zusammen. Hatte sie nicht bemerkt, dass die Rothaarige kurz davor gewesen war, sie in Stücke zu reißen?

„Ihr seid meine Verlobte – das gibt mir Recht genug. Insbesondere, da Ihr gegen meinen ausdrücklichen Wunsch hier seid.“

Isobel stemmte die Hände in die Hüften, ziemlich genau so wie die Rothaarige zuvor.

„Ihr habt nicht gesagt, dass ich diesen Ort meiden soll.“ Dann senkte sie den Blick ein wenig. „Zumindest nicht ausdrücklich.“

Er fasste sie beim Kinn, sodass sie ihn ansehen musste.

„Das mag soweit stimmen, aber Ihr konntet unmöglich daran zweifeln, dass es gegen meinen Wunsch verstoßen würde, hierher zurückzukehren. Erst recht ohne männliche Eskorte! Und was Eure Nachforschung bezüglich des Turniers anbelangt – das ist grober Ungehorsam.“ Er seufzte. „Habt Ihr zufällig irgendetwas erfahren?“

Er sah in ihre feurigen grünen Augen; ihre kirschroten Lippen waren fest zusammengepresst. Madame Isobel de Turenne war unglaublich schön, wenn sie wütend war, und in Lucien stieg der unbändige Wunsch auf, sie zu küssen.

Sich bewusst, dass Joris und Elise sie aufmerksam beobachteten, ließ er ihr Kinn los und reichte ihr wieder seinen Arm.

„Kommt, Madame, wir können nicht mitten auf der Straße streiten.“

Einen Moment sah sie ihn noch mit blitzenden Augen an, dann legte sie wieder ihre Hand in seine Armbeuge.

Enttäuscht stellte er fest, dass Isobel offenbar eine ebenso unbequeme Gemahlin werden würde, wie es schon Morwenna gewesen war. Wo war nur die demütige, gehorsame Frau, auf die er gehofft hatte? Er war nach Troyes gekommen, um ihr eine Freude zu machen, und jetzt standen sie hier und stritten sich.

Aber noch ist es zu früh, um über sie zu urteilen.

„Ich habe auf eine friedliche Ehe gehofft“, sagte er. „Mache ich mir falsche Hoffnungen?“

Ihre Mundwinkel zuckten, und ihre Miene erhellte sich. Mon Dieu, sie sah aus, als würde sie gleich in Gelächter ausbrechen. Das beschwichtigte ihn wieder etwas. Morwenna hatte kaum je gelacht. Hatte da das Problem gelegen? Morwenna hatte immer alles so ernst genommen …

„Falsche Hoffnungen? Ich hoffe nicht.“ Sie sah ihn von der Seite an. „Ihr seid doch kein Tyrann, oder, Sieur?“ Dann warf sie Joris einen abschätzenden Blick zu. „Seid Ihr Comte d’Aveyrons Knappe?“

„Ja, Madame.“

„Das ist Joris de Caen“, begann Lucien mit einer etwas verspäteten Vorstellung. „Joris, das ist meine Verlobte, Isobel de Turenne, und das ist Elise de …“

„Einfach nur Elise“, murmelte das Mädchen.

Joris errötete unter Isobels strahlendem Lächeln.

„Nun, Joris? Ist Euer Herr ein Tyrann?“

„Nein, Madame, gewiss nicht, Comte Lucien ist der rücksichtsvollste …“

Lucien gab seinem Knappen einen Klaps auf den Arm.

„Genug, Joris. Ich gebe dir den versprochenen Penny später.“

„Sieur?“

Isobels helles Lachen schallte über den ganzen Platz. Lucien musste lächeln. Lachen war schon einmal ein gutes Zeichen. Solange seine Verlobte ihren Eigensinn im Zaum hielt, bestand vielleicht doch noch Hoffnung für seine zweite Ehe.

„Wünscht Ihr zurück zur Abtei zu gehen, Madame?“

„Müssen wir? Wir wollten …“, sie biss sich flüchtig auf die Unterlippe, „… noch etwas essen.“

„Bekommt Ihr im Kloster nichts?“ Er war sich sicher, dass sie eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen, aber nachdem er sie im ‚Schwarzen Keiler‘ gefunden hatte, konnte er sich nicht vorstellen, dass ihre sonstigen Angelegenheiten ihm Sorgen bereiten müssten.

„Es ist Freitag, Sieur.“ Sie schlug ihre dichten Wimpern nieder. „Ich habe schon den ganzen Tag sündige Gedanken.“

Ganz bestimmt waren ihre Worte vollkommen unschuldig gewählt, und dennoch zwangen sie ihn förmlich, seinen Blick auf ihre Lippen zu senken. Dann auf ihre Brüste. Hitze flammte in seinen Adern auf.

„Ach ja?“

„Ich habe ein großes Verlangen nach rotem Fleisch.“

„Dann weiß ich, wohin wir gehen müssen“, hörte er sich selbst sagen.

Autor

Carol Townend
<p>Carol Townend schreibt packende Romances, die im mittelalterlichen England und Europa spielen. Sie hat Geschichte an der Universität London studiert und liebt Recherchereisen nach Frankreich, Griechenland, Italien und in die Türkei – historische Stätten inspirieren sie. Ihr größter Traum ist, den Grundriss einer mittelalterlichen Stadt zu entdecken, die einzelnen Orte...
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