Julia Ärzte Spezial Band 18

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VON GANZEM HERZEN STEPHANIE von MEREDITH WEBBER

Bei der Besichtigung einer Notfallklinik trifft Dr. Harry Pritchard seine Jugendliebe Dr. Stephanie Prince wieder. Obwohl die Anziehung zwischen ihnen groß ist, gibt sich Stephanie zurückhaltend. Sie hat ihm nie verziehen, dass er jahrelang ein Geheimnis vor ihr hatte. Wird es ihm gelingen, ihr Vertrauen zurückzugewinnen?


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  • Erscheinungstag 13.04.2024
  • Bandnummer 18
  • ISBN / Artikelnummer 8203240018
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Meredith Webber, Jennifer Taylor, Maggie Kingsley

JULIA ÄRZTE SPEZIAL BAND 18

1. KAPITEL

Mit einem Schirm bewaffnet, der ihn nicht gegen die gewaltigen Regenmassen schützte, die vom Himmel fielen, bahnte Harry sich seinen Weg durch Matsch und Schotter zum Eingang des neuen Krankenhausgebäudes.

Nachdem sich die breiten Glastüren lautlos geöffnet hatten, betrat er das Foyer. Vorsichtig lief er auf den Fußmatten, die über einer dicken Plastikplane zum Schutz des neuen Teppichs lagen. Zahlreiche Wegweiser führten in die verschiedensten Richtungen, aber Harry wusste bereits, wohin er sich wenden musste. Zielstrebig hielt er sich links, bis er zu einer Tür mit der Aufschrift „Hauptverwaltung“ gelangte.

Der Mann, der ihn hereinbat, war nicht der Leiter dieser Abteilung, sondern er besaß die ganze Macht über das Krankenhaus – Bob Quayle hatte es bauen lassen, und es gehörte ihm.

„Harry! Schön, dich zu sehen, mein Junge!“

Bob, ein silberhaariger eleganter Mann mit gewandten Umgangsformen, erhob sich hinter seinem Schreibtisch, ging seinem Gast entgegen und streckte die Hände zur Begrüßung aus.

„Endlich bist du in das großartigste Land der Welt zurückgekehrt. Es machen schon Gerüchte die Runde, dass du bald der begehrteste plastische Chirurg in Queensland sein wirst.“

„Ich möchte bloß wissen, wo du das gehört hast, Bob“, tat Harry das Lob schnell ab. „Es braucht Zeit, bis eine Praxis gut läuft. Zuerst muss ich einmal die Allgemeinmediziner in dieser Gegend kennen lernen und ihr Vertrauen gewinnen, damit sie mir später die Patienten überweisen. Außerdem sollte ich so viel wie möglich im Krankenhaus tätig sein, damit mein Name in der lokalen Fachwelt auch bekannt wird.“

„Das ist selbstverständlich. Aber wenn die Leute erst einmal Bescheid wissen, hast du das Privileg, in der modernsten und neuesten Privatklinik in der gesamten südöstlichen Region zu praktizieren. Du wirst dich vor Überweisungen kaum retten können“, versicherte Bob ihm. „Summerland ist inzwischen nicht mehr nur ein Urlaubsort wie früher, sondern auch eine der am raschesten wachsenden Städte in Queensland. Und die reichen Leute, die sich in den gesicherten und geschützten Wohnsiedlungen am Meer niederlassen, sind dein potenzieller Kundenstamm.“

Harry wollte Bob wieder einmal erklären, dass die kosmetische Chirurgie nur einen ganz kleinen Teil seiner Arbeit einnahm. Aber weil er von vornherein wusste, dass er ihm nicht zuhören würde, behielt er seinen Einwand für sich.

„Wie du ja vorhin sicher bemerkt hast, hat uns der Regen ein paar Wochen zurückgeworfen“, fuhr Bob fort. „Es wird bestimmt noch einen Monat dauern, bevor in den neuen Fachabteilungen mit der Arbeit begonnen und dann noch ein paar Wochen, ehe der Krankenhausbetrieb ganz aufgenommen werden kann.“

Harry war über diese Nachricht nicht sonderlich überrascht, sondern er wurde nur in seiner Vermutung bestätigt, dass Bob aus diesem Grunde mit ihm sprechen wollte.

„Ich hatte mir schon so etwas gedacht, aber das ist kein Problem“, versicherte er Bob. „Ich bin ja auch erst vor ein paar Tagen zurückgekehrt und muss mir daher noch eine Wohnung suchen und sie auch einrichten. Die Verzögerung kommt mir deshalb sehr gelegen.“

„Nun, vielleicht kann ich dir ja mit der Unterkunft helfen“, sagte Bob entgegenkommend. „Ich habe einige Apartments, die ich für Freunde und Verwandte bereithalte. Sie sind natürlich alle möbliert. Warum ziehst du nicht in eins davon ein, sagen wir für drei Monate? Dann hast du Zeit genug, dich hier in der Gegend ein bisschen umzusehen und in Ruhe zu entscheiden, wo du letztendlich wohnen möchtest.“

Harry versuchte in dem Gesicht seines Gönners zu lesen. Obwohl er den Geschäftsmann Bob Quayle nicht sonderlich gut kannte, sagte ihm sein Gefühl, dass dieser Mann nichts umsonst tat.

Andererseits hatte dieses Angebot auch Vorteile – es ersparte ihm eine Menge Zeit, um nach einer Wohnung und Möbeln zu suchen. Und im Moment konnte er beim besten Willen nicht den Haken an der Sache erkennen.

„Das hört sich gut an. Ich bezahle natürlich die Miete“, sagte er, aber Bob wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite.

„Unsinn! Für mich gehörst du zur Familie – das weißt du doch!“ sagte er barsch.

Wirklich? fragte Harry sich, während er an Bobs richtige Familie denken musste – seinen Sohn Martin, der einer seiner beiden besten Freunde an der Universität gewesen war. Er, Martin und Steph waren seit den ersten Tagen ihres Studiums unzertrennlich gewesen. Im Hörsaal hatten sie sich damals nur flüchtig kennen gelernt, aber anschließend trafen sie in derselben Studiengruppe wieder aufeinander …

„Du könntest mir allerdings einen Gefallen tun.“ Abwartend fixierte Bob Harrys Gesichtsausdruck. „Eine Hand wäscht die andere, wie man so schön sagt. Es geht mir allerdings nicht um das Appartement, das sich übrigens im zwölften Stock der Dolphin Towers befindet“, fuhr Bob fort. „Es ist eines der ersten Gebäude, die ich in Summerland gebaut habe, und liegt an der Hauptstraße, direkt im Touristenzentrum. Auf den ersten drei Stockwerken gibt es viele Geschäfte und Büros und im Erdgeschoss eine Klinik, die vierundzwanzig Stunden geöffnet ist.“

Jetzt kam Bob Quayle zur Sache. „Und um diese Klinik geht es. Das Krankenhaus geriet in letzter Zeit ein wenig in finanzielle Schwierigkeiten, also habe ich letztendlich den Eigentümer ausgezahlt und die Klinik aufgekauft. Meine Buchprüfer versichern mir zwar, dass das Unternehmen rentabel arbeitet, aber obwohl sie mit der allgemeinen Krankenhausarbeit inzwischen vertraut sind, haben sie keine Ahnung, wie die einzelnen ärztlichen Abteilungen geführt werden müssen. Also dachte ich mir, da du ja sowieso im Laufe des nächsten Monats noch keine eigenen Praxisräume hast, ob du dich nicht in der Klinik ein wenig für mich umsehen könntest. Einfach ein paar Tage dort verbringen, um dir ein eigenes Bild zu machen und dich erkundigen, wie es läuft– schau dir die Dienstpläne des Personals und die Anzahl der Patienten pro Tag an – solche Dinge eben. Ich würde dir diese Arbeit natürlich extra bezahlen, unabhängig vom Apartment.“

Aha! Daher weht also der Wind, dachte Harry unwillkürlich. Hatte er doch richtig getippt – Bob Quayle verschenkte nichts. Aber natürlich sah er auch die Vorteile. Mit einer möblierten Wohnung hätte er tatsächlich etwas Zeit und könnte sich in Ruhe in diesem kleinen Ferienort einleben.

„Ich helfe natürlich gerne aus, Bob“, versicherte er, „es ist allerdings schon Jahre her, dass ich in der Allgemeinmedizin gearbeitet habe und …“

„Aber ich verlange doch nicht, dass du praktizieren sollst“, unterbrach Bob ihn sofort. „Du sollst einfach nur prüfen, wie die Klinik läuft. Es gibt dort eine Büroleiterin, die nur stundenweise arbeitet, und deren Schreibtisch du mit benutzen kannst. Du bist ein cleverer Bursche, das kannst du nicht abstreiten. Nachdem du deinen Abschluss gemacht hast, hast du auch in Bereitschaftskliniken gearbeitet, um Geld für deine Tour nach Übersee zu sparen. Du würdest sofort merken, wenn etwas falsch läuft. Diskret natürlich. Offiziell ist noch nicht bekannt, dass ich der neue Besitzer bin, und ich möchte auch, dass es so bleibt. Niemand vom Personal soll davon erfahren.“

Obwohl Harry tief im Inneren ein unangenehmes Gefühl hatte und argwöhnisch wurde – vielleicht weil Martin oft von den undurchsichtigen Methoden seines Vaters gesprochen hatte – wollte er Bob den Wunsch nicht abschlagen.

„Ich werde mich umschauen“, sagte er, „obwohl ich natürlich nicht versprechen kann, dass ich etwas finde. Hast du denn schon eine Vorstellung, wie es mit dieser Klinik weitergehen soll? Willst du darin Arztpraxen einrichten, quasi als Zweigniederlassung parallel zu den privaten Krankenhäusern?“

Bob schüttelte den Kopf. „Um ehrlich zu sein geht es hier um ein Problem, das mir etwas unangenehm ist. Aber wegen der Verträge ist es in diesen Tagen schwierig, Personal zu entlassen. Nur wenn ich beweisen kann, dass der Betrieb nicht rentabel ist, habe ich einen Grund, ihn zu schließen.“

Harry nickte zustimmend. Das hörte sich schon eher nach dem gerissenen, habgierigen Geschäftsmann an, der Bob vermutlich war. Wahrscheinlich plante er schon ein anderes Projekt, das ihm mehr Geld einbrachte.

Sie unterhielten sich noch eine Weile – über die Vergangenheit, Harrys Freundschaft mit Martin und über Doreen, Bobs Frau, die seit dem Tode ihres Sohnes Martin ständig kränkelte. Abschließend gab Bob ihm die Telefonnummer der Büroleiterin des Geschäftsführers, der Harry das Apartment und die Klinik zeigen sollte und ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen würde.

Als Harry durch den Matsch vor dem Krankenhaus watete und über das Gespräch nachdachte, fiel ihm auf, dass Bob zwei Menschen die ganze Zeit nicht erwähnt hatte – Steph und ihre Tochter Fanny.

Martins Tochter Fanny.

Nachdem Stephanie Prince ihre Tochter zu Bett gebracht hatte, beugte sie sich zu ihr hinunter, um ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn zu drücken.

„Bitte erzähle mir doch noch einmal die Geschichte von Daddy, als er vom Pferd gefallen ist, während ihr auf Onkel Harrys Farm wart“, bat Fanny.

Zärtlich lächelte Steph das kleine Mädchen an und streichelte ihr sanft über die Wange. Hatte Fanny deshalb mehr Interesse an Geschichten über ihren Vater mit seinen vermeintlichen Heldentaten als an Märchen, weil sie ihn nie kennen gelernt hatte?

„Es geschah vor langer, langer Zeit“, begann sie, „kurz nachdem Daddy, Onkel Harry und ich uns zum ersten Mal getroffen hatten.“

So oft schon musste sie diese Geschichte erzählen, dass die Worte ihr automatisch aus dem Mund kamen, während in ihrem Kopf die Erinnerung an diese Tage wieder lebendig wurden. Sie, Harry und Martin waren auf Grund der Anfangsbuchstaben ihrer Nachnamen, Prince, Pritchard und Quayle, aufeinander getroffen. Und allen Widrigkeiten zum Trotz – Martin, der verzogene Liebling reicher Eltern, sie selbst, die aus ärmlichen Verhältnissen stammte, und Harry, der sich immer darüber beschwerte, von so weit aus dem Westen zu kommen, wo es überhaupt keine Verhältnisse gab – waren sie Freunde geworden und seitdem unzertrennlich geblieben.

In den darauf folgenden Jahren kam es immer mal wieder zu Trennungen, wenn sie beispielsweise an verschiedenen Krankenhäusern praktizieren mussten. Doch die Bindung war stets eng geblieben.

Bis …

Schnell schüttelte sie die Schatten der Vergangenheit ab und konzentrierte sich wieder auf die Geschichte.

„Daddy hatte immer behauptet, ein toller Reiter zu sein, und jetzt saß er also auf dem Pferd, als Onkel Harry seinem Hund mit den Fingern zuschnippte. Der Hund, der sich direkt hinter den Hufen des Pferdes befand, fing an zu bellen. Das Pferd war so erschrocken, dass es sich hoch aufrichtete, und Daddy ließ vor lauter Angst die Zügel los, rutschte aus dem Sattel über das Hinterteil und den Schweif des Pferdes und plumps – landete er auf seinem Po hinter dem Pferd.“

Fanny, die mit ihren vier Jahren den Ausdruck Po unheimlich lustig fand, schüttelte sich vor Lachen. Steph, die das Leben in letzter Zeit gar nicht so lustig gefunden hatte, schwoll das Herz vor überschäumender Liebe für ihre kleine Tochter.

„Jetzt wird aber geschlafen, Fannylein“, sagte sie zärtlich, und strich der Kleinen die blonden Locken aus der Stirn. „Bis morgen früh, meine Süße.“

Fanny schlang noch einmal ihre kleinen Ärmchen um den Hals ihrer Mutter, umklammerte den ausgefransten Teddybären, der im Moment ihr Lieblingskuscheltier zum Einschlafen war, drehte sich um und machte die Augen zu.

Sie fühlt sich geborgen, beruhigte sich Steph, als sie die Tür schloss. Sonst würde sie nicht so fröhlich und zufrieden einschlafen.

Aber in der letzten Zeit plagten sie Schuldgefühle. Auch wenn es ihrem Kind noch so gut ging, dachte sie daran, dass sie in einer Stunde zur Arbeit gehen musste.

„Du hörst sie doch ganz bestimmt, wenn sie aufwacht, oder?“ fragte sie das junge Mädchen, das im Wohnzimmer in einem Buch las.

Tracy schaute auf und lächelte.

„Weißt du eigentlich, dass du mich das jeden Abend fragst?“ zog sie Steph auf. „Und jeden Abend sage ich dir, dass ich sie natürlich höre. Vor ungefähr einer Woche verlor sie Adeline – du weißt schon, diese unglaublich hässliche Puppe, die sie von ihren Großeltern bekam – aus ihren Armen, und sie brüllte in heller Aufregung nach mir. Ich fand die Puppe und legte sie neben sie. Danach ist sie sofort wieder eingeschlafen.“

Steph nickte. Sie wusste, dass Tracy ihr die Wahrheit erzählte und sie sich auf sie verlassen konnte. Trotzdem …

„Steph“, sagte das junge Mädchen mit allem Nachdruck ihrer achtzehn Jahre. „Obwohl dich deine Mutter allein großgezogen hat, ist aus dir auch etwas geworden.“

„Aber meine Mutter musste nicht das Haus verlassen, um zu arbeiten. Das konnte sie von zu Hause aus tun. Ich sollte auch einen Beruf ausüben, bei dem ich hier bleiben könnte.“

Tracy seufzte in gespieltem Ernst.

„Ich weiß“, ließ Steph sie wissen, „ich gehe dir auf die Nerven. Besonders weil es den Eindruck erweckt, als ob ich dir nicht vertraue.“

Sie beugte sich über die Rückenlehne der Couch und nahm ihre Cousine in die Arme. „Du bist das Beste, das Fanny und mir passieren konnte“, sagte sie leise. „Weißt du, ich habe mir über Jahre immerzu Sorgen machen müssen. Und jetzt, wo alles reibungslos läuft, warte ich wahrscheinlich darauf, dass etwas Schlimmes passiert.“

Sie konnte nichts dagegen tun, dass diese böse Ahnung nicht verschwinden wollte, als sie sich für die Arbeit umzog. Sie duschte und schüttelte ihr nasses, kurz geschnittenes Haar in Form und streifte sich Jeans und ein T-Shirt über – bequeme Garderobe unter dem weißen Kittel.

Bevor sie das Haus verließ, betrat sie leise das Kinderzimmer und warf einen kurzen Blick auf ihre kleine Tochter, die tief und fest schlief, so dass sie sich beruhigt auf den Weg machte.

„Bis morgen früh“, rief sie Tracy zu, bevor sie die rückwärtige Tür schloss. Sie betrachtete den strömenden Regen und seufzte. Sogar mit Schirm wäre sie nass bis auf die Haut, wenn sie endlich das Auto erreichte. Außerdem hatte ihr altersschwacher Wagen die Angewohnheit, bei nassem Wetter nicht sofort zu starten.

„Irgendwann!“ murmelte sie beschwörend und blickte in den Himmel, wo ihre Sterne, die ihr Leben dirigierten, offensichtlich permanent schlecht standen. „Irgendwann kommen bessere Zeiten.“

Das Schicksal schien es für einen Moment lang gut mit ihr zu meinen, denn ihr Auto sprang sofort an. Dafür waren alle Parkplätze in der Tiefgarage der Klinik, die für das Personal reserviert waren, besetzt, und sie musste aufs unterste Deck fahren, um einen freien Platz zu ergattern.

„Du kommst zu spät!“ wurde sie von Rebecca, der Dame an der Rezeption, die heute Nachtdienst hatte, begrüßt, so dass Steph sofort einen Blick auf die Uhr warf.

Rebecca lachte.

„Ehrlich, Steph, du fällst jedes Mal darauf rein. Aber du kommst tatsächlich fünf Minuten später, als du normalerweise hier eintriffst – also nur zehn Minuten zu früh statt fünfzehn.“

„Jemand hat sich mal wieder auf unsere Parkplätze gestellt“, beklagte Stephanie sich. „Ich wünschte, der Typ, der die Wegfahrsperre bei den Falschparkern anbringt, könnte sie auch bei uns nützlich machen.“

„Na ja, einer der Wagen gehört mir“, gab Rebecca zu, „außerdem ist Peter noch hier, also wird sein Auto auch noch dort stehen, außerdem Joannes und wahrscheinlich der Wagen des Kerls, der neu bei uns ist. Das macht schon insgesamt vier.“

„Was für ein neuer Kerl? Jetzt erzähle mir bloß nicht, dass wir mitten in der Woche einen zweiten Arzt für die Nachtschicht bekommen haben! Manchmal geschehen noch Zeichen und Wunder!“

„Tatsächlich?“ fragte Rebecca ungläubig. „Ich weiß gar nicht, ob er Arzt ist, Muriel hinterließ nur eine Nachricht, dass jemand hier etwas kontrollieren soll. Knapp, prägnant und informativ wie immer, unsere Muriel.“

Stephanie kicherte. Sie hatte Muriel, die Sprechstundenhilfe der letzten Tagesschicht, noch nie getroffen. Sie wusste nur, dass sie und Rebecca ständige Reibereien hatten, was die Weitergabe von Nachrichten und Informationen anbelangte.

„Aber wenn er hier wäre, hättest du ihn doch sicher gesehen“, bemerkte Stephanie.

Rebecca zuckte mit den Schultern.

„Nicht unbedingt. Er könnte ja auch noch in der Verwaltung stecken. Seit die Klinik in neuen Händen liegt, ist dort abends noch nie jemand gewesen – und Flo arbeitet erst seit einigen Monaten Teilzeit.“

Steph nickte. Flo hatte das Büro früher als Ganztagskraft geleitet und daher auch oft abends gearbeitet. So bekam sie immer mit, was abends vor sich ging. Aber seit es einen neuen Eigentümer gab, war ihre Arbeitszeit drastisch reduziert worden.

„Wir könnten ja die Tür anlehnen und lauschen“, schlug Steph vor, aber in dem Moment betraten drei Japaner – zwei Frauen und ein Mann – die Klinik. Sie schüttelten ihre nassen Jacken und suchten einen Behälter für ihre Regenschirme.

Rebecca eilte hinter ihrem Schreibtisch hervor und zeigte ihnen den behelfsmäßigen Ständer. In fließendem Japanisch, wenn auch mit australischen Akzent, hieß sie die drei willkommen und geleitete sie zur Rezeption.

Sie schob ihnen ein Formular zu, das sowohl in englischer als auch in japanischer Sprache gedruckt war, das der junge Mann sofort ausfüllte. Er war Fremdenführer und eine der Frauen sei erkrankt, erklärte er gleichzeitig.

Rebecca stellte Stephanie vor, die die kranke Frau in das Untersuchungszimmer begleitete. Da dieser Teil Australiens vorwiegend japanische Touristen anzog, sprach das gesamte Personal etwas japanisch. Stephanie war dieser Sprache einigermaßen mächtig, obwohl es ihr an zahlreichen medizinischen Ausdrücken mangelte.

Heute jedoch konnte sie sich mit dem Fremdenführer, der ihnen in das Untersuchungszimmer gefolgt war, auf Englisch verständigen. Er erklärte Stephanie, dass die junge Frau Halsschmerzen hatte.

Sie begann mit der Untersuchung, indem sie zuerst den Puls der jungen Frau fühlte, der ungewöhnlich raste. Auch ihre Haut war merkwürdig heiß. Sorgfältig erklärte sie ihr jeden ihrer Schritte auf Japanisch, dann maß sie den Blutdruck – der für eine junge Frau dieses Alters viel zu hoch war – und untersuchte abschließend den Hals.

Die Rachenhöhle war stark gerötet, und an den Mandeln befanden sich weißliche Flecken.

„Sie haben eine Halsentzündung“, erklärte Stephanie. „Eine Streptokokken-Infektion. Ich werde Ihnen zuerst Penicillin spritzen, danach müssen sie Tabletten einnehmen. Haben sie früher schon einmal Penicillin bekommen?“

Die junge Frau nickte.

„Und hatten Sie irgendwelche allergischen Reaktionen?“

Die Japanerin schüttelte den Kopf.

„Wissen sie von anderen allergischen Reaktionen?“

Wieder Kopfschütteln.

Stephanie klingelte nach Joanne, der Nachtschwester, und informierte sie über die benötigten Medikamente. Erneut konzentrierte sie sich auf ihre Patientin, die inzwischen fiebrigen Schüttelfrost bekommen hatte. Besorgt dachte sie daran, dass die junge Frau wieder hinaus in das ungemütliche und unfreundliche Wetter musste und morgen wahrscheinlich ein anstrengendes Touristenprogramm absolvierte.

„In welchem Hotel wohnen Sie?“ erkundigte sie sich.

„Gleich in der Nähe, im Whale Beach Resort“, antwortete der Fremdenführer.

Dies war wirklich nicht weit entfernt – vielleicht fünfhundert Meter – aber in dem Regen …

„Sie sollten besser mit einem Taxi fahren“, sagte sie dem Fremdenführer auf Japanisch, damit auch die junge Frau sie verstand. „Außerdem …,“ schnell schaute sie auf das Patientenformular, „… sollte Reiki den morgigen Tag im Bett verbringen.“

„Aber morgen wollen wir zu den Delfinen gehen!“ protestierte die Japanerin. Stephanie erkannte, dass eine Diskussion zu keinem Ergebnis führte. Die junge Frau hatte sich wahrscheinlich schon länger krank gefühlt, aber sich wegen des sicher teuren Urlaubs gezwungen durchzuhalten.

Trotzdem musste Stephanie als behandelnde Ärztin ein Machtwort sprechen. „Sie sollten wirklich im Bett bleiben“, wiederholte sie nachdrücklich. „Wenn Sie das nicht tun, wird sich die Infektion verschlimmern.“

Reikis dunkle Augen, die an Feuerkiesel erinnerten, füllten sich mit Tränen, als käme ihr jetzt die ganze Tragweite ihrer Krankheit zu Bewusstsein. Vielleicht hörte sie ja doch auf den Rat ihrer Ärztin.

Joanne kam schließlich zurück, und nachdem sie den Fremdenführer gebeten hatte, den Raum zu verlassen, gab Stephanie ihrer Patientin eine Benzanthin-Penicillinspritze ins Gesäß.

„Bleiben Sie im Bett“, riet sie noch einmal ausdrücklich, als sie die junge Japanerin nach draußen begleitete.

„Wetten, dass sie das nicht tut?“ sagte Rebecca, als die drei die Klinik verlassen hatten.

Inzwischen waren neue Patienten eingetroffen, so dass zum Plaudern keine Zeit mehr blieb.

Der Jetlag hatte Harry voll im Griff, obwohl er seit Stunden gegen ihn ankämpfte.

„Verdammt noch mal, ich habe mein Melatonin genommen, außerdem bin ich von West nach Ost geflogen. Eigentlich dürfte mir das überhaupt nicht passieren“, schimpfte er laut vor sich hin.

Mit großen Schritten lief er vor den breiten Fenstern seines Apartments, das Bob Quayle ihm so großzügig zur Verfügung gestellt hatte, auf und ab. Draußen regnete es noch immer in Strömen, so dass er die Straßenbeleuchtung nur ganz verschwommen durch sein Fenster wahrnahm. Der Regenschleier nahm ihm die wundervolle Sicht auf das Meer, das nur ein paar Meter entfernt war.

„Vielleicht geschieht es ja nicht, wenn man von Ost nach West fliegt und nicht von West nach Ost“, murmelte er ärgerlich, als er in Richtung Küche marschierte, den Kühlschrank öffnete, um nachzusehen, was Pete Jennings, Bobs Geschäftsführer, für ihn organisiert hatte.

Aber was er brauchte war Schlaf, kein Essen.

Also ging er ins Wohnzimmer zurück und ließ sich in einen Sessel fallen. Vielleicht konnte er dort leichter einschlafen als im Bett.

Aber alle Tricks halfen nichts. Er war hellwach, irgendetwas musste er tun. Das war es! Genau! Er brauchte Beschäftigung!

Hatte er Bob Quayle nicht versprochen, sich um die Klinik im unteren Stockwerk dieses Gebäudes zu kümmern? Sie war vierundzwanzig Stunden geöffnet, demnach musste sie im Augenblick in vollem Betrieb sein.

Harry stand auf, ging in sein Schlafzimmer, zog sich die Hosen und ein langärmeliges Hemd an, das eigentlich hätte gebügelt werden müssen. Aber um zwei Uhr morgens war ihm das ziemlich egal. Er machte sich rasch auf zum Erdgeschoss, um das medizinische Zentrum aufzusuchen, von dem Bob behauptete, dass es nicht rentabel sei.

Steph stritt sich gerade mit Tom Butler, einem Patienten, der unter ständiger Beobachtung stand und regelmäßig behandelt wurde, weil er eine Psychose hatte. Sie kannte Tom, wenn er sich in der depressiven Phase seiner Krankheit befand – dann quälte er sich mit Selbstmordgedanken und brauchte immer jemanden um sich, der ihm versicherte, dass er geliebt und gebraucht wurde. Heute Abend jedoch war seine Stimmung umgekippt, so dass Tom auf sie völlig aufgedreht wirkte. Das war aber nicht auf Medikamente, sondern das merkwürdige, chemisch gestörte Gleichgewicht zurückzuführen, das seine Stimmungsschwankungen verursachte.

„Deshalb dachte ich, ich komme einmal vorbei und zeige Ihnen, wie gut es mir geht“, sagte er, umfasste Stephanies Taille mit festem Griff, schwang sie hoch und tanzte mit ihr in seinen Armen im Wartezimmer umher.

„Lassen Sie mich herunter!“ schrie sie, während Rebecca schnell den versteckten Alarmknopf drückte, der einen Sicherheitsbeamten zu Hilfe rief – nur für den Fall.

Steph hörte das knirschende Geräusch, als die Türen sich öffneten, und erwartete den ersehnten Beistand des Sicherheitsbeamten. Aber erst als Tom innehielt, konnte sie den eintretenden Mann erkennen. Er war groß und hager, sein dunkles glänzendes Haar zerzaust und ungekämmt – und auf seinem vertrauten Gesicht zeichnete sich ein ungläubiger Blick ab.

„Harry?“

Als er seinen Namen hörte, starrte er bestürzt auf die junge Frau, die in den Armen eines tanzenden Verrückten hing. Ihr wunderschönes dunkelrotes Haar war extrem kurz geschnitten, und ihr Gesicht erschien ihm ausgezehrt – aber ohne Zweifel, sie war es.

„Steph?“

Er nahm wahr, dass er ihren Namen rief – und registrierte dabei, wie schockiert er klingen musste.

„Lassen Sie mich runter!“ sagte sie jetzt nachdrücklich zu dem Mann, der sie immer noch festhielt. „Augenblicklich, Tom!“

Aber der Mann hörte nicht auf sie, sondern wirbelte sie weiter herum, während sich hinter Harry erneut die Türen öffneten und endlich der Sicherheitsbeamte erschien.

„Sie sollen mich herunterlassen“, herrschte Steph ihren Patienten jetzt an.

Als wäre der Befehl endlich zu ihm durchgedrungen, reagierte Tom unverzüglich und ließ seine Last einfach fallen, so dass Steph auf den Boden fiel. Harry war mit einem Sprung an ihrer Seite und streckte seine Hand aus, um ihr auf die Füße zu helfen.

Sie schaute zu ihm auf und – zuckte zurück. Diese unerwartete Reaktion traf ihn so heftig, dass er sie abrupt losließ und stocksteif neben ihr stehen blieb.

Schließlich erhob Steph sich ohne Hilfe, stemmte die Hände in ihre Hüften und sah Harry unverwandt an.

„Wenn du dich nicht als Patient hier aufhältst, dann verschwinde auf der Stelle, Harry Pritchard“, sagte sie betont schroff, doch ihre Stimme zitterte, und in ihren grauen Augen schimmerten Tränen.

Harry fühlte sich zutiefst verletzt. Er setzte gerade zu einer Erklärung an, aber da hatte sie ihm schon den Rücken zugedreht, um sich um Tom zu kümmern, der sie hatte fallen lassen und den sie jetzt zum Untersuchungszimmer dirigierte.

„Sind Sie ein Patient?“

Jetzt erst bemerkte er die andere Frau, die in einer Ecke des Wartezimmers hinter einem Schreibtisch saß und erwartungsvoll auf eine Antwort wartete.

„Nein, ich bin hier, um zu arbeiten“, antwortete er und blickte dabei auch auf den Sicherheitsbeamten. „Mein Name ist Harry Pritchard. Ich bin vom neuen Eigentümer gebeten worden, mich ein wenig umzuschauen und ihn über den Stand der Dinge zu informieren. Der Geschäftsführer war angewiesen, Sie davon in Kenntnis zu setzen.“

Die Frau hinter dem Schreibtisch – Rebecca Harris ihrem Namensschild zufolge – musterte ihn eingehend.

„Wir haben schon gehört, dass jemand kommen soll“, erklärte sie und zuckte dabei mit den Schultern, als wäre diese Neuigkeit von keinerlei Bedeutung. „Aber wir haben natürlich nicht erwartet, dass Sie mitten in der Nacht Ihren Dienst antreten.“

„Damit haben Sie sicher nicht gerechnet!“ reagierte Harry ärgerlich, als er sich Stephanie in den Armen des Mannes vor Augen führte. „Sonst hätten Sie diesen Blödsinn von vorhin sicher unterlassen! Verbinden Sie Arbeit und Vergnügen immer miteinander?“

Rebecca schaute ihn an, als wäre er verrückt geworden. „Arbeit mit Vergnügen verbinden?“ wiederholte sie und schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon sie sprechen.“

„Ich spreche von dem Mann, der eben mit einer Frau in seinen Armen hier getanzt hat“, rief Harry, der immer wütender wurde – vor allem auf Steph.

„Aber das wollte sie doch gar nicht“, erklärte Rebecca ihm und sah ihn verständnislos an. „Der Mann ist hier Patient. Er hat eine Psychose und befindet sich offensichtlich in einer manischen Phase. Dr. Prince hatte ihn gerade hereingerufen – er war der nächste Patient – und da zerrte er sie an sich. Da habe ich den Sicherheitsdienst gerufen“, sie wies mit einem Kopfnicken zu Ned, der nach wie vor parat zum Einsatz stand.

„Oh!“ sagte Harry, während er verzweifelt nach einer weiteren Erklärung suchte. „Mir macht die Zeitverschiebung zu schaffen. Ich wurde wach und konnte nicht mehr einschlafen.“ Ihm war bewusst, dass er mit seinen Worten nicht sonderlich zur Klärung seiner Situation beitrug. Aber die Frau machte auch keinerlei Versuche, ihn aus seiner misslichen Lage zu befreien.

„Deshalb bin ich um diese Zeit hier.“

„Sie können jetzt gehen, Ned“, wies sie den Sicherheitsbeamten an, der seine Hand kurz an die Schirmmütze hob, um zu grüßen, und sich dann entfernte.

„Und nun zu Ihnen“, wandte sie sich zu Harry um. „Ich habe keine Ahnung, was sie hier tun sollen. Aber ich gebe Ihnen den dringenden Rat, das in Zukunft tagsüber zu erledigen. Sie und Dr. Prince scheinen sich zu kennen. Und wenn es ihr nicht passt, dass sie während ihrer Schicht hier sind, dann gefällt es mir genauso wenig.“

Harry schien es, als würde sich diese Frau wie ein Vogel aufplustern, der seine Brut verteidigt. Unwillkürlich musste er lächeln.

„Zu Ihrer Information“, klärte er sie auf und hoffte, dass er etwas zurückhaltender klang. „Dr. Prince hat nicht darüber zu bestimmen, wann ich hier sein darf und wann nicht. Aber ich werde versuchen, sie nicht vor den Kopf zu stoßen und sie mir zum Feind zu machen.“

Welch eine Lüge! Es stand so viel Unerledigtes und Ungesagtes zwischen ihnen, dass es unvermeidlich war!

2. KAPITEL

Allmählich gelang es Stephanie, Tom zu beruhigen, so dass er ihr einige Fragen zu seiner Medikamentendosis beantworten konnte.

„Aber wenn es mir gut geht, brauche ich sie doch nicht zu nehmen“, behauptete er. Ruhig und sachlich versuchte sie ihm zu erklären, dass es genauso wichtig war, die Medikamente auch dann zu nehmen, wenn es ihm gut ging, und nicht nur, wenn er sich schlecht fühlte.

„Sie bewirken einen ausgeglichenen Gemütszustand“, beteuerte sie geduldig – wohl zum zwanzigsten Mal, seit sie ihn betreute.

„Aber es geht mir doch schon viel besser“, hielt er wieder dagegen. Doch zum Schluss akzeptierte er ihre Anordnung, jedoch nur, weil sie ihn darum bat.

Als das Telefon klingelte, sah Stephanie Tom eindringlich an. „Rebecca unterbricht nur, wenn es äußerst dringend ist“, sagte sie und hoffte, dass er den Wink verstand.

Aber wie Tom nun einmal war, hatte er kein Einsehen.

„Ich bin so wichtig wie jeder andere auch“, beschwerte er sich streitlustig.

„Natürlich sind Sie das – eigentlich sogar viel wichtiger, weil Sie zu unseren stationären Patienten gehören – aber hier könnte es um ein Kind mit ernsthaften Problemen gehen, Tom. Ich muss los.“

Sie stand auf und ging zur Tür, inständig hoffend, dass er ihr folgte, denn sie konnte ihn unmöglich im Untersuchungszimmer zurücklassen.

Er kam tatsächlich hinter ihr her, aber an der Tür packte er sie erneut.

„Meine Lieblingsärztin“, johlte er, doch da er sie dieses Mal von hinten angegriffen hatte, war es ihr möglich, mit dem Fuß nach ihm zu treten, so dass sie mit ihrem Absatz sein Knie traf.

Dabei flog sie wieder zu Boden, während Tom sein Knie schmerzerfüllt drückte und sie finster anblickte.

„Das wäre nicht nötig gewesen!“ schimpfte er. Doch genau in dem Moment, als er sie erneut packen wollte, erschien Harry, nahm ihn am Ellenbogen und zerrte ihn von Stephanie fort.

„Im zweiten Untersuchungszimmer sitzt eine Frau, ihr Name ist Beth Graham, mit einem schlimmen Husten und bläulichen Verfärbungen an den Lippen“, informierte Joanne sie, während sie Stephanie wieder auf die Füße half. „Ich habe ihr eine Sauerstoffmaske angelegt.“

Sie gab Steph das Patientenformular, öffnete die Tür und folgte ihr in das Behandlungszimmer.

Die Frau saß auf der Untersuchungscouch und hielt die Sauerstoffmaske in einer Hand, während sie ununterbrochen hustete und nach Luft schnappte. Stephanie roch die Mischung aus Zigarettenrauch und Alkohol schon von der Tür aus. Doch es wäre genauso gut möglich, dass dieser Geruch nur in der Kleidung steckte. Das wäre normal, wenn sie in einer Bar arbeitete, wie sie im Formular angegeben hatte.

„Legen Sie die Maske wieder über Ihre Nase und Ihren Mund und atmen Sie tief ein“, wies sie die Frau an, als der Hustenanfall für einen Moment nachließ. „Beantworten Sie mir bitte ein paar Fragen, aber sprechen Sie nicht – nicken Sie nur oder schütteln Sie den Kopf.“

Zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, nickte die Frau.

„Ich werde jetzt Ihre Brust abhorchen. Hatten sie schon einmal solch einen Anfall?“

Wieder ein Nicken.

Dann stellte Steph weitere Fragen, um sich ein genaueres Bild vom Gesundheitszustand ihrer Patientin zu machen.

„Ich werde Ihnen jetzt Antibiotika geben. Aber das Problem ist“, erklärte Steph abschließend, „dass weitere Anfälle letztendlich ihr Herz angreifen können.“

Danach verschrieb Stephanie Ampicillin und einen Bronchial-Inhalator, der die Schwere ihrer Anfälle lindern sollte.

Nachdem Beth Graham das Rezept eingesteckt hatte, verließ sie erschöpft den Raum.

„Wir sollten einen Klub mit Frauen gründen, die nachts arbeiten müssen, damit sie tagsüber bei ihren Kindern sein können. Meine letzte Patientin scheint auch dazuzugehören“, ließ Stephanie Rebecca an der Rezeption wissen.

„Also ich werde das höchstens noch ein Jahr lang machen“, wehrte Rebecca ab. „Wenn Dyson erst einmal die Highschool besucht, ist es für mich wichtiger, nachts da zu sein als tagsüber. Ich verdiene dann zwar weniger, aber du wirst schon sehen, irgendwann einmal werde ich einen Job als Sprechstundenhilfe in einer richtigen Arztpraxis bekommen, wo man seine Patienten kennt, die einem auch schon mal Gläser mit Marmelade oder selbst gehäkelte Waschlappen mitbringen.“

Stephanie lachte. „Hier haben wir auch unseren festen Stamm an Patienten“, erinnerte sie Rebecca. „Denk nur an Tom!“

„Außerdem ein paar betrunkene Obdachlose und einen Haufen verwahrloster Kinder“, schnaubte Rebecca ärgerlich. „Toller Patientenstamm!“

Unfreiwillig war Harry Zeuge dieses Gesprächs geworden, als er im Verwaltungsbüro am Schreibtisch die Akten überflog. Es schien, als wäre dieses Büro erst nachträglich entstanden, indem man vom Eingangsbereich einfach einen Teil abgetrennt hatte, so dass aber weiterhin alles zu hören war.

Der Inhalt der Unterhaltung offenbarte einiges, aber Harry fühlte sich auch so schon reichlich verwirrt.

Das unverhoffte Wiedersehen mit Stephanie hatte ihn aus der Fassung gebracht. Aber daneben waren noch weitere Fragen aufgetaucht, die er beim besten Willen nicht beantworten konnte.

Wusste Bob Quayle, dass Steph in der Klinik arbeitete – und wenn ja, warum hatte er es nicht erwähnt?

„Weißt du noch, dass ich dir von dem Typ erzählte, der heute kommen soll?“ hörte er plötzlich Rebecca abrupt das Thema wechseln, wie es in Harrys Augen nur Frauen tun konnten. „Es ist der Kerl, den du Harry genannt hast. Er ist der Bursche, den Muriel in ihrer Nachricht erwähnt hat.“

Harry versuchte vergeblich, sich Stephs Gesichtsausdruck vorzustellen, hielt es dann aber für besser, sich bemerkbar zu machen, da sie über ihn redeten. Wahrscheinlich ahnten sie nicht, dass jedes Wort zu verstehen war.

„Harry?“ hörte er Stephanie sagen, als er sich hinter seinem Schreibtisch erhob. „Was soll das heißen?“

„Er soll sich hier ein bisschen umsehen und überprüfen, wie die Klinik läuft“, erklärte Rebecca.

„Um drei Uhr morgens? Du machst wohl Witze!“

„Jetlag!“ gab Rebecca ihr gerade zu verstehen, als Harry die Tür öffnete und aus dem Zimmer trat.

„Guten Morgen, Steph“, grüßte er und hoffte, er klänge selbstbewusster, als er sich fühlte. „Wie läuft es bei dir?“

Sie schenkte ihm solch einen vernichtenden Blick, dass andere Männer auf der Stelle das Weite gesucht hätten. Harry war dieser Ausdruck vertraut, so dass er sich nicht davon beeindrucken ließ. Was er jedoch nicht überhören konnte, war das alarmierende Gefühl bei ihrem Anblick – sie schaute so blass aus und müde und war so entsetzlich dünn – dennoch schöner als je zuvor.

„Was genau tust du hier eigentlich?“ wollte sie wissen, ohne seine Frage zu beantworten.

„Auf Bitte des neuen Eigentümers überprüfe ich den Betrieb.“ Bob Quayles Wunsch, seinen Namen geheim zu halten, erschien ihm immer merkwürdiger. Müsste Stephanie nicht eigentlich wissen, dass ihr Schwiegervater der neue Besitzer war? „Offensichtlich befand sich die Klinik in finanziellen Schwierigkeiten, und die neuen Eigentümer wollen wissen, warum.“

Argwöhnisch kniff Stephanie die Augen zusammen. „Natürlich! Ich habe schon die Schlagzeilen vor Augen!“ rief sie ironisch. „‚Bedeutender Schönheitschirurg übernimmt Ermittlungen in heruntergekommenem Ärztezentrum‘.“ Mit ihren langen schlanken Fingern zeichnete sie ein paar Ausrufungszeichen in die Luft. „Dafür scheinst du ja bestens qualifiziert zu sein!“

„Ich tue nur einem Freund einen Gefallen“, sagte Harry leise und zwang sich zur Ruhe, obwohl er sie am liebsten geschüttelt hätte. „Du weißt ja, dass ich schon öfter in ähnlichen Kliniken gearbeitet habe.“

Er wurde das beunruhigende Gefühl nicht los, dass er schon zu viel verraten hatte. „Aber abgesehen davon, glaube ich nicht, dass es dich etwas angeht“, fügte er schroff hinzu, als müsste er ihr zeigen, wo ihr Platz ist.

Den aber hatte Steph nie gekannt – obwohl Harry in vergangenen Zeiten stets davon überzeugt war, er wäre in seinem statt in Martins Bett.

„Ein Freund? Was für ein Freund?“ forderte sie ihn auf, ihr zu antworten. Doch bevor er etwas sagen konnte, wurden die Türen geöffnet und drei offensichtlich betrunkene Jugendliche schwankten herein, von denen zwei den dritten, der stark aus einer Kopfwunde blutete, hereinschleppten.

„Jerry ist hingefallen“, lallte einer, als das Trio zur Rezeption torkelte.

Steph reagierte zuerst und eilte zu dem Verletzten, wies Rebecca an, sich von den anderen beiden Einzelheiten berichten zu lassen, und rief Joanne, um ihr im Untersuchungszimmer zu assistieren.

Zuerst soll Bob erfahren, fuhr es Harry durch den Kopf, als er schnell an die Seite des Trios eilte, um dem verletzten Jugendlichen zu helfen, dass Frauen nicht nachts in der Ambulanz arbeiten sollten.

„Es ist einfach lächerlich!“ brummte er vor sich hin und merkte erst, dass er laut gedacht hatte, als Steph ihn mit hochgezogen Augenbrauen ansah.

„Ich meine, dass nur Frauen um diese Zeit hier arbeiten“, erklärte er ihr, als sie ihren Patienten zu einem Tisch in der Mitte des Raumes brachten. „Schau dich doch bloß an – dich bläst ja schon der leiseste Windhauch um! Wie soll man von dir eigentlich erwarten, dass du diese Betrunkenen behandelst?“

Inzwischen war die ohnehin schon fahle Gesichtsfarbe des Jungen einem unnatürlichen Grün gewichen. Und Steph, der das offensichtlich nicht neu war, griff geistesgegenwärtig eine Schüssel und hielt sie ihrem Patienten unter das Kinn. In hohem Bogen spie dieser seinen am Abend konsumierten Alkohol hinein.

Joanne erschien, leerte die Schale, wischte dem jungen Mann das Gesicht ab und platzierte auf einer anderen Schale ein Antiseptikum und Verbandsmull, so dass Steph die Kopfwunde des Kranken, der sich inzwischen auf den Tisch gesetzt hatte, versorgen konnte.

Während sie den Schnitt nähte, unterhielt sie sich mit Jerry. So erfuhr sie, dass er kein Tourist, sondern Einwohner des kleinen Städtchens war. Sie machte ihm klar, dass er auf jeden Fall in einer Woche seinen Hausarzt besuchen musste, um die Fäden ziehen zu lassen.

Über die genähte Wunde platzierte sie ein wasserdichtes Pflaster.

„Ziehen Sie es ja nicht runter“, warnte sie, während sie dem Jungen vom Tisch half.

Dieser wurde wieder blass, und die Krankenschwester hielt ihm vorsichtshalber die Schüssel hin. Aber Jerry konnte sich gerade noch beherrschen und murmelte sogar eine Entschuldigung, sich vorher übergeben zu haben.

„Ist schon in Ordnung“, beruhigte Steph ihn. „Gehen Sie aber auf jeden Fall sofort nach Hause.“

Er nickte, betastete vorsichtig seinen Kopf und ließ sich dann von Steph zur Tür bringen. Obwohl Harry das Bedürfnis verspürte, ihnen zu folgen und sich nützlich zu machen, hielt er sich zurück.

Inzwischen machte sich sein Jetlag wieder bemerkbar. Sein Drang nach Aktivität war verflogen, und er fühlte sich ziemlich erschöpft. Er musste unbedingt mit Steph unter vier Augen sprechen, die jetzt allerdings nirgendwo zu sehen war.

Inzwischen stand an der Rezeption eine forsch aussehende Frau in einem leuchtend roten Anzug, die sich mit Rebecca unterhielt. Sie war mittelgroß und sehr hübsch mit glänzendem blonden Haar, das zu einem ordentlichen Knoten eingeschlagen war.

„Das ist Linda – sie löst mich in dieser Woche jeden Morgen nach der Nachtschicht ab“, erklärte Rebecca Harry. „Sie möchte Sie gerne dem Personal der Tagesschicht vorstellen. Das heißt, falls Sie immer noch in der Stimmung sind zu bleiben.“

Sie wandte sich wieder an Linda.

„Darf ich dir Harry Pritchard vorstellen – er arbeitet für die neuen Besitzer – und schaut sich um, ob wir auch alle unseren Job richtig tun und kein Geld aus der Kasse klauen.“

„Klar“, meinte Linda, „vor allem weil die meisten unserer Patienten auf die Gesundheitsfürsorge angewiesen sind.“ Dann aber schenkte sie Harry ein warmherziges Lächeln. „Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, lassen Sie es mich nur wissen.“

Harry lächelte höflich, obwohl sie für seinen Geschmack zu viel Betonung auf „irgendwie“ gelegt hatte, aber im Moment war er an attraktiven Blondinen nicht interessiert. Er dachte vor allem an Steph, mit der er noch sprechen wollte. Ehe sie die Klinik verließ, musste er sie unbedingt noch abfangen, um einige Antworten auf seine Fragen zu finden, die ihm durch den Kopf gingen.

Da er sich in den Räumlichkeiten schon umgesehen hatte, suchte er das kleine Café auf. Dort fand er zwar Joanne, die mit einem jungen Mann die Ereignisse der vergangenen Nacht durchging, aber von Steph war keine Spur zu finden.

„Sie ist schon gegangen“, teilte Rebecca ihm mit, als er wieder an der Rezeption auftauchte und den Korridor entlang bis zum rückwärtigen Eingang der Klinik schaute.

„Wie bitte?“ fragte Harry völlig überrascht.

„Steph! Sie ist schon fort. Sie möchte immer gerne schon zu Hause sein, bevor ihre Tochter aufwacht. Ihr Auto hat ein paar Macken, so dass sie das Krankenhaus sofort verlässt, wenn die Ärzte, die sie morgens ablösen, eintreffen. Sollte ihr Wagen dann nicht anspringen, könnte sie immer noch zu Fuß gehen und trotzdem zeitig genug bei Fanny sein.“

Harry war tief enttäuscht, dass Steph ohne jeden Abschiedsgruß gegangen war. Aber was sollte er erwarten, nachdem sie über sein Erscheinen alles andere als erfreut gewesen war.

Er nickte Rebecca höflich zu und verschwand wieder im Büro der Verwaltung. Nachdem er die Personalakten zuerst flüchtig studiert hatte, schaute er sie sich genauer an. In ihnen mussten auf jeden Fall die Adressen der Angestellten aufgeführt sein. Er hatte immer vermutet, dass Steph bei den Quayles wohnte, weshalb er die Geschenke für Fanny immer an diese Adresse geschickt hatte.

Aber wenn sie tatsächlich bei Bob und Doreen lebte, wüsste sie doch sicher, dass ihr Schwiegervater der neue Eigentümer der Klinik war. Oder nicht?

Verdammt, dass sie so plötzlich verschwunden war, wo er doch mit ihr reden musste.

Vergiss es! sagte seine innere Stimme. Für ein vernünftiges Gespräch bist du jetzt viel zu müde.

Aber als er sich auf den Weg zu seinem Apartment – genauer gesagt Bob Quayles Apartment – machte, türmten sich eine Flut von Fragen in seinem Kopf. Was hatte das alles hier zu bedeuten?

Nichts machte Sinn – am wenigsten Bob Quayles Bitte, in der Klinik nach dem Rechten zu sehen – ohne zu erwähnen, dass Steph dort arbeitete. Ja, ohne überhaupt ein Wort über sie zu verlieren!

Als Steph nach Hause fuhr, regnete es immer noch. Die wohlige Erleichterung, die sie nach getaner Arbeit immer empfand, wollte sich heute nicht einstellen, stattdessen schienen ihre Nerven aufs Höchste gespannt.

Immer wieder musste sie an Harrys unvermutetes Auftauchen denken. So naiv war sie nicht zu glauben, dass er zufällig an ihrem Arbeitsplatz erschienen war. Sie hatte erfahren, dass das Schicksal nicht so harmlos spielte.

Es müsste sich schon um einen ausgemachten Witz handeln, dass ausgerechnet ein Schönheitschirurg eine Bereitschaftsklinik überprüfen sollte.

Während sie langsam durch die verlassenen Straßen fuhr, auf die sich wegen des schlechten Wetters noch kein Jogger herausgewagt hatte, suchte sie fieberhaft nach möglichen Erklärungen.

Vielleicht machte Harry nur einen kurzen Abstecher in diese Gegend und schlug damit die Zeit tot?

Seine Eltern könnten ihr Eigentum im Westen verkauft und sich in Summerland zur Ruhe gesetzt haben. Möglicherweise hatten sie ja die Klinik als Vermögensanlage gekauft, und jetzt sah er für sie nach dem Rechten! Das wäre doch durchaus denkbar!

Natürlich, wenn man an Märchen glaubte …

Sie fuhr in ihre Einfahrt hinein und schob die Gedanken an Harry erst einmal beiseite. Ihre Pläne, die sie jeden Morgen auf dem Nachhauseweg schmiedete, waren ganz anderer Natur. Wenn sie nur das Nötigste in den nächsten sechs Monaten kaufen würde, hätte sie genug Geld gespart, um eine Garage zu bauen, die sie unbedingt für ihren Wagen brauchte – dann noch weitere drei Monate, und es reichte für einen überdachten Gehweg von der Garage bis zum Haus.

Fanny konnte jeden Moment wach werden, unterbrach sie ihre Gedanken, als sie auf die Uhr schaute. Schnell nahm sie ihren Schirm, stieg aus dem Wagen und eilte durch den matschigen Hintergarten zur Tür.

Wohltuende Wärme empfing Stephanie, als sie ihr Haus betrat. Die beruhigende Stille sagte ihr, dass alle tief und fest schliefen. Trotzdem sah sie nach Fanny und musste unwillkürlich lächeln, als sie den kleinen Körper betrachtete, der quer über dem Bett lag mit den vom Schlaf geröteten Wangen und den goldenen zerzausten Locken um das kleine Köpfchen.

Auf dem Weg zurück in die Küche warf Steph einen kurzen Blick in Tracys Zimmer und nahm entsetzt das Durcheinander wahr. Aber sie erinnerte sich, dass sie selbst in diesem Alter ziemlich nachlässig gewesen war. Es gab so viel zu sehen, zu tun und zu lernen, so dass keine Zeit blieb, um aufzuräumen.

Zufrieden in ihrem Häuschen, das für sie der wichtigste Ort auf der Welt war, machte Stephanie den Wasserkocher an, tat Brot in den Toaster und fragte sich, wann es ihr Budget endlich erlauben würde, eine Tageszeitung zu abonnieren.

Sie schaltete das Radio an, so dass sie wenigstens aus den Morgennachrichten erfahren konnte, was auf der Welt geschah.

Kaum hatte Steph ihren Toast aufgegessen, platzte Fanny in die Küche. „Hab ich ganz vergessen“, erzählte sie ihrer Mutter, als sie auf deren Schoß kletterte, um sich ihre morgendlichen Streicheleinheiten abzuholen. „Heute müssen wir unseren Lieblingsspielzeug mit in den Kindergarten bringen wegen der Kinderfeier.“

„In Ordnung“, sagte Steph und strich ihrer Tochter zärtlich das Haar aus der Stirn. „Du hast doch viel Auswahl.“

„Aber das ist ja gerade das Problem“, seufzte Fanny.

Stephanie musste lächeln, denn sie benutzte ständig dieselbe Redewendung, wenn sie sich mit Tracy unterhielt.

„Und wo liegt das Problem?“ fragte sie ihre kleine Tochter, die sich auf ihrem Schoss kuschelte.

„Ich weiß nicht, was mein Lieblingsspielzeug ist!“

Und wieder kam ein dramatischer Seufzer.

„Im Moment nimmst du doch immer Bärchen mit ins Bett, wie wäre es mit ihm?“

„Aber dann wird Adeline böse sein“, entgegnete Fanny.

Steph, die genau wusste, dass diese Unterhaltung Stunden dauern konnte, sprach ein Machtwort. „Pass auf, du gehst jetzt in dein Zimmer und guckst dir alles genau an. In der Zeit mache ich dann Frühstück. Und während du dich anziehst, kannst du ja weiter darüber nachdenken. Wenn du fertig bist, rufst du mich, damit ich dich kämme.“

Fanny akzeptierte den Vorschlag ihrer Mutter und entschied sich letztendlich für Bärchen, der die Kinderparty mitmachen sollte.

Stephanie versah Bärchens Hals mit einer dicken roten Schleife, so dass das Plüschtier festlich aussah. Danach nahm sie die beiden unter ihren Regenmantel und trug sie zum Auto, um zum Kindergarten zu fahren.

„Vergiss nicht, dass Tracy dich heute Nachmittag abholt“, erinnerte sie ihre Tochter.

„Weil nämlich Freitag ist!“ bestätigte Fanny und zeigte ihrer Mutter damit, wie gut sie sich mit der alltäglichen Routine auskannte.

Steph gab ihrer Tochter einen Kuss zum Abschied und informierte die Kindergärtnerin, dass nicht sie, sondern Tracy ihre Tochter abholte. Dann machte sie sich wieder auf den Weg nach Hause. Wenn sie sich jetzt ins Bett legte, konnte sie vielleicht fünf Stunden durchschlafen – falls der Gedanke an Harrys unerwartetes Auftauchen ihr nicht den Schlaf raubte.

Aber wie sollte sie das verhindern können …?

Denk jetzt nicht an Harry mit seinen dunklen, lebhaften Augen und seinem schlanken, großen und schlaksigen Körper …, ermahnte sie sich.

Sie musste schließlich doch eingeschlafen sein, denn es war schon ein Uhr, als sie erwachte.

Entweder sie blieb noch eine Stunde im Bett, oder sie machte das Haus sauber und erledigte die Wäsche. Bei dem feuchten Wetter würde sie aber bestimmt nicht trocknen.

Sie entschied sich trotzdem für die Hausarbeit, kletterte aus dem Bett, bereitete sich eine Tasse Tee und ein Sandwich, stellte die Waschmaschine an und sauste durch das Haus.

Die körperliche Bewegung tat ihr gut, wie sie bemerkte. Doch inzwischen war sie schon spät dran und musste sich beeilen, um es zum örtlichen Ärztezentrum noch rechtzeitig bis drei Uhr zu schaffen.

Fünfzehn Frauen, in den verschiedensten Phasen ihrer Schwangerschaft, begrüßten sie begeistert. Obwohl auch das Allgemeine Krankenhaus Geburtsvorbereitungskurse für schwangere Frauen anbot, war es für eine halbstündige Sitzung doch ein langer Weg zu fahren. Deshalb hatte Steph sich entschlossen, in Zusammenarbeit mit einer hiesigen Allgemeinpraxis eine Stunde Unterricht pro Woche zu geben. Der Kurs beinhaltete regelmäßige Untersuchungen mit Informationen über eine gesunde Ernährung, über die Geburt und natürlich Schwangerschaftsgymnastik. Dieses finanzielle Zubrot konnte sie gut gebrauchen, außerdem machte ihr das Zusammensein mit den Frauen, die aufgeregt auf den Tag der Geburt warteten, viel Freude.

Aber an diesem Nachmittag war sie nicht mit der gewohnten Begeisterung dabei. Sie freute sich sehr auf Fanny, als sie wieder nach Hause fuhr, konnte aber die Gedanken an Harry Pritchard, der unerwartet wieder in ihrem Leben aufgetaucht war, nicht verbannen.

„Vergiss ihn“, murmelte sie vor sich hin, als sie schwungvoll in ihre Einfahrt hineinfuhr und fast auf einen Wagen prallte, der schon dort parkte. Es war ein dunkelgrüner Sedan, der Karosserie nach zu urteilen ein ziemlich neues Modell.

Ob eine der Mütter Tracy und Fanny nach Hause gebracht hatte und jetzt auf eine Tasse Kaffee eingeladen worden war?

Oder vielleicht hatte jemand Tracy nach den Vorlesungen mitgenommen, war dann geblieben, damit sie Fanny im Auto abholen konnten, um nicht im Regen nach Hause laufen zu müssen.

Steph überlegte noch dies und jenes und fragte sich schließlich, warum sie nicht einfach ausstieg und nachschaute, wer der unerwartete Besucher war. Aber falls er aufbrach, musste sie wieder raus in den Regen und ihren Wagen wegfahren. Also startete sie ihr Auto erneut, setzte rückwärts und parkte es am Bordstein vor der Eingangstür. Egal, wenn sie nass wurde – im Moment hatte sie größere Probleme.

Ihr stockte der Atem, als sie jemanden auf der Veranda bemerkte, fast verdeckt von der nassen Wäsche, die sie zum Trocknen aufgehängt hatte.

„Was willst du denn hier?“ fragte Steph und starrte ungläubig den Mann an, der ihre Gedanken beherrschte, sie fast um den Schlaf brachte und nun auch noch in ihr Heim eindrang.

„Dein Babysitter sagte mir, dass sie ohne deine Erlaubnis keine Fremden ins Haus lässt“, ließ er sie wissen und erhob sich. Er überragte sie um Haupteslänge. „Und obwohl Fanny zugab, dass sie einen Onkel Harry hat, holte sie ein so altes Foto heraus, dass man darauf keine Ähnlichkeit mit mir erkennen konnte.“

Er lächelte zaghaft, als wollte er um Entschuldigung bitten – der Ausdruck war Steph so vertraut, dass sich ihr Herz zusammenkrampfte.

„Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich wegen des Regens auf der Veranda warte – bis du kommst und uns vorstellst.“

Wieder dasselbe Schmerz auslösende Lächeln.

„Ich glaube, Fanny ist schon ganz aufgeregt, mich zu sehen“, sagte er freudig, woraufhin Steph ihn ungläubig anschaute

„Warum tust du das? Warum bist du gekommen? Was geht hier vor, Harry?“

Ihre Stimme klang schmerzvoll und besorgt zugleich, was Harry betroffen machte. Warum reagierte sie so angespannt und misstrauisch?

Zugegeben, sie waren nicht als Freunde auseinander gegangen – ehrlich gesagt, hatte sie nie wieder mit ihm sprechen wollen –, aber sie hatte sich immer für die Geschenke, die er Fanny geschickt hatte, bedankt. Und Steph war keine nachtragende Person.

Harry wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Aber genauso wenig fand er Antworten auf die Fragen, die ihn bedrängten.

Fanny brach schließlich das Eis. Das süße Kind, dessen Augen denen ihres Vaters Martin glichen, erschien in der Tür, während es immer noch das alte Foto in der Hand hielt.

„Dieser Mann sagt, er wäre Onkel Harry!“ teilte sie ihrer Mutter aufgeregt mit und warf ihm einen ernsten Blick zu.

Harry bemerkte, dass Steph zögerte. Er hatte allerdings genug von Fannys Gespräch mit ihrem Babysitter mitbekommen, um herauszufinden, dass Steph immer freundlich von ihm gesprochen hatte. Jetzt steckte Stephanie offensichtlich in einem Dilemma – würde sie ihn hinausschmeißen und anschließend Fanny erklären, warum ihr Patenonkel hier unerwünscht war, oder ihn wie einen guten Freund ins Haus einladen, so wie Fanny es sich vorgestellt hatte?

„Es ist Onkel Harry“, bestätigte Steph, kniete sich neben das kleine Mädchen und gab ihm einen Kuss. „Er ist nur etwas älter geworden, daher sieht er nicht mehr so aus wie auf dem Foto. Aber schau mal, seine Augen sind wie auf dem Foto. Und sein Lächeln …“

Sie schaute Harry an, ihre eigenen Augen waren aber kalt wie Eis.

„Lächle, Onkel Harry“, forderte sie ihn in kühlem Ton auf. „Siehst du“, wandte sie sich an ihre Tochter, „es ist fast dasselbe Lächeln wie auf dem Foto.“

Harry wusste, dass das nicht stimmte. Er kannte das Foto, das Fanny in der Hand hielt, er besaß fast das gleiche. Es war aufgenommen worden, als er erkennen musste, Steph zu lieben, mehr als Freundschaft für sie zu empfinden. Und diese Liebe spiegelte sich in dem Lächeln wider.

Auch wenn sie das damals nicht wahrgenommen hatte.

3. KAPITEL

Als es nun keine Zweifel mehr gab, dass ihr Onkel Harry leibhaftig vor ihr stand, gab es für Fanny kein Halten mehr. Sie bat ihn herein und nahm ihn mit in ihr Zimmer, um ihm jedes Spielzeug und Geschenk zu zeigen, das er ihr in den letzten Jahren geschickt hatte. Dabei stand ihr Mund keine Sekunde still, als hätte sie ihn immer schon gekannt.

Was in gewisser Weise auch stimmte, wie Steph mit zwiespältigen Gefühlen feststellen musste.

Tracy war offensichtlich von dem Besucher ebenso beeindruckt, entschuldigte sich für die Zweifel, die sie gehabt hatte, und bot ihm Tee an. Wäre Stephanie über seinen Besuch nicht so empört und verwirrt gewesen, hätte sie sich darüber amüsiert, wie die beiden um seine Aufmerksamkeit wetteiferten.

So wie es aussah, war es kaum zu vermeiden, dass Fanny ihren Onkel Harry bitten würde, zum Abendessen zu bleiben, vermutete Steph, als sie in der Küche eine Dose Tomaten zu dem Hack gab, das sie für den Sheperd’s Pie – einen Auflauf, der mit Kartoffelpüree bedeckt wurde – zubereitete.

Aber er musste schließlich erst einmal Ja sagen!

Was wollte er überhaupt?

Warum war Harry zurückgekommen?

Sie warf ihm heimliche Blicke zu, wenn sie sicher war, dass Fanny ihn mit ihren Erzählungen in Bann hielt. Sie bemerkte die kleinen Fältchen, die in den letzten fünf Jahren ihre Spuren hinterlassen hatten. Aber seine braunen Augen funkelten, und sie erkannte seinen Humor und seine liebevolle Aufmerksamkeit, wenn er mit ihrer Tochter sprach.

Es kam, wie es kommen musste, sie aßen alle zusammen zu Abend. Doch als Harry sich anbot, nach dem Essen abzuwaschen, hatte sie das Gefühl, seine Nähe in der engen Küche nicht ertragen zu können.

„Also gut“, schlug sie deshalb vor, „Tracy und Fanny können dir helfen, und ich gehe mich in der Zeit duschen. Es wäre nämlich ganz gut, wenn ich etwas früher zur Arbeit gehen könnte, da ich noch einigen Papierkram erledigen muss.“

Nach dem Duschen huschte sie, in ein Handtuch gewickelt, durch den Flur in ihr Schlafzimmer. Unzufrieden inspizierte sie ihren Kleiderschrank.

Jeans und ein T-Shirt – das trägst du doch immer, seufzte sie im Stillen. Aber heute Abend hätte sie gern etwas anderes angezogen. Sie wollte heute Abend – ja, was denn – nun ja, attraktiv aussehen …

Für Harry? So war es wohl! Sie wollte nur für ihn gut aussehen, weil er immer behauptete, sie sei wunderschön.

Obwohl er dies immer dann beteuerte, wenn sie Liebeskummer hatte und Bestätigung von außen brauchte! Damals, in den ersten Jahren ihrer Freundschaft, war es zwischen ihnen üblich gewesen, die Höhen und Tiefen ihrer Beziehungen mit den wechselnden Freundinnen und Freunden zu teilen. Harry und Martin sahen sich die jungen Männer genau an, mit denen sie ausging, während die beiden ihnen die Mädchen vorstellte, mit denen sie sich trafen, und gern auf ihre guten Ratschläge hörten.

Traurig blickte sie in den Spiegel.

Wunderschön?

Pah! Es ist egal, wie du aussiehst oder was Harry dir erzählt. Du solltest dich lieber damit beschäftigen, warum er hier ist und ob sein Erscheinen in irgendeiner Weise Auswirkungen auf dein kleines Familienleben haben könnte, ermahnte sie sich.

„Zeit zum Schlafengehen, Fanny“, sagte sie, als sie das Wohnzimmer betrat. Aber der Protest ihrer Tochter, die aufgeregt und mit geröteten Wangen bei Harry saß, war nicht zu überhören.

„Was hältst du davon, wenn ich dir nachher eine Geschichte zum Einschlafen vorlese?“ schlug er vor, und Fannys Wutanfall verwandelte sich auf der Stelle in ein fröhliches Lächeln. Als Steph dies registrierte, fühlte sie einen Stich in der Magengegend – war sie jetzt ärgerlich oder einfach nur eifersüchtig?

Weil sie sich nichts anmerken lassen wollte, setzte sie eine betont freundliche Miene auf, nahm Fannys Hand und zog sie mit ins Kinderzimmer.

Aber ihre Gefühle zu verbergen, machte die Sache für Stephanie nur noch schlimmer. Als sie schließlich zur Arbeit fahren musste, war sie so durcheinander, dass es ihr nicht gelang, den Wagen zu starten.

Während sie sich abmühte, öffnete Harry unerwartet die Autotür.

„Komm schon, ich fahre dich in die Klinik“, sagte er.

„Nicht nötig, ich kann ein Taxi nehmen!“ wehrte sie ihn barsch ab.

„Du bist stur wie ein Esel, Stephanie Prince!“ sagte Harry. „Aber Dummheit konnte man dir nie nachsagen. Was meinst du wohl, wie schnell du bei diesem Wetter an einem Freitagabend ein Taxi bekommen wirst? Abgesehen davon, wird es endlich Zeit, dass wir miteinander reden.“

„Nein, das ist nicht nötig“, erwidert Stephanie, obwohl sie einsah, dass er mit dem Taxi Recht hatte. Sie griff sich Handtasche und Schirm, bevor sie aus ihrem Wagen stieg.

„Toller Schlitten!“ bemerkte sie, nachdem sie sich auf dem Beifahrersitz niedergelassen hatte und mit ihrer Nase sofort den typischen Geruch eines Neuwagens wahrnahm.

„Ich habe es gemietet. Ich bin erst seit einer Woche wieder zurück, knapp einer Woche, um genau zu sein.“

Sie warf ihm einen kurzen Blick von der Seite zu und fragte sich, was damals falsch gelaufen war, dass sie sich heute über so banale Themen unterhielten.

„Was tust du hier?“ fragte sie wieder und war sich sicher, dieses Mal eine Antwort zu bekommen.

„Im Auto?“ neckte er sie. „Ich fahre dich zur Arbeit. Oder meinst du in Summerland? Ich habe vor, mich hier als Facharzt niederzulassen.“

„Na, dann bist du ja am richtigen Ort“, gab Stephanie gereizt zurück, denn der Gedanke an Harrys ständige Anwesenheit versetzte ihre Nerven in helle Aufruhr. „Hier leben genug reiche, ältere Frauen, die gern jünger aussehen wollen.“

Harrys Blick verfinsterte sich.

„Früher warst du nicht so gemein und gehässig, Steph“, entgegnete er distanziert. „Das hat dich besonders gemacht.“

„Besonders genug, um Martins Frau zu sein, aber nur eine seiner vielen Frauen“, antwortete sie zynisch. „Nun, diese Stephanie gibt es nicht mehr, Harry. Ich habe so viele schlimme Dinge bis heute erlebt, die mir das Recht geben, die gemeinste Frau der Welt für den Rest meines Lebens zu sein.“

Harry verschlug es bei diesen Worten die Sprache. Durch welche Hölle musste Steph gegangen sein? Und was meinte sie mit „bis heute“? Was geschah denn immer noch seit dieser schrecklichen Nacht, als Fanny geboren wurde und Martin auf seiner Fahrt zum Krankenhaus tödlich verunglückt war? Er hatte sich verspätet, weil keiner ihn erreiche...

Autor

Meredith Webber
Bevor Meredith Webber sich entschloss, Arztromane zu schreiben, war sie als Lehrerin tätig, besaß ein eigenes Geschäft, jobbte im Reisebüro und in einem Schweinezuchtbetrieb, arbeitete auf Baustellen, war Sozialarbeiterin für Behinderte und half beim medizinischen Notdienst.
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