Julia Ärzte zum Verlieben Band 184

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WENN ES NACHT WIRD IN RIO von LUANA DAROSA
In Rio vergisst die schöne Ärztin Eliana eine Nacht lang alle Bedenken! Ausgelassen flirtet sie mit einem sexy Fremden, und danach wird es noch heißer … Doch am nächsten Tag der Schock: Unvermittelt steht sie ihm im Operationssaal gegenüber – Diego Ferrari ist ihr neuer Kollege!

GEGENSÄTZE ... VERLIEBEN SICH von JULIETTE HYLAND
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  • Erscheinungstag 18.11.2023
  • Bandnummer 184
  • ISBN / Artikelnummer 8031230184
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Luana DaRosa, Juliette Hyland, Carol Marinelli

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 184

1. KAPITEL

Als Eliana zur Hotelbar hinunterkam, hatte sie nicht vorgehabt, dort irgendjemanden kennenzulernen. Schon gar nicht den fantastisch aussehenden Mann, der zwei Hocker weiter von ihr am Tresen saß. Da sie sich das Futebol-Spiel ansah, hatte sie ihn nicht bemerkt, bis er ein Gespräch über den neuen Manager einer der beiden Mannschaften mit ihr anfing. Eliana war verblüfft. Im Allgemeinen gingen Männer davon aus, dass sie von Fußball keine Ahnung hatte.

Auf den ersten Blick wirkte er wie ein gutgekleideter Geschäftsmann, der nach einem langen Tag Zuflucht an der Bar suchte. Doch je länger sie ihn ansah, desto stärker schien ihre Haut unter der Oberfläche zu prickeln. Denn er war wirklich umwerfend attraktiv.

Sein Anzug wirkte so perfekt maßgeschneidert, als wäre er darin geboren worden. Einen weniger selbstbewussten Mann hätte der tiefschwarze Stoff verschluckt, was auf diesen Mann jedoch nicht im Mindesten zutraf. Im Gegenteil, der Anzug betonte seine ruhige, aber elektrisierende Sinnlichkeit.

Das Einzige, was leicht fehl am Platz wirkte, war das schwarze, schulterlange Haar, das er auf einer Seite achtlos zerwühlt hatte, um es sich aus dem Gesicht zu streichen. Nur allzu gerne hätte Eliana ihre Finger durch diese Haarsträhnen gleiten lassen, um den Unbekannten näher an sich heranzuziehen.

Rasch schüttelte sie den Gedanken ab. Das musste wohl an ihrer Müdigkeit liegen. Als sie merkte, wie sein Blick flüchtig ihre Lippen streifte, biss sie sich unwillkürlich von innen in die Wange.

Den größten Teil des heutigen Tages hatte Eliana mit der Reise von Belo Horizonte nach Rio de Janeiro verbracht. Sie war wegen eines Trauerfalls hier. Ihr Vater Marco und ihr Halbbruder Vanderson waren vor ein paar Tagen bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt. Deshalb fühlte sie sich wie betäubt.

Keinem von beiden hatte sie nahegestanden, sie hatte nicht mal an der Beerdigung teilgenommen. Einerseits hätte sie es gerne getan, um die letzte Gelegenheit wahrzunehmen, sich von den einzigen Familienangehörigen zu verabschieden, die ihr noch geblieben waren. Aber als es so weit war, hatte sie sich stattdessen in ihrem Hotelzimmer verschanzt, während sie versuchte, sich auf ihre neue Realität einzustellen.

Jetzt war sie Alleinerbin des Krankenhauses und des Vermögens ihres Vaters. Eine Wendung des Schicksals, mit der niemand gerechnet hatte. Am allerwenigsten Eliana selbst.

„Darf ich?“ Der Mann zeigte auf den leeren Barhocker zwischen ihnen.

Eliana nickte und trank einen großen Schluck von ihrem Wein, als der Fremde herüberkam. Sie konnte förmlich spüren, welche Wärme er ausstrahlte. Obwohl sie über das Fußballspiel des gestrigen Abends sprachen, reagierte ihr Körper auf eine Weise, als würde der Unbekannte ihr irgendwelche verführerischen Worte ins Ohr flüstern.

Unauffällig warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war spät genug, dass es nicht unhöflich erscheinen würde, wenn sie sich jetzt zurückzog. Ihr Flug ging morgen sehr früh, und sie hatte heute schon einen langen, anstrengenden Tag hinter sich.

Doch eigentlich wollte Eliana nicht gehen. Durch das beiläufige Geplauder des Mannes hatte sie für kurze Zeit ihre Niedergeschlagenheit vergessen. Und die Art, wie er sie mit seinen dunklen Augen anschaute, schien auf ihrer Haut überall kleine Funken zu hinterlassen. Eine Reaktion, die sie zwar nicht erwartet hatte, die ihr aber auch nicht unangenehm war. Manche Leute machten so was, oder nicht? Sie trafen sich in Bars und beschlossen, ein bisschen Spaß zu haben.

„Ich bin Diego“, stellte er sich vor.

„Ana“, erwiderte sie und ergriff seine ausgestreckte Hand. Sein Händedruck war fest, und mit den Fingern strich er kurz über ihre Haut, als er ihre Hand einen Moment länger festhielt als nötig.

Ein erotischer Schauer lief ihren Arm hinauf, ehe er ihre Magengrube durchströmte.

„Was führt Sie nach Rio?“ Ein Lächeln umspielte Diegos volle Lippen, was seine prägnanten Gesichtszüge noch mehr zur Geltung brachte.

Er trug sein Jackett offen, und das weiße Leinenhemd deutete die pure Männlichkeit an, die darunter verborgen war. Die Vorstellung lenkte Eliana viel zu sehr ab, bis sie sich energisch daran erinnerte, dass sie sich ja mitten in einem Gespräch mit ihrem Sitznachbarn befand. Sie war auch schon früher mal in einer Bar mit Männern wie Diego in Kontakt gekommen. Allerdings konnte sie sich nicht daran erinnern, jemals eine so unmittelbare und intensive körperliche Reaktion auf die Nähe eines Fremden empfunden zu haben.

„Die Beerdigung meines Vaters.“ Obwohl sie nicht über ihren Vater sprechen wollte, musste sie sich dringend auf andere Gedanken bringen. Dass sie an der Beerdigung gar nicht teilgenommen hatte, brauchte Diego ja nicht zu wissen.

„Das tut mir leid.“ Seine Miene wurde sanft.

„Das ist nicht nötig. Wir standen uns nicht besonders nahe.“ Eliana bemühte sich, sich ihre Bitterkeit nicht anmerken zu lassen.

Diego schnaubte kurz, ehe er noch einen Schluck von seinem Drink nahm. „Das kenne ich.“

„Ah, wir haben also dieselben Vater-Probleme?“

Als ihre Blicke sich trafen, verdunkelten sich seine Augen. Eliana fröstelte etwas, da sie eine Spur von Verletzlichkeit bei ihm erkannte, die er sonst offenbar hinter einer unbeteiligten Fassade verbarg. Es dauerte nur eine Sekunde, dann verschloss sich seine Miene.

Was auch besser so war. Eliana wollte keine Bindungen in Rio. Der Umfang ihres väterlichen Erbes bedeutete, dass sie in einem Monat noch einmal hierher zurückkommen musste, um ihren Anspruch auf das Krankenhaus geltend zu machen und auch alles andere abzuwickeln, was nötig war, um Marco Costa für immer aus ihrem Leben zu verbannen. Hoffentlich würde sie dabei so wenig wie möglich von Rio sehen, denn diese Stadt enthielt für sie nichts außer Albträume.

Diego zuckte nur die Achseln, und wieder blieb sein Blick an ihrem Mund hängen. Sie spürte, wie Hitze in ihr aufstieg, und die Luft zwischen ihnen schien vor Spannung zu vibrieren.

„Ach so, verstehe. Ich soll Ihnen zwar meine Geheimnisse verraten, aber Sie erzählen mir nichts von sich.“ Eliana trank ebenfalls einen Schluck aus ihrem Glas, bevor sie wieder aufschaute. „Ich werde immer eine Fremde sein, die Sie an einer Bar getroffen haben. Was haben Sie schon zu verlieren?“

„Warum sollte ich mir den Abend verderben?“ Er lächelte halb.

Sie hob die Hände. „Wie Sie wollen, Senhor, aber dann müssen Sie mir etwas anderes verraten. Sagen Sie mir stattdessen, was Sie nach Rio geführt hat.“

Er entspannte sich sichtlich, einen Arm auf dem Tresen, während er sich mit der anderen Hand über den leichten Bartschatten fuhr, der seine hohen Wangenknochen bedeckte. „Würden Sie mir glauben, wenn ich sage, die Beerdigung meines Bruders?“

Er war nicht wirklich sein Bruder. Zwischen Diego und Vanderson gab es keinerlei Blutsverwandtschaft. Aber obwohl Diego zehn Geschwister hatte, fühlte er sich diesem Mann mehr verbunden als jedem seiner echten Familienangehörigen.

Vanderson Costa und er hatten sich mit achtzehn beim Militärdienst in der brasilianischen Armee kennengelernt. Dort hatten sie sich für das medizinische Training beworben, da sie beide nach dem Militärdienst Medizin studieren wollten.

Unter normalen Umständen wären sie einander niemals begegnet. Vanderson hatte in einem Herrenhaus in Ipanema gelebt, der teuersten und luxuriösesten Gegend von Rio, während Diego am Rande des Complexo do Alemão aufgewachsen war, einem der größten Slums nördlich des Stadtzentrums. Während ihrer Zeit beim Militär waren sie jedoch bloß Rekruten gewesen. Waffenbrüder, die alles gemeinsam miteinander durchmachten. Ihre Freundschaft hatte die Kluft von Reichtum und Klassenunterschied überbrückt und Diego vieles über sich und seinen Lebensweg beigebracht.

Und jetzt war Vanderson tot.

Den Freund zu verlieren, der für ihn wie ein Bruder gewesen war, presste ihm das Herz so zusammen, als hingen zentnerschwere Gewichte daran. Überrascht stellte er jedoch fest, dass dies der erste Moment war, in dem er wieder freier atmen konnte.

Irgendwie lag das wohl auch an der Frau neben ihm.

Diego hatte sein ganzes Leben lang in Rio de Janeiro gewohnt. Der einzige Grund, weshalb er sich heute in einem Hotel befand, war Vandersons Beerdigung. Hier hatte er sich zu einem kleinen Dinner mit den überlebenden Familienangehörigen getroffen. Vandersons Ehemann und Tochter.

Eigentlich hatte Diego gerade gehen wollen, als die Frau, die allein an der Bar saß, seine Aufmerksamkeit erregte. Rötliche Strähnen leuchteten in ihrem seidigen dunkelbraunen Haar, das ihr in üppigen Locken über die Schultern fiel. Was ihn aber am meisten fasziniert hatte, war die Tatsache, dass sie auf dem Fernsehbildschirm die Fachgespräche der Sportreporter verfolgte, die über das Futebol-Spiel des gestrigen Abends diskutierten.

Da er selbst ein großer Fußballfan war, hatte dies sein Interesse geweckt, und er war an die Bar gekommen, um sie zu beobachten. Allerdings hatte er es nicht unauffällig genug getan, denn nur wenige Sekunden später hatte die Frau zu ihm hingeschaut. Als ihre Blicke sich trafen, war für einen Moment die Zeit stehen geblieben. Außerdem hatte es Diego einen ungewohnten Stich versetzt.

Er war wie gebannt von dem hellbraunen Farbton ihrer Augen. Hin und wieder, wenn das Licht in genau dem richtigen Winkel hineinfiel, wirkten sie wie reines Gold.

An ihrem Verhalten merkte er, dass sie sich ihrer Schönheit überhaupt nicht bewusst war. Doch vor allem fielen ihm ihr analytischer Verstand und ihre Schlagfertigkeit auf, als sie das Spiel besprachen. Dahinter steckte Leidenschaft, und er wollte sie gerne näher kennenlernen, um festzustellen, wo sich diese Leidenschaft vielleicht noch zeigen würde.

Ein seltsamer Gedanke, denn Diego lernte die Frauen in seinem Leben niemals näher kennen. Und er ging auch sehr offen damit um. Er hatte miterlebt, wie seine Eltern sich im Namen der Liebe gegenseitig zerstörten, und wusste daher, dass eine romantische Beziehung nur zu Schmerz und erzwungenem Verzicht führte.

Deshalb achtete er darauf, immer rechtzeitig genug auszusteigen, bevor die Dinge zu kompliziert und emotional wurden. Eine Möglichkeit, all das zu vermeiden, lag darin, nicht allzu viele Fragen zu stellen, bevor man zum eigentlichen Ziel des Abends überging.

Also wieso saß er jetzt da und fragte sie nach der Beziehung zu ihrem Vater oder sagte ihr, warum er hier war?

Mit leicht verengten Augen musterte Ana ihn. „Interessant, wie diese Bar die Trauernden anzieht.“ Sie hielt kurz inne. „Mein Beileid wegen Ihres Bruders.“

Er lächelte. Ihr aufrichtiges Mitgefühl strahlte eine sanfte Wärme aus. „Ohne ihn wird das Leben beschissen sein.“

Diego gestattete sich, die Wahrheit in seinen Worten zu spüren, die er dieser völlig fremden Frau mitteilte.

Dann blickte sie auf ihre Armbanduhr. Ein Zeichen dafür, dass sie demnächst gehen wollte.

Sie öffnete den Mund, um sich zu verabschieden. Da Diego verhindern wollte, dass der Abend schon jetzt endete, legte er seine Hand auf ihre, wobei er zugleich auch die Uhr verdeckte. Die Berührung schien feurige Funken in ihm zu entflammen.

„Wie lange sind Sie noch in Rio?“ Seine Stimme klang seltsam rau.

Ana sah ihn an. Nahm auch sie diese sprühenden Funken zwischen ihnen wahr? Sie drehte die Hand um, wodurch ihre Handflächen aufeinanderlagen, und fuhr mit den Fingerspitzen über die Innenseite seiner Hand.

„Nur heute Abend.“ Sie zögerte einen Moment, als wollte sie noch etwas sagen. Doch dann erlosch das Leuchten in ihren Augen, und sie schwieg.

Dass ihre Vermutung, Diego wäre ebenfalls nur vorübergehend in der Stadt, falsch war, wusste sie nicht, da er diese Annahme nicht richtiggestellt hatte. Aber das spielte auch keine Rolle. Morgen würde sie verschwunden sein, und er blieb zurück, um mit einem Leben zurechtzukommen, in dem es seinen besten Freund nicht mehr gab.

Sobald er Ana sah, hatte er sich nicht zurückhalten können. Ihre Anwesenheit wirkte beruhigend, und ein Blick unter ihren langen Wimpern hervor hatte genügt, um ein heftiges Verlangen in ihm zu wecken. Diese Reaktion war anders als bei seinen sonstigen flüchtigen Abenteuern, mit denen er sich gewöhnlich zufriedengab. Aber in diesem Moment war ihm das egal. Sein Schmerz wurde von der Hitze des Begehrens verdrängt, die seinen Körper durchströmte.

„Dann bin ich ja froh, Sie entdeckt zu haben. Sonst hätte ich womöglich die Chance meines Lebens verpasst, Dona Ana.“

„Sie haben sich an die Bar gesetzt, weil Sie mich gesehen haben?“, fragte sie skeptisch.

Diego musste beinahe lachen. Eine schöne Frau wie sie wurde in einer Bar doch sicher ständig angesprochen. Und trotzdem wirkte sie erstaunt.

„Ich konnte nicht anders“, erwiderte er mit gesenkter Stimme, wobei er seine Finger mit ihren verschränkte.

Während sein Verstand noch eine Entscheidung zu treffen versuchte, hatte sein Körper längst die Kontrolle übernommen, indem er auf die ungeheure Anziehung reagierte, die zwischen ihnen vibrierte.

Als Diego ihre Hand umschloss, hämmerte Elianas Herz wie verrückt. Der braungrüne Farbton seiner Augen verdunkelte sich, während die geradezu magnetische Anziehung, die seit einer Stunde zwischen ihnen zu pulsieren schien, förmlich greifbar wurde.

Der Kontakt ihrer Hände hatte in Eliana eine so überwältigende Reaktion ausgelöst, dass es ihr den Atem raubte. Wie war so etwas überhaupt möglich?

„Sehr unwahrscheinlich“, meinte sie trocken.

Sie wusste, dass er ihr schmeichelte, um mit ihr zu flirten. Dennoch spürte sie diese intensive Erregung, die ihren gesamten Körper erfasste. „Ich glaube eher, das ist ein Spruch, der sich bei all den vielen Frauen, die Ihnen in Bars begegnen, als erfolgreich herausgestellt hat.“

Diego hob die Brauen. „Was glauben Sie denn, worauf ich aus bin?“

Mit den Fingerspitzen strich er über die Rückseite ihrer Hand, sodass ein Funkenregen ihren Arm entlangzulaufen schien. Und die Hitze, die sich von Elianas Magengegend ausbreitete, verband sich mit diesem Funkenschauer.

Diego war wie ein übermächtiger Magnet, der sie unwiderstehlich in seinen Bann zog.

„Sie wollen mit mir ins Bett gehen“, gab sie geradeheraus zurück.

„Ah, direkt auf den Punkt. Sollen wir wirklich das witzige Hin und Her einfach überspringen?“ Er grinste jungenhaft. „Man hat mir nämlich gesagt, dass ich ziemlich gut flirten kann.“

Eliana lachte leise. „Klar, das haben sie natürlich alle behauptet.“

Mit entrüsteter Miene presste er sich die freie Hand an die Brust. „Sie verletzen mich zutiefst, Dona Ana. Ich sorge immer dafür, dass eine Frau sich absolut wertgeschätzt fühlt.“

Sie hob die fein geschwungenen Augenbrauen. Seine Offenheit war genauso direkt wie ihre, und durch die Berührung seiner Finger war ihr zumute, als wäre sie in eine Wolke aus leidenschaftlichem Verlangen eingehüllt.

„Wie läuft Ihr Verführungsplan denn üblicherweise ab?“, erkundigte sie sich.

„Normalerweise würde ich Ihnen ein paar Drinks ausgeben, und wir würden über ein paar Belanglosigkeiten in unserem Leben plaudern. Dabei würde ich Ihnen bei jeder sich bietenden Gelegenheit Komplimente machen, Sie hier und da berühren, während Sie mir etwas über sich erzählen …“ Diego stand von seinem Barhocker auf und kam so dicht heran, dass Eliana zu ihm aufsehen musste. Dann fuhr er mit der Hand über ihren bloßen Arm hinauf bis zur Schulter, ehe er sie wieder hinuntergleiten ließ, wodurch er eine glühende Feuerspur auf ihre Haut zeichnete.

„Ich rede ungern über mich selbst“, erklärte sie mit belegter Stimme.

Er neigte den Kopf zu ihr, sodass sie den Duft seines Aftershaves wahrnehmen konnte. Unwillkürlich lehnte sie sich zu ihm, um die kleine Lücke zwischen ihnen zu schließen.

„Da Sie mich schon durchschaut haben, können wir den Teil ja überspringen, oder?“, flüsterte Diego in seiner tiefen, erotischen Stimme.

Als er mit den Lippen ihr Ohr streifte, rieselte Eliana ein sinnlicher Schauer über den Rücken.

Nach diesem anstrengenden Tag wäre etwas Trost in den Armen dieses unglaublich attraktiven Mannes wie Balsam für ihre Seele. Da er sehr deutlich gemacht hatte, dass er nicht mehr wollte als das, würden auch bei keinem von ihnen irgendwelche Gefühle verletzt. Außerdem war Eliana überzeugt, dass es mit Sicherheit guter Sex wäre. Was konnte eine Nacht schon schaden?

Sie griff nach ihrer Handtasche, ehe auch sie vom Hocker rutschte und einen Schritt auf Diego zutrat. Leicht fuhr sie ihm über den Arm, während sie sich zu ihm lehnte und mit dem Mund sein Kinn in einem angedeuteten Kuss streifte.

Dabei flüsterte sie ihm zu: „Ich bin in Zimmer 901. Trinken Sie Ihr Glas aus, und wir treffen uns dann in einer Viertelstunde oben.“

2. KAPITEL

Diego hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Er hatte gedacht, mehr als einen Monat nach Vandersons Beerdigung wäre es mittlerweile leichter, in den Schlaf zu finden. Aber hin und wieder blieb ihm die Nachtruhe versagt. Manchmal aus Trauer, aber meistens hielten ihn Sorgen nachts wach. Sorgen um die Zukunft, aber auch eine unerfüllte Sehnsucht in seinem Herzen.

Ana.

Die schöne Unbekannte, die er in der Bar getroffen hatte.

An jenem Abend vor über vier Wochen war er ihr auf ihr Zimmer gefolgt, wo er den besten Sex seines Lebens gehabt hatte. Sie hatten so perfekt zusammengepasst, als wären sie füreinander geschaffen gewesen.

Rasch schüttelte Diego diesen Gedanken ab. Nein, ganz sicher nicht. Sie hatten die Nacht zusammen verbracht und ein leidenschaftliches Abenteuer miteinander genossen. Es war nicht nötig, der Sache eine größere Bedeutung beizumessen.

Aber Diego wollte mehr. Mehr von einer Frau, die er nicht haben konnte, weil er nicht wusste, wie er selbst mehr geben sollte. Das hatte er seinen Eltern zu verdanken. Ihr ständiges Fremdgehen hatte ihn gelehrt, dass Liebe die Menschen nur dazu brachte, furchtbare Dummheiten zu begehen. Lieber würde er für immer Single bleiben, als einer Frau das anzutun, was sein Vater seiner Mutter angetan hatte.

Müde schlüpfte er in einen grauen Klinikanzug und stellte die Kaffeemaschine in der Küche an. Danach ging er durch eine Glastür hinaus, überquerte ein kleines Rasenstück und betrat die Garage, die zu seinem Haus gehörte. Als er das Licht einschaltete, kniff er die Augen zu, da er noch immer nicht ganz wach war.

In der Garage stand kein Auto, sondern sie war voll mit medizinischer und sportlicher Ausrüstung. An der gegenüberliegenden Wand lag auf einer großen Werkbank eine Beinprothese.

Seufzend betrachtete Diego die kleine Prothese, mit deren Anfertigung er in den vergangenen Wochen den größten Teil seiner Freizeit verbracht hatte. Sie sollte einem Jungen angepasst werden, der aus seiner alten Prothese herausgewachsen war.

Es gab nicht viele Patienten mit Prothesen, die Diego in seiner kostenlosen Klinik in Complexo do Alemão aufsuchten. Im Allgemeinen kamen die Leute aufgrund von Erkrankungen, die jeder Hausarzt versorgen konnte, oder wegen Verletzungen, die genäht werden mussten. Diegos Fachkompetenz als Orthopäde war nur selten gefragt.

Er lehnte Patienten niemals ab, manchmal trotz enorm hoher persönlicher Kosten. Denn er erinnerte sich nur allzu gut daran, wie es gewesen war, in dieser Gegend aufzuwachsen, ohne jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Diego selbst war diesem Leben in Armut durch Beharrlichkeit, aber auch durch Glück entkommen. Das Letztere, verbunden mit den Erinnerungen an seine Zeit in den Slums, spornte ihn dazu an, hart zu arbeiten und den Menschen dort etwas zurückzugeben.

„Ist das Bein für Miguel? Ich habe seine Mutter gerade im Laden deiner Schwester getroffen, und sie hat mir davon erzählt.“

Bei dem unerwarteten Klang der Stimme hinter ihm zuckte Diego zusammen und drehte sich um. Seine Großmutter Márcia war in die Garage gekommen, ein Tablett mit einem Becher Kaffee und ein paar Scheiben Toast in der Hand.

Avozinha, was tust du hier schon so früh?“ Er nahm ihr das Tablett ab und gab ihr einen Wangenkuss.

„Pelé ist morgens gerne draußen. Deshalb haben wir einen Spaziergang hierher gemacht, um nach dir zu schauen.“

An seiner Großmutter vorbei blickte Diego in den Garten, wo ein großer Windhund im Gras herumschnüffelte. Doch als Diego einen Pfiff ausstieß, hob er seine lange Schnauze und lief mit langen Sprüngen und einem aufgeregten Bellen auf ihn zu.

Diego kniete sich hin, um Pelé am Hals zu kraulen. „Moment mal, du bist den ganzen Weg zu Alines Laden gelaufen? Du solltest in dieser Gegend nicht alleine unterwegs sein.“

Doch Márcia machte nur eine wegwerfende Geste. „Ich bin nicht allein. Pelé passt auf mich auf.“

„Dieser kleine Feigling? Weißt du noch, als du einen Eindringling in deinem Garten hattest und Pelé sich unter dem Couchtisch versteckt hat, als er den Fremden bemerkte? Er ist lieb, aber das wird dir nicht helfen.“ Noch ein letztes Mal streichelte er das hellbraune Fell und kraulte den Windhund zwischen den großen, vertrauensvollen Augen, bevor er wieder aufstand.

„Halt du mir keine Vorträge darüber, was ich tun oder lassen soll, junger Mann. Ich habe mich um dich gekümmert, seitdem du mir grade mal bis zum Knie gereicht hast, und schau dir an, was aus dir geworden ist.“

Diego musste sich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen, als Márcia sich ihrem Lieblingsthema zuwandte. Ihrem Enkel, dem Chirurgen, und wie sie ihn davor gerettet hatte, mit den falschen Leuten auf der Straße zu landen. Aber im Grunde gebührte ihr tatsächlich die Anerkennung dafür. Schließlich hatte sie die Aufgabe übernommen, ihn aufzuziehen, als seine Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren.

Sim, Vovo. Aber du weißt, dass ich mir Sorgen um dich mache.“ Beschwichtigend hob er die Hände.

„Mach dir lieber Sorgen um Miguel. Er braucht ein neues Bein.“

Mit einem frustrierten Laut schaute Diego auf die Werkbank. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich es alleine anfertigen muss. Vanderson war eigentlich damit einverstanden gewesen, dass ich mir zeitweise den Kinderorthopäden aus meinem Team dafür ausleihe.“

„Was ist denn mit Marcos Tochter? Sie ist doch die neue Eigentümerin, oder? Vielleicht hat sie ja gar nichts dagegen, wenn du Miguel hilfst.“

Zweifelnd sah er seine Großmutter an. „Ich habe keine Ahnung, was von ihr zu erwarten ist. Sie und die Costas haben in den letzten siebzehn Jahren nicht mal miteinander gesprochen. Vanderson hat mir gesagt, dass sie auch Ärztin ist. Aber sein Vater hatte ihm jeden Kontakt mit ihr verboten.“

Die kostenlose Klinik, die er öffnete, wann immer er die Zeit dazu hatte, benötigte mehr Unterstützung, als er alleine leisten konnte.

Eliana Oliveira, so hieß die Erbin von Marco Costa. Im Santa-Valeria-Krankenhaus hieß es, sie könnte jetzt jeden Tag eintreffen, um ihre Position als Chefärztin anzutreten.

Abgesehen von dem Skandal, der ihre Geburt umgab, wusste kaum jemand etwas von ihr. Diego war sie völlig unbekannt, aber er hatte momentan andere Sorgen. Er wollte das Bein für den kleinen Miguel fertigstellen, ob mit oder ohne die Zustimmung der neuen Chefin. Allerdings wäre es ihm lieber, es mit ihrem Einverständnis zu tun.

„Sie wird sicher mit sich reden lassen.“ Mit einem aufmunternden Lächeln klopfte Márcia ihm auf den Arm.

Er wünschte, er könnte ihren Optimismus teilen, stellte sich aber lieber auf das Schlimmste ein. Dann konnte er nur angenehm überrascht werden.

Seufzend warf er einen Blick auf die Uhrzeit seines Handys und aß das letzte Stück Toast. „Ich sollte jetzt besser gehen. Ich will nicht zu spät kommen, falls sie heute auftaucht.“

Eliana saß an dem überdimensionalen Schreibtisch im Büro des Chefarztes, das früher ihrem entfremdeten Vater gehört hatte. Erneut protestierte ihr Magen, und sie presste sich die Hand vor den Mund. Der Stress ihrer Rückkehr nach Rio de Janeiro, wo sie sich um die Geschäftsführung des Santa-Valeria-Krankenhauses kümmern musste, strengte sie doch sehr viel mehr an, als sie vermutet hatte. Als sie aus einem unruhigen Schlaf erwachte, war sie von mehreren Wellen heftiger Übelkeit erfasst worden. Dennoch bemühte sie sich darum, möglichst professionell aufzutreten.

Suelen, ihre Assistentin, hatte ihr einen Kalender mit allen Terminen für den heutigen Tag vorgelegt. Zehn Leute wollten heute mit ihr sprechen, alle über ein ihnen wichtiges Thema. Doch Eliana bezweifelte, dass diese Themen wirklich so dringend waren, wie sie es darstellten.

Sie lehnte sich auf dem Sessel zurück und schloss kurz die Augen, um die schon wieder aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken.

Ihr Körper reagierte auf ihre Nervosität. Eigentlich sollte sie nur Fachärztin sein, keine Chefärztin. Ihre Ausbildung als Chirurgin hatte Eliana nicht auf die ganze Verwaltungsarbeit vorbereitet, die jetzt von ihr erwartet wurde. All die unterschiedlichen Berichte über finanzielle Angelegenheiten verstärkten ihre Magenprobleme nur noch mehr.

Es ist ja bloß für zwei Wochen, sagte sie sich seufzend. Sie würde einen neuen Chefarzt ernennen, der diese Arbeit für sie übernahm, und dann nach Belo Horizonte zurückkehren. In Rio erinnerte sie alles nur an ihren alten Schmerz, deshalb wollte sie nicht hier sein. Eigentlich wollte sie ja nicht mal die Eigentümerin des Krankenhauses sein.

Die Leute, die ihren Vater gekannt hatten, dachten vielleicht, dass Eliana in seine Fußstapfen getreten war, indem sie Medizin studiert hatte. Aber in Wahrheit hatte er bei ihrer Berufswahl kaum eine Rolle gespielt.

Vielmehr wollte sie ihrer Mutter nacheifern. Diese war Krankenschwester im Santa Valeria gewesen, als sie schwanger wurde. Elianas Eltern hatten eine Affäre gehabt, doch anstatt sich seiner Verantwortung zu stellen, hatte ihr Vater ihre Mutter aus der Stadt vertrieben, damit niemand von seiner Untreue erfuhr.

Wieder und wieder hatte Marco Costa sich als unehrenhafter Mann gezeigt, und Eliana wollte nicht das Geringste mit ihm zu tun haben. Er hatte ihre Mutter so tief verletzt, dass sie gestorben war, weil sie letztendlich keine Kraft mehr gehabt hatte. Eliana konnte förmlich das Geflüster der langjährigen Mitarbeiter hören, die ihre Mutter noch gekannt hatten.

Trotz ihrer vehementen Abneigung blieb ihr jetzt jedoch nichts anderes übrig, als sich mit dem Erbe zu beschäftigen, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte. Je eher sie seinen Namen zum letzten Mal hören musste, desto besser.

Es klopfte.

„Verzeihung, Dr. Oliveira.“

Beim Klang der sanften Stimme ihrer Assistentin richtete Eliana sich wieder auf. „Habe ich schon meinen ersten Termin?“

„Äh, nein.“ Suelen zögerte. „Eine chirurgische Assistenzärztin hat um Hilfe gebeten. Es gibt Komplikationen bei einer Operation, und keiner der anderen Oberärzte scheint verfügbar zu sein.“

Verständnislos meinte Eliana: „Es gibt keine Oberärzte, die den Assistenzärzten helfen können? Wo sind sie?“

Suelen schaute auf ihren Notizblock und wurde rot. Die Sache war ihr sichtlich unangenehm. „Einer hat sich wohl krankgemeldet, drei operieren selbst, und zwei andere …“ Wieder warf sie einen Blick auf ihren Block. „… spielen Golf.“

„Was?“ Eliana stand auf und winkte ihrer Assistentin, damit sie ihr folgte. „Verschieben Sie meine Meetings. Ich kümmere mich selbst darum. Zeigen Sie mir den Operationssaal.“

Trotz ihrer Magenbeschwerden empfand sie Vorfreude bei dem Gedanken, gleich im OP zu stehen. Das war eine Welt, die sie kannte und in der sie sich wohlfühlte.

Gemeinsam eilten sie zur chirurgischen Abteilung, wo Suelen sie zum Operationssaal Nummer drei führte. Dort wusch Eliana sich so schnell wie möglich und wandte sich dann an die OP-Schwester, die herauskam, um sie zu begrüßen.

„Haben Sie vielleicht ein Paar Ersatzschuhe für mich?“, fragte sie mit einem Blick auf ihre High Heels. „Alles andere wäre besser als das hier.“

„Ich glaube, für solche Fälle haben wir einige Chinelas hier.“ Die OP-Schwester öffnete einen kleinen Schuhschrank, aus dem sie ein Paar neongrüne Pantoffeln herausholte.

Mit einem leicht angewiderten Ausdruck starrte Eliana die Schuhe an. „Hm, ich habe ja gesagt, alles andere wäre besser.“ Lachend streifte sie ihre High Heels ab und verstaute sie in dem Schuhschrank.

Sobald die OP-Schwester sie mit einem Kittel und Handschuhen ausgestattet hatte, setzte Eliana eine Maske auf, bevor sie den Operationssaal betrat. Sofort schien sich ihr nervöser Magen zu beruhigen.

Sie kam an den OP-Tisch, wo die Assistenzärztin Mühe hatte, das Operationsfeld frei zu halten.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

„Ein Zwerchfellriss durch stumpfe Gewalteinwirkung. Als wir aufgemacht haben, fanden wir auch noch eine unerwartete Verletzung der Nieren. Da war mehr Blut, als wir vermutet hatten.“ Ängstlich sah die junge Assistenzärztin sie an. „Der Oberarzt sollte eigentlich dabei sein, aber wir hatten keine Zeit, um auf ihn zu warten.“

„Schon gut. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen.“ Eliana trat näher heran. „Zuerst müssen wir die Blutung eingrenzen. Klemme, bitte.“ Sie streckte die Hand aus und spürte einen Moment später schon den kühlen Stahl des Instruments durch ihren Handschuh hindurch.

„Ich glaube, es gibt einen Riss in einer der Nieren.“ Die Stimme der Assistenzärztin wirkte zögernd und verzweifelt zugleich.

Eliana runzelte die Stirn. Offenbar hatte das OP-Team bereits eine ganze Weile nach einem Vorgesetzten gesucht. Sie nickte ihrer jungen Kollegin zu. Im OP konnte man keine Panik gebrauchen. „Ja, eine so starke stumpfe Gewalteinwirkung, dass sie das Zwerchfell derartig verletzt, kann auch einen Nierenschaden verursachen. Wir klemmen erst mal die Nierenarterie ab, um festzustellen, ob die Blutung dann nachlässt.“

Sie deutete auf die entsprechende Arterie und platzierte die Klemme. „Hier absaugen, damit wir besser sehen können“, wies sie den zweiten Assistenzarzt an, der das Instrument an die von ihr angegebene Stelle setzte.

Bald waren die Nieren wesentlich besser zu erkennen, und nach dem Absaugen sammelte sich deutlich weniger Blut.

„Gut. Isolieren Sie die Quelle der Blutung immer dadurch, dass Sie die richtige Arterie abklemmen“, meinte Eliana. „Jetzt können wir den Schaden ungehindert beheben. Ich denke, das sollte Ihnen vertraut sein. Was kommt als Nächstes?“

Die Assistenzärztin erklärte die nächsten Schritte, und Eliana nickte zustimmend. Am liebsten hätte sie das Skalpell selbst in die Hand genommen. Es war schon eine Weile her, seit sie Operationen durchgeführt hatte. Nach ihrer Facharztprüfung in Allgemeinchirurgie hatte ihr Lehrkrankenhaus sie gebeten, als Oberärztin zu bleiben. Eliana hatte das Angebot angenommen, allerdings unter der Voraussetzung, vorher einen längeren Urlaub machen zu können. Da sie so intensiv für ihre Zulassung studiert hatte, brauchte sie dringend eine Pause.

Eine Pause, die sie jedoch nur wenige Tage hatte genießen können, bevor sie die Nachricht vom Unfall ihres Vaters erhielt. Obwohl sie gerne selbst am Patienten gearbeitet hätte, führte Eliana die beiden jungen Ärzte durch die Operation. Falls sie von Anfang an dazu fähig gewesen wären, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, hätte ihnen eine solche, eher häufig auftretende Komplikation nicht solche Schwierigkeiten gemacht.

Hinter ihrer Maske unterdrückte Eliana ein Seufzen. Schon gleich an ihrem ersten Tag stellte sie Dinge fest, die ihren Aufenthalt in Rio de Janeiro erheblich zu verlängern drohten. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher, als die Stadt endgültig hinter sich zu lassen.

Diego hatte gerade das Zimmer einer Patientin verlassen, als sein Pager ertönte. Vom Stationstresen in der Allgemeinchirurgie wurde er gebeten, sich aufgrund einer dringenden Angelegenheit zu melden. Stirnrunzelnd fragte er sich, was das zu bedeuten hatte. Als Oberarzt der Orthopädie hatte er nur selten mit Kollegen außerhalb seiner eigenen Abteilung zu tun.

Unschlüssig schaute er auf das Display des Pagers. Seine Mitarbeiter hatten ihm berichtet, dass die neue Chefärztin heute eingetroffen war. Hatte dies vielleicht mit ihr zu tun? Die Stationsschwester hatte ihn informiert, dass Dr. Oliveira für nächste Woche ein Meeting mit ihm plante.

Schnell eilte Diego zur Allgemeinchirurgie hinüber und wandte sich an den Pfleger am Stationstresen. „Was ist los? Ich wurde dringend hergerufen.“

Der Pfleger nickte seufzend. „Danke, Dr. Ferrari. Ich wusste nicht, wen ich in dieser Situation sonst hätte rufen sollen. Keiner der chirurgischen Fachärzte hat auf meinen Ruf reagiert, und in OP Nummer drei sind zwei äußerst nervöse Assistenzärzte gerade ziemlich in Panik.“

Diego warf einen Blick auf die Tafel mit dem Operationsplan. Vier Operationen waren momentan angesetzt, und zwei Fachärzte hatten Stationsdienst. „Wo sind diese beiden?“

Der Pfleger verdrehte die entnervt die Augen. „Sie kennen die zwei doch. Sie waren Dr. Costas Speichellecker und heben nicht mal den kleinen Finger, wenn man sie nicht dazu zwingt. Sie haben sich im Laufe der letzten Jahre ein gemütliches Nest gebaut und wissen überhaupt nicht mehr, wie man noch richtig arbeitet.“

Diego unterdrückte ein Stöhnen. Leider besaßen nicht alle Ärzte an diesem Krankenhaus dieselbe Arbeitsmoral wie er. Im Gegenteil, mehrere der höhergestellten Ärzte waren Freunde und Partner des früheren Chefarztes gewesen, und genauso verhielten sie sich auch. Als ob sie unantastbar wären und sich nicht an dieselben Regeln halten müssten wie alle anderen.

„OP Nummer drei?“, vergewisserte er sich.

Der Pfleger nickte, schien jedoch zu überlegen, ob er noch etwas sagen sollte.

Fragend sah Diego ihn an.

„Wir haben Sie vor zehn Minuten gerufen. Die Assistenzärzte waren panisch. Weil wir nicht wussten, ob Sie kommen, mussten wir jemand anders rufen“, sagte der Krankenpfleger.

„Wen denn?“

„Die Chefin. Sie ist sofort runtergekommen, deshalb müssten sie jetzt wohl fertig sein. Allerdings habe ich sie noch nicht aus dem OP kommen sehen.“

Diego war überrascht. Offenbar war Marco Costas entfremdete Tochter nicht nur Ärztin, sondern sogar Chirurgin. „Ich gehe trotzdem hin. Vielleicht braucht sie Unterstützung.“

Noch einmal blickte er auf die Tafel. In OP Nummer drei wurde ein Unfallopfer operiert.

Eigentlich sollten Assistenzärzte eine Operation an einem Unfallopfer nicht ohne Aufsicht durchführen. Bei solchen Fällen wusste man nie, was einen erwartete.

Diego nickte dem Pfleger, der ihn gerufen hatte, kurz zu, ehe er den Tresen verließ. Er erreichte den OP-Vorraum, als das Team gerade dabei war, die Operation zu beenden. Eine Assistenzärztin legte den Wundverband an, während ihr Kollege mit einer Frau sprach, bei der es sich vermutlich um die neue Chefin handelte.

Er betrachtete sie. Das Haar hatte sie unter einer grauen Haube verborgen, und das Gesicht war von der Maske verdeckt. Im Licht der Operationslampen wirkte sie blass, als ginge es ihr nicht gut.

Diego wollte in den OP kommen, da hob die neue Chefin den Kopf und sah ihn direkt an. Einen Moment lang zog sie die Augenbrauen zusammen, und sobald ihre Blicke sich trafen, spürte er ein vollkommen unerwartetes Aufblitzen von Leidenschaft. Ihre goldbraunen Augen weiteten sich, als sie ihn erkannte. Da wusste er, dass sie es war. Diese Augen hätte er überall wiedererkannt.

Die Frau, die ihm seit vier Wochen nicht mehr aus dem Kopf ging.

Ana.

Sekundenlang starrten sie einander an, während sich Diegos Gedanken überstürzten. Ana war Eliana Oliveira. Vandersons Schwester. In dem Augenblick, als ihm das bewusst wurde, fügten sich die Puzzleteilchen zusammen. Er konnte es nicht fassen, dass er es nicht gleich an dem Abend gesehen hatte, als sie sich in der Bar begegnet waren.

Sie besaßen dieselbe dunkelbraune Haarfarbe mit einer rötlichen Schattierung, und auch ihre Augen waren ähnlich. Die Frau, mit der er eine unvergessliche Nacht verbracht hatte, war Vandersons Schwester.

Wie konnte ihm das entgangen sein? Jetzt, da Diego es wusste, erschien es ihm so offensichtlich. Schließlich hatte sie ja auch gesagt, dass sie von der Beerdigung ihres Vaters kam. Doch das stimmte nicht. Er hatte an der Beerdigung teilgenommen und dort Ausschau nach der Erbin des Costa-Vermögens gehalten.

Und was sollten sie jetzt tun?

In ihren Augen schien sich das Verlangen widerzuspiegeln, das ihn selbst durchzuckte. Oder interpretierte er womöglich zu viel in diesen kurzen Blickwechsel hinein?

Eliana war wie angewurzelt. Sie blinzelte flüchtig, um den Schock abzuschütteln, ehe sie sich wieder der Assistenzärztin zuwandte, die vor ihr stand.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie aufmerksam Diego sie beobachtete. Einen Moment lang verdrängte sein Anblick sogar die Übelkeit, die gegen Ende der Operation erneut in ihr aufgestiegen war. Letztendlich war Eliana deshalb froh, dass sie nicht selbst hatte operieren müssen. Sie spürte eine Schwäche in ihrem gesamten Körper. Das waren nicht nur die Nerven. Sie musste sich wohl einen Magen-Darm-Infekt eingefangen haben.

„Falls sich die Vitalzeichen des Patienten ändern, rufen Sie mich bitte“, sagte sie zu der Assistenzärztin und verließ dann den OP, sobald der Patient hinausgerollt wurde.

Draußen zog sie den OP-Kittel aus und nahm Handschuhe und Maske ab, bevor sie die Haube entfernte. Dann schloss sie die Augen und atmete mehrmals tief durch, um ihre Fassung zurückzugewinnen. Der Letzte, den sie hier erwartet hatte, und auch der Letzte, den sie hätte sehen wollen, war gerade im Operationssaal aufgetaucht.

Hochgewachsen und attraktiv stand Diego vor ihr. Eliana wusste gar nicht, wo sie mit ihren Fragen anfangen sollte. Offensichtlich war er ebenfalls Chirurg, und zwar an ihrem Krankenhaus.

Wenn er in Rio wohnte, was hatte er dann im letzten Monat im Hotel gemacht? Eliana war davon überzeugt gewesen, dass sie ihn nie wiedersehen würde.

Sie wollte etwas sagen, drückte sich dann jedoch hastig die Hand vor den Mund, da erneut eine Welle der Übelkeit ihr den Magen umdrehte. Sie blieb reglos stehen und holte noch einmal tief Luft.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“ Diegos Stimme klang einerseits distanziert, aber zugleich auch mitfühlend.

Wieder versuchte Eliana etwas zu sagen, doch kaum entfernte sie ihre Hand vom Mund, wurde ihr wieder übel. Die Hand vor den Mund gepresst, schüttelte sie nur stumm den Kopf. Sofort legte Diego ihr seinen muskulösen Arm um die Taille und führte sie zu einem kleinen Hocker am anderen Ende des Vorraums.

Mit einem besorgten Ausdruck hockte er sich vor sie hin. Bei dieser Wärme in seinen Augen hätte sich ihr Herzschlag normalerweise wie wild beschleunigt. Doch jetzt war Eliana nur dankbar dafür, dass es hier jemanden gab, der ihr nicht völlig fremd war.

Prüfend legte Diego ihr die Hand auf die Stirn. „Nicht warm“, stellte er fest. „Aber du hast Schweißperlen auf der Stirn und siehst aus, als wäre dir schlecht. Könnte ein Magen-Darm-Infekt sein. Hast du heute schon irgendwas gegessen?“

Nach einigen weiteren tiefen Atemzügen wagte sie es, noch einmal die Hand vom Mund zu nehmen. „Nein, ich hatte bloß einen Kaffee. Ich bin schon so aufgewacht, und beim Anblick von Essen hat sich mir gleich der Magen umgedreht.“

„Du solltest eigentlich wissen, dass Kaffee kein Ersatz für ein richtiges Frühstück ist“, erwiderte Diego missbilligend.

Plötzlich fühlte Eliana sich wie benommen. Der Raum schien sich zu verdunkeln und fing an, sich zu drehen. Der Schwindel verschlimmerte ihre Übelkeit nur noch mehr.

„Ich glaube, ich werde gleich ohnmächtig“, brachte sie mühsam hervor.

Während sich ihre Augen schlossen, spürte sie, wie Diego sie an den Schultern festhielt. Er sagte etwas, was sie nicht verstand, ehe sie in die Bewusstlosigkeit hineinglitt.

3. KAPITEL

Ein helles Licht schien durch ihre geschlossenen Lider, und Eliana wandte den Kopf zur Seite, um dem grellen Schein zu entgehen. In ihren Schläfen pulsierte es schmerzhaft, und die Zunge klebte ihr am Gaumen, als hätte sie seit Tagen kein Wasser bekommen. Als sie den Mund leicht öffnete, fühlten sich ihre Lippen wie ausgedörrt an.

Über sich hörte sie ein leises Rascheln sowie gedämpftes Flüstern, und da erst merkte sie, dass sie nicht wusste, wo sie sich befand. Sobald dieser Gedanke den dichten Nebel durchdrang, der sie zu umgeben schien, schlug sie langsam die Augen auf.

Eine ältere Frau in einem weißen Kittel, die gerade Handschuhe überstreifte, sah sie freundlich an. Blinzelnd las Eliana das Namensschild. Dr. Sophia Salvador, Notfallmedizin.

„Willkommen zurück, Chefin. Sie haben uns ja allen einen gehörigen Schrecken eingejagt, als Dr. Ferrari Sie hereingetragen hat“, meinte Dr. Salvador lächelnd. Dann wandte sie sich dem Tablett zu, das neben ihr stand. „Ich werde Ihnen eine Blutprobe abnehmen, um sicherzugehen, dass Sie gesund sind. Aber Ihre Sauerstoffsättigung ist normal, genau wie Ihre Pupillenreaktion. Vermutlich dank Dr. Ferrari, der Sie aufgefangen hat, als Sie ohnmächtig wurden.“

Eliana nickte, und während die Frau ihr Blut abnahm, versuchte sie sich an das zu erinnern, was passiert war. Als es ihr wieder einfiel, stöhnte sie. Trotz all ihrer Bemühungen, professionell zu wirken, hatte sie es gleich an ihrem allerersten Tag hier geschafft, umzukippen. Und zwar direkt vor dem unfassbar attraktiven Mann, dem sie vor einem Monat in einer Hotelbar begegnet war.

Allein bei diesem Gedanken verstärkten sich ihre Kopfschmerzen noch mehr. „Moment mal. Wo …?“ Sobald sie den Kopf drehte, erblickte sie Diego, der nur wenige Meter von ihrem Bett entfernt auf einem Stuhl saß.

Da er Elianas Blick bemerkte, stand er auf, seine Miene noch immer beunruhigt. War er die ganze Zeit bei ihr geblieben, um auf sie aufzupassen? Das war eine vollkommen neue Erfahrung für sie. Noch nie hatte irgendjemand sich so um sie gekümmert. Von Kindermädchen und Lehrern aufgezogen, hatte Eliana schon früh gelehrt, dass sie selbst der einzige Mensch war, auf den sie sich verlassen konnte. Alle anderen handelten immer nur in ihrem eigenen Interesse.

Warum war Diego bei ihr geblieben? Was wollte er?

„Ich werde veranlassen, dass wir das Ergebnis Ihrer Blutuntersuchung möglichst schnell bekommen, damit wir Sie bald wieder entlassen können.“ Sophia nahm die Ampulle mit der Blutprobe zur Hand. „Nach den Symptomen, die Dr. Ferrari beschrieben hat, und auch nach meiner Untersuchung halte ich einen Magen-Darm-Infekt für ziemlich wahrscheinlich.“

Nachdem sie den Raum verlassen hatte, herrschte Schweigen. Eliana wusste nicht, was sie sagen sollte. Als sie Diego ansah, wirkte er noch immer besorgt.

Erst jetzt nahm sie ihre Umgebung richtig wahr. Sie befand sich in einem Privatzimmer, das wesentlich luxuriöser ausgestattet war, als sie dies von einem Krankenhauszimmer erwartet hätte. Seidenweiche Bettwäsche, eine bequeme Matratze, und die Tür zu einem angrenzenden Badezimmer stand offen, sodass sie dort sogar eine große Regendusche erkennen konnte.

„Dies ist nicht die Notaufnahme. Was ist das für ein Zimmer?“, fragte Eliana erstaunt.

Als Diego sich umschaute, flog ein verächtlicher Ausdruck über sein Gesicht, bevor er rasch wieder eine neutrale Miene aufsetzte. „Das ist eins der Zimmer, die Marco für seine diversen VIP-Patienten einrichten ließ. Nachdem Sophia dich in der Notaufnahme untersucht hatte, bestand sie darauf, dich hierher bringen zu lassen. Sie dachte, du wärst vor Erschöpfung ohnmächtig geworden. Erinnerst du dich?“

„Nur verschwommen. Momentan ist das Ganze für mich bloß eine Mischung aus Licht und stechenden Kopfschmerzen.“ Eliana betrachtete die opulente Ausstattung des Zimmers. Es war sogar noch eleganter als ihr Hotelzimmer. „Das hier erscheint mir doch sehr übertrieben. Ich möchte nicht wissen, welche Gelder dafür gekürzt wurden.“

Der Raum wirkte eher wie das Zimmer in einem Wellnesshotel als ein Patientenzimmer in einem Krankenhaus.

Sie schaute zu Diego auf, der sie mit einem nachdenklichen Lächeln ansah. Sein sanfter Ausdruck löste sofort ein sinnliches Kribbeln in ihrem gesamten Körper aus.

„Genau das habe ich auch gesagt, als Marco anfing, diese Zimmer einzurichten. Es stellte sich heraus, dass er dafür jeder Abteilung das Budget für kostenlose Behandlungen praktisch auf null gesetzt hat.“ Der Groll darüber war ihm deutlich anzumerken.

„Du bist mit meinem Vater nicht gut ausgekommen?“ Offenbar hatte sie jemanden gefunden, der ihre Meinung über ihren Vater teilte. Seltsam, dass der Unbekannte, mit dem sie vor vier Wochen einen One-Night-Stand gehabt hatte, nun vielleicht einer ihrer Verbündeten in diesem Krankenhaus war.

Diego schnaubte verächtlich. „Marco Costa hätte mich schon längst gefeuert, wenn er gekonnt hätte. Und im Laufe der Jahre habe ich ihm genug Gründe geliefert, es zu probieren. Aber er konnte mir immer nur ganz kleine Dinge vorwerfen, mehr nicht.“ Er zuckte die Achseln. „Als ihm bewusst wurde, dass ich ihm mehr Probleme verursachen würde, als mein Talent es ihm wert gewesen wäre, war es schon zu spät. Wenn er mich entlassen hätte, wäre die halbe Belegschaft mit mir zusammen weggegangen.“

Sein Tonfall klang so sachlich, dass Eliana ihn für sein Selbstbewusstsein bewunderte. Es gehörte eine Menge dazu, seinen Selbstwert zu kennen. Aber in seinen Worten schwang auch noch etwas anderes mit. Ein Gefühl von Verantwortung und Zusammengehörigkeit. Allein dadurch wusste Eliana genau, wen Diego als seine Leute betrachtete.

Es versetzte ihr einen neidvollen Stich. Ein solches Zusammengehörigkeitsgefühl war ihr völlig fremd. Sie war getrennt von den einzigen Familienangehörigen aufgewachsen, die sie je gehabt hatte. Und ihre Erfahrung im Internat war kaum besser gewesen.

„Entschuldige, ich weiß, er war dein Vater“, begann Diego.

Doch Eliana unterbrach ihn sofort mit einem energischen Kopfschütteln. „Du erinnerst dich vielleicht daran, wie ich dir in der Hotelbar davon erzählt habe, dass mein Vater und ich uns nicht nahestanden. Deine Äußerungen sind geradezu zahm im Vergleich zu dem, was ich über ihn zu sagen hätte.“

Ein verständnisvoller Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, ehe seine Miene wieder neutral wurde. Offensichtlich wollte er seine Gedanken vor Eliana verbergen.

Aber bestimmt kannte er ihre Geschichte, so wie jeder in diesem Krankenhaus. In den fünfunddreißig Jahren seit ihrer Geburt hatte die Belegschaft von Santa Valeria den Skandal um ihre Zeugung nicht vergessen. Kaum hatte Eliana einen Fuß in den Eingangsbereich des Krankenhauses gesetzt, hatte sie die vielen Blicke bemerkt, ebenso wie das Geflüster, das ihr überall folgte, während sie den Mitarbeitern vorgestellt wurde.

Sogar Diego, der natürlich noch nicht hier gearbeitet hatte, als ihre Mutter schwanger wurde, wusste sicher davon. Wie Eliana als das schwarze Schaf der Costa-Familie aufwuchs, wobei sie sofort am Datum ihrer Volljährigkeit aus diesem Elternhaus geflüchtet war, wo man sie nur geringschätzig behandelt und missachtet hatte.

„Das tut mir leid“, meinte er.

„Du denkst also, dass Santa Valeria mehr kostenlose Behandlungen anbieten sollte?“, fragte Eliana.

„Unter anderem, ja.“ Er verschränkte die Arme, wodurch er ihr einen Anblick verschaffte, den sie lieber vermeiden wollte.

Sie kannte seine starken Arme, in denen sie in ihrer gemeinsamen Nacht so viel Lust und Leidenschaft erlebt hatte.

„Was schlägst du außerdem noch vor?“

Eindringlich sah Diego sie an und fuhr sich mit der Hand über den Bartschatten an seiner Wange. „Gemeindehilfe. Wir haben einige hochkarätige Sponsoren, die uns unterstützen. Anstatt Privatsuiten zu bauen und Luxuskreuzfahrten mit diesen Sponsoren zu unternehmen, könnten wir mit den Möglichkeiten von Santa Valeria den ärmeren Gegenden dieser Stadt helfen, wo der dringendste Bedarf an medizinischer Versorgung besteht.“

„Warum ist dir das so wichtig?“, erkundigte sich Eliana.

Den Kiefer angespannt, starrte er sie einen Moment lang an. Doch Eliana zwang sich dazu, seinem Blick standzuhalten.

„Weil es richtig ist. Ich bin da zwar rausgekommen, aber es sind immer noch meine Leute.“

„Deine …?“

In diesem Augenblick wurde ihr Gespräch unterbrochen, weil die Tür sich öffnete und Dr. Salvador zurückkam. Sofort war Diegos Miene wieder undurchdringlich.

Dr. Salvador kam ans Bett, wobei sie den typischen professionellen Ausdruck zeigte, mit dem viele Ärzte ihren Patienten begegneten. Eliana kannte diesen Ausdruck, den sie schon selbst oft genug angewendet hatte.

Sie warf Diego einen hilfesuchenden Blick zu, woraufhin auch er näher ans Bett herantrat.

„Würdest du uns mal allein lassen?“, bat Sophia ihn.

Unvermittelt kehrte Elianas Übelkeit zurück. Ihr wurde schwindelig, und sie griff nach Diegos Hand, die sie fest umklammert hielt. „Es ist okay, wenn er bleibt“, brachte sie mühsam hervor.

Diego, der sich bereits zum Gehen gewandt hatte, warf ihr einen fragenden Blick zu, blieb jedoch und entzog ihr auch nicht seine Hand.

„Nun ja, es sieht so aus, als ob es sich doch nicht um einen Magen-Darm-Infekt handelt, sondern um Morgenübelkeit. Oder in Ihrem Fall um Spätnachmittags-Übelkeit.“ Sophia hielt kurz inne, bevor sie erklärte: „Sie sind schwanger.“

Eliana verschlug es die Sprache. Schwanger? Wie konnte das sein? Sofort sah sie Diego an, und an ihrer Miene erkannte er sofort, was sie der Ärztin nicht sagen wollte.

Das Kind war von ihm.

Unwillkürlich ließ er ihre Hand los und wich zurück. Derselbe Schock, den Eliana empfand, stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Wie weit ist es?“ In den vergangenen sechs Monaten hatte sie nur mit einem einzigen Mann geschlafen, und der stand neben ihr.

„Ohne Ultraschall lässt sich das nicht sagen. Wissen Sie das Datum Ihrer letzten Periode?“ Nach einer kurzen Pause fuhr Sophia fort: „Normalerweise würde ich jemanden aus der Geburtshilfe und Gynäkologie kommen lassen, um mit Ihnen zu sprechen. Aber da Sie selbst Ärztin sind, werde ich Sie entlassen. Trotzdem achten Sie bitte darauf, dass Sie sofort mit der Schwangerschaftsvorsorge beginnen.“

Ihre letzte Periode? Eliana hatte keine Ahnung. Ihre Periode war schon immer sehr unregelmäßig gewesen. Wenn diese einmal aussetzte, war das für sie kein Grund zur Beunruhigung.

Vor vier Wochen war sie schwanger geworden. Denn damals hatte sie Diego getroffen.

Eliana hörte Dr. Salvador kaum mehr zu. Stattdessen versuchte sie, die neue Realität zu begreifen, in der sie sich auf einmal wiederfand. Als wäre ihr Leben nach dem Tod ihres Vaters nicht schon kompliziert genug. Jetzt musste sie auch noch mit einer ungeplanten Schwangerschaft zurechtkommen.

Ein Baby.

Ganz automatisch ging ihre Hand zu ihrem noch flachen Bauch.

„Gut, dann lasse ich Sie jetzt allein, damit Sie diese Information verdauen können. Aus medizinischer Sicht dürfen Sie jedoch weiterarbeiten.“ Damit ging Sophia Salvador hinaus.

Wie bei einer Kampf- oder- Fluchtreaktion schien jeder Muskel in Diegos Körper angespannt zu sein. Nach der Neuigkeit, die Sophia ihnen eben mitgeteilt hatte, herrschte in seinem Kopf ein wildes Durcheinander. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

Unzählige Fragen gingen Diego durch den Sinn, doch er wusste nicht, wie er anfangen sollte.

Also holte er erst mal seinen Stuhl herbei, setzte sich und sah Eliana an. „Bin ich …?“

Sie nickte, ehe er die Frage überhaupt beendet hatte. „Es ist von dir, daran gibt es keinen Zweifel. Ich habe mit keinem anderen geschlafen.“

Ihm war zumute, als hätte er plötzlich einen schweren Stein im Magen. Aus dieser einen Nacht der Leidenschaft war ein Kind entstanden.

„Mit so etwas hätte ich bei unserem Wiedersehen heute wirklich nicht gerechnet“, war alles, was Diego sagen konnte.

Eliana lachte kurz auf.

Die Frau, die hier im Bett vor ihm lag, kannte er kaum. Bei diesem Gedanken musste auch er lachen.

„Ich weiß nicht mal, wie es passiert ist“, sagte sie leise. So, als würde sie eher mit sich selbst sprechen als mit ihm. „Ich nehme die Pille.“

Sie überlegte, doch dann weiteten sich erschrocken ihre Augen.

Diego legte ihr die Hand auf den Arm. „Was ist?“

„Es ist meine Schuld. Als ich letzten Monat herkam, hatte ich gerade die Nachricht vom tödlichen Unfall meines Vaters und meines Bruders erhalten. Ich war nervös, und mir war schlecht. Ich habe mein gewohntes Morgenprogramm gemacht und auch die Pille eingenommen. Und dann …“ Eliana brach ab und sah ihn an. „Dann habe ich mich übergeben. Aber das war für mich weiter kein Problem, weil ich nie erwartet hätte, jemanden zu treffen.“

Das erklärte alles.

Zwar hatten sie an jenem Abend über Verhütung gesprochen, um unerwünschte Folgen ihrer sexuellen Begegnung auszuschließen. Beim ersten Mal hatte Diego sogar noch ein Kondom benutzt. Doch je leidenschaftlicher die Nacht wurde, desto verschwommener war seine Erinnerung. Jeder Liebesakt war noch intensiver gewesen als der davor. Und er hatte Elianas Berührungen als so berauschend empfunden, dass er sich an kaum etwas anderes in dieser Nacht erinnern konnte.

„Niemand ist schuld daran. Solche Dinge passieren nun mal, das weißt du genauso gut wie ich.“ Das war zwar nicht gerade beruhigend, aber etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

Nach kurzem Schweigen erklärte Eliana: „Ich habe zwar noch keinen Plan, aber ich werde dieses Kind ganz sicher nicht so im Stich lassen, wie ich im Stich gelassen wurde. Alles andere kriege ich schon hin.“

Ein seltsames Gefühl stieg in Diego auf. Eine Mischung aus schwerwiegender Verantwortung und einem Beschützerinstinkt, den er noch nie zuvor gespürt hatte.

Wir kriegen das hin“, antwortete er.

Prüfend musterte sie ihn. „Bist du denn der Aufgabe gewachsen, Vater zu sein?“, fragte sie dann geradeheraus.

Damit hatte sie genau seinen wunden Punkt getroffen. Die enorme Tragweite dessen, was Vaterschaft bedeutete, war für ihn immer ein schwieriges Thema gewesen. Sein eigener Vater hatte jämmerlich dabei versagt, seinem Sohn zu zeigen, was es hieß, ein anständiger Mensch zu sein. Anstatt ihn aufzuziehen, hatte Ignacio Ferrari den kleinen Diego seiner Großmutter überlassen, damit diese sich um ihn kümmerte, während er selbst sich durch ganz Rio schlief.

Wie sollte Diego ein guter Vater werden, wenn sein Vater das schlechteste Vorbild aller Zeiten war?

„Das ist auch eins der Dinge, die wir herausfinden müssen“, meinte er mit einem selbstironischen Lächeln.

Einen Moment lang vergrub er den Kopf in den Händen.

„Diego, da gibt es eine Menge zu berücksichtigen. Ich brauche ein bisschen Zeit, um darüber nachzudenken, wie deine …“ Eliana brach ab.

Er richtete sich auf. „Meine was? Es ist auch mein Kind. Egal, was du vielleicht von Kollegen über mich gehört hast, ich drücke mich nicht vor meiner Verantwortung.“

Diego hatte sich entschieden. Wohl oder übel würden sie nun langfristig miteinander verbunden sein. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was eine Vaterschaft beinhaltete, kannte er sich doch mit Kindern aus. Sein Vater hatte so viele Kinder gezeugt, die alle nach und nach im Haus seiner Großmutter aufgetaucht waren, um ihre Verwandten kennenzulernen, dass Diego in dieser Hinsicht mehr als genug Erfahrung besaß.

„Was sollen wir tun?“, fragte er.

Mit einem abwehrenden Kopfschütteln erwiderte Eliana: „Ich weiß es nicht. Im Augenblick kann ich mit einem solchen ‚Wir‘ noch nicht umgehen. Ich bin ja eigentlich nur hergekommen, um jemanden zu finden, der die Leitung des Krankenhauses übernimmt. Nicht hierfür.“

Ein lastendes Schweigen entstand zwischen ihnen. Diego streckte die Hand nach Eliana aus, um sie zu berühren, doch da ertönte das Geräusch seines Pagers.

Er schaute auf die Anzeige. „Ein Notruf. Ich muss los.“

Eliana nickte nur.

„Können wir später weiterreden?“ Er wollte diese Neuigkeit, die eine so große Veränderung in ihrer beider Leben bedeutete, mit ihr gemeinsam besprechen.

„Geh und kümmere dich um deinen Patienten. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.“ Sie zögerte, bis sie ihn schließlich ansah. „Und auch ein bisschen Raum für mich selbst, um das alles zu verarbeiten. Ich sag dir Bescheid, wenn ich bereit bin, mit dir zu reden.“

Da sein Pager immer weiter vibrierte, wandte Diego sich mit einem gedämpften Fluch ab, um zu seinem Patienten zu eilen. Doch ihm schwirrte der Kopf davon, wie drastisch sein Leben sich in den vergangenen zwei Stunden verändert hatte.

Er wurde Vater.

4. KAPITEL

Fast zwei Wochen lang war Eliana nun schon auf der Suche nach jemandem, der ihren Platz als Chefärztin einnehmen konnte. Die Nachricht über ihre unerwartete Schwangerschaft machte ihr weiterhin zu schaffen. Sie hatte noch immer keine Pläne für die Zukunft gemacht und bisher auch nicht mit Diego gesprochen. Da sie sich fast ausschließlich in ihrem Büro aufhielt, um dort die notwendigen Mitarbeitergespräche zu führen, war es leicht gewesen, ihm aus dem Weg zu gehen. Eliana wusste noch immer nicht, was sie ihm sagen sollte. Planung war noch nie ihre große Stärke gewesen.

Wir kriegen das hin, hatte Diego gesagt. Als wären sie jetzt ein Team.

Sie musste diese Planung mit ihm zusammen machen. Egal, ob sie ihn in ihrem Leben haben wollte oder nicht, das spielte keine Rolle mehr. Eliana war ganz ohne Eltern aufgewachsen. Wenn Diego also bereit war, Vater zu sein, würde sie dafür sorgen, dass er am Leben ihres Kindes teilhaben konnte. Gleichgültig, welche Gefühle sie selbst ihm gegenüber hatte.

„Guten Morgen, Suelen“, begrüßte Eliana ihre Assistentin. Sie blieb an deren Schreibtisch stehen, um von ihr den Kalender mit den heutigen Terminen und der Liste mit all den anderen wichtigen Angelegenheiten zu erhalten, mit denen sie sich als Übergangschefin befassen musste.

Doch Suelen hatte nur einen einzigen Termin auf dem Kalender vermerkt. „Sie hatten mich darum gebeten, Ihnen für heute ein paar Stunden in der Notaufnahme zu reservieren. Dr. Salvador erwartet Sie.“

„Richtig, das hatte ich fast vergessen.“ Eliana wollte sich mit jedem Oberarzt der verschiedenen Abteilungen treffen, um sich einen Überblick über die Abläufe dort zu verschaffen. Diego hatte bereits angedeutet, welche Änderungen er im Santa Valeria gerne hätte, und er war nicht der Einzige mit einer Wunschliste.

Die Notaufnahme stellte das Herz des gesamten Traumazentrums dar und verdiente deutlich mehr Aufmerksamkeit, als ihr bis jetzt anscheinend zugekommen war.

Sobald Eliana ihre Sachen in ihrem Büro abgestellt hatte, kam sie zurück und blieb noch einmal am Schreibtisch ihrer Assistentin stehen. „Könnten Sie bitte so bald wie möglich einen Termin hier oben mit der Leiterin der Geburtshilfe vereinbaren? Ich habe etwas mit ihr zu besprechen.“

Nämlich ihr Kind. Eliana musste sich zurückhalten, um nicht in einer typisch schützenden Bewegung die Hand auf den Bauch zu legen. Noch war sie nicht bereit, diese Neuigkeit zu verraten.

Die Blicke und das Geflüster, die ihr durchs Krankenhaus folgten, waren ihr nur allzu bewusst. Wie würde die Gerüchteküche erst brodeln, wenn die Leute merkten, dass sie sich in einer ganz ähnlichen Situation befand wie ihre Mutter damals? Schwanger von einem der leitenden Ärzte in diesem Krankenhaus. Da sie für die Mitarbeiter nach wie vor als Fremde galt, wollte Eliana keine Schwächen zeigen. Bei ihrer Mutter waren die Dinge so schlimm geworden, dass sie letztendlich von hier geflüchtet war.

Der alte Schmerz stieg wieder in ihr auf, und nicht zum ersten Mal wünschte Eliana sich sehnlichst, dass ihre Mutter noch leben würde, um ihr einen Rat zu geben. Hatte sie jemals bereut, was mit ihrem Vater geschehen war? Würde Diego sich womöglich auch so verhalten?

Einen Schritt nach dem andern, ermahnte sie sich auf dem Weg zur Notaufnahme. Erst im Laufe der Zeit würde sich zeigen, welche Art von Eltern sie und Diego zusammen sein konnten.

„Wer sind Sie?“, fragte die Krankenschwester am Tresen, die von ihrem Bildschirm aufblickte.

„Ich …“

Da kam Sophia herbei. „Dr. Oliveira. Ich hatte mich schon gefragt, wann Sie kommen. Unsere Anzeigetafel ist bereits voll. Es wird Ihnen also hoffentlich nichts ausmachen, gleich mit der Arbeit zu beginnen?“

„Arbeit?“, fragte Eliana verblüfft.

Damit hatte sie zwar nicht gerechnet, aber sie freute sich darauf, endlich wieder medizinisch tätig zu sein. Als Chefärztin hatte sie leider vi...

Autor

Juliette Hyland
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Carol Marinelli
Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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