Julia Best of Band 285

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NIEMALS SO GELIEBT

Es soll eine ausgelassene Weihnachtsparty gewesen sein - doch Lilli kann sich an nichts erinnern! Hat sie sich tatsächlich von Patrick verführen lassen? Schließlich findet sie den Millionär unfassbar sexy! Oder behauptet er das nur, weil er der Feind ihres Vaters ist?

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FALCON HOUSE – SCHLOSS DER HOFFNUNG

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  • Erscheinungstag 23.11.2024
  • Bandnummer 285
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526111
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

CAROLE MORTIMER

1. KAPITEL

„Wer ist dieser fantastisch aussehende Mann dort?“, fragte Sally neugierig ihre Freundin Lilli.

Bis zu diesem Moment hatte Lillis Aufmerksamkeit fast ausschließlich dem Barkeeper gegolten, der ein wahrer Meister seines Fachs war und die Drinks auf dieser ansonsten reichlich öden Party mit unnachahmlicher Eleganz servierte.

Vielleicht lag es ja auch gar nicht an der Party, dass Lilli sich langweilte, denn alle anderen Gäste schienen sich prächtig zu unterhalten, wie das lebhafte Stimmengewirr ringsum bewies.

Es war schon eine Weile her, dass sie an einem solchen Fest teilgenommen hatte, und in der Zwischenzeit war viel passiert. Früher hätte Lilli sich hier wahrscheinlich ebenfalls bestens amüsiert und hätte im Mittelpunkt des Geschehens gestanden. Heute Abend jedoch fühlte sie sich eher als Außenseiterin, sozusagen die einzig Nüchterne unter all den mehr oder weniger alkoholisierten Gästen. Dabei hatte sie ebenfalls schon mehrere Gläser Champagner getrunken, und so konnte es wohl kaum am mangelnden Alkoholgenuss liegen, dass sie sich von der ausgelassenen Stimmung der anderen nicht anstecken ließ.

Was nun die gut aussehenden Männer betraf, so wimmelte es hier nur so von ihnen, denn zu Geraldine Simms’ berühmten Partys wurden nur die Reichen und Schönen eingeladen. Das in einer vornehmen Gegend Londons liegende Haus der Gastgeberin beherbergte heute Abend unzählige juwelenbehängte Damen und attraktive Männer.

Lilli entzog dem tüchtigen Barmann, der wie das übrige Bedienungspersonal für den heutigen Abend angeheuert worden war, ihre Aufmerksamkeit. Offenbar hatte er ihr Interesse falsch gedeutet und musterte sie nun mit einem abschätzenden Blick. Falls er glaubte, eine Eroberung gemacht zu haben, hatte er sich gründlich geirrt. Nichts lag Lilli im Moment ferner, als mit irgendeinem Mann anzubandeln, schon gar nicht mit einem Aushilfsbarkeeper!

„Welcher gut aussehende Mann?“, fragte sie Sally, die sie mit hierher geschleppt hatte. Nach Sallys Meinung durfte man Geraldine Simms’ Vorweihnachtsparty einfach nicht versäumen.

„Dort drüben an der Tür – verflixt, jetzt ist er wieder verschwunden!“ Sally runzelte verärgert die Brauen. Sie war eine hübsche, zierliche Blondine und brauchte sich wegen mangelnder Verehrer nicht zu beklagen.

Lilli hatte sie vor einigen Jahren auf einer der üblichen Feten kennengelernt. Da sie beide nicht auf Männerfang gewesen waren, hatten sie sich angefreundet und später so manchen vergnüglichen Abend damit verbracht, andere Frauen dabei zu beobachten, wie sie ahnungslose Männer in ihre Netze lockten.

„Er muss ja wirklich umwerfend aussehen, wenn du seinetwegen so aus dem Häuschen gerätst“, spottete Lilli, die selbst viele bewundernde Blicke auf sich zog. Sie war groß und schlank, hatte glattes schwarzes Haar, das ihr fast bis zur Taille reichte, und ein junges schönes Gesicht mit kühl blickenden grünen Augen. Der enge Schnitt ihres trägerlosen roten Minikleids betonte ihre perfekte Figur und die langen Beine, und dass sie trotz ihrer Größe hochhackige Pumps trug, verstärkte den Eindruck lässiger Selbstsicherheit, den sie vermittelte und in den letzten Jahren bewusst kultiviert hatte.

„Das tut er!“, schwärmte Sally, die noch immer nach dem interessanten Fremden Ausschau hielt. „Er ist viel beeindruckender als die selbstverliebten, unreifen Schönlinge, die hier heute, wie schon so oft, in der Überzahl sind. Da ist er wieder.“ Sie verzog das Gesicht. „So ein Mist!“, sagte sie enttäuscht und seufzte. „Na ja, es wäre auch zu schön gewesen.“

„Du gibst auf?“, fragte Lilli überrascht. Es geschah höchst selten, dass Sally sich für einen Mann interessierte, und bisher hatte sie noch jeden bekommen, den sie haben wollte. Zumindest war Lilli nichts Gegenteiliges bekannt.

„Notgedrungen.“ Sally tröstete sich mit einem Schluck Champagner. „Er ist nicht zu haben.“

„Du meinst, er ist verheiratet“, sagte Lilli mitfühlend.

Sally lächelte ein wenig schuldbewusst. „Um ehrlich zu sein, bisher war das für mich nicht immer ein Hinderungsgrund, mich mit einem Mann einzulassen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, diesen hier hat sich bereits unsere Gastgeberin geangelt. Und soweit ich weiß, ist es noch keiner Frau gelungen, ihr einen Mann auszuspannen. Ich bin schließlich nicht lebensmüde!“

Lilli musste lachen, denn natürlich übertrieb ihre Freundin. Andererseits war Geraldine Simms für ihren großen Verschleiß an Liebhabern berüchtigt. Nach Lillis Überzeugung hatte wohl beinahe jeder Mann im Raum irgendwann einmal eine engere Beziehung zur schönen Gastgeberin gehabt. Allzu große Bedeutung schien Geraldine solchen Affären nicht beizumessen, da sie mit ihren zahlreichen Verflossenen auch weiterhin freundschaftlich verkehrte.

„Wirklich jammerschade“, beklagte sich Sally erneut. „So ein toller Mann!“

Lilli zog die Brauen hoch. „Du machst mich wirklich neugierig. Wo ist denn dieses männliche Prachtexemplar?“

„Dort drüben.“ Sally wies mit dem Kopf zum entgegengesetzten Ende des riesigen Zimmers. „Er steht neben Gerry am Fenster.“

Sally begann nun ihren neusten Schwarm in allen Einzelheiten zu beschreiben, doch Lilli hörte ihr nicht mehr zu, da sie das in trautem Tête-à-Tête beieinanderstehende Paar bereits entdeckt hatte. Sie spürte, wie ihr beim Anblick des Mannes an Geraldines Seite das Blut aus dem Gesicht wich.

Oh nein! dachte Lilli entsetzt.

Nicht er. Nicht hier. Und nicht mit dieser Frau!

„Ist er nicht wunder…? Lilli, was hast du? Du bist ja auf einmal ganz blass?“ Sally musterte sie bestürzt.

Blass? Ein Wunder, dass sie nicht aschgrau geworden war. Lilli stand völlig unter Schock. Ihre Knie zitterten, und sie musste sich beherrschen, um nicht laut zu schreien. Was machte er hier? Und was hatte er mit einer Frau wie Geraldine Simms zu schaffen, die in der ganzen Stadt als männermordender Vamp bekannt war?

„Fühlst du dich nicht wohl?“, fragte Sally besorgt.

Im Moment fühlte Lilli gar nichts, sondern war wie erstarrt. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass ausgerechnet er, dem sie als einzigem völlig vertraute, ihr jemals so etwas antun würde.

Nur weg von hier, dachte sie. „Mit mir ist alles in Ordnung, Sally“, versicherte sie und rang sich ein Lächeln ab. „Aber ich habe genug für heute. Es ist meine erste Party seit Monaten, und ich bin offenbar etwas aus der Übung.“ Sie stellte das leere Glas auf den nächsten Tisch. „Ich rufe dich an. Vielleicht treffen wir uns mal zum Lunch.“

Sally konnte nicht fassen, dass Lilli schon gehen wollte. „Aber es ist doch erst halb zwölf!“

Und bestimmt würde die Party bis in den Morgen hinein dauern. Wahrscheinlich hätte Lilli früher sogar als eine der Letzten das Haus verlassen, doch jetzt wollte sie nur noch von hier weg.

„Ich melde mich wieder bei dir, Sally“, versprach sie und bahnte sich, nach allen Seiten Entschuldigungen murmelnd, einen Weg durch die Menge.

Draußen in der Halle fiel ihr ein, dass irgendwo noch ihre Jacke lag. Die wollte Lilli unbedingt mitnehmen, da sie nicht vorhatte, dieses Haus jemals wieder zu betreten. Genauso wenig wie sie Geraldine Simms jemals wieder sehen wollte.

Soweit Lilli sich erinnerte, hatte man einen der hinteren Räume zur Garderobe umfunktioniert. Sie öffnete mehrere Türen, konnte das richtige Zimmer jedoch nicht finden, sondern störte nur ein verliebtes Pärchen beim Schmusen.

Sie versuchte es mit einer letzten Tür. Falls sie hier wieder kein Glück hatte, würde sie eben morgen jemanden beauftragen, die Jacke zu holen.

„Oh!“ Erschrocken blieb sie stehen. Anscheinend war sie in der geräumigen Hauptküche gelandet, und es war bereits jemand hier. Nicht, dass sich irgendwelche Köche in der Küche tummelten. Das üppige kalte Büfett im Wohnzimmer war von einer Servicefirma geliefert worden.

Jedoch saß an dem langen Eichentisch ein Mann. Sein eleganter dunkler Abendanzug, das schneeweiße Hemd und die rote Fliege ließen darauf schließen, dass es sich um einen Gast handelte. Wieso saß er dann allein hier in der Küche? Neben ihm auf dem Tisch stand eine geöffnete Flasche Rotwein, und seine schlanken Finger spielten mit dem Stiel eines halb vollen Glases.

Trotz der eher schummrigen Beleuchtung konnte Lilli sein Gesicht gut erkennen. Er hatte etwas längeres dunkles Haar, ungewöhnlich helle graue Augen und markante Gesichtszüge, die wie aus Stein gemeißelt wirkten. Und seinen unter dem Tisch ausgestreckten langen Beinen nach zu urteilen, war er nicht gerade klein. Sein Alter schätzte sie auf Ende dreißig.

Außerdem war sie sich ganz sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben.

Ein weiterer Beweis dafür, wie sehr sie sich in den letzten Monaten der Partyszene entfremdet hatte. Früher hatte sie bei solchen Anlässen stets dieselben Leute getroffen und sich deshalb auf Feten immer mehr gelangweilt. Heute Abend aber war sie gleich auf zwei Männer gestoßen, die sie in diesen Schickeriakreisen noch nie gesehen hatte. Der eine war ihr völlig fremd, dafür kannte sie den anderen umso besser.

Beim Gedanken an Letzteren erschien ein harter Zug um ihren Mund. „Tut mir leid, Sie gestört zu haben“, entschuldigte sie sich bei dem Mann am Tisch und wandte sich zum Gehen.

„Das haben Sie nicht“, sagte der Fremde, und seine Stimme klang ein wenig müde. „Freut mich, jemanden zu treffen, der vor dem Trubel da vorn ebenfalls geflohen ist.“

Erstaunt drehte Lilli sich zu ihm um. „Gefällt Ihnen die Party nicht?“

Er lächelte spöttisch und trank sein Glas leer, ehe er antwortete. „Nicht besonders“, meinte er und verzog angewidert das Gesicht. „Hätte ich gewusst …!“ Er schenkte sich Wein nach und winkte mit der Flasche in Lillis Richtung. „Darf ich Ihnen ebenfalls ein Glas anbieten? Der Wein stammt aus Gerrys privatem Vorrat und schmeckt wesentlich besser als der Champagner, den man da vorne serviert.“

Gerry? Nur ihre engsten Freunde nannten die Gastgeberin so. Zudem schien er sich in Geraldines Weinkeller bestens auszukennen.

Lilli musterte den Mann mit neu erwachtem Interesse. Er war offenbar eng mit der Gastgeberin befreundet – oder es zumindest einmal gewesen. Und wenngleich Geraldine Simms sich mit ihren Ex-Liebhabern gut verstand, würde es ihr doch nicht gefallen, einen von ihnen an eine andere Frau …

Lilli schloss die Tür hinter sich und ging langsam zum Tisch. Sie bemerkte, wie der Fremde sie abschätzend musterte. Ihm schien zu gefallen, was er sah. Umso besser. „Ich nehme Ihr Angebot gern an“, sagte sie, nahm aber nicht ihm gegenüber am Tisch Platz, sondern setzte sich direkt neben ihn. Mit einer anmutigen Bewegung strich sie sich eine Strähne ihres schimmernden schwarzen Haares aus dem Gesicht und blickte ihn dann aus dunkel glänzenden grünen Augen an. „Danke“, fügte sie hinzu und schenkte ihm ein betörendes Lächeln.

„Keine Ursache.“ Er stand auf, um ein Glas zu holen.

Das bot Lilli Gelegenheit, ihn unbemerkt unter die Lupe zu nehmen. Sie hatte sich bezüglich seiner Größe nicht geirrt. Er maß mindestens einen Meter neunzig, war schlank und muskulös, und obwohl er von glanzvollen Partys wenig zu halten schien, machte er im Abendanzug eine blendende Figur.

Zweifellos wäre Sally von ihm ebenfalls hingerissen gewesen!

Jäh erlosch Lillis Lächeln, als sie an jenen anderen Mann dachte, der Sally heute Abend so beeindruckt hatte. Wie hatte er nur in Geraldine Simms’ Fänge geraten können?

„Vielen Dank“, sagte sie zu dem Fremden, nachdem er ihr ein Glas Wein eingeschenkt und sich dann wieder neben sie gesetzt hatte. Sie prostete ihm zu und trank. Der Wein schmeckte ausgezeichnet, und sie spürte, wie sich eine angenehme Wärme in ihr ausbreitete, was sicher auch an dem bereits reichlich genossenen Champagner lag.

„Patrick Devlin.“ Der Mann hielt ihr die Hand hin.

„Lilli.“ Sie schüttelten sich die Hände. Lilli fand die Berührung seiner schlanken Finger angenehm, doch sein Name sagte ihr nichts.

Er zog die dunklen Brauen hoch und behielt ihre Hand locker in seiner. „Nur Lilli?“

Sie sah ihn an. Sein Blick verriet Erfahrung mit Frauen, und zu ihnen zählte auch Geraldine Simms, davon war Lilli überzeugt. „Nur Lilli“, bestätigte sie und spürte, dass er für ihre Reize nicht unempfänglich war. Diesen Umstand gedachte sie auszunutzen.

„Also, Nur-Lilli …“ Zögernd ließ er ihre Hand los, ohne jedoch den Blick von Lilli zu lösen. „Da wir offenbar beide Partymuffel sind, haben Sie vielleicht eine Idee, was wir mit dem angebrochenen Abend sonst noch anfangen könnten?“

Lilli lachte leise. Auch sie beherrschte die Kunst des Flirtens meisterhaft. „Schlagen Sie doch etwas vor“, ermutigte sie ihn und sah ihm dabei tief in die Augen.

Er lehnte sich zurück, griff nach seinem Glas und trank. „Nun“, sagte er dann, „wir könnten beispielsweise die gemusterten Kacheln dort drüben an der Wand zählen.“

„Um ehrlich zu sein, ich finde das Zählen von Kacheln nicht gerade aufregend, ob sie nun gemustert oder einfarbig sind“, erwiderte sie trocken und trank ebenfalls etwas Wein. Allmählich begann der Alkohol zu wirken, und das Gefühl der Starrheit wich von ihr.

„Dann eben nicht.“ Er zuckte die Schultern und schenkte ihr Wein nach. „Wie wäre es, wenn wir uns gegenseitig unsere Lebensgeschichte erzählten?“

„Auf keinen Fall!“ Diesmal schwang in ihrem Lachen ein Hauch von Bitterkeit mit.

Er runzelte nachdenklich die Stirn. „Wahrscheinlich haben Sie recht“, pflichtete er ihr bei. „Was halten Sie davon, gemeinsam einen Kuchen zu backen? Wir haben hier alles, was wir dazu benötigen.“ Er blickte sich um.

„Verstehen Sie etwas vom Kochen?“, fragte Lilli zweifelnd. Er sah nicht aus wie jemand, der gern mit Rührschüsseln und Backblechen hantierte.

Er grinste jungenhaft und zeigte dabei sehr weiße ebenmäßige Zähne. „Bisher hat sich noch niemand über meinen Toast beschwert. Und man hat mir versichert, ich könne perfekt Orangensaft einschenken.“

Lilli nickte, da sie keine andere Antwort erwartet hatte. „Oder Wein.“ Sie prostete ihm zu und trank ihr Glas leer.

Er schenkte ihr den Rest des Weines ein und stand auf. „Ich hole uns eine neue Flasche.“ Ganz offensichtlich kannte er sich in der Küche gut aus, denn er ging zielbewusst zu einem im hinteren Teil der Küche stehenden Schrank und kehrte gleich darauf mit einer neuen Flasche desselben Weines zurück.

Geschickt öffnete er sie und schenkte sein Glas voll, ehe er sich wieder neben Lilli setzte. „Jetzt ist die Reihe an Ihnen, einen Vorschlag zu machen“, forderte er sie mit leicht heiserer Stimme auf.

Lilli wusste, dass sie mit dem Feuer spielte, doch das war ihr augenblicklich egal. Das Geplänkel machte ihr Spaß und half ihr zudem, sich von dem schweren Schlag zu erholen, den sie heute Abend erlitten hatte.

„Lassen Sie mich überlegen …“ Sie tat, als würde sie nachdenken. „Spielen Sie Schach?“

„Einigermaßen.“

„Hm. Und Dame?“

„Da bin ich unschlagbar“, versicherte er selbstbewusst. „Ist das nicht dieses Spiel mit den schwarzen und weißen Steinen?“

„Was wohl so viel heißt wie, Sie haben davon keine Ahnung.“ Lilli lachte, ihre grünen Augen funkelten, und ihre Wangen glühten. Ob es am Alkohol lag oder vom Flirten kam, wusste sie nicht.

Und es war ihr auch gleichgültig! Dieser Mann war ein enger Freund Geraldines, und sein Interesse galt im Moment ausschließlich ihr, Lilli. Herrlich!

„Mensch ärgere dich nicht?“, schlug sie vor.

„J-ja“, sagte er zögernd. „Als wir noch Kinder waren, hat meine Schwester immer behauptet, ich würde mogeln. Dabei habe ich nur manchmal ein wenig falsch gezählt oder dem Würfel einen kleinen Schubs gegeben.“

Erneut musste Lilli lachen. Der Mann war wirklich witzig. Oder begann nur der Wein bei ihr zu wirken? Wie auch immer, sie hatte sich seit Langem nicht mehr so gut amüsiert. „Genau das habe ich auch immer gemacht“, gestand sie und legte ihm locker die Hand auf den Arm, dessen harte Muskeln sie durch den Stoff fühlen konnte. „Da wir beide schummeln, lassen wir das Spielen besser.“

„Ganz meine Meinung“, stimmte er ihr zu, und plötzlich war sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt. „Allerdings wüsste ich ein Spiel, das wir beide beherrschen und … bei dem jeder von uns auf seine Kosten käme!“ Seine tiefe Stimme klang leise und sinnlich. „Was halten Sie davon, wenn wir zwei uns …“

„Patrick!“, wurde er in diesem Augenblick von einer ungeduldigen Frauenstimme unterbrochen. „Wieso bist du nicht vorne bei mir und den anderen?“

Er hielt Lillis Blick fest, und in seinen Augen lag ein Versprechen, als er nun ihre Hand drückte, die noch immer auf seinem Arm lag. Erst dann wandte er den Kopf zu dem weiblichen Störenfried an der Tür um. „Weil ich lieber hier bin“, entgegnete er. „Und zum Glück geht es Lilli genauso.“

„Lilli?“ Die Frau an der Tür klang so überaus bestürzt, dass Lilli sich unwillkürlich zu ihr umdrehte. Es war Geraldine Simms! Sie schien alles andere als froh zu sein, die beiden so eng zusammen am Tisch sitzen zu sehen, zumal Patrick noch immer Lillis Hand mit seiner bedeckte.

Lilli blickte die Gastgeberin kühl an. „Geraldine“, begrüßte sie sie knapp.

„Ich wusste gar nicht, dass du hier bist“, sagte Geraldine leise.

Das hatte Lilli sich bereits gedacht. „Sally Walker hat mich überredet mitzukommen“, erklärte sie. Dann fügte sie mit unverhohlenem Sarkasmus hinzu: „Wundervolle Party.“

„So wundervoll, dass Lilli und ich gerade beschlossen haben, dein gastliches Haus zu verlassen.“ Patrick stand auf und zog Lilli hoch, den Arm um ihre schlanke Taille gelegt. „Stimmt’s, Lilli?“

Es stimmte zwar nicht, doch Lilli nickte heftig und warf Geraldine einen triumphierenden Blick zu. „Ja, wir wollten gerade gehen.“

„Aber …“ Die stets so bewundernswert selbstsichere Geraldine schien völlig durcheinander zu sein. „Patrick, du kannst jetzt nicht einfach gehen“, beschwor sie ihn.

Er zog Lilli ein wenig fester an sich. „Und ob ich das kann“, sagte er entschlossen.

„Aber …“ Geraldine rang verzweifelt die Hände. „Patrick, ich habe diese Party doch auch für dich …“

„Du weißt, wie sehr ich solche Partys hasse“, sagte er mit einem harten Unterton in der Stimme, den Lilli bei ihm bisher noch nicht wahrgenommen hatte. „Morgen, wenn der ganze Zirkus hier vorüber ist, werde ich zurückkommen. Heute Nacht jedoch quartiere ich mich lieber in einem Hotel ein. Es sei denn, Lilli hat andere Pläne?“ Er blickte diese fragend an.

„Nur-Lilli“, war inzwischen klar geworden, dass Patrick ursprünglich vorgehabt hatte, hier zu übernachten. Es war schon reichlich skrupellos von Geraldine, auf der Party einen Mann zu umgarnen, während hinten in der Küche ihr Liebhaber saß. Weshalb nur flogen die Männer gleich scharenweise auf sie?

Jedenfalls lässt Patrick sich von ihr nicht auf der Nase herumtanzen, stellte Lilli mit heimlicher Genugtuung fest. Er zog es vor, mit ihr, Lilli, die Nacht zu verbringen. In das Haus in Mayfair, das sie mit ihrem Vater bewohnte, konnte sie ihn nicht mitnehmen, so verletzt und verraten sie sich heute Abend auch fühlte.

„Ein Hotel ist mir recht“, akzeptierte sie mutig Patricks Vorschlag und blickte die Frau an der Tür herausfordernd an.

Geraldine wurde unter der Schminke blass. „Lilli, tu nichts, was du später bereust“, sagte sie sanft.

Sie weiß also, dass ich sie mit ihm gesehen habe und es ihr heimzahlen will, dachte Lilli gehässig. Dann wird sie meine Rache doppelt treffen!

Lilli schmiegte sich an Patrick und lehnte den Kopf an seine Schulter. „Patrick wird sicher alles tun, damit bei mir keine Reue aufkommt“, entgegnete sie heiser.

„Lilli …“

„Halt dich da raus, Gerry“, ging Patrick ungeduldig dazwischen. „Kümmere dich lieber um deinen alternden Liebhaber, und verschone Lilli und mich mit guten Ratschlägen. Ich bin kein gewissenloser Verführer von Minderjährigen, und Lilli ist kein unschuldiges Opfer, und du bist auch nicht ihre Mutter.“

Lilli blickte die andere Frau feindselig an. Noch nie hatte sie jemanden so gehasst wie in diesem Moment Geraldine Simms. „Ja, Geraldine, geh zurück zu deinem Liebhaber“, sagte sie hämisch. „Bestimmt vermisst er dich schon.“

„Wir nehmen besser den Hinterausgang“, wandte Patrick sich an Lilli. „Oder möchtest du dich lieber vorne durch das Gewühl kämpfen?“

„Nein, darauf verzichte ich gern.“ Plötzlich war ihr die Jacke nicht mehr wichtig. Man würde sie ihr ohnehin nach Hause bringen.

„Patrick!“ Geraldine stellte sich ihm in den Weg und hielt ihn am Arm fest. „Ich weiß, du bist wütend auf mich, aber bitte …“

„Das bin ich nicht, Gerry“, unterbrach er sie verächtlich. „Du kannst tun und lassen, was du willst. Das hast du ja schon immer getan!“ Er musterte sie kalt.

„Darum geht es doch gar nicht!“, widersprach die hübsche Rothaarige heftig und seufzte. „Jede andere, aber bitte nicht Lilli!“

Plagt sie etwa gar das schlechte Gewissen? fragte sich Lilli. Wohl kaum. Wahrscheinlich passte es Geraldine einfach nicht, einen ihrer Männer an eine Jüngere zu verlieren.

„Bitte, mach dir meinetwegen keine Sorgen, Geraldine“, sagte sie spöttisch und benutzte absichtlich den vollen Vornamen. Die beiden Frauen kannten sich zwar nur flüchtig, doch hatte Lilli die Gastgeberin bisher immer „Gerry“ genannt. „Ich weiß genau, was ich tue.“

Geraldine musterte sie mit einem forschenden Blick. „Das bezweifle ich.“ Sie schüttelte langsam den Kopf. „Und du weißt ganz sicher nicht“, wandte sie sich an Patrick, „dass Lilli die …“

„Lass uns endlich gehen, Patrick“, drängte Lilli und sah ihn aus grünen Augen kokett an. „Sonst überlege ich es mir anders und spiele doch lieber ‚Mensch ärgere dich nicht‘.“

Er lachte und blickte sie bewundernd an. „Halt uns nicht länger auf, Gerry“, sagte er dann zu der anderen Frau und schüttelte ihre Hand ab.

„Aber …“

Er schob die Gastgeberin beiseite, öffnete eine Tür und ließ Lilli höflich den Vortritt. „Noch viel Spaß auf deiner Party!“, rief er über die Schulter Geraldine zu und folgte dann Lilli in die kalte Dezembernacht hinaus.

Eiskalter Wind schlug Lilli ins Gesicht. Um sie her begann sich auf einmal alles zu drehen, was wohl dem an diesem Abend reichlich genossenen Wein und Champagner zuzuschreiben war. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, stolperte aber trotzdem.

„Hoppla!“ Patrick legte ihr den Arm um die Taille und stützte sie. „Mein Auto steht gleich dort. Bist du ohne Mantel hier?“, fragte er, als sie zu frösteln begann, während er die Tür seines Sportwagens aufschloss.

Plötzlich konnte Lilli sich nicht mehr erinnern, ob sie einen Mantel gehabt hatte. Sie lachte nur und ließ sich auf dem niedrigen Beifahrersitz nieder, wobei ihr ohnehin schon kurzer Rock noch weiter nach oben rutschte und ihre langen, wohlgeformten Beine bis zu den Oberschenkeln entblößte. „Ich hoffe doch, dass du mich heute Nacht warm hältst“, sagte sie mit verführerischem Augenaufschlag.

Patricks Mund umspielte ein Lächeln. „Ich werde mein Bestes tun, Nur-Lilli.“ Unüberhörbar war das ein Versprechen.

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, lehnte Lilli sich zurück und wartete darauf, dass er sich neben sie setzte. Was machte sie eigentlich hier?

„Möchtest du in ein bestimmtes Hotel?“, fragte Patrick und ließ den Motor an.

Ein Hotel? Wieso fuhren sie zu einem Hotel? Ach ja, der Mann neben ihr wollte mit ihr schlafen.

Sie schüttelte den Kopf, was sie sofort bereute, da sich wieder alles um sie zu drehen begann. „Die Wahl überlasse ich dir“, sagte sie schwach. Hoffentlich wurde ihr jetzt nicht schlecht. Es war ihr egal, wohin er sie brachte. Hauptsache weg von Geraldine Simms und dem Mann, der sie so sehr enttäuscht hatte!

„Bist du okay?“ Patrick nahm ihre Hand und drückte sie beruhigend.

Lilli konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemals wieder „okay“ sein würde. Schon vor drei Monaten war ihre Welt aus den Fugen geraten, und heute Abend hatte man ihr den endgültigen Schlag versetzt.

„Mir geht es gut“, antwortete sie, und ihre Stimme kam ihr sonderbar fremd vor. „Bring mich irgendwohin, wo wir allein sind. Und dann liebe mich.“

„Genau das habe ich vor, Nur-Lilli.“

Lilli schloss die Augen und wünschte sich, die Vergangenheit für immer zu vergessen – nicht nur für ein paar Stunden in Patrick Devlins Armen.

2. KAPITEL

„Hier ist deine Jacke.“ Das Kleidungsstück wurde über die Lehne eines Stuhles im Esszimmer geworfen.

Lilli rührte sich nicht, hob nicht einmal den Kopf. Schon seit einer Stunde saß sie hier und versuchte ihre Lebensgeister mit ungesüßtem schwarzen Kaffee wieder zu erwecken. Zuvor hatte sie alles Essbare vom Tisch entfernen lassen, da ihr allein der Geruch von Essen Übelkeit verursachte und niemand sonst heute hier frühstücken würde. Das hatte sie zumindest bis jetzt angenommen.

„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“

„Ja, habe ich!“ Sie verzog schmerzlich das Gesicht, da ihr die eigene Stimme unerträglich laut in den Ohren klang.

„Nun?“

Sie hätte wissen müssen, dass er die Sache nicht auf sich beruhen lassen würde. Dabei wollte sie im Moment nichts anderes, als sich in ihr Bett zu verkriechen und mindestens vierundzwanzig Stunden zu schlafen.

„Lilli!“ Seine Stimme verriet wachsende Ungeduld.

Sie hob schließlich den Kopf, strich sich das lange Haar aus der Stirn und blickte den Mann vor ihr betont gleichgültig an.

„Meine Güte, Lilli!“, rief ihr Vater entsetzt. „Du siehst furchtbar aus!“

„Vielen Dank!“ Sogar die Gesichtsmuskeln taten ihr weh, und so fiel ihr Lächeln recht kläglich aus.

Sie war heute Morgen ebenfalls vor ihrem Spiegelbild entsetzt zurückgewichen, als sie in ihr kreidebleiches Gesicht und die glanzlosen und von dunklen Schatten umrandeten Augen geblickt hatte. Notdürftig hatte sie mit den Fingern die zerzauste Haarmähne zu kämmen versucht, aber das hatte ihr ramponiertes Äußeres nicht wesentlich verbessert. Und es war auch nicht besonders hilfreich, dass sie noch immer das tief ausgeschnittene rote Kleid trug, in dem sie gestern Abend zur Party gefahren war. Selbst Grimes, der Butler der Familie, hatte sich einen missbilligenden Blick erlaubt, als sie vor einer Stunde mit dem Taxi nach Hause gekommen war.

Noch schrecklicher hatte sie sich allerdings gefühlt, als sie heute früh in einem fremden Bett aufgewacht war und nebenan im Badezimmer Patrick Devlin fröhlich unter der Dusche singen hörte.

Ihr Vater ließ sich ihr gegenüber auf einen Stuhl fallen. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, Lilli?“ Forschend sah er ihr ins Gesicht. Sein Blick verriet, dass er Bescheid wusste. Bestimmt hatte Geraldine ihm alles erzählt!

Kein anderer als Lillis Vater war nämlich gestern Abend der Mann an Geraldine Simms’ Seite gewesen, von dem Sally so überschwänglich geschwärmt und den Patrick als Geraldines alternden Liebhaber bezeichnet hatte.

„Das Gleiche könnte ich dich fragen!“, erwiderte sie gereizt und wurde noch wütender, als sie einen wachsamen Ausdruck in den grünen Augen ihres Vaters bemerkte. „Ja, ich habe dich gestern Abend gesehen!“, rief sie und achtete nicht mehr auf den stechenden Schmerz in ihrem Kopf. „Mit Geraldine Simms! Aber du nennst sie vermutlich Gerry.“ Sie verzog verächtlich den Mund und fügte hinzu: „Wie alle ihre Liebhaber!“

Ihr Vater holte tief Luft. „Bist du deshalb mit einem Mann weggefahren, den du gerade erst kennengelernt hattest? Offensichtlich hast du auch die Nacht mit ihm verbracht“, meinte er mit einem Blick auf ihr Kleid.

„Und was ist mit dir?“, entgegnete sie heftig. „Ich brauche wohl kaum zu fragen, wo du die letzte Nacht verbracht hast! Oder mit wem!“ Sie war schrecklich wütend, aber gleichzeitig schimmerten Tränen in ihren Augen.

Ihr Vater wollte nach ihrer Hand greifen, doch Lilli zuckte vor ihm zurück. „Du verstehst das nicht, Lilli“, sagte er, und seine Stimme klang verletzt. „Du …“

„Oh, ich verstehe nur zu gut.“ Sie stand auf und schob ihren Stuhl so heftig zurück, dass er krachend zu Boden fiel, wovon jedoch weder sie noch ihr Vater Notiz nahm. „Du hast die letzte Nacht im Bett einer Frau verbracht, die für ihre Affären mit Männern stadtbekannt ist. Seit ihrer kurzen Ehe und der schnellen Scheidung vor fünf Jahren hat sie unzählige Liebhaber gehabt. Und mit so einer Frau lässt du dich ein, kaum dass meine Mutter und deine Frau unter der Erde liegt!“ Lilli hatte sich immer mehr in Rage geredet und unbewusst die Hände zu Fäusten geballt.

Erst vor drei Monaten war ihre Mutter nach langer Krankheit gestorben, und schon fing ihr Vater ein Verhältnis mit einem stadtbekannten Flittchen an. Das war es, was Lilli gestern Abend so sehr schockiert hatte.

Ihr Vater war blass geworden, und er sah aus, als hätte sie ihn geschlagen. Als Kind hatte Lilli ihren Vater angebetet und ihn immer mehr bewundert, je älter sie wurde. Sie war so stolz darauf gewesen, ihm sowohl äußerlich als auch im Charakter ähnlich zu sein.

Jetzt hätte sie auf diese Ähnlichkeit gern verzichtet, denn in diesem Moment verspürte sie regelrecht Hass auf ihn.

„Du hast recht, Vater, ich verstehe es nicht“, sagte sie kalt und wandte sich zum Gehen.

„Lilli, hast du die Nacht mit Patrick Devlin verbracht?“

Sie blieb stehen, schluckte trocken und drehte sich dann langsam zu ihm um. „Ja, das habe ich“, gestand sie ohne jede Umschweife.

Er runzelte die Stirn. „Du warst mit ihm im Bett?“

Lilli versteifte sich innerlich, hielt jedoch dem prüfenden Blick ihres Vaters stand. Als sie heute Morgen in dem Hotelzimmer aufgewacht war, hatte sie außer ihrem Spitzenhöschen nichts am Leib gehabt. Der Platz neben ihr im Bett war zwar leer gewesen, aber allen Anzeichen nach hatte dort jemand geschlafen. Und nebenan im Bad sang Patrick Devlin unter der Dusche. Sie musste also annehmen, dass sie mit ihm im Bett gewesen war.

Dumm war nur, dass sie sich an nichts mehr erinnerte. Von dem Augenblick an, da sie im Auto die Augen geschlossen hatte, klaffte in ihrem Gedächtnis eine Lücke.

Trotzig hob sie nun das Kinn. „Und wenn schon? Ich bin einundzwanzig und volljährig.“ Vor wenigen Wochen geworden! „Und frei wie ein Vogel.“ Das war sie allerdings, seit ihre Verlobung in die Brüche gegangen war. In den letzten sechs Monaten war Lilli kaum aus dem Haus gekommen. Wahrscheinlich war sie deshalb auch gestern Abend so schnell vom Alkohol benebelt gewesen. Das versuchte sie sich zumindest einzureden. „Ich habe also niemandem wehgetan“, fügte sie herausfordernd hinzu.

Ihr Vater seufzte tief auf und schüttelte den Kopf. „Ich denke, du wolltest mich verletzen, hast aber letztendlich dir selbst am meisten wehgetan. Lilli. Weißt du überhaupt, wer Patrick Devlin ist?“

Woher denn? Sie hatte den Mann ja erst gestern Abend kennengelernt und während ihres gemeinsamen Herumalberns in der Küche wenig mehr über ihn erfahren, als dass er Sinn für Humor hatte. Und da er ebenso wenig von ihr wusste und nur ihren Vornamen kannte, erwartete sie nicht, ihm jemals wieder zu begegnen.

„Ich wollte nur mit ihm ins Bett gehen, nicht mir seine ganze Lebensgeschichte anhören!“, erwiderte sie zynisch.

Ihr Vater schien mit seiner Geduld am Ende zu sein. „Hättest du lieber Ersteres gelassen und Letzteres getan, würde sich unsere jetzige Unterhaltung erübrigen“, sagte er verärgert. „Hast du wirklich keine Ahnung, wer er ist?“

„Was kümmert mich dieser Mann? Er ist nicht wichtig …“

„Oh doch, das ist er“, unterbrach ihr Vater sie sanft.

„Nicht für mich.“ Sie schüttelte heftig den Kopf und verzog gleich darauf schmerzhaft das Gesicht.

Sie wollte nichts mehr über Patrick Devlin hören. Gestern Abend hatte sie sich völlig untypisch benommen. Hauptsächlich um ihrem Vater wehzutun, wie dieser ganz richtig erkannt hatte. Vor allem aber hatte sie Geraldine Simms eins auswischen wollen, und das war ihr ja auch geglückt. Und nun wünschte sie sich nur noch, alles schnellstmöglich zu vergessen, was ja nicht allzu schwer sein durfte, da sie sich an das meiste sowieso nicht mehr erinnern konnte.

„Leider ist Patrick Devlin auch für dich wichtig“, bestätigte ihr Vater mit grimmiger Miene. „Er ist Vorstandsvorsitzender der Paradise Bank.“

Lilli versuchte sich den Mann vorzustellen, mit dem sie gestern Abend in Geraldine Simms’ Küche geflirtet hatte. Heute Morgen hatte sie ihn gar nicht mehr gesehen, sondern sich heimlich aus dem Hotelzimmer geschlichen, während er nebenan duschte. Sie erinnerte sich an einen großen, gut aussehenden Mann mit etwas längerem dunklen Haar und humorvoll funkelnden grauen Augen. Wie ein Bankier hatte er eigentlich nicht ausgesehen.

„Na und?“ Sie zuckte gleichgültig die Schultern. „Ist er verheiratet und hat ein Dutzend Kinder zu Hause?“ Falls ja, musste er eine sehr freizügige Ehe führen, da er allein Partys besuchte und keine Gewissensbisse hatte, die ganze Nacht wegzubleiben. Nein, irgendwie erschien es ihr unwahrscheinlich, dass er verheiratet war.

Ihr schnoddriger Ton gefiel ihrem Vater nicht, und er seufzte erneut. „Na schön, lassen wir seine berufliche Position also einmal beiseite. Patrick Devlin ist noch etwas anderes.“

„Etwa gar ein Sozialdemokrat?“, spottete sie, da ihr Vater ein treuer Wähler der konservativen Partei war.

„Sehr witzig!“

„Sieh mal, Vater, ich möchte …“

„Hör endlich auf, mich in diesem anklagenden Ton ‚Vater‘ zu nennen“, unterbrach er sie gereizt.

„Tut mir leid, aber für mich bist du seit gestern ein anderer als der ‚Daddy‘, den ich bisher kannte“, sagte sie mit gequälter Stimme und wich seinem Blick aus.

„Ich bedauere sehr, dass du so empfindest“, sagte ihr Vater sanft. „Es war nicht meine Absicht, dir wehzutun.“

„Ich frage erst gar nicht, was du damit meinst“, erwiderte sie bissig und wandte sich erneut zum Gehen.

„Ich bin noch nicht fertig, Lilli.“

„Aber ich!“ Sie wirbelte herum, und ihre grünen Augen funkelten zornig. „Um ehrlich zu sein, ich kann dein Gerede nicht länger ertragen!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und verließ hocherhobenen Hauptes das Zimmer.

„Er ist Geraldines Bruder“, rief ihr Vater ihr hinterher. „Patrick Devlin ist Geraldines Bruder!“

Lilli verharrte nur für den Bruchteil einer Sekunde in der Bewegung und ging dann unbeirrt weiter, obwohl sie sich wie betäubt fühlte. Mechanisch setzte sie Fuß vor Fuß und begann die Treppe hinaufzugehen.

„Wo willst du hin?“, rief ihr Vater, der ihr in die Halle gefolgt war.

„Ins Bett“, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen. „Um zu schlafen.“ Am besten gleich die nächsten tausend Jahre!

„Schlaf löst dieses Problem nicht. Wenn du aufwachst, wirst du dich damit auseinandersetzen müssen, Lilli“, warnte ihr Vater. „Ich werde jedenfalls da sein, falls du mich brauchst!“

Lilli blickte sich nicht einmal mehr nach ihm um, sondern ging schnurstracks in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Während sie sich auszog, bemühte sie sich, an gar nichts zu denken, schlüpfte dann ins Bett und zog sich die Decke über den Kopf.

Sie hoffte, dass alles nur ein Albtraum war, aus dem sie irgendwann erwachen würde.

Geraldine Simms’ Bruder!

Als Lilli plötzlich erwachte, war dies der erste Gedanke, der ihr in den Sinn kam. Sie wusste nicht, wie spät es war, setzte sich im Bett auf und versuchte, sich mit der schrecklichen Wahrheit auseinanderzusetzen.

Patrick Devlin war nicht Geraldines verflossener oder derzeitiger Liebhaber! Er war ihr Bruder!

Kein Wunder, dass er sich in der Küche so gut ausgekannt hatte. Und er hatte keineswegs vorgehabt, die Nacht mit Geraldine zu verbringen, sondern war nur Gast im Haus seiner Schwester gewesen.

Sie, Lilli, war sich besonders schlau vorgekommen, weil es ihr gelungen war, Patrick von Geraldine wegzulocken. Wie hätte sie auch ahnen können, dass er der Bruder ihrer Gastgeberin war? Nun verstand sie auch, weshalb Geraldine versucht hatte, sie beide zurückzuhalten. Doch nur, um die Beziehung zu ihrem Vater nicht zu gefährden.

Lilli war mit dem Feind im Bett gewesen, ohne sich auch nur an eine winzige Einzelheit erinnern zu können. Ganz im Gegensatz zu Patrick Devlin, der ja wohl nicht ohne Grund unter der Dusche so vergnügt gesungen hatte.

Ausgerechnet ihr, die bisher auf Partys die zahlreichen Annäherungsversuche der Männer stets abgewehrt oder erst gar nicht zur Kenntnis genommen hatte, musste so etwas passieren. Gestern Abend hatte sie um schnöder Rache willen erstmals gegen ihre Prinzipien verstoßen und war dummerweise genau an den falschen Mann geraten.

Sie sank in die Kissen zurück und schloss die Augen. Am liebsten hätte sie sich vor Scham für immer im Bett verkrochen.

Allerdings tröstete es sie ein wenig, dass Patrick heute Morgen höchstwahrscheinlich einen ähnlichen Schock wie sie erlitten hatte, als er von seiner Schwester erfahren hatte, dass „Nur-Lilli“ mit vollem Namen Elizabeth Bennett hieß und Tochter von Richard Bennett war, dem Besitzer von Bennett International Hotels und Liebhaber Geraldines.

Lilli öffnete die Augen und überlegte. Patrick schien über die Wahl seiner Schwester ebenso wenig erfreut gewesen zu sein wie sie, Lilli, über die Beziehung ihres Vaters zu Geraldine. Es war also kaum anzunehmen, dass Patrick nochmals Verbindung mit ihr aufnehmen würde. Somit war das Problem gelöst, und sie konnte diese traurige Episode aus ihrem Leben streichen.

Jetzt musste sie nur noch ihren Vater davon überzeugen, seine lächerliche Affäre mit Geraldine Simms zu beenden und …

Ein Klopfen an der Tür riss Lilli aus ihren Überlegungen. Sie hatte zwar nicht ausdrücklich hinterlassen, dass man sie nicht stören sollte, konnte sich aber nicht denken, was man von ihr wollte.

„Ja?“, rief sie ungeduldig, stand auf und schlüpfte in ihren Morgenmantel.

„Unten wartet jemand, der Sie sprechen möchte, Miss Lilli, und …“

Das junge Hausmädchen verstummte, als Lilli die Tür aufriss. „Jemand möchte Sie sprechen“, wiederholte es verlegen.

„Wie spät ist es?“ Lilli hatte völlig ihr Zeitgefühl verloren.

„Halb vier“, antwortete Emily, die nicht viel jünger als Lilli war. „Soll ich für Sie und Ihren Besucher Tee machen?“

Lilli war nicht in der Stimmung, irgendwelche Besucher zu empfangen oder gar mit ihnen Tee zu trinken. „Danke, das ist nicht nötig. Wer ist es denn?“

„Ein Mr. Devlin“, klärte Emily sie auf. „Ich habe ihn gebeten, im kleinen Wohnzimmer …“

„Devlin!“ Lillis Aufschrei erschreckte das junge Mädchen sichtlich. „Haben Sie gesagt, ein Mr. Devlin, Emily?“ Ihre Gedanken überschlugen sich. Was wollte Patrick hier? Anscheinend hatte sie ihn völlig falsch eingeschätzt.

„Ja.“ Der schwärmerische Ausdruck in Emilys Gesicht war für Lilli Beweis genug, dass es sich tatsächlich um Patrick Devlin handeln musste.

Sie stellte sich den eleganten, gut aussehenden Mann vor, den sie gestern Abend kennengelernt hatte, und konnte durchaus nachempfinden, weshalb Emily von ihm hingerissen war.

„Bitte, sagen Sie ihm, er soll sich noch einige Minuten gedulden. Ich werde gleich nach unten kommen.“ Sie hatte nur ein Spitzenhöschen getragen, als er sie zuletzt gesehen hatte. Jetzt aber sollte er von ihr einen völlig anderen Eindruck bekommen.

Es dauerte dann doch etwas länger, bis sie geduscht, einen schwarzen Seidenpulli und eine dazu passende schwarze Hose angezogen, leichtes Make-up aufgelegt und das Haar zu einem langen Zopf geflochten hatte. Aber als sie sich schließlich im Spiegel begutachtete, war sie mit dem Ergebnis ihrer Bemühungen sehr zufrieden. Kühl und elegant, genauso hatte sie aussehen wollen.

Trotzdem atmete sie noch einmal tief durch, ehe sie das Zimmer betrat, in dem Patrick Devlin auf sie wartete. Was, zum Teufel, wollte er hier? Wenn eine Frau nach einer gemeinsam verbrachten Nacht am nächsten Morgen ohne ein Abschiedswort verschwand, besagte das doch deutlich genug, dass sie den Mann nicht mehr zu sehen wünschte. Offensichtlich war Patrick Devlin da anderer Ansicht.

Als sie eintrat, stand er am Fenster und blickte in den winterlichen Garten hinaus. Langsam drehte er sich zu ihr um.

Lilli stockte der Atem. Lieber Himmel, der Mann sah ja wirklich atemberaubend gut aus!

Zwar hatte sie ihn gestern Abend schon recht attraktiv gefunden, doch jetzt, bei Tageslicht, sah er geradezu umwerfend aus. Seine Haut war leicht gebräunt, und er hatte ein ungewöhnlich gut geschnittenes, markantes Gesicht mit hellen wachsamen Augen, die einen interessanten Kontrast zu dem dunklen Haar bildeten.

Genau wie Lilli war er schwarz gekleidet, trug aber über dem Pullover noch ein sportliches Jackett. Das bedeutete, dass er heute Morgen schon in Geraldines Haus gewesen war, und sei es nur, um sich umzuziehen!

Er ging mit langen Schritten auf Lilli zu und musterte sie kritisch von Kopf bis Fuß. „Nun, wenn das nicht Nur-Lilli alias Elizabeth Bennett ist“, begrüßte er sie spöttisch.

„Mr. Devlin.“ Sie nickte kühl und hoffte, man merkte ihr nicht an, wie unbehaglich sie sich fühlte.

Nur um ihrem Vater wehzutun und Geraldine Simms eins auszuwischen, war sie mit Patrick Devlin ins Bett gegangen. Und er erweckte ganz den Eindruck, als würde er das inzwischen wissen.

Seine Lippen umspielte ein sarkastisches Lächeln. „Mr. Devlin? Ist es für solche Förmlichkeiten zwischen uns nicht ein bisschen zu spät, Lilli?“

Ostentativ trat Lilli einige Schritte zurück, da er es offenbar darauf angelegt hatte, sie zu beleidigen. „Was willst du hier?“ Notgedrungen duzte sie ihn nun auch.

„Tja, ich könnte sagen, du hast deinen BH vergessen und ich bringe ihn dir zurück, aber da du letzte Nacht keinen getragen hast …“

„Jetzt reicht es!“, unterbrach sie ihn empört und fühlte, wie ihr vor Scham das Blut in die Wangen schoss.

„Da hast du allerdings recht“, pflichtete er ihr bei. Seine Augen glitzerten kalt. „Was hast du dir davon erhofft, mit mir ins Bett zu gehen, Lilli?“

Sie hatte ihren Vater vor den Kopf stoßen und Geraldine Simms ärgern wollen. Ihr Pech, dass es sich bei dem Mann, der ihr dabei hatte helfen sollen, nicht um Geraldines Liebhaber, sondern deren Bruder gehandelt hatte. Das machte alles erheblich komplizierter. Zumal dieser Mann nun auch noch hier aufgetaucht war.

Sie zuckte lässig die Schultern. „Mich zu amüsieren.“ Aus ihrer Sicht war das zur Hälfte geraten, denn ihr fehlte ja jede Erinnerung an letzte Nacht.

Er nickte. „Und? Bist du auf deine Kosten gekommen?“, fragte er trocken und schien ihre Verwirrung zu genießen.

Sie zog die Brauen hoch. „Wie steht’s mit dir?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage. Er sollte nicht glauben, dass nur er dieses Spiel beherrschte!

Er lächelte boshaft. „Du meinst, wie viel von zehn Punkten ich dir gebe? Oder bewertest du die Qualitäten deiner Liebhaber nach anderen Maßstäben?“

„Du hast kein Recht, mich zu beleidigen!“, entgegnete Lilli scharf.

„Dazu habe ich jedes verdammte Recht!“ Mit wenigen Schritten war er bei ihr und packte sie am Arm.

„Fass mich nicht an!“, sagte sie entrüstet und versuchte sich seinem Griff zu entziehen, was ihr aber nicht gelang. „Lass mich sofort los!“, befahl sie mit Bennettschem Hochmut. Immerhin war das ihr Zuhause, und Patrick konnte nicht einfach hier aufkreuzen und sie beleidigen und grob behandeln!

Er stieß sie von sich. „Ich sollte dir den schönen Hals umdrehen!“, schimpfte er und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. „Du siehst heute viel jünger aus als gestern Abend. Wie alt bist du eigentlich?“

„Was hat mein Alter damit zu tun?“

„Beantworte einfach meine Frage, Lilli“, sagte er barsch. „Und wenn du schon beim Erklären bist, verrate mir doch auch, wie die hochnäsige Elizabeth Bennett zu einem Namen wie Lilli kommt?“

Zornesröte schoss ihr ins Gesicht. „Beides geht dich nichts an!“

„Es interessiert mich aber“, erwiderte er ungerührt.

Der Mann sah zwar teuflisch gut aus, aber seine Arroganz war wirklich unerträglich. Wieso hatte sie das nicht schon gestern bemerkt? Hatte die Wut auf ihren Vater und Geraldine ihr Urteilsvermögen derart getrübt? Kaum zu glauben, dass diese Frau Patricks Schwester war. Die beiden sahen sich nicht im Geringsten ähnlich.

„Nun?“, hakte er nach, da sie noch immer schwieg.

Sie warf ihm einen verärgerten Blick zu und wünschte, er würde endlich gehen. Doch ihr war klar, dass er das nicht tun würde, solange sie seine Neugier nicht befriedigt hatte. „Ich bin einundzwanzig Jahre alt.“

„Und?“ Er musterte sie streng.

„Und drei Monate“, ergänzte sie, ihn absichtlich missverstehend. Auf keinen Fall würde sie diesem unverschämten Kerl anvertrauen, dass ihr kleiner und von ihr abgöttisch geliebter Bruder, der im Alter von nur zwei Jahren plötzlich gestorben war, sie so genannt hatte. Genauso wenig wie er je erfahren würde, dass an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag ihre Mutter gestorben war und am selben Tag ihr Verlobter und Assistent ihres Vaters sich aus ihrem Leben verabschiedet hatte.

Patrick reagierte auf ihr Ausweichmanöver mit einem verächtlichen Lächeln. „Fast noch ein Kind“, sagte er angewidert. „Ein Opferlamm!“ Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Lilli, aber deine Bemühungen – sosehr ich sie auch genossen habe – waren völlig umsonst.“ Sein Gesichtsausdruck wurde hart. „Da nicht einmal die Bitten meiner Schwester meine Meinung ändern konnten, wird eine Nacht in deinen Armen mich erst recht nicht dazu bewegen.“

Lilli blickte ihn hochmütig an. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“

„Nein?“

„Nein!“, bestätigte sie scharf. „Ich weiß nicht einmal, was du hier überhaupt willst. Wir sind uns gestern auf einer Party begegnet, haben beschlossen, die Nacht miteinander zu verbringen – aber das war’s auch schon. Du bist hierhergekommen, nicht ich zu dir“, erinnerte sie ihn kühl.

„Eigentlich“, sagte er langsam, „bin ich gekommen, um deinen Vater zu sehen, nicht dich, Lilli.“

„Meinen Vater?“, wiederholte sie verblüfft.

Patrick nickte. „Leider hat man mir mitgeteilt, er sei nicht zu Hause.“

„Und so hast du gesagt, du möchtest mich sprechen?“

„Richtig“, bestätigte er und nickte arrogant. „Ich hoffe, du bist jetzt nicht enttäuscht.“

Das ergab eine völlig neue Situation. Lilli schluckte hart. „Und warum wolltest du meinen Vater sprechen?“

Patrick sah sie durchdringend an. „Ich bin sicher, du kennst die Antwort.“

„Weil er ein Verhältnis mit deiner Schwester hat?“, fragte sie höhnisch. „Du hast bestimmt allerhand zu tun, wenn du jedem ihrer Liebhaber einen Besuch abstattest!“

In den Tiefen seiner grauen Augen blitzte kurz Zorn auf, dann wurde ihr Ausdruck eisig, und er ließ den Blick abschätzend über Lilli gleiten. „Mir scheint, du hältst deinen Vater mindestens ebenso auf Trab.“

Nach der gehässigen Bemerkung über Geraldine hatte sie diese Antwort wahrscheinlich verdient. Normalerweise war Lilli gar nicht so boshaft, doch dieser Mann und seine Schwester schienen ihre schlechtesten Seiten zum Vorschein zu bringen.

„Vielleicht ist er ja unterwegs, um dich zu besuchen“, meinte Lilli.

„Das bezweifle ich sehr.“ Patrick lächelte. „Soweit ich deinen Vater bisher kennengelernt habe, hat er sich nie darum gerissen, mit mir zusammenzutreffen.“

Lilli sah ihn mit großen Augen an. „Ihr beide seid euch bereits begegnet?“ Wieso hatte ihr Vater das bei ihrem Gespräch heute Morgen nicht erwähnt?

„Schon des Öfteren“, bestätigte Patrick zu ihrem Erstaunen.

Das warf natürlich die Frage auf, wie lange ihr Vater schon etwas mit Geraldine hatte. Bisher hatte Lilli angenommen, die Affäre der beiden habe gerade erst begonnen.

„Würdest du ihm bitte ausrichten, er soll sich mit mir in Verbindung setzen? Und zwar möglichst bald“, fügte Patrick grimmig hinzu und ging zur Tür.

Lilli runzelte die Stirn. „Du gehst schon?“, platzte sie unfreiwillig heraus. Während seines ungefähr viertelstündigen Besuchs hatte Patrick ihr einige Beleidigungen an den Kopf geworfen, rätselhafte Bemerkungen über ihren Vater gemacht – aber sie war jetzt genauso schlau wie zuvor. Was sie von ihm hatte hören wollen, wusste sie selbst nicht, doch … nun ja, immerhin hatten sie die Nacht zusammen verbracht und …

Er drehte sich an der Tür nochmals um und zog fragend die dunklen Brauen hoch. „Gibt es sonst noch etwas zu besprechen?“, fragte er in gelangweiltem Ton.

Nein, natürlich nicht. Was hätten sie sich schon zu sagen gehabt? Es sei denn …

„Zehn, Lilli“, sagte er sanft, und da sie ihn verständnislos ansah, fügte er erklärend hinzu: „Ich gebe dir zehn Punkte.“

Er lachte heiser, als sie bis tief unter die Haarwurzeln errötete.

Sie hatte doch nicht wissen wollen … ihn nicht gefragt …

„Danke, ich finde selbst hinaus“, verabschiedete er sich spöttisch, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

Lilli hatte wie angewurzelt dagestanden und keinen Ton herausgebracht.

Zehn Punkte. Und doch konnte sie sich an keinen einzigen Augenblick dieser Nacht erinnern!

3. KAPITEL

„Ich möchte jetzt wissen, was hier gespielt wird, Daddy!“, forderte Lilli ihren Vater energisch auf. Bereits seit zwei Stunden hatte sie im Wohnzimmer auf seine Heimkehr gewartet und inzwischen Tee getrunken, da sie nach Patricks Besuch dringend einer Stärkung bedurft hatte. Für Whisky war es noch zu früh gewesen, obwohl dieser Mann einen wirklich in den Alkoholismus treiben konnte!

Sobald sie ihren Vater das Haus hatte betreten hören, war sie in die Halle geeilt und hatte ihn auf dem Weg zur Treppe abgefangen.

Beim Klang ihrer Stimme drehte Richard Bennett sich nun mit finsterer Miene zu seiner Tochter um. „Heute Morgen hast du mir deutlich zu verstehen gegeben, dass du nichts über Geraldine wissen möchtest.“

„Das will ich auch jetzt nicht“, erwiderte Lilli ungeduldig. „Es geht um ihren Bruder.“

„Patrick?“

Sie verzog den Mund. „Falls sie nicht noch einen anderen Bruder hat – ja!“

Ihr Vater musterte sie einen Moment, folgte ihr dann schweigend ins Wohnzimmer und machte die Tür hinter sich zu. „Was ist mit ihm?“, fragte er argwöhnisch.

Sie verdrehte genervt die Augen. „Genau das möchte ich ja von dir wissen!“

„Du hast immerhin die Nacht mit ihm verbracht, Lilli“, erinnerte ihr Vater sie. „Müsstest du ihn da nicht besser kennen als ich? Wo sonst als im Bett kommen zwei Menschen sich so nahe?“

Lilli verbiss sich die Antwort, die ihr auf der Zunge lag. Es brachte sie nicht weiter, wieder mit ihm zu streiten. „Ich spreche nicht von seiner Potenz im Schlafzimmer oder anderswo“, unterbrach sie ihren Vater. „Er hat behauptet, ihr beide würdet euch kennen.“

„So, hat er das?“, fragte ihr Vater betont gleichmütig.

„Daddy!“ Er war zum Fenster gegangen und blickte hinaus – genau wie vorhin Patrick. Ihr Vater tat zwar so, als würde es ihn langweilen, über den anderen Mann zu sprechen, doch Lilli spürte, dass er ihr nur etwas vorzumachen versuchte.

Er seufzte. „Tut mir leid. Mir war nicht klar, dass ihr zwei die halbe Nacht über mich gesprochen habt.“

„Das haben wir nicht“, sagte sie ungehalten. „Er war vorhin hier.“

Ihr Vater schien zu erstarren. Langsam drehte er sich zu ihr um. „Devlin ist hierhergekommen?“

Sie hatte sich also nicht getäuscht. Noch nie hatte sie einen solchen Ausdruck im Gesicht ihres Vaters gesehen. Fast so, als hätte er Angst. Und es hatte mit Patrick Devlin zu tun, dessen war sie sich sicher.

„Ja, er war hier“, bestätigte sie ruhig. „Und einiges, was er gesagt hat …“

Ihr Vater ließ sie nicht ausreden. „Dazu hatte er, verdammt noch mal, kein Recht!“, schimpfte er.

„Ich bin deine Tochter und …“

„Es geht um rein geschäftliche Dinge“, brauste ihr Vater auf. „Hätte ich darüber mit dir zu sprechen gewünscht, hätte ich es getan.“

„Dann sag es mir jetzt“, ermutigte Lilli ihn sanft. Heute Morgen hatte er erwähnt, dass Patrick Vorstandsvorsitzender der Paradise Bank sei. Hatte es vielleicht damit zu tun? Soweit sie wusste, hatte ihr Vater doch immer alle Geschäfte über die Cleveley Bank abgewickelt.

„Ich habe dir heute Morgen schon gesagt, dass Patrick Devlin bei der Paradise Bank das Sagen hat“, erklärte ihr Vater barsch.

„Na und?“

„Liest du denn niemals eine Zeitung, Lilli?“, fragte er gereizt. „Oder bist du deiner Mutter ähnlicher, als ich dachte, und betrachtest Bennett International Hotels nur als Finanzierungsquelle für deinen aufwendigen Lebensstil?“

Plötzlich herrschte im Zimmer eine gespannte Atmosphäre. Lilli sah ihren Vater mit stummem Vorwurf an, und er erwiderte ihren Blick. Er war blass geworden. In einer Art stillschweigender Übereinkunft hatten sie weder über ihre Mutter noch den kleinen Bruder jemals ein Wort verloren, sich nie über den schmerzlichen Verlust der beiden unterhalten.

Lilli atmete tief ein. „Ich weiß, Mummy hatte ihre Fehler …“

„Tut mir leid, Lilli …“

Sie hatten beide gleichzeitig zu sprechen begonnen, verstummten jäh und sahen sich wieder an, diesmal leicht verlegen. Die vergangenen drei Monate waren für Lilli sehr hart gewesen. Sie hatte alles in sich hineingefressen und mit niemandem über den Tod ihrer Mutter gesprochen. Nicht einmal mit ihrem Vater.

Er hatte genug mit sich selbst zu tun gehabt. Während ihres jahrelangen Kampfes gegen den Krebs war ihre Mutter großen Stimmungsschwankungen unterworfen gewesen, unter denen besonders er zu leiden gehabt hatte. Lilli leugnete nicht, dass er allerhand durchgemacht hatte. Sie hatte jedoch nicht geahnt, wie bitter er dabei geworden war.

„Tut mir leid, Lilli.“ Müde fuhr er sich durch das dichte grau melierte Haar. „Das hätte ich nicht sagen sollen.“

Sie war sich nicht sicher, ob er sich für seine Bemerkung über ihre Mutter entschuldigte oder dafür, dass er so über sie dachte.

„Nein, das hättest du nicht“, stimmte sie ihm leise zu. „Aber in den letzten vierundzwanzig Stunden haben wir viel gesagt und getan, was wir besser gelassen hätten. Vielleicht sollten wir einfach alles vergessen.“ In ihrem Fall betraf das vor allem Patrick Devlin und die vergangene Nacht!

„Ich wünschte, wir könnten es, Lilli.“ Schwerfällig ließ sich ihr Vater auf einem Polstersessel nieder und schüttelte den Kopf. „Aber Devlin wird es nicht zulassen.“ Er lehnte sich zurück und sah sie fragend an. „Was genau hat er eigentlich zu dir gesagt?“

Abgesehen davon, dass sie ihm zehn Punkte wert war?

„Nicht viel, Daddy.“ Sie ging zu ihm hin und setzte sich zu seinen Füßen auf den Teppich. „Ich soll dir nur ausrichten, dass du dich mit ihm in Verbindung setzen sollst. Möglichst schnell. Sag mir, was los ist, Daddy.“ Bittend blickte sie zu ihm auf.

Liebevoll strich er ihr eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du bist noch so jung, Lilli.“ Seine Stimme klang gequält. „So unglaublich jung. Obwohl du dich immer so kühl und selbstbewusst gibst.“

„Ich gebe ja zu, dass alles nur gespielt ist“, räumte sie ein und lächelte zerknirscht. „Wie gut du mich kennst, Daddy!“

„Wer sonst, wenn nicht ich?“, sagte er zärtlich. „Ich liebe dich sehr, Lilli, das darfst du nie vergessen. Was immer auch geschieht.“ Er seufzte tief auf.

Erneut überkam Lilli das unangenehme Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war. Irgendetwas bedrückte ihn, und zweifellos hatte es mit Patrick Devlin zu tun.

Unvermittelt richtete sich ihr Vater im Sessel auf. Plötzlich war seine Niedergeschlagenheit von ihm abgefallen. „Devlin und ich haben im Moment geschäftlich miteinander zu tun, und es läuft nicht alles so, wie er es gern hätte“, erklärte er knapp.

Lilli runzelte verärgert die Stirn. Ganz offensichtlich hatte ihr Vater entschieden, sie nicht einzuweihen. „Er hat mich als Opferlamm bezeichnet“, beharrte sie.

„So, hat er das!“, ereiferte sich ihr Vater. „Wer, zum Teufel, glaubt er eigentlich, wer er ist!“, rief er wütend und stand auf. „Devlin hat recht, Lilli. Es wird höchste Zeit, dass er und ich uns treffen. Ich hätte Gerrys Vermittlungsversuche von vornherein ablehnen …“

„Was Geraldine Simms betrifft, so …“

„Sie steht nicht zur Diskussion, Lilli!“, fiel ihr Vater ihr ins Wort, und damit waren die wenigen kostbaren Augenblicke der Nähe zwischen Vater und Tochter endgültig vorbei.

Seine Geliebte war ihm also so wichtig, dass er es ablehnte, über sie mit ihr, seiner Tochter, zu reden! Lilli fragte sich nun natürlich, wie lange das Verhältnis der beiden schon dauerte. Hatte es etwa bereits vor dem Tod ihrer Mutter begonnen? Bei dem Gedanken, dass ihr Vater sich eine Geliebte angelacht hatte, während seine Frau, ihre Mutter, gegen den Krebs ankämpfte, wurde Lilli richtiggehend übel. Nein, das traute sie ihm nicht zu. Oder vielleicht doch?

Sie stand nun ebenfalls auf. Ihre grünen Augen funkelten zornig. „In diesem Fall gilt das auch für die Nacht, die ich mit ihrem Bruder verbracht habe!“

„Lilli!“, rief ihr Vater, als sie aus dem Zimmer stürmen wollte.

Sie blieb stehen und wandte sich langsam zu ihm um. „Ja?“

„Halt dich von Devlin fern. Du verbrennst dir nur die Finger!“

Wahrscheinlich hatte er recht, und wenige Stunde...

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