Julia Extra Band 564

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GEFÄHRLICHE SEHNSUCHT NACH DEM MILLIARDÄR von PIPPA ROSCOE

Auf Zeit, zum Schein, aus Vernunft: Helena heiratet den griechischen Tycoon Leonidas Liassidis nur, um ihre Wohltätigkeitsorganisation zu retten! Doch schon bei Leos Hochzeitskuss fragt sie sich besorgt, ob sie nicht einen gefährlich sinnlichen Fehler gemacht hat …

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  • Erscheinungstag 04.02.2025
  • Bandnummer 564
  • ISBN / Artikelnummer 9783751534284
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Pippa Roscoe

PROLOG

Vor elf Jahren …

Helena wischte eine feuchte Handfläche am seidigen Stoff des schwarzen Kleides ab, das ihre beste Freundin eigens für diesen Moment ausgewählt hatte. Er sollte perfekt sein, deshalb sprachen Kate und sie unaufhörlich darüber, seit Helena nach den Sommerferien ins Internat zurückgekehrt war.

Weihnachten auf der dicht vor der griechischen Küste gelegenen Privatinsel der Familie Liassidis war das beste Geschenk, das ihre Eltern ihr hätten machen können. Leo und Leander nicht nur im Sommer zu sehen, wenn Helena mit ihren Eltern in Griechenland Urlaub machte – ein Weihnachtswunder!

Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel der Diele, von der eine Treppe zu Leos Schlafzimmer führte. Sie hatte die Haare zu einem raffinierten Knoten hochgesteckt und sich besondere Mühe mit dem Make-up gegeben. Ihre Mutter hatte kritisch eine Braue hochgezogen und ihr Äußeres als unpassend abgetan. Ein Wort wie ein Messerstich. Aber Helenas Vater hatte ihre Schulter getätschelt und gesagt, sie sehe wunderschön aus. Sehr erwachsen. Seine Bemerkung war Balsam für den dumpfen Schmerz, den ihre Mutter verursacht hatte.

Genau das hatte sie doch gewollt, richtig? Erwachsen auszusehen. Sie war jetzt fünfzehn, nicht mehr das kleine Kind, wie Leander und Leo sie scherzhaft nannten. Helena presste die Lippen zusammen. Sie wusste, warum sie in den Augen der beiden, in Leos Augen, kein kleines Kind sein wollte. Aber sie war nicht dumm. Leo würde sich für sie nie auf diese besondere Weise interessieren. Schließlich hatte er eine Freundin. Trotzdem war sie da … diese kleine flackernde Flamme der Hoffnung, die nicht erlöschen wollte, egal, was Helena sich sagte.

Unwillkürlich ballte sie die Hände und zerknitterte dabei versehentlich das sorgfältig verpackte Geschenk. Dabei hatte sie eine Ewigkeit gebraucht, um es auszusuchen und auf Leo abzustimmen. Sie drückte sich eine Hand auf den Brustkorb, weil sich ihr Herz um die eigene Achse zu drehen schien bei der Vorstellung, Leo das Geschenk zu geben. Atme.

Als sie den Kopf hob, fiel ihr Blick auf die grünen Zweige, mit denen Cora das Haus geschmückt hatte. In Griechenland schmückte man die Häuser nicht so aufwendig mit Stechpalmen und Mistelzweigen wie in Großbritannien. Dass Mrs. Liassidis es extra für sie getan hatte, rührte die Fünfzehnjährige. Sie liebte das Anwesen mit der fantastischen Aussicht auf die Ägäis.

Genau genommen waren Leo und Leander das Beste an diesem Haus. Die Zwillingsbrüder gaben ihr das Gefühl, zur Familie zu gehören. Leander brachte sie immer wieder aufs Neue zum Lachen, doch Leo …

„Wirklich, Helena. Wird es nicht langsam Zeit, dass du aufhörst, so töricht zu sein? Leo ist sechs Jahre älter als du.“

Es tat regelrecht weh, als ihr das Blut in die Wangen stieg. Entgegen der Worte ihrer Mutter war sie nicht töricht genug, um zu glauben, dass sie Leo heiraten würde, auch wenn ihr Vater und Onkel Giorgos darüber witzelten. Giorgos Liassidis war nicht ihr richtiger Onkel, sondern der Geschäftspartner ihres Vaters. Aber er kam ihr wie ein echter Onkel vor, und sie liebte die Art, wie er mit seiner Frau, Cora, umging. Die unbefangene Zuneigung zwischen dem Paar. Außerdem gefiel es ihr, wie ihre Eltern, die sie in England nicht oft zu Gesicht bekam, hier waren.

Helena schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich auf das Weihnachtsgeschenk, das sie Leo gekauft hatte. Es war völlig anders als ihr Geschenk für Leander. Es bedeutete etwas.

Leo hatte sich sehr verändert seit seinem Streit mit Leander vor ein paar Jahren und seinem Einstieg bei Liassidis Shipping. Helena wollte ihn glücklich machen und dachte, dass ihr Geschenk ihm wenigstens ein Lächeln entlocken könnte.

Mit hämmerndem Herzen stieg sie die Treppe hoch und ging den Korridor entlang zu seinem Zimmer. Wieder fühlten sich die Handflächen ein bisschen feucht an. Warum war sie nervös? Sie lächelte über sich selbst und wollte gerade an die Tür klopfen, doch …

„Es ist in Ordnung. Ich weiß nicht, warum du dir darüber den Kopf zerbrichst“, hörte sie Leo sagen.

„Ich will halt einen guten Eindruck machen.“

Helena blickte mürrisch drein, als sie die wehleidige Stimme erkannte.

„Mina, du hast meine Eltern doch schon oft getroffen.“

„Diesmal ist es anders. Es ist Weihnachten.“

Helena lehnte sich näher zur Tür, die einen schmalen Spalt offen war. Ihr Herz erbebte, als sie sah, wie Leo seine Freundin in die Arme zog. Resolut erstickte sie den Kummer. Es verstand sich doch von selbst, dass Leo die junge Frau mitgebracht hatte.

„Ich nehme an, sie wird hier sein. Helena.“

Zum ersten Mal bereute Helena fast, dass sie Griechisch lernte. Ein Teil von ihr wünschte, sie könnte die Unterhaltung nicht verstehen, aber sie brachte es auch nicht fertig, wegzugehen. Die Bitterkeit in Minas Stimme traf sie. Wenn auch nicht so tief wie die Erkenntnis, dass Leo sie nicht verteidigte.

„Natürlich wird sie hier sein. Mein Vater hat ihre Eltern eingeladen.“

„Sie ist so ein verzogenes Gör.“

„Mina, sie ist harmlos.“

Schmerz machte sich wie ein dicker Kloß in Helenas Kehle breit. Ihre Wangen brannten.

Harmlos.

„Ich habe gesehen, wie sie dich anschaut. Das ist nicht harmlos. Ich weiß es, weil ich selbst mal in dem Alter war.“

Das Geschenk sank in sich zusammen, weil Helena es fester packte. Scham durchströmte sie.

„Sie läuft Leander und mir hinterher wie ein Hündchen“, wiegelte Leo ab.

„Dann erzieh sie besser“, schnappte Mina.

„Sie ist doch noch ein Kind.“

„So etwas musst du im Keim ersticken, glaub mir. Und es ist wirklich unfair von dir, ihr etwas vorzumachen.“

„Vorzumachen?“, fragte Leo verdutzt. „Mina, ich glaube, du hast da etwas missverstanden. Sie bedeutet mir nichts. Für mich ist sie bloß die Tochter vom Geschäftspartner meines Vaters.“

Blind vor Tränen fuhr Helena herum und hastete durch den Korridor zurück. Vor der Treppe stoppte sie.

Sie ist doch noch ein Kind. Sie bedeutet mir nichts.

Helena biss die Zähne so fest zusammen, dass sie schmerzten. Wütend rieb sie sie sich die Augen. Wie konnte ihr Herz derart wehtun und gleichzeitig so heftig schlagen? Zittrig atmete sie ein, was den Druck in ihrer Brust allerdings nicht linderte. Eine weitere Träne lief ihr über die Wange, und sie fragte sich, warum es ihr vorkam, als hätte jemand das Seil durchgeschnitten, das sie mit dem Ufer verband. Als wäre sie ein Boot, das ohne Anker auf eine stürmische See hinaustrieb.

Sie senkte den Blick auf die zerdrückte Schachtel in ihren Händen. So konnte sie Leo das Geschenk nicht geben. Nicht jetzt. Die Demütigung schien durch ihre Haut zu kriechen und sich im Magen einzunisten.

Jäh fiel ihr das Geheimfach ein, in dem Leander, sie und Leo manchmal kurze Botschaften oder Leckereien deponierten. Es war hinter einem kleinen Gemälde versteckt, das in diesem Korridor an der Wand hing. Wie betäubt drehte sie um, ging zu dem Gemälde und schob ihr Geschenk in das Fach. Hoffentlich fand es sehr lange Zeit niemand.

Der dicke Kloß saß noch in ihrem Hals, als sie die Erniedrigung in Entschlossenheit ummünzte. Mina brauchte sich keine Sorgen zu machen. Helena würde Leo nie wieder ansehen oder einen Gedanken an ihn verschwenden.

Doch als sie die Tränen wegwischte und die Treppe hinunterging, sah sie nicht, wie Leander aus dem Schatten trat. Betroffen und traurig blickte er zwischen Helena und der Zimmertür seines Bruders hin und her. Er schüttelte den Kopf, bevor er Helena langsam ins Erdgeschoss folgte, wo der Rest ihrer Familien zusammensaß.

1. KAPITEL

„Sag mir noch mal, dass ich das Richtige tue.“

„Du tust, was du tun musst.“

„Wirklich?“

„Helena, wenn du willst, dass ich dich davon abbringe, dann mache ich es. Mich kümmern weder die Gäste noch die Kirche, der Medienrummel, den dieses Brimborium auf den Plan gerufen hat, oder das verdammte Geld.“

Ächzend wandte Helena sich von ihrem Spiegelbild ab. „Du hast recht. Es ist ein Brimborium. Stell dir nur vor, was passieren würde, wenn alle die Wahrheit wüssten.“ Ihr Herz machte einen schuldbewussten Satz.

Diese Hochzeit war eine Farce, ein Schwindel. Aber sie war auch die einzige Lösung für die furchtbare Lage, in der sie sich befand – der einzige Weg, um ihre Stiftung, Incendia, zu retten.

„Wenn Casanova Leander die Medien bloß nicht in helle Aufregung versetzt hätte“, scherzte Kate.

Helena musste lächeln. Leander Liassidis mochte der Inbegriff des Playboys sein, doch als sie ihn gebraucht hatte, war er zu ihrem Fels in der Brandung geworden. Sie liebte ihn wie einen Bruder. Ob er eines Tages wohl selbst einen Menschen fand, den er innig lieben konnte? Diese Sorge war vielleicht einen Hauch ironisch, weil Helena in weniger als zwanzig Minuten durch das Kirchenschiff auf Leander zugehen würde, damit ein Pfarrer sie vor hundertfünfzig Gästen zu Ehemann und Ehefrau erklärte. „Wenn meine Erbschaft bloß nicht diesen lächerlichen Haken hätte.“

„Was um alles in der Welt hat sich dein Vater dabei gedacht? Als ob der Zugang zu deinem Erbe von einem Mann abhängen sollte.“

Helena verspürte einen Stich, wie immer, wenn sie an ihren Vater dachte. Er war kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag gestorben, und es verging kein Tag, an dem sie ihn nicht vermisste. „Na ja, wenn ich noch zwei Jahre warten könnte, bis ich achtundzwanzig bin, wäre all dies überhaupt nicht nötig.“

„Natürlich, wie vernünftig“, erwiderte Kate sarkastisch. „Eine Frau wird ja erst dann reif, wenn sie einen Mann heiratet oder fast dreißig ist!“

Wieder musste Helena lächeln. Kate und sie standen unerschütterlich füreinander ein. Die Bindung zwischen ihnen war sogar noch enger als in einer Familie, weil sie sich selbst dafür entschieden hatten.

„Meine Mutter hätte mir bestimmt geholfen, das Testament anzufechten, wenn uns mehr Zeit geblieben wäre“, erklärte Helena, ohne Kates skeptischen Blick zu registrieren. „Aber so ein Prozess dauert zu lange und erregt zu viel Aufmerksamkeit. Incendias Finanzbericht ist im Dezember fällig. Selbst wenn die Polizei Gregory bis dahin schnappt, kann das Geld, das er unterschlagen hat, erst nach einer umfassenden Untersuchung und einem Gerichtsverfahren erstattet werden.“

Helena hatte nie geglaubt, eines Tages für die Stiftung arbeiten zu dürfen, die ihr eine solche Hilfe in der Not gewesen war. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie Angst gehabt, einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen, genau wie er in jener furchtbaren Juninacht. Dank der Empfehlung einer Lehrerin im Internat war sie bei Incendia gelandet. Neben Trauerbegleitung hatte die Stiftung ihr auch einen Gentest ermöglicht, um herauszufinden, ob sie wie ihr Vater am Brugada-Syndrom litt. Der Test war negativ ausgefallen.

Inspiriert durch all das Gute, das Incendia leistete, hatte Helena in Cambridge Betriebswirtschaft mit dem Schwerpunkt Management für gemeinnützige Organisationen studiert.

Ihre Mutter fand es albern, finanzielle Sicherheit für deplatzierte Selbstlosigkeit aufzugeben, aber Helena hatte ihre Leidenschaft gefunden – und obendrein etwas, in dem sie gut war. Bald sprach sich herum, dass sie Geschäftssinn besaß und mit frischen Ideen Projekte anstieß, die auch bei jüngeren Menschen gut ankamen. Zudem arbeitete sie unermüdlich.

Vor sechs Monaten hatte Incendia ihr die Stelle der Geschäftsführerin angeboten. Leander war extra nach London geflogen, um sie zur Feier des Tages auszuführen. Es hatte wie üblich geendet, indem er sie in einem Taxi nach Hause brachte, bevor er mit der Frau, die sich gerade seiner Aufmerksamkeit erfreute, zu seinem Appartement fuhr.

Einen Monat nach Helenas Einstieg bei Incendia war der Finanzvorstand mit Investmentfonds im Wert von fast hundert Millionen Pfund verschwunden. Wie sich herausstellte, hatte Helenas Vorgänger obendrein versäumt, die Betriebshaftpflichtversicherung zu verlängern, mit der diese Sache eher schmerzlich denn katastrophal ausgegangen wäre.

Falls die Finanzlücke auch am Jahresende noch klaffte, musste Incendia bei der Finanzprüfung für Bankrott erklärt werden. All die Menschen, denen sie helfen könnten, die Erforschung von Krankheiten, unter denen Millionen Menschen litten … Dafür würde kein Geld bleiben.

Das durfte Helena nicht zulassen. Sie musste das Geld auftreiben, und ihr fiel nur ein einziger Weg ein.

Die Aktien von Liassidis Shipping, die ihr Vater ihr vererbt hatte.

Eigentlich hatte sie sich nie davon trennen wollen. Sie sollten in der Firma bleiben, die Leo inzwischen so gut wie allein führte. Dann wäre Helena an dem Unternehmen beteiligt geblieben, das ihr Vater mit Giorgos Liassidis gegründet hatte. Zu wissen, dass sein Vermächtnis weiterlebte und ein Teil davon ihr gehörte – nur das hatte sie gewollt. Aber nun musste sie die Aktien loslassen. Ihn loslassen.

Ein kleines Stück von Helenas Herz brach unter der Last des Schluchzers, den sie in ihrer Brust verschloss.

Sie spürte, wie sich zwei Arme sanft um ihre Schultern legten. Im Spiegel traf ihr Blick den von Kate.

„Ich tue das Richtige“, sagte Helena, unsicher, ob sie sich selbst oder Kate überzeugen wollte. „Sobald die Trauung in Großbritannien registriert ist, kann ich die Aktien verkaufen. Der Erlös wird hoch genug sein, um Incendias Fehlbetrag auszugleichen.“

„Kannst du die Aktien zurückkaufen, nachdem du bekommen hast, was du brauchst?“

Helena schaute auf ihre Füße. „Nein. Nur ein Narr würde Aktien von Liassidis Shipping verkaufen.“ Oder jemand, der extrem verzweifelt war. Und sie war extrem verzweifelt.

„Na dann“, sagte Kate auf ihre nüchterne Art. „Wir haben einen Plan, und den ziehen wir durch!“

Es klopfte. Helena drehte sich um, in der Hoffnung, es möge ihre Mutter sein. Doch es war der Pfarrer, der sie informierte, alles sei bereit für die Trauung.

Helena ließ sich die Kränkung nicht anmerken. Ja, ihre Hoffnung war töricht, und nach all den Jahren hätte sie es besser wissen sollen, aber ohne Vater und Mutter kam sie sich merkwürdig einsam vor.

Sie schob den Gedanken beiseite und betrachtete sich in dem bodenlangen Spiegel. Das täuschend schlicht wirkende Brautkleid passte zu ihrer schlanken Figur. Als Teenager hatte man sie Bohnenstange genannt, aber in diesem Kleid sah sie schön aus – und fühlte sich auch so. Ironie des Schicksals: Ihr Anblick war verschwendet an Leander, der in ihr nie etwas anderes gesehen hatte als eine kleine Schwester.

Helena berührte das silberne Armkettchen, das ihr Vater ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Sein letztes Geschenk. Sie war traurig und zugleich erleichtert, weil er heute fehlte. Traurig, weil das Kind in ihr den Vater am Hochzeitstag dabeihaben wollte, auch wenn dies nie eine echte Ehe sein würde. Und erleichtert, weil er nicht erleben musste, was sie bald tat. Sie wollte eine Geschäftsfrau sein, auf die er stolz gewesen wäre. Das konnte sie immer noch erreichen. Aber nur, wenn Incendia diese Krise überlebte.

„Bist du bereit?“, fragte Kate.

Helena nickte.

Sie hätte eine Hochzeit im kleinen Kreis bevorzugt, aber Leander war hart geblieben: „Es wird meine einzige Hochzeit sein – wenn schon, denn schon.“

In Großbritannien war der Name Hadden zwar bekannt, aber in Griechenland erregte der Name Liassidis ungleich mehr Aufsehen. Jeder, der etwas galt, saß in der prachtvollen katholischen Kirche in Athen und wollte gesehen werden.

Helena war nicht so dumm, zu glauben, dass Leanders Bruder zur Hochzeit kommen würde. Die Zwillinge hatten in den letzten fünf Jahren kein einziges Wort gewechselt. Ihr Herz schlug kräftiger, nur ein einziges Mal. Seit der Auseinandersetzung zwischen Leo und ihrer Mutter, Gwen, vor fast zehn Jahren hatte auch Helena nicht mehr mit ihm gesprochen. Gwen war heute in der Kirche, mit ihrem zweiten Ehemann, John, der für die Hochzeit widerstrebend seinen Golfurlaub unterbrach.

Die beiden jungen Frauen blieben vor der hohen Flügeltür stehen, durch die man das Kirchenschiff betrat. Einen Moment lauschten sie dem Gemurmel der Gäste und der Streichmusik. Helena war nicht gläubig, aber nun fragte sie sich, ob sie wohl einen Frevel beging, wenn sie an diesem Ort heiratete, aus Gründen, die mit Liebe nichts zu tun hatten.

Der Hochzeitsmarsch ertönte, und unsichtbare Hände zogen die Flügeltür von innen auf. Kate trat ihren Weg zum Altar an, während Helenas Herz schneller schlug. Obwohl dies keine echte Ehe sein würde, versetzte Nervosität ihrer Haut viele kleine Stiche. Sie heftete den Blick auf das Bouquet in ihren Händen, deshalb bekam sie nicht mit, wie Kate stockte und fast stolperte.

Tatsächlich nahm Helena nicht viel wahr, bis sie schon fast die Mitte des Kirchenschiffes erreicht hatte. Erst als Kate einen Schritt zur Seite ging und in Panik von der Braut zum Bräutigam blickte, merkte Helena, dass etwas nicht stimmte.

Etwas lief ganz und gar entsetzlich falsch.

Denn vorne stand der letzte Mann, den sie je hier erwartet hätte.

Leonidas Liassidis.

Leo starrte auf die geschlossene Kirchentür. Im Stillen verfluchte er seinen arroganten, rücksichtslosen Bruder, ohne sich darum zu scheren, dass er es in einer Kirche tat.

Er war auf hundertachtzig. Wie konnte Leander es wagen?

Hätte Leo nicht die Nachricht gehört, die sein Bruder ihm vor knapp drei Stunden hinterlassen hatte, wäre er nicht mal hier gewesen. Nur mit knapper Not hatte er es zur Kirche geschafft. Seit fünf Jahren hatte er nicht mit Leander gesprochen, und dies war das Erste, um das sein Bruder ihn bat?

„Sei ich.“

Die Nachricht war länger gewesen, aber als Leo jetzt vor hundertfünfzig Gästen am Altar stand, waren jene beiden Worte die einzigen, die er hörte.

„Sei ich, sei ich, sei ich.“

Den Trick hatten sie zuletzt gewagt, als sie noch Jungen gewesen waren. Als er Leander noch als seinen Bruder betrachtet hatte. Bevor der mit seinen Lügen die gemeinsame Zukunft verraten hatte.

Leos Erinnerung an den achtzehnten Geburtstag war im Laufe der Zeit kein bisschen unschärfer geworden. Damals hatte ihr Vater die Zwillinge vor die Wahl gestellt. Entweder stiegen sie bei Liassidis Shipping ein und erbten die Firma später, oder sie entschieden sich für ein beträchtliches Vermögen und gingen ihren eigenen Weg.

Jahrelang hatten sie als Teenager darüber geredet, wie sie Liassidis Shipping gemeinsam zum Branchenführer machen wollten.

Und bis zu jenem Moment war Leo davon überzeugt gewesen, dass er Leander besser kannte als sich selbst. Aber dann hatte er seinen Bruder angeblickt – und sich einem Fremden gegenübergesehen.

Selbst beim Gedanken daran spannten sich seine Rückenmuskeln an. Verrat, Wut, ein scharfer Geschmack im Mund. Leo war schmerzlich bewusst, dass sich alle Anwesenden auf ihn konzentrierten. Darunter seine Eltern, die ihn entsetzt anstarrten.

Leander und er waren eineiige Zwillinge. Nur sehr wenige Menschen konnten sie auseinanderhalten, aber seine Eltern hatten ihn erkannt, sobald er in die Kirche getreten war.

Bevor er sie aufklären konnte, hatte man ihn zum Altar geleitet. Selbst wenn ein Gespräch möglich gewesen wäre … Was hätte er sagen sollen? Das, was sein Bruder ihm auf die Mailbox gesprochen hatte?

Dass Leander Zeit brauchte?

Zeit wofür? Der Mistkerl hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, es zu erklären. Bis zum Ende der Flitterwochen wollte er zurück sein, aber Leo glaubte ihm keine Sekunde.

„Helena braucht diese Hochzeit. Braucht sie wirklich. Also bitte. Ich bitte dich … flehe dich an. Bitte lass sie am Hochzeitstag nicht allein.“

Die Anspannung zuckte wie ein Blitz von Leos Rücken in Nacken und Kiefer. Von sämtlichen Frauen auf der Welt hatte Leander ausgerechnet Helena Hadden zur Ehefrau erkoren? Leo wäre glücklich gewesen, wenn er bis zum Ende seines Lebens nie wieder eine Hadden hätte sehen noch von ihr hätte hören müssen.

Es hatte andere Zeiten gegeben. Zeiten, in denen er Helenas Gesellschaft genossen hatte. Bevor sie nach Leanders Verrat dessen Partei ergriffen hatte. Dann war alles noch schlimmer geworden, wegen der Dinge, die Gwen Liassidis Shipping angetan hatte.

Ob aus Trauer um ihren verstorbenen Mann oder aus Dummheit – Gwen hatte die Firma fast ruiniert, weil sie mit dem Konkurrenten eines Klienten eine Zusammenarbeit zum Dumpingpreis eingegangen war. Leo hatte all seine Kräfte aufbieten müssen, damit Liassidis Shipping nicht in Schimpf und Schande unterging.

Christós, was machte er überhaupt hier?

Unabhängig davon, wie sehr er die Haddens ablehnte und seinen Bruder verabscheute, konnte er Helena unmöglich allein einer Schar Hochzeitsgäste überlassen, ganz abgesehen von den Presseleuten, die draußen lauerten. So etwas brachte nur sein selbstsüchtiger, gefühlloser Bruder fertig.

Die Flügeltür aus Holz wurde aufgezogen, wobei die unteren Enden hörbar über den Steinboden kratzten. Leo zuckte bei dem hässlichen Geräusch zusammen. Gleich darauf sah er Helena in der Türöffnung, nur eine Sekunde. Sie lächelte ihre Brautjungfer an, hoffnungsvoll, aufgeregt, und der Anblick drang durch seinen glühenden Zorn.

Ihre Wirkung auf ihn war unmittelbar. Sein Magen zog sich zusammen, wie in Erwartung eines Fausthiebs in den Bauch, während Hitze ihn durchflutete. Die Frau in dem elfenbeinfarbenen Etuikleid wirkte wie eine Statue, groß, mehr als schön, erinnerte kaum an das schlaksige Mädchen, das er vor zehn Jahren zuletzt gesehen hatte. Der deutliche Unterschied zwischen dem, was er sah, und dem, was er erwartet hatte, zerstörte jegliche instinktive Hemmung davor, die außergewöhnliche feminine Schönheit jener Frau am anderen Ende des Kirchenschiffes wahrzunehmen. Leo war erleichtert, als die Brautjungfer ihren Platz vor der Braut einnahm.

Reiß dich zusammen. Auf der Stelle.

Er rief sich in Erinnerung, wer sie war, was ihre Mutter angerichtet und in welche Lage sein Bruder ihn gebracht hatte. In der nächsten Sekunde trat die Brautjungfer zur Seite, und Helena erblickte ihn.

Leo beobachtete sie so eindringlich, dass er genau merkte, wann ihr klar wurde, dass er vor dem Altar stand, nicht sein Bruder. Schock und Bestürzung verwandelten sich in Wut. Das Feuer in Helenas erstaunlich blauen Augen brannte sich fast so tief in ihm ein wie der erste Blick auf sie.

Trotzdem konnte er nichts tun, nichts sagen, bis sie an seiner Seite ankam. Und selbst dann … Sie standen der versammelten Gästeschar gegenüber. Inklusive Pfarrer.

„Helena braucht diese Hochzeit. Braucht sie wirklich.“

Leo verkniff sich ein höhnisches Lachen. Die pure Panik in ihrem Blick sagte ihm alles, was er wissen musste.

Hier ging es nicht um eine Liebesheirat. In all den gemeinsamen Jahren der Haddens mit seiner Familie war nicht mal ein Hauch von Liebe zwischen Helena und Leander zutage getreten. Deshalb konnte man es Leo nachsehen, dass er die Hochzeitseinladung zunächst für einen Scherz gehalten hatte – bis in den Boulevardblättern das Gerücht kursiert war, Casanova Leander werde endlich solide.

Direkt vor der Kirchentreppe standen Vertreter der internationalen Presse. Hatte sich sein Bruder darum aus dem Staub gemacht? Spielte es überhaupt eine Rolle? Leander hatte erneut bewiesen, dass für ihn nur die eigenen Bedürfnisse zählten, egal, wen er damit verletzte.

Leo konzentrierte sich wieder auf Helena, die nur wenige Schritte von ihm entfernt war und ihn derart zornig anfunkelte, dass er sich auf ein Höllenfeuer gefasst machte.

Schließlich stellte sie sich neben ihn, den Blick auf ihn geheftet, als hätte er sie beide in diese Lage gebracht und könnte nichts Besseres mit seiner Zeit anfangen, als den Bräutigam zu spielen in einer Scharade, die sich Helena und Leander ausgedacht hatten.

Sie setzte ein falsches Lächeln auf. „Was machst du hier?“, zischte sie.

„Dein geliebter Verlobter ist abgehauen“, antwortete er mit einem ebenso falschen Lächeln.

Das Blut wich aus Helenas Wangen.

Mistkerl. Diesmal wusste Leo nicht genau, ob er seinen Bruder oder sich selbst verfluchte. „Vor dem Ende der Flitterwochen kommt er zurück, hat er gesagt“, ließ ihn sein bisher unbekanntes Gewissen hinzufügen.

In ihren großen Augen konnte er lesen, wie aufgewühlt sie war. Sie erinnerten ihn an hohen Seegang in der Ägäis, aber ihre Gedanken waren für ihn ebenso unergründlich wie die Wellen. „Lächeln“, warnte er.

Wieder bedachte sie ihn mit einem unmissverständlichen Blick. Sag mir nicht, dass ich lächeln soll, verdammt. Trotzdem gehorchte sie, als sie sich dem Pfarrer und den Gästen zuwandte. Beim Anblick ihres Mundes musste Leo an eine zarte Rosenblüte denken.

Der Pfarrer hieß die Gäste willkommen und begann mit der Trauung. Leo fühlte, wie Helenas Panik an ihm zerrte und seinen Frust darüber schürte, dass Leander ihn in diesen Betrug reingezogen hatte.

Als der Chor die erste von hoffentlich wenigen Hymnen anstimmte, hatte Leo nur ein einziges Ziel: möglichst schnell aus dieser lächerlichen Situation rauszukommen. Darum sagte er, was gesagt werden musste, zu dem Zeitpunkt, an dem es gesagt werden musste.

Flitterwochen – von wegen. Gleich nach der Trauung würde er verschwinden. Zurück in sein Appartement in Athen, zu Liassidis Shipping, wo wichtige Besprechungen seine Gedanken in Anspruch nahmen. Nicht dieser chaotische Sumpf, der Helena und Leander umgab.

Schließlich bedeutete der Pfarrer ihnen mit einer Geste, in die Sakristei zu treten, um die Heiratsurkunde zu unterschreiben. Falls jemand es seltsam fand, dass der Bräutigam die Hand seiner frischgebackenen Gattin packte und sie rasch außer Sichtweite der Gäste bugsierte, erklärte man es sich mit seiner leidenschaftlichen Liebe zu der wunderschönen Helena Hadden.

2. KAPITEL

„Fass mich bloß nicht an“, flüsterte Helena unwirsch.

„Tue ich ja gar nicht“, knurrte Leo. Seine Hand schwebte dicht über ihrem unteren Rücken und hatte dieselbe Wirkung wie ein glühender Schürhaken. Er drehte sich zum Pfarrer und seinen Eltern um, die ihnen gefolgt waren. „Schenkt ihr uns bitte ein paar Minuten unter vier Augen? Wir möchten diesen besonderen Moment auf uns wirken lassen.“

Für Helena grenzte es an ein Wunder, dass niemand die Unaufrichtigkeit wie Gift von Leos Worten tropfen hörte. Sie wartete, bis seine Eltern und der Pfarrer die Sakristei verlassen hatten. Dann wandte sie sich von Leo ab, um der Wirkung seiner bloßen Anwesenheit zu entgehen. Prompt sah sie sich einem hohen Tisch gegenüber, auf dem die Heiratsurkunde lag. Wie Hohn gähnten dort zwei Lücken für Helenas und Leos Unterschriften. Nein, für die von ihr und Leander.

Ohne seine Unterschrift bekam sie keinen Zugang zu den Aktien, die sie brauchte, um Incendia zu retten.

Was soll ich nur tun?

Sie fuhr zu Leo herum und machte vor lauter Sorge einen Schritt auf ihn zu. „Wo ist er?“, fragte sie, unfähig, die Panik aus ihrer Stimme herauszuhalten.

„Woher soll ich das wissen?“

Helena hasste die Reaktion ihres Körpers – als wäre dies der Mann ihrer Träume statt ihrer Albträume. Ihr Oberkörper berührte fast den edlen dunklen Wollstoff des Jacketts seines dreiteiligen Anzugs. Das blütenweiße Hemd darunter duftete nach Baumwolle und Sandelholz. Helena widerstand der Versuchung, tief einzuatmen. Andernfalls hätte sich ihr Oberkörper an Leos geschoben, und …

Er trat so plötzlich zurück, dass sie beinahe vorwärts stolperte. Beschämt sammelte sie sich, drehte sich um und holte den dringend benötigten Atemzug nach. „Es muss sich um einen Irrtum handeln.“

„Dein einziger Irrtum, agápi mou, war, Leander auch nur eine einzige Sekunde zu vertrauen.“

„Nenn mich nicht ‚meine Liebe‘“, schnappte sie, weil der Kosename zwischen ihnen fehl am Platze war. Verärgert blickte sie den Mann an, der anscheinend nicht wusste, dass durch das Fenster ein Sonnenstrahl auf ihn fiel und die schönen Gesichtszüge geradezu liebevoll betonte.

Leander war ausgelassen, lustig, mit einem unverwüstlichen sonnigen Gemüt. In der Woche, die Helena und Kate vor der Hochzeit mit ihm verbracht hatten, waren Partys und Gelächter, Cocktails und Tanzen an der Tagesordnung gewesen. Helena hatte nichts Ungewöhnliches an ihm bemerkt.

Wenn er die Stimmungskanone war, dann war Leo der Kater. Die lästige Mahnung, dass es einen Morgen danach gab.

Die Brüder sahen nahezu identisch aus – mit dichten rabenschwarzen, widerspenstigen Haaren, einer klassischen geraden Nase, hohen Wangenknochen, einem kurzen, unverschämt stylishen Bart und einer breiten Stirn, die sie entschlossen wirken ließ. Dennoch gab es einen Unterschied.

Leo war zurückhaltend. Er lebte abgeschiedener, war weniger gesellig. Leander hatte in Helena nie so etwas ausgelöst wie Leo – als würde er ihr den Atem verschlagen, als würden Flammen ihre Haut versengen, als bräuchte er nur mit den Fingern zu schnipsen, damit ihr Puls, ihr ganzer Körper reagierte.

Sie räusperte sich. Jäh wurde ihr unangenehm bewusst, dass sie ihn angestarrt hatte. „Was hat er zu dir gesagt?“

„Hier. Hör selbst.“ Leo zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte auf den Bildschirm. Leanders Stimme ertönte: „Ich bin’s. Ich weiß, wir haben uns nicht mehr gesprochen, seit … Na, du weißt ja, wie lange es her ist. Du musst etwas für mich tun. Ich muss verreisen. Ich brauche einfach etwas Zeit … Am Ende der Flitterwochen bin ich zurück, aber bis dahin brauche ich deine Hilfe. Du musst ich sein. Mir ist klar, dass du nicht willst. Aber Helena braucht diese …“ Leo stoppte die Nachricht seines Bruders.

Helena runzelte die Stirn. „Ist das alles?“

„Alles, was relevant für diese Situation ist“, antwortete er, ohne genau zu wissen, warum er die Nachricht ausgerechnet an dieser Stelle abgebrochen hatte. Sein Instinkt sagte ihm, dass Helena nicht hören wollte, wie Leander ihn anflehte, sie an ihrem Hochzeitstag nicht allein zu lassen.

Sie starrte auf das Handy. „Das würde er mir nicht antun. Er weiß doch …“

„Was weiß er, Helena? Warum du dieses Theater von Hochzeit aufführst?“, fragte Leo verächtlich. Er verabscheute Unaufrichtigkeit, und unaufrichtiger als dieser Schwindel ging es wohl kaum. „Was hast du dir bloß davon versprochen?“

Helena biss sich auf die Unterlippe. Er sah ihr an, wie sie mit sich rang. Ihre azurblauen Augen trübten sich, wie Gischt das Meer trübte. „Das ‚Warum‘ ist nicht relevant für die Situation“, konterte sie.

„Na gut. Es ist sowieso unwichtig. Sobald der Pfarrer zurückkommt, sage ich ihm, dass ich nicht unterschreibe. Ich bin raus.“

Helena zuckte zusammen, als hätte sie sich verbrannt. Sie hastete auf Leo zu, die Hände zu Fäusten geballt, wie um sich davon abzuhalten, ihn beim Revers seines Jacketts zu packen. „Bitte, Leo, bitte. Ich … Das kannst du nicht tun“, sagte sie verzweifelt. „Ich … Ich brauche dich.“

Die Worte schienen sie beide zu schockieren.

„Dann erzähl mir, worum es hier geht.“

Sie nickte hastig, wobei sich eine dünne weizenblonde Strähne aus dem Knoten in ihrem Nacken löste. „Erinnerst du dich an die Aktien, die mein Vater mir hinterlassen hat?“

Es kam ihm vor, als würde der Blick aus ihren strahlend blauen Augen direkt in seiner Brust landen. Natürlich erinnerte er sich an die Aktien von Liassidis Shipping. Schließlich quälten sie ihn bei jeder Aktionärsversammlung, wenn Entscheidungen getroffen wurden, die über den künftigen Erfolg der Firma entschieden.

Nachdem Leander das Geld seines Vaters genommen und sich aus dem Staub gemacht hatte, waren Gwen Haddens Ignoranz und Sturheit fast der Untergang von Liassidis Shipping gewesen. Nur dank Leos Blut, Schweiß und Tränen war das Unternehmen heute wieder Marktführer. Er hatte geschuftet, mit Mut, Instinkt und Entschlossenheit als einzigen Ratgebern. Und er allein war verantwortlich für das Resultat.

Die Vorstellung, dass irgendjemand, noch dazu eine Hadden, dreißig Prozent der Liassidis-Aktien erben würde, quälte ihn. Er hasste es, nicht die komplette Kontrolle über eine Firma zu haben, die eigentlich ihm gehören sollte.

Naí, sicher erinnere ich mich“, antwortete er knapp.

„Dem Testament meines Vaters zufolge erbe ich die Aktien …“

„Wenn du achtundzwanzig bist. Ich weiß. In zwei Jahren.“ Das Datum war in seinem Hirn eingebrannt. Es glich einer Zeitbombe, die bis zu dem Tag tickte, an dem er keinen richtigen Zugriff mehr auf seine Firma haben würde.

„Erinnerst du dich auch an die Einschränkung?“

Leo zog die Stirn kraus. „Welche Einschränkung?“, fragte er mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube.

Helena schluckte. „Ich kann die Aktien früher als an meinem achtundzwanzigsten Geburtstag erben, wenn ich heirate.“

Er spürte die Worte wie eine Ohrfeige. „Warum brauchst du die Aktien? Was wirst du mit ihnen machen?“

Sie straffte die Schultern und sah ihn herausfordernd an. „Ich werde sie verkaufen.“

„Du wirst die Aktien verkaufen“, wiederholte Leo, als wolle er sichergehen, dass er sich nicht verhört hatte. „Hast du eine Ahnung, welche Folgen das für Liassidis Shipping haben könnte?“, fragte er hitzig. „Irgendeine Ahnung? Wie kannst du nur so …“

„Red leiser“, zischte sie.

Wütend holte er Luft – und drehte sich um.

Sie beobachtete, wie er die Hände zu Fäusten ballte, als würde er ihr am liebsten den Hals umdrehen. Der Stoff des Jacketts verschob sich über dem Rücken, weil Leo die Schultern rollte und den Hals von einer zur anderen Seite drehte.

„Wem?“, fragte er, ohne sich zu Helena umzudrehen.

„Wem was?“

Sein gereizter Seufzer hallte im Zimmer wider. „Wem willst du die Aktien verkaufen?“

So weit hatte sie noch nicht gedacht. Sie brauchte ihr Diplom in Betriebswirtschaft nicht, um zu wissen, dass man ihr die Aktien aus den Händen reißen würde. Es widerstrebte ihr zutiefst, Anteile jener Firma zu verkaufen, die ihr Vater und Giorgos aufgebaut hatten. Diese Aktien waren das Vermächtnis ihres Vaters. Das Einzige, was ihr von ihm geblieben war, nachdem ihre Mutter das Haus samt Inventar während Helenas letztem Jahr im Internat verkauft hatte. „Um endlich mit der Vergangenheit abzuschließen“, hatte Gwen erklärt.

„Du hast dich noch nicht entschieden“, erriet er und wandte sich um.

Die feinen Härchen in ihrem Nacken sträubten sich. Sie sah Leo an, wie fieberhaft er überlegte. Sein Blick war ebenso hypnotisch wie unerträglich. Gerade ahnte sie, was er sagen wollte, da sprach er die Worte auch schon aus.

„Verkauf mir die Aktien.“

„Nein.“

Er lachte. Seine Grausamkeit wurde von der erstaunlichen Schönheit seines Gesichts überlagert. „Es ist nicht so, als ob du in der Lage wärst, abzulehnen.“

„Was willst du dagegen tun? Auf der Urkunde steht Leanders Name, nicht deiner.“

„Die einzigen Menschen, die wissen, dass ich nicht mein Bruder bin, sind du und meine Eltern. Keiner von uns hat ein Interesse daran, den Betrug zu offenbaren, der hier gerade abläuft. Außerdem bist du verzweifelt. Ich muss gar nicht wissen, wofür du das Geld brauchst, ob du zu viel für hübsche Klamotten ausgegeben hast oder ob Gwen versucht, eine weitere Firma zu zerstören. Wichtig ist nur, dass du die Aktien verkaufen musst, und ich bin derjenige, der sie am zügigsten kaufen kann. Also sag mir, wie viel du für sie brauchst.“

In diesem Moment hasste sie Leo wahrhaftig. Von allen Dingen, die er je über sie geäußert hatte, von allem, was er getan hatte, nachdem ihre Mutter als Neuling in der Branche einen nachvollziehbaren Fehler begangen hatte … Am meisten verübelte sie ihm, dass er sie dazu brachte, sich schwach und verletzlich zu fühlen, und zwar ihm gegenüber. „Es geht nicht nur um die Hochzeit“, räumte sie ein. „Leander hat arrangiert, dass wir uns die ganze nächste Woche bei Events blicken lassen. Um zu beweisen, dass wir eine echte Ehe führen. Damit keine Zweifel aufkommen, ob ich mein Erbe antreten kann, wenn ich die Heiratsurkunde in Großbritannien registrieren lasse.“

„Du brauchst mich, damit ich so tue, als wäre ich er.“

„Ich brauche dich“, erklärte sie widerwillig, „damit du den liebevollen, charmanten Ehemann spielst, der Leander gewesen wäre.“

„Das kriege ich hin.“

„Du bist so charmant wie eine Giftschlange“, fauchte Helena. Alles in ihr rebellierte gegen die Vorstellung, der Welt vorzugaukeln, Leo wäre ihr liebender Ehemann. Dennoch ließ sich nicht leugnen, dass er ihr rasch und unauffällig verschaffen konnte, was sie brauchte. „Wie viel?“, fragte sie und glaubte, Überraschung in seinen Augen aufblitzen zu sehen.

„Fünfzig Millionen. Für alle deine Aktien.“

„Das ist ja kaum ein Drittel des Marktwerts!“, rief sie entsetzt aus. Sie hatte mit zweihundert Millionen gerechnet.

Er zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen: Nimm es oder lass es bleiben.

„Auf keinen Fall!“, rief sie wütend, während sich in ihrem Nacken Schweißtröpfchen sammelten. Die Summe reichte nicht mal annähernd, um das Geld zu ersetzen, das Gregory von Incendia gestohlen hatte.

„Okay. Deine Entscheidung. Ich schlüpfe einfach aus der Hintertür. Dann kannst du den Gästen erklären, dass mein Bruder verschwunden ist und dich am Hochzeitstag alleingelassen hat. Bestimmt zeigt die Presse mehr Mitleid mit dir als mit ihm. Mich geht das Ganze nichts an.“

Leo drehte sich um. Bevor Helena sich stoppen konnte, packte sie seinen rechten Arm. Er hielt inne und senkte den Blick auf ihre Hand, als könne er nicht glauben, dass sie es wagte, ihn aufzuhalten.

Sie ließ die Hand sinken, und er wandte sich ihr langsam zu. Wie hatte sie ihn je für auch nur halbwegs anständig halten können? Der Mann erpresste sie mit einem solch beleidigenden Angebot, dass ihr übel wurde.

Allerdings war es ein großer Fehler von ihm gewesen, zu offenbaren, dass er die Aktien selbst haben wollte. Dieser Fehler stellte eine Waffe dar. Sie war klein und nicht schlagkräftig genug, um gegen ihn zu siegen, aber schlagkräftig genug, um zu kriegen, was Helena brauchte. „Einhundert Millionen“, stieß sie hervor.

Leo machte eine abrupte Kopfbewegung. Er hatte nicht erwartet, dass sie mit der Idee spielte, geschweige denn sich traute, ein Gegenangebot zu machen. „Nein.“

„In Ordnung.“ Sie stemmte die Hände auf die Hüften. „Du hast recht, ich blase die Hochzeit ab. Ich finde eine andere Lösung. Und ich besitze noch immer dreißig Prozent der Aktien von Liassidis Shipping.“

Regungslos stand er ihr gegenüber, als hätte er Angst, mit einer falschen Bewegung das zu verlieren, was er am meisten begehrte. Die Aktien.

„Und wenn ich achtundzwanzig bin, stell dir nur vor, was ich dann alles …“

„Fünfundsiebzig.“

„Nein.“

Leo biss die Zähne fest zusammen, bevor ihm ein weiteres Wort entschlüpfte. Helena hatte gelernt, wie man verhandelte. Sie wollte sich auf Gedeih und Verderb durchsetzen, das merkte er ihr an.

Zugegeben, sein Angebot von fünfzig Millionen war widerwärtig niedrig gewesen. Auch einhundert Millionen waren noch viel zu wenig. Doch die Summe glich einem Tropfen im Meer im Vergleich zu dem, was Gwen die Firma gekostet hatte. Der unfaire Preis ist Schadensersatz, sagte er sich.

Er hätte Helena noch länger auf die Folter spannen können, aber dafür fehlte die Zeit. Die Unruhe der Gäste im Kirchenschiff war förmlich spürbar, genau wie die wachsende Sorge seiner Eltern und des Pfarrers. „Einhundert.“

Helena streckte ihm die rechte Hand hin, um die Vereinbarung zu besiegeln.

„Mein Team mailt dir den Vertrag“, kündigte er an, ignorierte ihre Hand und kehrte ihr den Rücken zu, um den Pfarrer hereinzubitten. Dadurch entging ihm der Schmerz, der kurz in ihrer Miene erschien.

Zuerst unterschrieb Helena die Urkunde. Ein letztes Mal glitt ihr Blick zu Leo, dann unterschrieb sie zügig auf der Linie neben ihrem gedruckten Namen.

Er konnte sich nicht erklären, warum sein Puls schneller pochte. Beim Anblick von Helenas Namen neben dem seines Bruders kam es ihm vor, als würde sein Brustkorb eingeschnürt. Eine nachvollziehbare Reaktion auf das Chaos, in das Leander und Helena mich reinziehen, sagte er sich und griff zum Füller.

Falls dieser Schwindel je aufflog, wären sein Ruf ruiniert und die Firma am Ende – nachdem er so hart geschuftet hatte, um sie nach dem Fast-Bankrott wieder in die Spur zu bringen.

Aber wenn der Schwindel nicht aufflog, würde Leo das Unternehmen endlich vollständig besitzen. Mit diesem Gedanken unterzeichnete er die Urkunde als sein Bruder.

Fünf Minuten später stand er neben Helena vor dem Pfarrer und den versammelten Gästen und zählte die Minuten, bis er die Kirche verlassen, von seiner Ehefrau wegkommen und sich einen Drink gönnen konnte. Da …

„Im Angesicht von Gott und diesen Zeugen erkläre ich euch zu Mann und Frau! Ihr dürft einander nun küssen!“

Leo war wie vor den Kopf geschlagen. Das Blut rauschte tosend in seinen Ohren, selbst dann noch, als er alle Kräfte aufgeboten hatte, um die Fassung zu wahren. Er wandte sich Helena zu. Ihre Augen hatten sich geweitet, vor Schreck und etwas, das Angst ziemlich nahekam. Halb rechnete er damit, dass sie die Flucht ergriff. Stattdessen sah sie ihn einfach an, und er spürte ihren Blick wie eine Berührung all seiner Sinne auf einmal.

Leo hob eine Hand, als wolle er sie Helena auf die Wange legen, doch er fasste sie nicht an und ignorierte die kaum wahrnehmbare Veränderung in ihrer Miene ebenso wie die Reaktion seines Körpers auf sie als eine Frau. Denn sein Hirn erinnerte sich unmissverständlich daran, wie sehr er auf Distanz zu Helena Hadden gehen musste.

Mit großen Augen betrachtete sie ihn, als er den Kopf neigte. Er merkte, wie die versammelten Gäste erwartungsvoll die Luft anhielten, und stellte erstaunt fest, dass auch Helena es tat – ihre tiefblauen Augen wichen allmählich den schwarzen Pupillen.

Er verbot sich eine instinktive Antwort und beugte den Kopf tiefer, bis er die Blickachse der Gäste auf seine und Helenas Münder verdeckte. Dann senkte er den Daumen auf Helenas Lippen. Langsam ließ er die Kuppe über ihren Mund gleiten, verwischte den Gloss auf den vollen rosigen Lippen und wollte nicht wahrhaben, wie sie leicht zusammenzuckte.

„Oh“ und „Ah“ raunten die Gäste, und der einzige Mensch außer ihm, der je wissen würde, dass sie einander nicht geküsst hatten, war seine falsche Braut.

3. KAPITEL

„Was zum Teufel geht hier vor?“, fragte Kate, als sie beim Hochzeitsempfang die Braut am Arm in die Garderobe zog.

Helena schüttelte den Kopf. Noch immer wollte sie die Scham abschütteln. Sie hatte gewollt, dass Leo sie küsste. Eine vertraute Sehnsucht war in ihr aufgestiegen, um jeden vernünftigen Gedanken zu überlagern. Dabei hatte Leo nur so getan, als würde er seine frischgebackene Ehefrau küssen.

„Helena? Allmählich mache ich mir Sorgen um dich. Wo ist Leander?“

„Das wüsste ich auch gern“, antwortete Leo, der auf der Schwelle stand.

Kate funkelte ihn an. „Das ist jetzt nicht wichtig. Bist du okay?“, fragte sie ihre Freundin.

Eine Fremde hatte ihn gerade mundtot gemacht und seine Äußerung unwichtig genannt. Er blickte derart bestürzt drein, dass Helena jede Sekunde genoss. Was für ein Mistkerl.

„Ja, ich bin okay“, versicherte sie. „Leander hat nur erklärt, dass etwas Unerwartetes passiert ist und er am Ende der Flitterwochen zurückkommt.“

„Mehr hat er dir nicht gesagt?“

„Er hat es nicht ihr gesagt, sondern …“

„Tja, wir müssen ihn finden“, schnitt Kate dem Bräutigam das Wort ab.

Er bedachte sie mit einem Blick, der die meisten Leute verunsichert hätte, doch sie scherte sich nicht darum.

„Weißt du, wo er sein könnte?“, fragte sie Helena.

„Warum sollte sie wissen, wo …“ Diesmal kam Leo nicht weiter, weil Helena ihn unterbrach.

„In einem seiner Häuser, nehme ich an. Vermutlich denkt er, es sind zu viele, als dass wir alle abklappern können. Aber ich brauche ihn. Er muss hier sein“, sagte Helena verzweifelt.

„Ich finde ihn. Versprochen.“ Kate wusste genau, wie viel es ihrer Freundin bedeutete. Leo mochte zugesagt haben, seinen Bruder zu vertreten, aber das hieß nicht, dass es ihm auch gelang. Falls jemand den Schwindel bemerkte, würde es in einer Katastrophe enden.

„Mein Jet steht zu Ihrer Verfügung“, erklärte Leo.

Ausdruckslos sah Kate ihn an. „Soll mich das beeindrucken?“

Er funkelte sie an. „Ich mag Sie nicht.“

„Das geht in Ordnung, ich Sie auch nicht.“ Kate drehte sich zu Helena um. „Wenn du mir eine Liste seiner Häuser gibst, nehme ich den Jet und finde ihn. Ich mache mich sofort auf den Weg.“

„Du sollst doch eine Rede halten. Wenn du jetzt verschwindest, sieht es so aus, als würde etwas nicht stimmen.“ Ich muss nur die nächsten paar Stunden überstehen, sagte sich Helena. Sobald sie anschließend die Villa betrat, die Leander auf der Halbinsel Mani für die Flitterwochen gemietet hatte, konnte sie durchatmen, nachdenken und planen.

Sie würde diese Sache durchstehen und kriegen, was sie wollte. Viele Menschen verließen sich auf sie. Incendia verließ sich auf sie. Sie würde all die Leute nicht enttäuschen.

„Und wenn ich nach den Reden aufbreche?“, schlug Kate vor.

Helena nickte. Alles in ihr sträubte sich dagegen, dass ihre beste Freundin ging. Nur Kate kannte die ganze Wahrheit. Wusste, warum Helena das Geld brauchte und wie weh es ihr tat, dass jemand Incendia bestohlen hatte.

„Betrachte es einfach als Übung für Borneo“, meinte Kate, die kürzlich eine Zusage für ihren Traumjob als Tierärztin in einem Schutzgebiet für Orang-Utans ergattert hatte.

Schon die Vorstellung, dass Kate so weit weg sein würde, ließ Schmerz in Helena aufsteigen. Sie schob ihn beiseite.

Leo tippte eine Nachricht in sein Handy. Als die beiden Frauen ihn erwartungsvoll ansahen, blickte er auf. „Darf ich jetzt etwa reden?“, fragte er trocken.

„Seien Sie nicht beleidigt“, erwiderte Kate. „Davon kriegen Sie Falten.“

Sein Blick legte nahe, dass eine scharfe Bemerkung folgen sollte, doch Helena kam ihm zuvor: „Steht der Jet in der Nähe?“

„Ja.“ Ebenso widerwillig wie verärgert reichte er Kate eine Visitenkarte. „Geben Sie die dem Piloten. Er wird Sie bringen, wohin Sie wollen. Allerdings … Seien Sie nett, okay?“

Kate lächelte zuckersüß. „Ich bin nett“, versicherte sie ernsthaft. „Zu allen, die es verdienen“, ergänzte sie und schlüpfte aus der Garderobe.

Helena gab sich keine Mühe, ihr Schmunzeln zu verbergen. Es tat gut, dass jemand Leo einen Dämpfer versetzte. Erst recht, weil sie es nicht selbst tun konnte. Egal, was sie für den Mann empfand – sie brauchte ihn. Jedenfalls bis zu Leanders Rückkehr.

„Was hast du ihr über mich erzählt?“, wollte Leo wissen.

„Nichts als die Wahrheit“, antwortete sie scharf und folgte Kate zum Hochzeitsempfang.

Leo hatte Kopfschmerzen. Er saß am oberen Ende des Haupttisches, neben Helena. Das Sonnenlicht schien auf gestärkte weiße Leinentischdecken, spiegelte sich in glänzenden Gläsern und makellosem Tafelbesteck. Die Gäste plauderten angeregt.

„Könntest du wenigstens versuchen, zu lächeln?“, flüsterte Helena ärgerlich.

„Es ist gerade eher schwer, etwas zu finden, über das ich lächeln könnte“, raunte er.

„Denk an all die Aktien, die du zum Schnäppchenpreis bekommst.“

Zu seinem Erstaunen lächelte er tatsächlich. Etwas, das Helena noch mehr zu ärgern schien. Er hätte schwören mögen, dass ihr ein Knurren entschlüpfte.

Leo war ein solcher Fremder im Leben seines Bruders geworden, dass er im Saal nur die Braut und seine Eltern kannte. Es störte ihn nicht. Wenn diese Leute Leander schätzten, trotz seiner Selbstsucht und der Fähigkeit, einen anderen Menschen mir nichts, dir nichts zu verraten, waren sie selbst schuld.

Denn war dies nicht der höchste Verrat von allen? Nicht mal zu seiner eigenen Hochzeit aufzukreuzen?

Helena reckte den Hals und lächelte hoffnungsvoll. Sie winkte halb mit einer Hand, als wäre sie unsicher, wie ihre Geste ankam.

Leo entdeckte Gwen, die ihrer Tochter kaum wahrnehmbar zulächelte. Der vertraute Unmut stieg in ihm hoch, während er beobachtete, wie Gwen etwas zu ihrem Begleiter sagte – vermutlich ihr zweiter Ehemann.

Jetzt kam sie näher, und Leo glaubte, Helena in dreißig Jahren vor sich zu sehen. Blonde Haare mit eleganten silbrigen Strähnchen. Hohe Wangenknochen und ein starkes Kinn, das sich dem Alterungsprozess widersetzte.

„Darling“, sagte Gwen ohne eine Spur von Wärme. „Das Kleid sieht wunderschön aus, obwohl es von einem relativ unbekannten Designer stammt.“

Helena sah ihre Mutter an, als würde sie auf etwas warten.

„Aber wirklich, für Kate ein goldfarbenes Kleid auszuwählen …“

Erstaunt registrierte Leo, dass ihr tadelnder Unterton ihn traf. Und Helena, die so temperamentvoll einen höheren Preis für ihre Aktien verlangt hatte, verbiss sich einen Kummer, den Gwen doch erkennen musste.

„Ich bin so froh, dass du und John es einrichten konntet“, meinte Helena.

Leo blickte zu dem Tisch, an dem John saß und seine Vorspeise verzehrte.

„Tja, die Feier hat schon seinen Golfurlaub durchkreuzt, aber er wird das Versäumte nachholen.“ Gwen wandte sich Leo zu: „Leander.“

Helena legte eine Hand auf seine. Außenstehende hätten die Geste für einen Ausdruck der Zärtlichkeit gehalten. Sie sahen ja nicht, wie sich Helenas halbmondförmige Fingernägel in die Handfläche des Bräutigams gruben.

Er schaffte es, sein Lächeln trotz des Schmerzes beizubehalten, und nickte. Plötzlich wollte er nicht riskieren, den Mund aufzumachen.

Noch einmal sah Gwen ihre Tochter an. „Dein Vater …“ Sie presste die Lippen zu einem Strich zusammen. „Er wäre heute sehr glücklich gewesen“, fuhr sie fort. Dann nickte sie, und dieses Nicken schien ihr selbst zu gelten, als hätte sie eine gewaltige mütterliche Pflicht erfüllt.

Plötzlich glaubte Leo, die letzten Jahre würden verschwinden, die Streitigkeiten, die Schuldzuweisungen, und Helena wäre wieder ein kleines Mädchen auf der Suche nach der Anerkennung ihrer Eltern. Er las es im Glanz ihrer Augen.

Helena mahnte sich, nicht albern zu sein. Dies war keine echte Hochzeit, und sie sollte sich nicht mehr wünschen, als ihre Mutter geben konnte.

Nachdem Gwen zu ihrem Tisch zurückgekehrt war, riskierte Helena einen Blick auf Leo, der mit unergründlicher Miene dasaß. Es war seine erste Begegnung mit Gwen seit dem Streit gewesen, nach dem sie gekündigt und ihre Aktien von Liassidis Shipping wieder an die Firma verkauft hatte.

Helena dachte an die hitzigen Worte von damals. Worte, die sie und ihre Mutter aus dem Leben aller Mitglieder der Familie Liassidis außer einem verbannt hatten.

„Was soll ich deiner Meinung nach tun, Leo?“, hatte Gwen gefragt.

„Die Zeit zurückdrehen und es gar nicht erst so weit kommen lassen!“

„Sei nicht kindisch.“

„Ich will – der Vorstand will –, dass du deine Aktien an uns verkaufst und Liassidis Shipping verlässt. Danach will ich dich nie wieder sehen.“

Nur Leander war mit Helena in Kontakt geblieben. Im Laufe der Jahre hatte sich eine echte Freundschaft entwickelt, ein Band der Liebe. Nur nicht der Art von Liebe.

Helena glaubte, dass Leander und Kate ein perfektes Paar wären. Die beiden hatten einander erst letzte Woche kennengelernt, als sie mit Kate wegen der Hochzeit nach Griechenland gereist war. Sie hatten so eine tolle Woche verbracht. Deshalb verstand Helena auch nicht, warum Leander verschwunden war. Es verletzte sie, dass er sich ihr nicht anvertraut hatte.

„Und jetzt bitten wir Mr. und Mrs. Liassidis zu ihrem ersten Tanz als Ehepaar!“, riss die Hochzeitsplanerin Helena aus ihren Gedanken.

Leo stand auf, sah sie an und zeigte einladend auf die Tanzfläche. Schlagartig wollte sie überall sein außer an diesem Ort. Das Geld war ihr egal, genau wie ihr Scheitern als Geschäftsführerin. Leo hatte unmissverständlich klargestellt, wie sehr er die Vorstellung verabscheute, sie zu berühren. Sie konnte ihm einfach nicht derart nahekommen.

Aber ihr blieb keine Wahl.

Also ging sie mit Leo auf die Tanzfläche, während das Lied At Last von Etta James erklang. Sie legte die rechte Hand in seine linke, er schob ihr den rechten Arm um die Taille, spreizte die Finger leicht – und ein Schauer rieselte durch ihren Körper. Leo musste es gespürt haben, doch er richtete den Blick fast verächtlich auf die Gäste.

Auf einmal war sie wieder ein fünfzehnjähriges Mädchen und er der ältere Junge, für den sie schwärmte.

„Und du dachtest, ich würde Probleme damit haben, den Schein zu wahren“, flüsterte er. In der nächsten Sekunde zog er sie an seinen Brustkorb, sehr zum Entzücken der Gäste.

Ihre Brüste drängten gegen seinen festen Oberkörper, dessen Umrisse sich unauslöschlich in Helenas Haut einzubrennen schienen. Auf dem Rücken fühlte sie die Hitze von Leos Handfläche, mit der er sie leicht an sich drückte, sie dort hielt, obwohl sie es gar nicht fertiggebracht hätte, zurückzuweichen.

Wie konnte ihr Körper sie dermaßen verraten? Ihr Puls pochte sprunghaft schneller, als Leo sie berührte, und ein regelrecht unanständiges Verlangen durchflutete sie. Sie lehnte sich zurück, starrte ihn an und staunte über den eindringlichen Ausdruck in seinen glänzenden Augen mit den goldfarbenen Sprenkeln, die in den mahagonifarbenen Iris zu pulsieren schienen.

War es möglich, dass auch er es spürte? Die überbordende Energie zwischen ihnen. Die Lust.

Beim nächsten Schritt verlagerten sie das Gewicht auf den anderen Fuß, und Leos Hand schob sich um ihren Rippenbogen, bis die Fingerspitzen gefährlich nah an der Unterseite von Helenas Brust lagen. Sie merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und hoffte, niemandem möge es auffallen, weil Leo den Kopf senkte, bis sein Mund neben ihrem linken Ohr war.

„Stell dir nur all das Geld vor, das ich dir für die Aktien zahlen werde“, zahlte er ihr im Flüsterton ihre provokativen Worte von vorhin zurück.

Mit einem Schlag zerfiel die süße Hitze, die sich in ihrem Körper aufgebaut hatte, zu Asche. Hatte Leo ihre Reaktion für Wut gehalten? War sie so dumm gewesen, in seine Wut etwas völlig anderes hineinzulesen?

Vielleicht war es besser so, denn er hatte recht. Sie musste in der Tat an das Geld denken, das er ihr bald zahlte. Geld, mit dem sie die Stiftung retten würde, die einst sie selbst gerettet hatte. Sie brauchte Zugang zu den Aktien, und um das zu erreichen, musste sie diese Ehe echt erscheinen lassen.

Leo biss die Zähne zusammen, um sich gegen die Wirkung der beiden weichen, warmen Hände auf seinem Körper zu stemmen. Er mochte zwar nicht mehr wissen, wann er zuletzt eine Frau in den Armen gehalten hatte, aber es hatte sich definitiv nicht so … entflammend angefühlt.

Nach der geplatzten Verlobung mit Mina war er unfähig gewesen, einer anderen Frau zu vertrauen. Das hatte ihn allerdings nicht von Affären mit Frauen abgehalten, die Diskretion und Ehrlichkeit schätzten.

Von diesen beiden Eigenschaften war Helena Lichtjahre entfernt. Doch als sie ihm eine Hand auf das Herz legte und ihm die andere in die Haare schob, kümmerte sich sein Körper nicht darum, dass es aus Kalkül geschah. Um den Schein zu wahren. Sein Hirn und sein Herz rangen miteinander. Sollte er Helena näherziehen oder wegschieben?

Er wagte einen kurzen Blick auf sie – da sprang ihm etwas Silbernes ins Auge. Fast wäre er gestolpert, als er die Halskette erkannte.

„Leo“, flüsterte Helena und schloss die Finger fester um die Hand, mit der er ihre Hand auf seiner Brust hielt.

Um der Gäste willen setzte er ein Lächeln auf. Dann drehte er Helena von sich weg und zog sie wieder näher, um Zeit zu gewinnen und sein Gedankenchaos zu ordnen.

„Was ist?“, fragte sie mit roten Wangen.

„Ich bin überrascht, weil du heute diesen Anhänger trägst.“

Sie sah ihm in die Augen, ein bisschen zu lange, bevor sie den Blick wieder abwandte. „Warum sollte ich nicht? Er ist ein Geschenk von Leander.“

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Autor

Abby Green
<p>Abby Green wurde in London geboren, wuchs aber in Dublin auf, da ihre Mutter unbändiges Heimweh nach ihrer irischen Heimat verspürte. Schon früh entdeckte sie ihre Liebe zu Büchern: Von Enid Blyton bis zu George Orwell – sie las alles, was ihr gefiel. Ihre Sommerferien verbrachte sie oft bei ihrer...
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Michelle Smart ist ihrer eigenen Aussage zufolge ein kaffeesüchtiger Bücherwurm! Sie hat einen ganz abwechslungsreichen Büchergeschmack, sie liest zum Beispiel Stephen King und Karin Slaughters Werke ebenso gerne wie die von Marian Keyes und Jilly Cooper. Im ländlichen Northamptonshire, mitten in England, leben ihr Mann, ihre beiden Kinder und sie...
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