Julia Saison Band 80

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  • Erscheinungstag 22.06.2024
  • Bandnummer 80
  • ISBN / Artikelnummer 9783751525268
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Debbi Rawlins, Nina Harrington, Alison Roberts

JULIA SAISON BAND 80

PROLOG

Sie war nicht da! Enttäuscht schirmte Mia Butterfield die Augen gegen das helle Sonnenlicht ab und durchsuchte den Park. Doch auf den Wegen tummelten sich außer den mittäglichen Joggern nur die üblichen Grüppchen tratschender Kindermädchen mit ihren Schutzbefohlenen. Da es für Januar ungewöhnlich warm war, hatte Mia fest damit gerechnet, dass Annabelle ihren Hund ausführen würde. Wobei es vielleicht eher so war, dass der imposante Bernhardiner-Rottweiler-Mischling, der auf den irreführend verniedlichenden Namen Mr. Muffin hörte, Annabelle ausführte und nicht umgekehrt.

Wegen ihrer Größe von knapp eins fünfundfünfzig und dem Alter von fast achtzig Jahren hätte ein niedlicher kleiner Yorkshireterrier oder ein Zwergpudel viel besser zu ihrer neuen Freundin gepasst. Das fand jedenfalls Mia. Nicht so Annabelle. Sie liebte ihr riesiges Prachtexemplar einer Promenadenmischung aus dem örtlichen Tierheim.

Mia kannte Annabelle Albright erst seit sechs Wochen. An jenem Tag hatte Mr. Muffin sich von seinem Frauchen losgerissen, um einem Kaninchen hinterherzujagen. Dabei war Mia, die sich auf dem Weg zu ihrer Kanzlei befunden hatte, von dem Hund buchstäblich über den Haufen gerannt worden. Ihre Vierzig-Dollar-Strumpfhose und die neuen Designerpumps hatte sie anschließend nur noch in den Müll werfen können.

Aber an diesem Tag hatte sie auch eine Freundin gefunden; noch dazu eine, die sie dringend brauchte. Ihre beiden besten Freundinnen wohnten tausend Meilen weit weg, und um die Wahrheit zu sagen, fehlte ihnen eine Eigenschaft, die Mia an Annabelle ungemein schätzte: Unvoreingenommenheit. Wenn die alte Dame ihr lauschte, tat sie es mit wachem Blick und einem feinen, wissenden Lächeln. Sie kommentierte selten, und nur, um etwas zu klären; nie, um zu verurteilen. Manchmal fand Mia die Zurückhaltung ihrer Zuhörerin frustrierend. Da saß sie dann mit ihren ach so erwachsenen achtundzwanzig Jahren und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass jemand ihr sagte, was sie tun sollte. Sie hasste diese Schwachstelle in ihrem Charakter.

Als Kind hatte Mia gern das Kommando übernommen, alles im Griff gehabt und immer genau gewusst, was sie wollte. Für ihre jüngeren Geschwister war sie eine Autorität gewesen, ebenso für ihre Freunde. Ihr ausgezeichneter Abschluss in Jura hatte niemanden überrascht, auch nicht die Tatsache, dass sie von einer der renommiertesten Anwaltskanzleien Manhattans angeworben wurde. Für eine junge Rechtsanwältin wie sie war diese Anstellung ein Karrieresprungbrett ohnegleichen, doch ihrer Familie gegenüber hatte Mia nicht groß damit angegeben.

Was sich im Nachhinein als Vorteil erwiesen hatte. Hätte sie mehr Aufhebens darum gemacht, würde wohl niemand verstehen, weshalb sie aufhören wollte. Aufhören mit ihrem Job und einfach gehen und etwas anderes anfangen. Nein, keiner würde das verstehen. Sie verstand es ja selbst kaum.

Der bloße Gedanke an das, was sie vorhatte, verursachte ihr Magenschmerzen. Mia starrte auf die weiße Papiertüte in ihrer Hand und seufzte. Sie hatte keinen Appetit auf Äpfel und Joghurt, aber die Mittagspause machte sie ohnehin nur, weil sie hoffte, Annabelle zu treffen.

„Mia!“

Beim Klang der vertrauten Stimme drehte Mia sich freudig um. Annabelle kam ihr, gezogen von Mr. Muffin, entgegen.

Wohl wissend, dass ihr eine Attacke dicker Pfoten und einer nassen Zunge bevorstand, hätte sie eigentlich darauf verzichten sollen, in die Hocke zu gehen. „Hey, Mr. Muffin.“ Mia streckte die Hand aus, damit der Hund daran schnüffeln konnte, doch seine Aufmerksamkeit richtete sich umgehend auf die Papiertüte. Mia schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass du magst, was da drin ist.“

„Wenn es essbar ist, bestimmt.“ Annabelle lachte. Ihr bemerkenswert faltenfreies Gesicht war gekonnt geschminkt, und sie trug eine elegante burgunderrote Jacke, die einmal sehr in Mode gewesen sein musste. „Hör auf zu schnorren, Mr. Muffin“, befahl sie dem Hund und zog an der Leine, während sie mit der freien Hand ein Leckerli aus der Tasche angelte und es ihm hinhielt. „Hier, du unersättliches Riesenvieh.“

„Ich hatte gehofft, dass ich dich heute hier treffe.“ Mia richtete sich auf.

„Selbstverständlich, bei dem herrlichen Wetter. Kaum zu glauben, dass es Januar ist.“

„Stimmt. Eigentlich kann ich es mir nicht leisten, aber ich brauche eine Pause.“

Annabelle wedelte mit der behandschuhten Hand. „Du arbeitest sowieso zu viel.“ Mr. Muffin hatte seinen Keks vertilgt, und sie gab ihm einen zweiten. „Und er sollte nicht so viel naschen“, sagte sie geistesabwesend und sah über die Schulter. „Wo ist bloß der Junge geblieben?“

„Welcher Junge?“, wollte Mia wissen.

„Oh, da ist er ja. Gut.“ Annabelle winkte einem blonden Teenager, der mit seinem Skateboard an der nächsten Weggabelung stand.

Der junge Mann kam auf sie zugefahren und wich geschickt ein paar Spaziergängern aus, ehe er vor Annabelle bremste. „Hallo, Mrs. Albright. Ich bin doch nicht zu spät, oder?“

„Absolut pünktlich.“ Annabelle übergab ihm die Hundeleine. „Eine halbe Stunde Bewegung sollte reichen.“ Mit einer Geschmeidigkeit, die sie ihrer lange zurückliegenden Broadway-Karriere verdankte, ging sie in die Hocke und streichelte Mr. Muffins massigen Nacken. „Nicht wahr, mein Schatz? Und benimm dich, hörst du?“

Mit einem erwartungsvollen Blick verfolgte der Hund, wie sein Frauchen dem Jungen eine Plastiktüte mit Leckerlis übergab, und trottete hoffnungsfroh mit dem Skateboarder los. Annabelle sah den beiden hinterher, während Mia zu ihrer gewohnten Bank unter der alten Ulme vorausging.

„Wer war der Junge?“, fragte sie, als Annabelle sich neben sie setzte.

„Der Sohn meiner Nachbarn. Kevin.“ Annabelle legte ihr die Hand auf den Arm. „Du gehst mit Mr. Muffin Gassi, wenn ich verreist bin, nicht wahr?“

„Du willst verreisen? Davon weiß ich ja gar nichts.“

„Ach, nur eine Kreuzfahrt.“ Annabelle klang alles andere als begeistert. „Ich habe einem Bekannten versprochen, ihn zu begleiten.“

„Es wird schön sein, mal rauszukommen.“ Mia lächelte. „Wohin fahrt ihr?“

„Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Hamilton …“ Annabelle räusperte sich. „Mein Bekannter kümmert sich um diese Dinge.“

Mia verbiss sich ein Schmunzeln. Annabelle hatte also einen Galan, der sie auf eine Seereise entführen wollte. Was umso herzerwärmender war, weil die alte Dame sich aus eigenen Mitteln nicht einmal den kleinen Luxus eines Pauschalurlaubs leisten konnte. Mia nahm einen Apfel aus der Tüte und reichte ihn Annabelle.

„Danke, meine Liebe. Dass du dir gemerkt hast, wie sehr ich Granny-Smith-Äpfel mag! Aber ich habe gerade zu Mittag gegessen.“

Mia zuckte mit den Schultern. „Heb ihn dir auf. Ich habe auch Joghurt gekauft.“

Annabelle musterte sie forschend, und Mia senkte den Blick. Sie war sich ziemlich sicher, dass die alte Dame es finanziell nicht leicht hatte, ihre Selbstachtung es aber nicht zuließ, Almosen anzunehmen. Sie trug maßgefertigte Kleider und Schuhe, die einiges gekostet haben mussten, als sie neu gewesen waren, aber der Großteil ihrer Garderobe hätte schon vor Jahren in die Kleidersammlung gehört. Annabelles gut frisiertes weißes Haar, ihr sorgfältiges Make-up, die kurz gefeilten, gepflegten Fingernägel – all das verriet, wie viel Wert sie auf ein tadelloses Erscheinungsbild legte und wie viel mehr Wert noch auf ihre Eigenständigkeit. Mia hatte einmal angeboten, ihr bei Lebensmitteleinkäufen unter die Arme zu greifen und einen Hundesitter zu engagieren und war erbarmungslos abgeblitzt.

„Also, was hast du auf dem Herzen?“, fragte Annabelle gradlinig wie immer.

Mia nahm innerlich Anlauf. „Ich hasse meinen Job.“ Da, nun hatte sie es ausgesprochen. „Wirklich“, bekräftigte sie, als Annabelle sich ruckartig zu ihr herumdrehte und sie fixierte.

„Aus welchem Grund?“

„Keine Freizeit. Kein Privatleben.“ Mia zuckte mit den Schultern. „Das und vieles andere.“

Annabelles Gesichtszüge entspannten sich. „Denkst du darüber nach, zu einer anderen Kanzlei zu gehen?“

Ein kühler Windstoß veranlasste Mia, ihren Mantelkragen hochzustellen. „Ich will nicht mehr als Anwältin arbeiten“, antwortete sie leise.

Annabelle sank gegen die Rückenlehne der Bank und richtete ihren Blick auf die Kinderschaukeln. „Das ist eine weitreichende Entscheidung.“ Sie sagte es ruhig und nüchtern, doch Mia war das kurze Aufblitzen von Besorgnis in ihren Augen nicht entgangen. Annabelle hielt sie für unbedacht, um nicht zu sagen verrückt. Kein Wunder, dachte sie. Was, wenn nicht Unzurechnungsfähigkeit, soll man auch jemandem bescheinigen, der mehrere zermürbende Jahre Jurastudium durchhält, das Glück hat, von einer Kanzlei wie Pearson and Stern angeworben zu werden, und dann alles hinschmeißen will? Ihre Eltern würden genauso reagieren. Mia mochte gar nicht daran denken. Umso dringender erschien es ihr, ihre Verteidigungsrede zu üben.

„Du hast recht“, erwiderte sie also tapfer. „Sie ist folgenschwer. Und ich nehme sie nicht auf die leichte Schulter.“

„Das hoffe ich.“ Nachdenklich krauste Annabelle die Stirn. „Was willst du stattdessen tun?“

Mia schloss die Augen und hielt das Gesicht in die Sonne. „Während des Studiums hat die Studentinnenverbindung, der meine Freundinnen Lindsey und Shelby und ich angehörten, mal an einer Spendensammlungsaktion teilgenommen“, begann sie. „Jede von uns hat sich einen Tag lang für Dienstleistungen wie Botengänge, Kochen, Babysitten, die Vorbereitung von Kindergeburtstagen oder Partys und so weiter zur Verfügung gestellt. Gegen ein entsprechendes Entgelt natürlich.“ Sie öffnete die Augen. „Wir hatten einen Heidenspaß dabei, aber es erschien uns auch eine ernstzunehmende Geschäftsidee, gerade in Manhattan.“

„Für mich klingt sie ziemlich gefährlich.“

Mia lächelte. „Wir würden natürlich eine Sicherheitsüberprüfung unserer Kunden vornehmen. Aber der überwiegende Anteil unserer Aufträge bestünde wahrscheinlich darin, sich um die Beschaffung von Designertaschen und Brautkleidern zu kümmern. Wenn Jugendliche von den hiesigen Colleges für uns arbeiten wollen, könnten wir sie im Hausmeisterservice einsetzen. ‚Geht nicht, gibt’s nicht‘ – die kompetente Rundum-Dienstleistungsagentur’ soll unser Firmenmotto sein. Hey, vielleicht wäre da auch ein Job für Mr. Muffin drin.“

Annabelle lächelte, doch ihre Miene signalisierte weiterhin Besorgnis. „Sind denn deine Freundinnen bereit, ihren Job aufzugeben und hierher zu ziehen?“

Mia seufzte; nun wurde es knifflig. „Ich habe meine Pläne noch nicht mit ihnen besprochen.“

„Gut.“ Die alte Dame wirkte erleichtert. „Die Sache ist also nicht endgültig beschlossen.“

Annabelles Reaktion hätte ihr nichts ausmachen sollen, doch für Mia fühlte sie sich an wie ein Verrat. Aus irgendeinem Grund war sie sich sicher gewesen, dass Annabelle – die sie so dafür bewunderte, dass sie nichts auf Konventionen gab und sich zu einer Zeit, als Frauen noch nicht davon zu träumen wagten, gegen Ehe und Familie und für eine Karriere entschieden hatte – sie verstehen würde.

„Nein“, log sie. „Endgültig beschlossen ist noch nichts.“

„Gut“, wiederholte Annabelle. „Denn es ist wirklich eine folgenschwere Entscheidung. Tu bitte nichts Übereiltes, solange ich fort bin.“ Sie griff nach Mias Hand und drückte sie. „Und vor allem: Geh nicht wegen David.“

Mia zuckte zusammen und blinzelte überrascht. „David? Wie kommst du dar… David hat nichts damit zu tun. Keine Ahnung, wieso du ihn ins Spiel bringst.“

Annabelle lächelte milde, doch ihre Augen glitzerten listig. „Wenn du es sagst. Sei nachsichtig mit einer tattrigen alten Frau.“

„David ist mein Boss, sonst gar nichts.“

Annabelle nickte.

„Dass ich ihn hin und wieder erwähne, liegt daran, dass wir ein paar Fälle gemeinsam bearbeitet haben.“ Mia unterbrach sich frustriert. Weshalb ging sie in die Defensive? Natürlich sprach sie gelegentlich über ihre Arbeit, und in diesem Zusammenhang auch über David. Na und? Er nahm sie ohnehin nicht wahr, und wenn, dann höchstens als eine der unzähligen nützlichen Arbeitsbienen in der Kanzlei. Sie war es ihm nicht einmal wert gewesen, eine Pizza zu bestellen, wenn sie bis in die Nacht gearbeitet hatten. Als ob da je etwas hätte sein können zwischen ihr und David! Der Gedanke war lächerlich.

1. KAPITEL

Auf dem Weg zu der kurzfristig anberaumten Besprechung, zu der sein Vater und sein Onkel ihn hinzugebeten hatten, kam David Pearson an Mias verwaistem Büro vorbei.

Er konnte immer noch nicht glauben, dass sie nicht mehr da war. Sie hatte ihn mit ihrer Kündigung völlig überrumpelt, und selbst jetzt, fast drei Wochen später, fiel es ihm schwer zu akzeptieren, dass sie nicht mehr der Kanzlei angehörte. Dass sie nicht mehr morgens gemeinsam mit ihm im Aufzug fahren würde, lange bevor irgendjemand sonst zur Arbeit kam, Mia mit ihren grünen Augen und dem offenen, vom Duschen noch feuchten schulterlangen Haar. Das gegen acht, wenn sie drei Becher Kaffee – mit nur wenig Zucker – getrunken hatte, so weit trocken war, dass sie es ordentlich hochstecken konnte. Er kannte ihre Gewohnheiten beinahe so gut wie seine eigenen.

„Guten Morgen, Mr. Pearson.“

Geistesabwesend wandte er sich zu der Vorzimmerdame um; dann registrierte er, dass er stehengeblieben war und die Pflanze angestarrt hatte, die noch in Mias Büro stand. Er räusperte sich diskret. „Guten Morgen, Laura.“

Die hübsche junge Blondine lächelte und ging weiter zum Pausenraum.

„Laura?“

„Ja?“

„Wollte Mia diese Pflanze noch abholen?“

Laura hob die Schultern. „Keine Ahnung. Ich glaube nicht.“

„Dann muss etwas unternommen werden“, befahl David barscher, als er beabsichtigt hatte. Mit solchen Belanglosigkeiten gab er sich sonst nie ab. Aber weit ärgerlicher war die plötzlich in ihm aufkeimende Hoffnung, Mia vielleicht wiederzusehen. „Schicken Sie ihr die Pflanze nach. Oder werden Sie sie irgendwie los, wenn Mia keinen Wert mehr darauf legt.“

„Mia fliegt nach Hawaii.“

„Hawaii?“ Auf einmal spürte er eine merkwürdige Enge in der Brust. „Sie zieht um?“

„Ich wette, das würde sie sich wünschen.“ Laura grinste. „Aber Lily sagt, sie ist nur eine Woche lang fort.“

„Wann genau fliegt sie?“

Die Neugier, die in Lauras Augen aufflammte, brachte ihn zur Besinnung. „Schon gut.“ Er klemmte die beiden schweren Aktenordner, die er für die Besprechung brauchte, unter den anderen Arm und machte sich auf den Weg zum Konferenzzimmer. „Kümmern Sie sich um die Pflanze.“

„Mach ich“, rief Laura ihm nach. „Und Mia fliegt erst in ein paar Tagen … glaube ich.“

David ging weiter, ohne zu antworten. Was war denn mit ihm los? Es ging ihn nicht das Geringste an, was Mia machte. Sie hatte gekündigt, ihm für die wertvolle Berufserfahrung bei Pearson and Stern gedankt, erklärt, dass andere Aufgaben auf sie warteten, und Schluss. Obwohl sie eine verdammt gute Anwältin war, hatte er keinen Versuch gemacht, sie zum Bleiben zu überreden. Hauptsächlich, weil er vollkommen perplex gewesen war.

Die Tür zum Konferenzraum war geschlossen, und er klopfte kurz, bevor er eintrat. Am Kopfende des langen rötlich schimmernden Mahagonitisches saßen sein Vater, sein Onkel Harrison und Peter, einer der Eigenkapitalpartner der Kanzlei. Es wunderte David, dass sein Vater an einem Freitag im Büro anzutreffen war statt auf dem Golfplatz, aber dann fiel ihm auf, wie düster alle drei Männer dreinblickten.

„Guten Morgen, die Herren.“

„Morgen, David.“ Peter nickte.

„Setz dich bitte“, war alles, was sein Vater sagte.

Sein Onkel goss ihm Wasser ein. „Du wirst dir gleich wünschen, du hättest einen ordentlichen Schuss Whiskey drin“, sagte er und schob das Glas zu ihm hinüber.

„Was ist los?“ David ließ sich auf einen der teuren Lederstühle sinken und blickte in die Runde.

„Wir haben die Mandantschaft für Decker verloren.“ Sein Vater sah fahl aus.

Für einen kurzen Moment fühlte David sich, als habe ihm jemand einen Faustschlag in die Magengrube verpasst. Thurston Decker war ihr zweitgrößter Klient. „Wieso?“, fragte er tonlos.

„Das ist nicht alles“, fuhr Harrison fort. Sein Gesicht wirkte eingefallen. „Es sieht so aus, als ob Cromwell ebenfalls abspringen wolle.“

David sah Peter an, der auf seine verkrampft gefalteten Hände starrte. „Ich verstehe es nicht“, wandte er sich an den Teilhaber. „Wir vertreten beide seit zwei Generationen, und es gab nie eine Beschwerde. Wir haben hervorragende Arbeit geleistet.“

„Das stellen sie nicht in Abrede.“ Sein Vater nahm die Brille ab. „Sie machen wirtschaftliche Gründe geltend.“

„Alles gelogen!“ Mit einer ärgerlichen Geste fuhr Harrison sich durch das ergrauende Haar. „In Wahrheit stecken Thurstons Enkel dahinter, diese raffgierige Bagage. Sie drängen den alten Mann aus der Firma und führen Neuerungen ein, von denen eine bescheuerter ist als die andere.“

„Es bringt nichts, sich aufzuregen.“ Davids Vater klang erschöpft. „Wir müssen überlegen, wie wir sie wieder ins Boot holen können.“

„Ich fürchte, da ist nichts mehr zu machen“, sagte Peter in seiner ruhigen, kultivierten Art. Er war ein Jahr vor David zu Pearson and Stern gekommen und wusste vermutlich besser über die Abläufe in der Kanzlei Bescheid als die beiden Seniorpartner. „Meinen Informationen zufolge“, fuhr Peter fort, „ist Fritz Decker, der älteste der Enkel, sich bereits mit einem ehemaligen Studienkollegen einig geworden, der sich bei Flanders and Shaw eingekauft hat. Die werden nur einen Bruchteil der Honorarpauschale verlangen, die wir berechnen.“

„Wie zuverlässig ist diese Auskunft?“, wollte David wissen.

Peter lächelte schief. „Wir können die Mandantschaft für Decker abschreiben.“

„Himmel noch mal, gibt es denn heute gar keine Loyalität mehr?“ Harrison wandte sich an David. „Vielleicht weißt du es nicht, aber dein Großvater hatte diese Kanzlei gerade gegründet, als er die anwaltliche Vertretung für Thurston Decker übernahm. Decker war Schnapshändler; er hatte sich mit einem Schwarzbrenner eingelassen, und dein Großvater paukte ihn für so gut wie kein Geld da raus.“

David nickte, er kannte die Geschichte. „Was ist mit Cromwell? Haben wir irgendwas vermasselt, oder behaupten sie auch, sie könnten sich uns nicht mehr leisten?“

Peter zuckte mit den Schultern. „Wir haben nichts falsch gemacht.“

„Besteht die Chance, sie zurückzugewinnen?“

„Gute Frage.“ Sein Vater setzte die Brille wieder auf. „Wir haben wegen der wirtschaftlichen Lage in den vergangenen Monaten wirklich ein paar kleinere Mandanten verloren. Normalerweise wäre das kein Anlass zur Sorge, aber ohne Decker und Cromwell wird es kritisch.“

David ließ sich gegen die Stuhllehne sinken. In seinen Schläfen pochte es, als würde ihm jeden Moment der Schädel platzen. Wie hatte es so weit kommen können? Seit er denken konnte, war Pearson and Stern für ihn eine angesehene, namhafte Kanzlei gewesen, eine durch nichts zu erschütternde Institution. „Und was machen wir jetzt?“

„Wir schrauben die Kosten zurück“, antwortete sein Vater. „Keine wöchentlichen Blumenlieferungen mehr, kein tägliches Catering für den Pausen- und den Konferenzraum. Du wirst dich wundern, was sich allein bei diesen beiden Posten einsparen lässt.“

„Was ist mit Entlassungen?“

Peters Frage alarmierte David, zumal weder sein Vater noch sein Onkel Einspruch erhoben. Er selbst hatte sich verboten, auch nur daran zu denken. Natürlich war die Situation kritisch, aber in der Vergangenheit hatte Pearson and Stern mehr als ein Tief überwunden, ohne Stellen streichen zu müssen. „Entlassungen?“, wiederholte er. „So weit sind wir noch nicht. Erst einmal sollten wir neue Mandantschaften an Land ziehen.“

„Das haben Harrison und ich schon versucht.“ Sein Vater rieb sich die Nase. „Leider ohne Erfolg.“

David starrte seinen erschöpften Vater an. Es war nicht nur die fachliche Kompetenz, die er an seinem Dad bewunderte; er war auch immer ein fairer Arbeitgeber und ein engagiertes Mitglied der Anwaltskammer gewesen. Erst vor Kurzem hatte er sich in einen wohlverdienten Teilruhestand begeben, und David war froh, dass sein alter Herr endlich mehr Zeit auf seinem geliebten Golfplatz verbringen konnte. „Ich kann auch etwas tun“, sagte er und zog seinen Blackberry aus der Tasche. „Ein paar von meinen ehemaligen Professoren in Harvard …“

„Moment, Junge!“

David sah auf.

„Diese scharfsinnige junge Anwältin Mia …“, sagte sein Vater.

„Butterfield“, vervollständigte David.

„Genau.“ Lloyd Pearson lehnte sich ein Stück vor. „Es gibt da möglicherweise einen neuen Mandanten, für den wir infrage kommen. Eine milliardenschwere Gesellschaft, die die Verwaltung ihrer Wohltätigkeitsstiftung vergibt – also eine saftige Honorarpauschale und ausreichend abrechnungsfähige Arbeitsstunden für zwei oder drei Vollzeitanwälte.“

„Was hat Mia damit zu tun?“, fragte David kopfschüttelnd. „Sie arbeitet nicht mehr für uns.“

„Bedauerlicherweise, denn der Mandant besteht darauf, dass Miss Butterfield mit der Sache betraut wird.“

„Das ist doch Unsinn. Mia hatte nie etwas mit Nachlassangelegenheiten und Stiftungsgeldern zu tun, und wir haben einen ganzen Stall voll fähiger Steueranwälte und Spezialisten für Erbrecht.“ David straffte die Schultern. „Ich könnte diesen neuen Mandanten auch selbst übernehmen.“

Sein Vater schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, nein. Der Mandant will Miss Butterfield und sonst niemanden. Du musst sie unbedingt davon überzeugen, zu uns zurückzukommen.“

David lockerte seinen Krawattenknoten. Er bezweifelte, dass ihm das gelingen würde, allerdings konnte er nicht leugnen, dass er Mia wiedersehen wollte. Als sie ihm ihre Kündigung gegeben hatte und ohne eine Spur von Bedauern aus dem Raum marschiert war, hatte er sich flüchtig gefragt, ob ihr Weggang nicht am Ende das Beste war, das ihm passieren konnte.

Aber, verdammt, er wollte sie wiedersehen. Und gewiss nicht, um sie erneut für die Kanzlei anzuwerben.

2. KAPITEL

Das Hotel Seabreeze sah noch genauso aus wie damals. Mia ließ ihren Blick durch die lichtdurchflutete Lobby schweifen und atmete genüsslich ein. Wie sie dieses Gemisch aus dem Duft tropischer Blüten und dem Geruch von Salzwasser, den die leichte Brise vom Meer herübertrug, liebte!

Sie und Lindsey waren auf dem Weg zur Plantation Bar – mit Zwischenstopp im Hotelkiosk, um eine Sonnenbrille für Lindsey zu besorgen –, als sie Shelby durch die Glastüren hereinkommen sahen.

„Ich glaube es nicht! Sie ist schon gebräunt.“ Lindsey schüttelte den Kopf. Shelbys kurzes pinkfarbenes Sommerkleid war schulterfrei und zeigte viel Bein. Ihr rötlich blondes Haar hatte helle Strähnchen, und Shelby wirkte entspannt und glücklich; so, als sei sie bereits seit einer Woche hier. Typisch Shelby eben.

„Sie war im Solarium“, murmelte Mia und winkte, um Shelbys Aufmerksamkeit auf sich und Lindsey zu lenken. Sie selbst hatte auch vorgehabt, sich auf die Sonnenbank zu legen, war aber nicht dazu gekommen. Bis zu ihrem letzten Tag bei Pearson and Stern hatte sie fieberhaft gearbeitet, um ihre Fälle nahtlos übergeben zu können. Es war entsetzlich hektisch zugegangen.

„Und ich Dummkopf arbeite bis zur letzten Minute“, beschwerte sich Lindsey. „Ich hatte noch nicht mal Zeit, mir eine Bräunungslotion zu besorgen.“

„Gut, dass wir im Flieger wenigstens ein bisschen Schlaf abgekriegt haben.“ Mia seufzte. Bei ihrer letzten Zusammenkunft in New York waren sie, Lindsey und Shelby sich einig gewesen, dass sie eine Auszeit dringend benötigten, ehe sie sich ganz in den Aufbau ihrer neu gegründeten gemeinsamen Firma „Geht nicht, gibt’s nicht“ stürzen würden. Sie hatten in Erinnerungen an die unvergessliche Urlaubswoche geschwelgt, die sie als Studentinnen hier auf Hawaii verbracht hatten, und beschlossen, das Erlebnis zu wiederholen. Und damit es genauso sein würde wie vor sechs Jahren, hatten sie die drei heißen Typen von damals über Facebook aufgefordert, sich im Hotel Seabreeze mit ihnen zu treffen.

„Aloha“, begrüßte Shelby sie grinsend. Gegen ihren gebräunten seidigen Teint hoben sich ihre Zähne ausnehmend weiß ab.

Es entging Mia nicht, dass Shelby sich eine Maniküre und eine Pediküre gegönnt hatte – ein ganzes Schönheitsprogramm wahrscheinlich –, während es ihr selbst gerade einmal gelungen war, die Haare nachschneiden zu lassen. „Ich hasse dich“, erklärte sie mit einem vorwurfsvollen Blick auf Shelbys goldfarbene Sandaletten, zwischen deren Riemchen zartrosa lackierte Zehennägel hervorlugten. „Echt, ich hasse dich.“

„Danke.“ Shelby sah an sich herunter. „Die Sandalen habe ich gestern gefunden. Heruntergesetzt natürlich.“ Sie lächelte selbstgefällig. „Wisst ihr, ob unsere Typen gekommen sind?“

Mia hob die Schultern. „Nein. Aber wenn, werden sie sich sicher am Pool oder in der Bar herumtreiben. Wir waren gerade auf dem Weg dorthin.“

„Oh Gott!“ Shelby sah an sich hinunter. „In diesem Outfit kann ich doch unmöglich auf Beutezug gehen.“

„Beutezug?“ Mia musste lachen. Lindsey verdrehte genervt die Augen.

„Zu dumm, dass wir nicht mehr wissen, wie die Jungs mit Nachnamen heißen“, fuhr Shelby fort. „Sonst könnten wir fragen, ob sie eingecheckt haben.“ Ihr Blick glitt zu einem Punkt hinter Mias Schulter. „Es wäre aber auch kein Beinbruch, wenn sie sich nicht blicken lassen. Da kommen nämlich ein paar verdammt appetitliche Trostpreise in unsere Richtung. Nein, nicht umdreh…“

Lindsey wandte ruckartig den Kopf, nur um ihn genauso abrupt wieder zurückzudrehen, als die beiden durchtrainierten Surfer an ihnen vorübergingen.

„Sehr subtil, Süße.“ Shelby hatte den Blick abgewandt, ihre Lippen bewegten sich kaum. „Wirklich. Echt subtil.“

„Ich gehe mir eine Sonnenbrille kaufen“, murmelte Lindsey, die den Blick gesenkt hatte.

„Bitte schön!“ Der Barkeeper stellte den cremigen blauen Cocktail, der mit Maraschinokirschen, einer Ananasscheibe und einem gelben Papierschirmchen dekoriert war, vor Mia ab. „Geht das Getränk auf Ihre Zimmerrechnung, oder zahlen Sie bar?“

„Auf die Zimmerrechnung“, entschied Mia und verkniff sich ein Grinsen. In Manhattan wäre sie eher tot umgefallen, als einen derart peinlichen Drink zu bestellen. Sie steckte sich eine Maraschinokirsche in den Mund, ergriff den bauchigen Glaspokal vorsichtshalber mit beiden Händen und trank einen Schluck – was ihr gelang, ohne dass sie etwas verschüttete oder ihr die Ananasscheibe herunterrutschte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie sofort, dass sich am anderen Ende des Tresens ein Mann auf einen Barhocker setzte.

Stirnrunzelnd stellte sie das Glas ab. Der Mann in dem weißen T-Shirt saß halb abgewandt, und sie hatte ihn auch nur flüchtig gesehen, aber sein Profil … und das kurz geschnittene dunkle Haar … die Art, wie er sich bewegte …

Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen.

David!

Quatsch. Er konnte es nicht sein. Ausgeschlossen. Nicht auf diesem Planeten. Verdammt, sie hatte sich vorgenommen, nicht ein einziges Mal an David zu denken, solange sie hier war. Und schon nach zwei jämmerlichen Stunden versagt.

Aber um ihrer inneren Ruhe willen musste sie sich vergewissern. Sie nahm ihre Cocktailserviette, tat, als wolle sie einen Fleck vom Tresen wischen, und warf einen unauffälligen Seitenblick in Richtung des Mannes.

Nein, er war es nicht. Beziehungsweise … doch.

Mist, Mist, Mist!

In diesem Moment sah David lächelnd zu ihr herüber und winkte grüßend.

Mia kniff die Augen fest zusammen und riss sie wieder auf. Er saß immer noch da. Sie kannte ihn nur im Anzug, und ganz gewiss hatte sie ihn noch niemals so lächeln sehen. Er wirkte sogar ein bisschen nervös. Aber das war unmöglich. Absolut undenkbar. Was sollte David Pearson hier wollen?

„Mia?“

Sie zwinkerte unwillkürlich, als sie die Wärme eines Körpers hinter sich spürte. Jemand berührte ihre Schulter, und Mia drehte sich um.

„Du bist doch Mia, oder?“

Sie starrte den athletischen Adonis in den roten Surfershorts an und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf ihn statt auf David zu konzentrieren.

„Jeff. Erinnerst du dich?“

„Jeff. Natürlich. Klar erinnere ich mich.“ Sie sah ihm in die blauen Augen und zwang sich zu lächeln.

Er grinste schief, beugte sich vor, um sie auf den Mund zu küssen.

Es gelang ihr gerade noch, den Kopf so weit zur Seite zu drehen, dass der schlabbernde Kuss auf ihrer Wange landete. Die Bierfahne nahm ihr trotzdem den Atem.

„Entschuldigung“, murmelte er und richtete sich auf. „Ich war mir nicht sicher, ob du wirklich kommen würdest, aber es hat mich total aus den Socken gehauen, als ich deine Nachricht auf Facebook entdeckte. Das war echt super.“

Vor Scham, dass David zugesehen hatte, wäre Mia am liebsten im Boden versunken. In dem Versuch, etwas mehr Abstand zu schaffen, lehnte sie sich demonstrativ zurück. Jeff schien den Wink zu verstehen. Er kletterte auf den Barhocker neben ihrem, sodass die Sicht auf David blockiert war, und wahrte Distanz.

„Wann bist du angekommen?“, erkundigte sie sich.

„Gestern Vormittag. Mit zwei Freunden.“ Er grinste. „Wir waren ein bisschen zu lange in der Sonne, und heute haben wir mehr Zeit in der Bar verbracht, als uns guttut.“ Er lächelte verlegen. „Und du?“

„Ich bin erst seit ein paar Stunden hier. Meine Freundinnen sind noch beim Auspacken.“

Der Barmann kam, und Mia atmete auf, als Jeff ein Mineralwasser bestellte. Trotzdem war sie enttäuscht, dass er nicht erwähnte, ob diese beiden Freunde von ihm auch die von damals waren – die, mit denen Lindsey und Shelby rechneten.

Jeff sah sie aus blutunterlaufenen Augen an. „Du hast dich nicht verändert.“ Er wirkte erleichtert. „Bloß dein Haar ist kürzer.“

„Deins auch.“

„Stimmt.“ Er lachte verlegen. „Aber wenn man beruflich Erfolg haben will …“

„Jeff!“

Die beiden Typen, die seinen Namen gebrüllt hatten, kamen vom Swimmingpool, und als er sich zu ihnen umdrehte, warf Mia einen raschen Blick zu dem Platz, wo David gesessen hatte. Der Barhocker war unbesetzt, das Glas halb leer. Sie sah zur Tür und bekam gerade noch mit, wie er aus dem Raum ging.

„Hör mal …“ Jeff winkte nach der Rechnung. „Wir wollten eine Runde surfen. Hättest du Lust, mitzukommen?“

„Vielleicht ein andermal.“

„Wir könnten zusammen zu Abend essen.“ Jeff berührte leicht ihre Hand und schenkte ihr das entwaffnende jungenhafte Lächeln, das es ihr vor sechs Jahren angetan hatte. „Oder bist du anderweitig verabredet?“

Sie schickte einen wehmütigen Blick zu dem leeren Barhocker hinüber und fragte sich, was David hier wollte. Aber was immer der Grund sein mochte, ihretwegen war er nicht auf Hawaii. Bestimmt hatte er kein einziges Mal an sie gedacht, seit sie gekündigt hatte. Es musste ein Zufall sein, dass er hier aufgetaucht war. „Nein“, antwortete sie auf Jeffs Frage. „Ich habe noch nichts vor.“

„Dann reserviere ich uns einen Tisch in einem netten Restaurant, okay?“

„Gern.“ Es machte ihr nicht einmal etwas aus, dass er sie auf die Wange küsste. Sie wartete, bis Jeff gegangen war, dann trank sie ihren Cocktail aus und verließ die Bar. Sie hatte die Aufzüge fast erreicht, als jemand sie ansprach.

„Mia!“

David stand vor ihr, nur einen Meter entfernt. Wenn sie nach rechts abgebogen wäre …

„Hallo, David.“ Beim Anblick seines Brusthaars im V-Ausschnitt seines T-Shirts hielt sie den Atem an. Sie kannte ihn schließlich nur mit Hemd und Krawatte, maßgeschneidertem Anzug und perfektem Haarschnitt. „Was machst du denn hier?“

„Urlaub.“

Sie schüttelte den Kopf. „Du nimmst nie Urlaub.“

„Stimmt nicht.“

„Okay, ein verlängertes Wochenende hin und wieder.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich brauchte eine Auszeit.“

„Das kann ich verstehen.“ Mia räusperte sich und wandte den Blick ab. Sie war durcheinander, aber das musste sie ja nicht zeigen. „Bist du allein hier?“

„Ja.“ Er lächelte, und die feinen Fältchen um seine Augenwinkel vertieften sich. „Dich nicht mitgerechnet.“

Sie versuchte, ihre zitternden Hände in die Taschen zu stecken, bis sie begriff, dass ihr kurzes rückenfreies Sommerkleid keine besaß. Und anstatt ihre Nervosität vor David zu verbergen, hatte sie seine Aufmerksamkeit auf ihre Beine gelenkt. Ihre quarkweißen Beine.

„Und du?“ Er hob den Blick und begegnete ihrem. „Bist du mit dem jungen Mann aus der Bar hier?“

„Dem? Nein.“ Sie lachte wegwerfend. „Mit meinen Freundinnen Lindsey und Shelby. Du kennst sie nicht.“

Seine Mundwinkel bogen sich nach oben, und Mia war verblüfft, wie sehr das Lächeln seine Gesichtszüge veränderte. Dieser Mann besaß unglaubliche Grübchen!

„Stimmt. Mir gegenüber hast du sie jedenfalls nie erwähnt.“

Nein, sie würde die Augen jetzt nicht verdrehen. Obwohl sie dem Drang kaum widerstehen konnte. Hatten sie überhaupt jemals über irgendetwas Persönliches gesprochen? Bei keiner einzigen verdammten Gelegenheit.

„Bist du das erste Mal hier?“, fragte er in ihre Gedanken hinein.

„Nein. Lindsey, Shelby und ich haben vor Jahren eine Woche in diesem Hotel verbracht. In den Semesterferien.“

„Dann kennst du bestimmt ein paar gute Restaurants und weißt, wo man ein bisschen Party machen kann.“

Mia presste die Lippen aufeinander. Was verstand der stets so sachliche David Pearson unter Party machen?

Er lächelte nach wie vor, und sie hatte immer noch Mühe, sich daran zu gewöhnen. „Vorausgesetzt, du warst nüchtern genug, um dich daran zu erinnern“, setzte er hinzu.

Sie musste lachen. „Ich?“

„Hey, komm, ihr habt doch in den Semesterferien nicht über Lehrbüchern gebrütet.“

„Du aber, was?“

„Lass es mich so sagen: Ich hätte meinen Enkeln ein paar deftige Anekdoten zu erzählen.“

„Wow, Mr. Pearson. Ich sehe Sie auf einmal in einem ganz anderen Licht.“

„Gut.“ Bei seinem trägen, sinnlichen Lächeln geriet ihr Herz ins Stolpern. Und wie er sie ansah! Als sei sie das einzige weibliche Wesen in der Hotelhalle. Sie brachte kein Wort heraus, und es fiel ihr schwer, zusammenhängend zu denken. Er war allein hier … bedeutete das etwa … nein, absolut unmöglich … sie bildete sich etwas ein …

„Hey, hattest du nicht gesagt, du bist in der Bar?“, erklang Shelbys Stimme hinter ihr. „Mia? Oh, tut mir leid, ich wollte nicht stören.“

Mia blinzelte. „Hallo, Shelby.“

Grinsend wandte Shelby sich an David und musterte ihn ungeniert. „Ich bin Shelby.“

David nannte seinen Namen und streckte die Hand aus, als habe er einen neuen Klienten vor sich.

Der magische Moment war vorüber. Dies war der David, den Mia seit drei Jahren kannte. „Du störst nicht“, versicherte sie Shelby. „Ich war auf dem Weg zu meinem Zimmer.“

„Jemand hat für dich angerufen.“ Shelbys Blick wanderte kurz zu David, dann zurück zu Mia. „Einladung zum Abendessen.“

„Schon?“ Mia konnte ihre Überraschung nicht verbergen, mied jedoch sorgfältig Davids Blick. „Hätte das nicht bis morgen Zeit gehabt?“

Shelby lächelte vielsagend. „Lindseys Besuch dürfte inzwischen in ihrem Zimmer sein.“

„Oh.“ Mia runzelte die Stirn und schwieg. „Oh“, wiederholte sie mit – wie sie hoffte – mehr Begeisterung. Lindsey hatte gewettet, dass ihr Typ nicht auftauchen würde. „Das ist ja schön.“ Mia warf einen unsicheren Blick in Richtung David, dann sah sie Shelby fragend an. Shelby schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Ich fürchte, ich bin derjenige, der hier stört.“ David wandte sich zum Gehen. „Man sieht sich.“

„Nein, warte!“ Großartig. Und jetzt? David und Shelby sahen sie an. „Warum essen wir nicht alle zusammen zu Abend?“ Hatte sie diesen Vorschlag wirklich gemacht? Aber sie konnte Shelby schließlich an ihrem ersten Abend hier nicht allein lassen. „David, Shelby, kommt einfach mit Jeff und mir mit. Ich bin sicher, er hat nichts dagegen.“

3. KAPITEL

Eigentlich hätte es ein netter Abend sein können. Nur wurde Jeff zusehends betrunkener, und Shelby war absolut hinreißend und unwiderstehlich. Sie und David verstanden sich glänzend und plauderten miteinander, als seien sie alte Bekannte.

So bekamen die beiden zwar nicht mit, dass Jeff versuchte, ihr die Hand auf den Oberschenkel zu legen, doch statt dafür dankbar zu sein, sank Mias Stimmung auf den Nullpunkt. Sie war eifersüchtig, jawohl, und sie konnte niemandem Vorwürfe machen außer sich selbst. Und Jeff natürlich. Begründet oder nicht, sie gab ihm die Schuld. Warum musste er sich als ein solcher Vollidiot herausstellen?

Als es ans Bezahlen ging, entbrannte ein kurzer Streit zwischen David und Jeff, aus dem David als Sieger hervorging. Nicht dass es Mia überraschte. Unter anderen Umständen wäre es an ihr gewesen, die Rechnung zu übernehmen – schließlich hatte sie die Einladung ausgesprochen –, aber sie konnte Jeff keine Minute länger ertragen. Eigentlich fehlte nur eins, um das Desaster dieses Abends für sie perfekt zu machen – dass Shelby und David nach dem Essen noch miteinander ausgehen wollten.

„Ich weiß nicht, wie es euch geht …“ Sie wandte sich zu den beiden um, als Jeff sich nach ihrem unmissverständlichen „Gute Nacht“ in Bewegung setzte und leicht schwankend die Hotelhalle durchquerte. „Aber ich bin reif fürs Bett.“

Weder Shelby noch David erwiderten etwas, und Mia spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle bildete. Die beiden hatten sich den ganzen Abend prima verstanden, viel zu gut für ihren Geschmack. Aber wie hätte sie auch ahnen sollen, dass David so verdammt gesellig und charmant sein konnte? Jedenfalls durfte es sie nicht wundern, wenn Shelby und er sich zueinander hingezogen fühlten.

Sie lächelte angestrengt. „Ich schätze, wir sehen uns dann morgen.“ Unwillkürlich flog ihr Blick zu David, der sie forschend musterte. Sie blinzelte verlegen. „Danke für das Dinner. Eigentlich war es meine Einladung, und ich hätte zahlen sollen. Deshalb … ich schulde dir was.“

David hielt ihrem Blick stand. „Ich werde dich daran erinnern.“

Der verführerisch tiefe Ton seiner Stimme sandte ein Prickeln über ihre Haut. Unwillkürlich rieb Mia sich über die nackten Oberarme und fragte sich, wieso sie es nicht fertig brachte wegzuschauen. Plötzlich fiel ihr ein, dass Shelby neben ihnen stand und sie beobachtete.

Sie trat einen Schritt zurück und vermied es, Shelby anzusehen. Geschweige denn, David. „Okay, ich gönne mir dann jetzt meinen Schönheitsschlaf“, erklärte sie gespielt fröhlich und wandte sich zum Gehen. „Bis morgen also.“ Wetten, dass sie kein Auge zutun würde?

„Warte doch!“, hielt Shelby sie auf, und Mia drehte sich um. „Ich bin auch ganz schön ausgepowert. David, es hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Du wohnst doch ebenfalls im Seabreeze, nicht wahr?“ Er nickte, und sie setzte hinzu: „Dann sehen wir uns ja auf jeden Fall.“

David blickte kurz in die Richtung, in die Jeff verschwunden war. „Es macht mir nichts aus, euch noch nach oben zu bringen.“

„Nicht nötig, wirklich.“ Shelby hakte sich bei Mia ein. Was ziemlich untypisch für sie war. „Wir haben die Zimmer 720 bis 722. Ruf doch morgen einfach an.“

David nickte. „Mache ich. Schlaft gut, ihr beiden.“

Shelby gab Mia einen kaum merklichen Schubs und steuerte sie zu den Aufzügen. „Untersteh dich, dich umzudrehen“, flüsterte sie streng. „Er sieht uns bestimmt nach.“

„Was?“ Mit einem Ruck machte Mia sich frei. „Weshalb sollte ich mich umdrehen wollen?“ Sämtliche Skrupel, dass sie ihrer Freundin womöglich zu nahe trat, waren wie weggewischt. „Du bist doch diejenige, die sich so toll mit ihm versteht! Geh mit ihm aus, zum Teufel noch mal. Oder denkst du, ich brauche Geleitschutz?“

Shelby grinste.

„Aber ich sollte dich warnen“, ereiferte Mia sich weiter. „Er ist keineswegs immer so charmant. Um ehrlich zu sein, ich hätte ihm das nicht zugetraut, so zugeknöpft, wie ich ihn kenne.“

„Ach ja?“ Sie betraten den Aufzug. Immer noch grinsend, drückte Shelby die Taste für den siebten Stock.

„Nicht, dass ich dir von ihm abraten will, wie käme ich dazu.“ Mia senkte die Stimme. „Im Gegenteil, schmeiß dich ran! Ich kann gut verstehen, dass du ihn attraktiv findest. Schließlich ging es mir ja mal genauso.“

Shelby lachte. „Für ein intelligentes Mädchen redest du ziemlich viel Blödsinn.“

Mia warf ihr einen finsteren Blick zu.

„Süße“, sagte Shelby eindringlich, „er fährt so auf dich ab, dass es kaum zum Aushalten ist.“

„Du bist ja verrückt. Ihr habt euch blendend verstanden.“

Shelby nickte. „Stimmt. Aber dir ist offenbar nicht aufgefallen, wie er dich betrachtet hat.“

„Mich? Betrachtet? Das wüsste ich.“

Shelby verdrehte die Augen. „Du warst viel zu beschäftigt damit, dich wegen Jeff zu schämen. David hat nicht auffällig hingeschaut, aber ihm ist kein einziger Lidschlag von dir entgangen, da kannst du sicher sein.“ Sie seufzte. „Im Ernst, wenn ein Typ mich so mit Blicken verschlingen würde – ich hätte mich auf ihn gestürzt, ehe er auch nur wüsste, wie ihm geschieht.“

Mia schwieg nachdenklich. „Warum jetzt erst? Wo er bis nach Hawaii fliegen muss, um mich zu treffen? In New York hätte er bloß zum Telefonhörer greifen müssen!“

„Hör mal, dir nach Hawaii hinterherzufliegen ist eine ziemlich großartige Geste, also beschwer dich nicht.“ Der Aufzug hielt, und sie traten durch die auseinandergleitenden Türen in den Flur. Ihre Schlüsselkarte schon in der Hand, drehte Shelby sich zu Mia um. „Und pass auf, dass du es nicht vermasselst.“

Rastlos marschierte David im Salon seiner Suite auf und ab. So, wie er sich fühlte, hatte sein Körper noch nicht begriffen, dass es nicht drei Uhr morgens an der Ostküste war, sondern zehn Uhr abends hawaiianischer Zeit. Die zwölf Stunden Flug hinzugerechnet, hätte er eigentlich todmüde sein müssen, doch nach diesem Abendessen war er viel zu überdreht, um schlafen zu können.

Die Situation hatte ihm einiges abverlangt. Sicher, Shelby war ein nettes Mädchen – geistreich, erfrischend direkt und unbestreitbar hübsch –, doch er stand nun einmal auf Mia. Die sich aber lieber mit diesem Trottel Jeff abzugeben schien und obendrein dessen unmögliches Benehmen duldete. Eigentlich waren beide zu bedauern. Jeff, weil er zu viel getrunken hatte, um zu begreifen, was er vermurkste, und Mia – nun ja, für sie musste der Abend eine Katastrophe gewesen sein.

David lächelte schief. Das Gute für ihn war, dass er als Sieger dastand. Hoffte er jedenfalls. Obwohl er immer noch nicht wusste, was Mia von ihm hielt und ob er sich zum Narren machte, weil er hier aufgetaucht war. Verdammt, statt sie schlafen gehen zu lassen, hätte er sie fragen sollen, ob sie noch einen Absacker mit ihm trinken wollte.

Und Shelby? Nein, er musste sich keine Gedanken darum machen, dass er ihre Gefühle verletzte. Sie war ein aufgewecktes Mädchen und wusste, was Sache war.

Er schob die Glastür zum Balkon auf, trat an die Brüstung und betrachtete die Lichter der Stadt. Dass er diese Ecksuite ergattert hatte, war ein Glücksfall. Auf der einen Seite gingen die Panoramafenster auf die Skyline von Waikiki und auf der anderen auf den Pazifik. Zudem gab es eine gut bestückte Bar, aber er hätte auch Drinks beim Zimmerservice bestellen können. So oder so – eigentlich sollte Mia jetzt bei ihm sein und den Ausblick mit ihm genießen.

Zimmer 720 bis 722. In welchem wohnte sie? Er hätte beim Empfang anrufen und nachfragen können, aber die Mitarbeiter dort würden ihm die Auskunft nicht geben, sondern ihn lediglich verbinden.

Ihm war nicht nach Reden, schon gar nicht am Telefon. David ging ins Zimmer zurück und schloss die Balkontür. Geredet hatte er drei Jahre lang. Geredet, sich verstellt und seine Gefühle verleugnet. Er nahm seine Schlüsselkarte von der Bambuskonsole, öffnete die Tür und trat in den Flur.

Mia ließ sich auf das Doppelbett sinken, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Aus dem Zimmer nebenan hörte sie leise Geräusche – Shelby, die noch wach war und gern weiter mit ihr geplaudert hätte. Mia spürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, dass sie abgelehnt hatte, aber das Bedürfnis, allein sein zu wollen, überwog.

Lindsey war ausgegangen, und es sah ganz danach aus, als würde sie die Nacht woanders verbringen. Schön für sie, dachte Mia und lächelte. Sie war gespannt auf den Typen, über den Lindsey sich so beharrlich ausschwieg, doch im Augenblick wollte sie ihre Ruhe haben. Sie musste nachdenken.

Über David.

Himmel, es fühlte sich immer noch unwirklich an, dass er hier war. Und es machte sie wütend, dass er drei Jahre lang so getan hatte, als sei sie ihm gleichgültig. Nicht zu fassen, wie nüchtern und beherrscht und leidenschaftslos dieser Kerl sein konnte! Großartige Fähigkeiten, wenn man einen Richter überzeugen musste, aber hätte die harte Schale bei den vielen Nächten, die sie zusammen durchgearbeitet hatten, nicht einen winzigen Riss bekommen können?

Okay, private Beziehungen waren in der Kanzlei nicht erlaubt. Und ja, er war der Sohn eines der beiden Chefs. Trotzdem hätte er ihr zeigen sollen, was er für sie empfand. Dann hätte sie immer noch entscheiden können, was ihr mehr bedeutete – David oder der Verbleib in der Firma. Sie durfte gar nicht daran denken, wie sich die Dinge hätten entwickeln können …

Dieser Feigling. Sie hatte nicht übel Lust, ihn sich zu schnappen und zu fragen, warum er nach Hawaii gekommen war. Ihretwegen? Ja oder nein? Wenn nicht, auch in Ordnung. Schwierigkeiten, in die sie sich auch ohne David Pearson bringen konnte, gab es wahrhaftig in Hülle und Fülle.

Ich will es wissen, entschied sie, schwang die Beine aus dem Bett und ging ins Bad. Selbst wenn nach dem Urlaub wieder alles beim Alten sein sollte zwischen uns. Was im Grunde das Beste war. In New York würde sie ihre gesamte Energie für ihre neu gegründete Firma brauchen.

Sie trug etwas Lipgloss auf und fuhr sich rasch mit der Bürste durchs Haar. Dann strich sie das korallenrote schulterfreie Sommerkleid glatt und rückte das Oberteil zurecht. Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel griff sie nach ihrer Schlüsselkarte, machte die Tür auf – und blieb wie angewurzelt stehen.

Vor ihr stand David, der von ihrem Anblick nicht weniger überrascht schien als sie von seinem. Er trug noch dieselben Sachen wie beim Abendessen, nur die Ärmel seines weißen Hemdes waren hochgerollt, sodass seine muskulösen Unterarme zu sehen waren.

„Ich wollte gerade klopfen“, begann er. „Aber wenn du es eilig hast …“

Nichts da! Diesmal würde er sich nicht herauswinden. Mia holte Luft, um ihm genau das zu sagen, doch er war noch nicht fertig.

„… mache ich es kurz.“ Sein Lächeln deutete darauf hin, dass er etwas im Schilde führte. Entschlossen schob er sie zurück ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

4. KAPITEL

„Ich hoffe, du wolltest nicht zu Jeff.“ David ließ ihre Oberarme los. „Wenn doch, bist du im Begriff, einen großen Fehler zu machen.“

Mia trat einen Schritt zurück und sah ihn nachdenklich an. „Und um mir das zu sagen, bist du hier?“

„Genau.“

„Für einen überbezahlten Anwalt erscheinst du mir ziemlich unaufmerksam.“

Er hob die Brauen, und Mia verkniff sich ein Grinsen. „Hochbezahlt wollte ich sagen.“

„Mir ist nicht entgangen, wie er dich in Verlegenheit gebracht hat. Aber es könnte ja sein, dass du ihm eine zweite Chance geben willst.“ David kam einen Schritt auf sie zu, und ihr Puls begann zu rasen. „Der Typ ist ein betrunkener Flegel. Er hat dich nicht verdient, nicht mal für eine Woche.“

Hitze kroch ihr den Nacken hinauf. Das stimmte natürlich, und sie würde Jeff bestenfalls noch knapp grüßen, wenn sie ihm in der Hotelhalle begegnete. Aber woher nahm David das Recht, sich einzumischen? „Seit wann geht mein Privatleben dich etwas an?“

„Bingo.“ Er nahm ihre Hand und begann, die empfindliche Innenfläche mit dem Daumen zu streicheln.

Ihr ganzer Körper spannte sich erwartungsvoll an. Oh Gott, David berührte sie! Sein Gesicht war ihrem so nah, dass sie die goldenen Sprenkel in seinen braunen Augen sehen konnte. Komisch, sie hatte sie immer für viel dunkler gehalten.

Sie nahm sich zusammen. „Richtig, Mr. Pearson.“ Wieso klang ihre Stimme plötzlich so heiser? „Schließlich kennst du mich überhaupt nicht.“ Es war nicht leicht, die beunruhigenden Gefühle zu ignorieren, die David bei ihr mit seinem Daumen verursachte.

Sein Blick fiel auf ihren Mund, verweilte dort und glitt ohne Eile höher. „Meinst du?“

„In meinen ganzen drei Jahren bei Pearson and Stern war ‚Schönes Wochenende‘ die persönlichste Äußerung, zu der du dich hast hinreißen lassen. Und das an einem Samstag, nachdem wir den ganzen Tag zusammen gearbeitet hatten.“

„Du übertreibst.“

„Kaum.“

„Glaubst du, es ist mir leichtgefallen, Distanz zu wahren?“

„Keine Ahnung. Ehrlich.“ Sie erschrak, als Belustigung in seinen Augen aufflackerte. „Du hättest Pokerspieler werden sollen statt Anwalt. Ich wette, du könntest richtig abkassieren.“

Er schloss die Finger um ihr linkes Handgelenk und zog sie näher an sich heran. „Meine derzeitigen Absichten dürften jedenfalls klar sein“, sagte er mit leiser, ein wenig rauer Stimme und legte ihr einen Arm um die Taille.

Mia warf den Kopf in den Nacken und sah ihn herausfordernd an. Auf keinen Fall würde sie die Erste sein, die den Blickkontakt abbrach. David presste sie an sich. Oh, er war so hart und erregt! Verlangen schoss in ihr hoch, und ihre Selbstbeherrschung geriet ins Wanken. Seine Hand auf ihrem Rücken sandte ein erregendes Kribbeln an ihrem Rückgrat hinauf. Es breitete sich aus bis in ihre Brustwarzen, die sich plötzlich so hart und empfindlich anfühlten, dass selbst die Berührung mit dem zarten Stoff ihres Kleides kaum auszuhalten war. Aber schließlich wurde das Oberteil nur von einem Band in ihrem Nacken gehalten, und es würde ein Leichtes sein, es zu lösen …

David presste seinen Mund auf ihren. Seine Lippen fühlten sich weich und geschmeidig an und schmeckten schwach nach Minze. Mia drängte sich gegen ihn, legte ihm eine Hand auf die Brust und war erstaunt über die Festigkeit der Muskulatur unter dem Baumwollstoff seines Hemdes. Als er mit seiner Zungenspitze über ihre Lippen leckte, öffneten diese sich wie von selbst und luden ihn ein, das Innere ihres Mundes zu erkunden.

Und wie er küsste – noch besser, als sie es sich vorgestellt hatte! Seine Zunge glitt in ihre Mundhöhle, dann nahm er sich Zeit. Zeit, ihre Zunge mit seiner zu umspielen, zu schmecken, zu necken; ihr gerade so viel zu geben, dass sie unbedingt mehr wollte, und sich wieder zurückzuziehen, bis sie vor Begierde bebte. Mia presste sich an ihn, rieb ihre aufgerichteten Brustwarzen an seinem Oberkörper, und für einen kurzen, hoffnungsvollen Moment glaubte sie, er würde den Knoten des Bandes lösen.

Doch David streichelte nur ihren Rücken und ließ seine Zunge verheißungsvoll an der Innenseite ihrer Wange entlanggleiten, ehe er sich wieder zurückzog. Für einen Moment verharrte er mit seinem Mund über ihrem, berührte mit seinen Lippen ein letztes Mal ihre, und Mia hätte aufstöhnen mögen vor Enttäuschung.

„So wollte ich dich schon lange küssen.“ Seine Stimme klang heiser. In seinen Augen schwelte eine Begierde, die Mia den Atem raubte.

„Das wusste ich nicht“, flüsterte sie. Eine süße Schwäche breitete sich in ihr aus. „Du hast es mir nie gezeigt.“

„Nein.“ Er strich ihr mit der Daumenkuppe über die Wange. „Es ging einfach nicht.“

Ein Teil von ihr nahm es ihm übel, dass er über eine derart starke Selbstbeherrschung verfügte; vielleicht weil es sie selbst so viel Kraft gekostet hatte, ihre Gefühle zu verbergen. Und wie oft hatte sie befürchtet, dass die Kollegen im Büro die sehnsüchtigen Blicke doch bemerkten, mit denen sie David ansah! Besonders im ersten Jahr, als sie noch nicht gewusst hatte, dass die Firmenleitung das Verbot von Beziehungen zwischen den Mitarbeitern äußerst ernst nahm. Und dass David sich niemals darüber hinwegsetzen würde.

Er beugte sich zu ihr hinunter und strich mit seinen Lippen sanft über ihre. Zu zärtlich beinahe. Er brauchte doch hoffentlich keine Ermutigung? Gerade wollte Mia ihm klarmachen, dass sie beide dasselbe wollten, als er den Kuss beendete und einen Schritt zurücktrat.

„Ich will morgen eine Inselrundfahrt machen und möchte, dass du mich begleitest.“

Ihre Arme hingen schlaff an ihren Seiten herab, ihre Brüste hoben und senkten sich unter ihren heftigen Atemzügen, und sie konnte ihn nur stumm anstarren. Er hatte sich in den alten David zurückverwandelt. Einfach so, mir nichts, dir nichts. Sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich, in seinen Augen stand eine Anspannung, die sie erregte, aber mehr noch frustrierte. Was er jedoch nicht verbergen konnte, war die Ausbuchtung in seinen Jeans.

„Außer natürlich, du hast schon etwas anderes vor.“

„Nein“, Mia musste sich räuspern, „noch nicht.“ Sie hatte nicht viel getrunken, und möglicherweise war es der Jetlag, aber sie fühlte sich wie benebelt. Was passierte hier eigentlich? „Ich komme gern mit.“

„Passt dir halb zehn?“

„Halb zehn.“ Sie nickte. „Ja, sicher.“

„Wollen wir uns in der Halle treffen?“

„Gern.“

„Ich freue mich auf morgen, Mia“, sagte er leise. „Bis dann.“

„David …“

„Schlaf gut.“ Er lächelte kaum merklich, bevor er das Zimmer verließ, und zog die Tür hinter sich zu.

Mia starrte auf die geschlossene Tür. Was zum Teufel sollte das denn bedeuten? Ihr Mund war nicht die einzige Stelle ihres Körpers, die feucht geworden war, so intensiv, wie sie sich geküsst hatten. Und David war genauso erregt gewesen wie sie. Noch zehn Minuten, und sie hätten sich auf den Laken gewälzt. Er war genauso heiß auf sie wie sie auf ihn, daran bestand kein Zweifel.

Sie zog den Stoffknoten im Nacken auf, stieg aus dem Kleid und rieb sich die verspannten Nackenmuskeln, als das Jingle ihres Blackberry erklang. Sie hatte eine Nachricht erhalten. In ihrer Eile, das Gerät in die Hand zu bekommen, stieß sie mit dem bloßen Fuß gegen die Kante des Toilettentischs und brach sich beinahe den kleinen Zeh. Für nichts und wieder nichts. Lindsey schrieb, dass sie die Nacht woanders verbringen würde.

Mia murmelte ein Schimpfwort und humpelte zum Bett. Was für eine Vergeudung! Eine ganze Nacht lag vor ihr, und David, dieser Feigling, war abgehauen. Aber das würde sie in Zukunft zu verhindern wissen. Und für morgen hatte er hoffentlich mehr geplant, als ihr ein paar Sehenswürdigkeiten zu zeigen.

Pünktlich um Viertel nach neun am nächsten Morgen fand David sich beim Empfangstresen ein, um dafür zu sorgen, dass sein Leihwagen vor dem Haupteingang stand, wenn Mia erschien. Gestern Abend hatte er es vermasselt, aber er war nicht bereit, auch nur eine einzige weitere Minute der sechs Tage zu verschwenden, die ihnen blieben.

Nein, korrigierte er sich im Stillen. Es gibt nichts, das ich bedauern müsste. Er hätte Mia leicht ins Bett kriegen können, sie waren beide scharf aufeinander gewesen. Wie auch anders, nach diesem Wahnsinnskuss? An dem es ebenfalls nichts zu bedauern gab. An den er aber nicht denken durfte, wenn er sich vor all den kamerabehängten japanischen Touristen in ihren Hawaii-Hemden, die die Halle bevölkerten, nicht in Verlegenheit bringen wollte.

Er beneidete diese Urlauber um die Unbekümmertheit und Begeisterung, mit der sie ihre Ferien, den blauen Ozean und die milde Märzluft genossen. Unter anderen Umständen wäre ein so weit entferntes Urlaubsziel für ihn niemals infrage gekommen, und was das betraf, auch keine so lange Abwesenheit aus der Kanzlei, nur um sich zu erholen. Aber hier ging es für ihn nicht um Erholung.

Am liebsten hätte er die nächsten Tage mit Mia allein verbracht – irgendwo, wo sie Arbeit und familiäre Verpflichtungen vergessen und sich besser kennenlernen konnten. Aber dem sehnlichen Wunsch nachzugeben, mit ihr zu schlafen, war nicht so einfach. Jedenfalls jetzt, nachdem sein Vater ihn beauftragt hatte, sie zur Rückkehr in die Kanzlei zu bewegen.

Er würde sie davon überzeugen müssen, dass er hier war, weil es ihm um sie ging. Und nicht darum, sie wieder anzuwerben. Das hätte er auch in New York tun können, mit einer Beförderung und einem ansehnlichen Bonus. Doch er brauchte diese Auszeit mit ihr, denn wenn sie wieder zurückflogen, sollte Mia sich darüber klar sein, was ihr mehr bedeutete, er oder die Firma.

Ihm stand eine heikle Aufgabe bevor. Wenn er ihr das Angebot der Kanzlei unterbreitete, musste er sich darauf verlassen können, dass sie ihm vertraute und ihm nicht unterstellte, sie nur aus geschäftlichen Gründen zu umgarnen.

„David?“

Beinahe wäre er zusammengezuckt. Sie stand vor ihm, und er hatte sie noch nicht einmal kommen sehen. „Hallo, Mia.“

„Ich wette, du warst in Gedanken bei der Arbeit.“

„Ausnahmsweise nicht, nein.“

Sie grinste. „Wer’s glaubt.“

„Doch, ehrlich.“ David warf einen Blick auf seine Armbanduhr und runzelte die Stirn. „Es ist gleich halb drei an der Ostküste, und ich habe noch kein einziges Mal mit der Kanzlei telefoniert.“

„Dann mach schon. Ich warte so lange.“

„Nein. Wenn etwas ist, können sie mich anrufen.“ Ohne ihre skeptische Miene zu beachten, ließ er seinen Blick bewundernd über ihre knappen weißen Shorts und ihre langen, schlanken Beine gleiten. „Der Wagen steht draußen.“ Er deutete auf das rote Cabrio, das auf der Zufahrt vor den gläsernen Eingangstüren parkte, und wurde sich bewusst, wie gern er sie sofort wieder geküsst hätte.

„Schick.“ Sie nahm ihre Sonnenbrille aus der Umhängetasche und setzte sie auf, während sie zu dem BMW schlenderten. „Und wo fahren wir hin?“

„Ich habe die Strecke vorbereitet.“

„Das ist keine Antwort.“

Außerstande, sich zurückzuhalten, legte er ihr die Hand auf den unteren Rücken. „Ich erzähle es dir unterwegs.“

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das ihre hübschen weißen Zähne entblößte. „Ich kann nicht gut Karten lesen, wenn du also auf mich zählst …“

„Das Auto hat ein Navigationsgerät.“

„Prima.“ Sie hob ihr Haar im Nacken an. „Es ist ziemlich heiß heute.“

Die Versuchung, die zarte Haut hinter ihrem Ohr zu küssen, war so stark, dass er den Blick abwenden musste. „Nur in der prallen Sonne. Wir können das Dach auch schließen, wenn du willst.“

„Auf keinen Fall. Ich möchte den Fahrtwind spüren. Immerhin bin ich im Urlaub. Auf Hawaii. Und ich habe nicht vor, irgendetwas auszulassen.“ Sie warf ihm einen Blick zu, bei dem er fast eine Erektion bekam, und setzte hinzu: „Es heißt, was man in Waikiki tut, bleibt in Waikiki. Man hat Narrenfreiheit, und nichts dringt nach draußen.“

„Wenn das so ist …“ Auf einmal fühlte David sich unbehaglich, und das war ihm in Gegenwart einer Frau noch nie passiert. Aber es spielte keine Rolle. Er hatte sich vorgenommen, nicht so schnell Sex mit Mia zu haben, doch wenn sie ihm weiterhin diese herausfordernden sinnlichen Blicke zuwarf, würde es verdammt schwierig werden, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Der Hotelpage trabte herbei und öffnete die Beifahrertür für Mia, bevor David dazu kam. „Brauchen Sie eine Wegbeschreibung, Sir?“

Eigentlich gab es keinen Grund, ärgerlich zu sein. Der Junge tat nur seinen Job, aber David hatte den Moment verpasst, in dem Mia ihre langen Beine in den Wagen schwang. „Nein danke“, sagte er barsch, gab dem Pagen ein Trinkgeld und glitt hinters Steuer.

„An dieses Schätzchen von einem Auto könnte ich mich glatt gewöhnen.“ Mia stellte den Sitz etwas weiter zurück, dann zupfte sie ihre Shorts zurecht.

David wandte den Blick ab und gab etwas ins Navigationssystem ein. „Ich habe den Wagen am Flughafen gemietet, weil ich im Urlaub nicht auf Taxis angewiesen sein wollte. Er fährt sich gut.“

„Das glaube ich dir aufs Wort. Ich besitze zwar einen Führerschein, aber leider habe ich seit dem College höchstens zwei Mal hinter dem Steuer gesessen.“

Was David nicht sonderlich überraschte. In Manhattan fuhr jedermann Taxi, selbst er. „Und an den Wochenenden? Kommst du da nicht mal raus aus der City?“

Sie nahm ihre Sonnenbrille ab und warf ihm einen ironischen Blick zu. „Wochenenden? Gibt es die bei Pearson and Stern?“

„Verstehe.“ Er setzte seine Sonnenbrille auf und startete den Motor. „Hast du deshalb gekündigt?“

„Die Arbeit war mir nie zu viel.“

Er hätte sich auf die Zunge beißen können. Nicht so sehr, weil sie auf einmal defensiv klang; das Thema erinnerte ihn an seinen ungeliebten Auftrag. Gott sei Dank beanspruchte der dichte Verkehr seine gesamte Auf...

Autor

Debbi Rawlins
Endlich daheim – so fühlt Debbi Rawlins sich, seit sie mit ihrem Mann in Las Vegas, Nevada, lebt. Nach viel zu vielen Umzügen beabsichtigt sie nicht, noch ein einziges Mal den Wohnort zu wechseln. Debbie Rawlins stammt ursprünglich aus Hawaii, heiratete in Maui und lebte danach u.a. in Cincinnati, Chicago,...
Mehr erfahren
Alison Roberts
<p>Alison wurde in Dunedin, Neuseeland, geboren. Doch die Schule besuchte sie in London, weil ihr Vater, ein Arzt, aus beruflichen Gründen nach England ging. Später zogen sie nach Washington. Nach längerer Zeit im Ausland kehrte die Familie zurück nach Dunedin, wo Alison dann zur Grundschullehrerin ausgebildet wurde. Sie fand eine...
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Nina Harrington
Nina Harrington wuchs in der Grafschaft Northumberland in England auf. Im Alter von 11 Jahren hatte sie zuerst den Wunsch Bibliothekarin zu werden – einfach um so viel und so oft sie wollte lesen zu können. Später wollte sie dann Autorin werden, doch bevor sie ihren Traumberuf ausüben konnte, machte...
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