Lords of Disgrace - Junggesellen fürs Leben!

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LORD WEYBOURNS WEIHNACHTSWUNDER
Wie warm und unendlich geborgen sie sich in seinen starken Armen fühlt! Tess schmiegt sich an ihren muskulösen Retter und genießt seine Nähe: Alexander Tempest, Viscount Weybourn, trägt sie durch die vereisten Straßen zum Arzt. Ein Zusammenstoß mit ihm hat ihr einen verstauchten Knöchel beschert. Doch zum Weihnachtfest beschert der adelige Herzensbrecher der schönen Bürgerlichen noch etwas anderes: eine Anstellung in seinem eleganten Stadthaus als Haushälterin - und verboten sinnliche Küsse unterm Mistelzweig! Die berauschend süß, aber im höchsten Maße unstandesgemäß sind …

LIEBESWUNDER MIT DEM EARL
Hat er ihre Schreie gehört? Ein breitschultriger Fremder in eleganter Kleidung betritt die Hütte, in der Kate Schutz gefunden hat. Fast ohnmächtig ist sie vor Schmerzen, denn während draußen die Christnacht anbricht, kommt ihr Kind zur Welt! Doch Grant Rivers, Earl of Allundale, wird zu ihrem rettenden Engel. Er ist nicht nur Mediziner, sondern macht der ledigen Mutter auch einen Antrag, kaum dass sie ihr Weihnachtsbaby glücklich in den Armen hält. Kate sagt Ja - und schwört sich, dass Grant niemals erfahren wird, warum und vor wem sie in die Dezembernacht geflohen ist …

STURM DER LIEBE IN DEVON
Wie ein lebendig gewordener, gut gebauter Gott des Meeres entsteigt ein mysteriöser Gentleman den tosenden Fluten an der Küste von Devon. Völlig nackt und am Ende seiner Kräfte! Bevor er in Tamsyns Armen zusammenbricht, küsst er sie, wie es noch nie ein Mann zuvor getan hat! Und in dieser Sekunde ist es um Tamsyn geschehen. Während sie den Fremden gesundpflegt, kann sie nur an seine Lippen auf den ihren denken. Ist er der Mann, mit dem die junge Witwe das Glück neu erleben darf? Dann erkennt sie, dass der geheimnisvolle Lord Cris de Feaux etwas verbirgt …

LADY CAROLINES SKANDALÖSES ANGEBOT
Ihre Jungfräulichkeit gegen ein Anwesen, das er letzte Nacht beim Glücksspiel von ihrem Vater gewonnen hat? Gabriel Stone, Earl of Edenbridge, verbirgt seine Überraschung nur mit Mühe. Wie viel tapfere Entschlossenheit muss es die schöne Lady Caroline gekostet haben, ihm diesen skandalösen Vorschlag zu unterbreiten? Der Ehrenmann in ihm sollte sie unschuldig in den Schoß ihrer Familie zurückschicken. Aber der Verführer in ihm will etwas anderes: ihren sinnlichen Mund heiß küssen und sie dazu bringen, sich ihm aus freien Stücken hinzugeben …


  • Erscheinungstag 08.04.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750799
  • Seitenanzahl 1024
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Louise Allen

Lords of Disgrace - Junggesellen fürs Leben!

1. KAPITEL

Alex Tempest stieß üblicherweise keine Nonnen zu Boden und auch sonst rempelte er niemanden an. Alexander James Vernon Tempest, Viscount Weybourn, war unter normalen Umständen der Inbegriff der Körperbeherrschung und Eleganz.

Doch da er im trüben Nachmittagslicht des späten Novembers auf dem vereisten Kopfsteinpflaster von Gent um die Ecken schlidderte und an nichts anderes als an ein warmes Kaminfeuer, gute Freunde und einen Punsch mit Rum dachte, handelte es sich nicht um normale Umstände.

Die Klostermauer, gegen die er fiel, war hoch und unnachgiebig. Alex prallte von ihr ab und stieß gegen eine Nonne, die ganz in Schwarz und Grau gekleidet war, als wollte sie sich an die tristen Farben der Steine anpassen. Allerdings gab sie anders als die Mauer nach, schrie erschrocken auf und stürzte zu Boden, wobei ihr schwarzer Handkoffer bis vor die Schwelle der geschlossenen Klosterpforte flog.

Alex gelang es, wieder festen Tritt zu finden. „Ma sœur, je suis désolé. Permettez-moi“, entschuldigte er sich bei der Nonne, während er ihr eine Hand reichte, um ihr aufzuhelfen. Sie richtete den Oberkörper auf, wobei ihr der dunkelgraue Hut mit schwarzem Band über die Nase rutschte. Sie schob ihn zurück, um hochzublicken.

„Ich bin nicht …“

„Nicht verletzt? Sehr gut.“ Er konnte unter dem Schatten ihrer Hutkrempe nicht viel von ihrem ovalen Gesicht erkennen, doch der Stimme nach war sie jung. „Sie sind Engländerin?“ Er streckte ihr auch die zweite Hand entgegen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Konvent mit englischen Nonnen.

„Ja, aber …“

„Sie sollten von dem kalten Boden aufstehen, Schwester.“ Ihr schwarzes Cape schien angesichts des Wetters viel zu dünn zu sein. Darunter sah er den Saum eines dunkelgrauen Kleides und die Spitzen von einfachen schwarzen Stiefeln. „Ich helfe Ihnen hoch.“ Wahrscheinlich war es ungehörig, wenn ein Mann die Hand einer Nonne nahm, aber angesichts der großen Sünde, dass er sie zu Boden gestoßen hatte, würde dieses kleine Vergehen wohl kaum mehr eine Rolle spielen.

Seufzend ergriff sie seine Hände und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen. „Au!“ Sie humpelte, schwankte bedrohlich, und im nächsten Moment hielt er sie in seinen Armen. Schließlich durfte man nicht zulassen, dass eine Dame hinfiel, selbst wenn sie eine Nonne war. „Oh!“

Alex stellte sich breitbeinig hin, um auf den glatten Pflastersteinen einen sicheren Stand zu finden, und betrachtete die Frau, die er in den Armen hielt. Allerdings konnte er aufgrund der ausladenden Hutkrempe und des wogenden Capes nicht viel von ihr erkennen. Wenn er auch keine Einzelheiten ausmachen konnte, spürte er doch, dass sich eine junge, schlanke und kurvenreiche Frau an ihn klammerte. Er senkte den Kopf und atmete ihren Duft ein. Sie roch nach einfacher Seife und nasser Wolle, und ihre weibliche Wärme verstörte ihn. Reiß dich bloß zusammen, Mann! Nonnen gehören ganz sicher zu den Frauen, die auf der verbotenen Liste stehen. Auch wenn es schade ist …

„Soll ich an der Klosterpforte läuten?“, fragte er und wies mit dem Kopf in Richtung der verrosteten Eisenkette, mit der die Tür verschlossen war. Von außen wirkte die Klosteranlage wie ein Zufluchtsort für verzweifelte Kriminelle, obgleich das vergitterte Guckloch, das in die massiven Holzbretter eingelassen war, den Ort nicht einladender erscheinen ließ als eine Gefängniszelle. „Offenkundig haben Sie sich den Knöchel verstaucht.“

Vermutlich war es ebenfalls eine Sünde, einen Teil ihrer Anatomie zu erwähnen. Ihr Körper wurde in seinen Armen ganz steif, aber sie machte keine Anstalten, ihn mit einem Rosenkranz zu erwürgen. „Nein. Das ist nicht nötig. Danke.“

„Ich denke schon, dass ich besser jemanden aus dem Kloster rufen sollte.“

„Ich muss zur Anlegestelle. Schwester Claire erwartet mich dort.“ Sie klang spröde und höflich, als ob Barmherzigkeit oder gute Manieren sie davon abhielten, ihrer Verärgerung über ihn Ausdruck zu verleihen. Ihre Sprache wirkte kultiviert und die Stimme angespannt oder vielleicht auch traurig. Er hatte Übung darin, Zwischentöne herauszuhören und zu ergründen, was für eine Person sich hinter den Worten verbarg. Was versuchst du zu verstecken, kleine Nonne?

Doch in erster Linie konnte er ihren Unmut heraushören. Das war nur allzu verständlich. Er hatte sie zu Boden gestoßen. Das Mindeste, was er tun konnte, war, sie an den Ort zu bringen, zu dem sie wollte. „Aber zuvor sollten Sie einen Arzt aufsuchen. Was ist, wenn Sie sich etwas gebrochen haben?“ Er bückte sich, hob die zierliche Frau hoch und bekam mit den Fingern den Griff ihres Handkoffers zu fassen, bevor er sich aufrichtete. „Zu welchem Kanal müssen Sie, Schwester?“

„Zum Kanalbecken. Ich steche morgen früh von Ostende aus in See. Schwester Claire betreibt eine kleine Herberge für Reisende unten an der Anlegestelle, und ich möchte den Abend mit ihr verbringen. Aber ich bin keine …“

„Dann gehen wir hier entlang.“ Alex trug sie vorsichtig die Straße hinunter. „Auf dem Weg bringe ich Sie bei einem Arzt vorbei.“

„Ich möchte niemandem zur Last fallen, also …“

„Sie können nicht laufen, und alle Droschken sind wie vom Erdboden verschluckt, wie es immer der Fall ist, wenn man sie am dringendsten braucht. Außerdem bedeutet es für mich überhaupt keinen Umweg.“

Und genau genommen würden sie auch keinen Arzt aufsuchen, obschon Grant seine medizinische Ausbildung in Edinburgh nahezu beendet hatte, als er gezwungen worden war, sie aufzugeben.

„Ja, aber ich …“

„Sie haben kein Geld?“ Nonnen verfügen wahrscheinlich über keinen Penny, dachte er. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Es ist meine Schuld, dass Sie sich verletzt haben, und der Arzt ist ein Freund. Wie heißen Sie? Ich bin Viscount Weybourn.“ Normalerweise pflegte er den Titel nicht zu erwähnen, doch er nahm an, dass es sie beruhigen würde.

Ihr Körper bewegte sich in seinen Armen, als sie tief Luft holend aufseufzte. Gewiss empfand sie es als beschämend, von einem Mann getragen zu werden. Da sie jedoch nicht in das Kloster zurückkehren wollte, blieb kaum eine andere Möglichkeit.

Weiterhin bemühte er sich tapfer, nicht auf die Wirkung zu achten, die ihre weiblichen Rundungen auf ihn hatten. Er war es nicht gewohnt, einer Frau so nahe zu sein, außer wenn sie beide die Absicht verfolgten, mit den Annäherungen sehr viel weiterzugehen.

„Tess … Teresa.“

„Schwester Teresa.“ Natürlich, Nonnen werden schließlich nach Heiligen benannt, oder etwa nicht? „Fein. Da sind wir.“ Die Lichter des Les Quatre Éléments schimmerten am anderen Ende des kleinen Platzes. Zielstrebig wie ein Seefahrer, der einen sicheren Hafen gesichtet hat, steuerte er darauf zu.

„Ein Gasthof? Lord Wey…“

„Es handelt sich um ein respektables Haus“, beteuerte Alex, während er sich mit der rechten Schulter voran durch die Eingangstür in das helle und warme Getümmel einer gut besuchten Gaststube drängte. „Gaston!“

„Lord Weybourn.“ Der Gastwirt eilte aus dem Hinterzimmer. „Wie schön, Sie wiederzusehen, Mylord. Die anderen Gentlemen befinden sich bereits in Ihrem Privatsalon.“

„Ich danke Ihnen, Gaston.“ Alex trug die Nonne auf eine Tür an der rechten Seite zu. „Möchten Sie eine Tasse Tee oder Kaffee? Was kann ich Ihnen servieren lassen, Schwester Teresa?“

„Gentlemen? Privatsalon? Lord Weybourn, lassen Sie mich augenblicklich …“

„Tee!“, rief er laut. Tee hatte doch angeblich eine beruhigende Wirkung, oder irrte er sich? Auf jeden Fall brauchte diese kleine Nonne etwas zur Beruhigung. Sie begann, sich in seinen Armen zu winden wie eine aufgeschreckte Henne, und wenn sie nicht bald damit aufhörte, war sie verflucht noch einmal nicht die Einzige, die etwas zur Beruhigung brauchte, wenngleich er dabei nicht unbedingt an Tee dachte … eher an eine Nacht mit einer Frau. Wann war das letzte Mal? Vor einem Monat? Auf jeden Fall ist es entschieden zu lange her.

Alex stieß mit einem Fuß hinter sich die Tür zu und lehnte sich kurz dagegen, um wieder zur Besinnung zu kommen. Nonnen verzichteten allem Anschein nach auf ein Korsett. Diese Erkenntnis war äußerst aufwühlend. Das weiche Gewicht einer kleinen Brust auf seinem rechten Unterarm brachte ihn ganz durcheinander. Er verhielt sich wie ein Junge, der noch grün hinter den Ohren war, und das behagte ihm ganz und gar nicht.

„Mein lieber Alex, wozu der Lärm?“ Crispin de Feaux ließ das Dokument sinken, das er eben gelesen hatte, stand auf und betrachtete die Szene an der Tür mit kühler Reserviertheit. Wenn er, von einer mit Schwertern Fuchtelnden verfolgt, ins Zimmer gestürmt wäre, hätte Cris vielleicht ein wenig emotionaler reagiert, aber selbst da hatte Alex seine Zweifel. „Hast du dich jetzt dazu hinreißen lassen, Nonnen zu entführen?“

„Nonnen? Bestimmt nicht!“ Hinten am Kamin schwang Grant Rivers die Stiefel vom Kamingitter und stand ebenfalls auf, wobei er sich mit einer Hand durch das Haar fuhr. Wie immer machte er einen nachdenklichen und besorgten Eindruck.

„Um wie viel wettest du?“ Gabriel Stone ließ klackernd eine Handvoll Würfel auf die Tischplatte vor ihm rollen und erhob sich träge. „Auch wenn es nicht gerade zu Alex’ Stil passt …“

Alex sah ihn scharf an, damit er aufhörte, die junge Frau derartig unverschämt anzugaffen. Gabe grinste und ließ sich wieder in den Sessel fallen.

„Ich bin auf dem Eis ausgerutscht und habe Schwester Teresa zu Boden gerissen. Dabei hat sie sich am Knöchel verletzt.“ Alex trug seine Last zu dem Sofa vor dem Kamin. „Ich hielt es für besser, wenn du dir die Verletzung ansiehst, Grant.“

„Schwester Teresa, hier sind Sie in guten Händen, und der Tee ist bereits auf dem Weg.“ Der Kerl, der sie fast zur Weißglut trieb, setzte sie auf das Sofa vor den attraktiven braunhaarigen Mann. „Das ist Grantham Rivers, ein sehr fähiger Mann, der sich wie kein Zweiter mit verstauchten Fußgelenken auskennt.“ Sie bemerkte, dass Lord Weybourn dem Arzt zugrinste und auch dass Mr. Rivers zur Entgegnung die Augen verdrehte, bevor sein Freund auf dem Absatz kehrtmachte und sich zu den anderen Männern begab.

„Ich bin keine …“

„Nonne. Ich weiß.“ Der Arzt nahm Platz. Er war höflich, machte aber keinen glücklichen Eindruck. „Anders als Alex weiß ich, dass Nonnen Brusttücher tragen und nicht allein auf der Straße herumspazieren.“

„Erlaubt niemand von Ihnen einer Frau, einen Satz zu Ende zu sprechen?“, fragte Tess erbost. Es war ihr seit dem Gespräch mit der Mutter Oberin wahrhaftig elend genug ergangen. Erneut war sie gezwungen, sich ohne Klage in ein tristes Schicksal zu fügen, wie es bereits vor vielen Jahren der Fall gewesen war, als ihre Mutter und ihr Vater gestorben waren. Doch plötzlich zu Boden gerissen zu werden, hatte bei ihr den mühsam errungenen Gleichmut auch im übertragenen Sinne aus dem Gleichgewicht gebracht.

Möglicherweise lag es aber auch an der Wirkung, die Männer stets auf Frauen hatten. Allerdings beschränkte sich Tess’ diesbezüglicher Erfahrungshorizont seit dem dreizehnten Lebensjahr auf gelegentliche Gespräche mit einem Priester und einem betagten Gärtner. Erst hier und jetzt bekam das Wort Zölibat für sie einen Sinn. Plötzlich war sie mit vier dieser fremdartigen Wesen allein, auch wenn sie auf den ersten Blick vernünftig und vertrauenswürdig wirkten.

„Ja, normalerweise haben wir bessere Manieren. Alex ist zweifellos durcheinander, weil er Sie umgestoßen hat, aber ich habe keine Entschuldigung. Wie darf ich Sie anreden, Madam?“

„Miss Ellery. Tess Ellery, Doktor.“

„Ich besitze keinen Doktortitel. Ich bin einfach nur Mr. Grantham Rivers. Allerdings habe ich mein Medizinstudium in Edinburgh beinahe abgeschlossen, sodass man mir ohne Bedenken die Beurteilung kleinerer Verletzungen zutrauen darf, Miss Ellery.“ Er musterte sie, als ob sie eine böse zugerichtete Krähe wäre. „Darf ich Ihnen Cape und Hut abnehmen? Es wird nötig sein, dass sie den Schuh und den Strumpf ausziehen, damit ich Ihren Knöchel untersuchen kann. Soll ich ein Dienstmädchen rufen, das Ihnen behilflich ist?“

Er machte einen ernsten und anständigen Eindruck. Angesichts der Tatsache, dass sie in den letzten Jahren kaum mit männlicher Gesellschaft in Kontakt geraten war, wunderte sich Tess, dass sich ihre Verlegenheit in Grenzen hielt. Vielleicht hatte der Umstand, zu Boden geschleudert und dann von einem großen, starken und überaus gebieterisch agierenden Aristokraten fortgetragen worden zu sein, alle Verlegenheit außer Kraft gesetzt. Wahrscheinlich lag es aber eher daran, dass ihre Welt bereits zuvor aus den Fugen geraten war.

„Miss Ellery?“ Mr. Rivers wartete geduldig. Sie bemühte sich, die Fassung zurückzugewinnen, und lächelte höflich. Doch das Lächeln gefror ihr auf den Lippen, als sie ihm in die Augen sah. Darin lag der traurigste Blick, den sie je gesehen hatte. Es war, als ob sie direkt in den Höllenschlund eines unermesslichen persönlichen Schmerzes blicken würde. Nicht den Blick abzuwenden, erschien ihr ebenso aufdringlich, wie wenn man Trauergäste bei einer Beerdigung anstarrte.

„Nein, ich brauche keine Hilfe, vielen Dank“, murmelte Tess, während sie den Hut abnahm und den Haken ihres Capes löste. Mr. Rivers nahm die beiden Kleidungsstücke entgegen und legte sie auf das andere Sofaende, wo er den Rücken zu ihr gewandt stehen blieb, als wollte er sie vor dem restlichen Zimmer abschirmen. Rasch löste sie das Strumpfband und rollte den Stoff nach unten. „Ich schaffe es nicht, den Stiefel auszuziehen.“

„Der Knöchel ist sicher angeschwollen.“ Mr. Rivers kam wieder zu ihr und ging vor ihr in die Hocke. „Lassen Sie mich sehen, ob ich ihn entfernen kann, ohne das Leder zu zerschneiden.“

„Ja, bitte.“ Sie besaß nur dieses eine Paar Stiefel.

„Haben Sie noch andere Verletzungen?“ Er beugte sich über den Fuß und öffnete den Stiefel behutsam. „Sind Sie mit dem Kopf aufgeschlagen oder haben sich beim Aufprall an den Händen verletzt?“

„Nein, es geht nur um den Knöchel. Ich knickte um, als ich fiel.“ Obgleich er vorsichtig vorging, tat das Ausziehen des Stiefels weh. Tess blickte über seinen Kopf hinweg zu den anderen drei Männern, um sich vom Schmerz abzulenken. In diesem Privatsalon war ein seltsames Quartett versammelt. Mr. Rivers mit seinen tragischen Augen, den sanften Händen und dem attraktiven Profil. Lord Weybourn, groß und elegant, der sie mit solcher Leichtigkeit hochgehoben und hierher getragen hatte. Der blonde Eiszapfen, der wie eine Kreuzung aus einem Erzengel und einem Galgenrichter aussah, und der faulenzende Würfelspieler, der eher in eine Kaschemme mit Strauchdieben als in das noble Gasthaus und in die Gesellschaft von Gentlemen zu passen schien.

Ja, es handelte sich in der Tat um einen ungewöhnlichen Kreis von Freunden. Dennoch wirkte ihr Umgang untereinander vollkommen unbeschwert. Wie Brüder, dachte sie. Familie.

Lord Weybourn blickte sie an und hob eine Braue.

„Ah, das lässt Sie zusammenzucken. Es tut mir leid.“ Mr. Rivers tastete ihren Knöchel ab. „Sagen Sie mir, wo es wehtut. Hier? Wenn ich den Fuß in diese Richtung drehe? Können Sie die Zehen bewegen? Sehr gut. Und den Fuß strecken? Nein, hören Sie auf, wenn es schmerzhaft ist.“

Ganz offenkundig wusste der Mann, was er tat. Er würde sie fachkundig verbinden, und Lord Weybourn sollte dann für sie eine Droschke auftreiben. Immerhin war der Zusammenstoß allein seine Schuld gewesen, und sie würde den Stiefel mit verbundenem Fuß unmöglich wieder anziehen können. Sie war erleichtert, dass keiner der vier Männer sich auf eine Weise verhielt, die ihr unangenehm gewesen wäre. Niemand sah sie anzüglich an, zwinkerte oder machte eine zweideutige Bemerkung. Tess entspannte sich weiter und kam zu dem Schluss, hier in Sicherheit zu sein.

Seine Lordschaft lehnte gegen die Tischkante und lachte über eine Äußerung des Würfelspielers. Jetzt, da er Hut und Paletot abgelegt hatte, sah sie, dass nicht nur seine Kleidung, sondern auch seine Haltung große Eleganz verriet. Zehn Jahre in einem Frauenkloster hatten sie nicht gerade zu einer Expertin in Sachen Männermode gemacht. Doch selbst sie konnte erkennen, dass seine Kleidung meisterlich angefertigt war und nur die teuersten Stoffe Verwendung gefunden hatten. Sein Modist verstand es fraglos, auffallend breite Schultern und lange muskulöse Beine zu betonen, und wer auch immer das Hemd geschneidert hatte, verstand etwas von seinem Fach.

Anders als seine Freunde ist der Viscount nicht im herkömmlichen Sinne gut aussehend, dachte Tess, während Mr. Rivers ihren verletzten Fuß auf ein Tischchen legte, aufstand und etwas von kalten Kompressen und Verbänden murmelte. Mr. Rivers wirkte wie der Inbegriff eines englischen Gentleman: edle Gesichtszüge, eine gerade Nase, kräftiges dunkelbraunes Haar und dazu diese wunderschönen, melancholischen grünen Augen. Der blonde Eiszapfen hätte mühelos für den Erzengel eines Kirchenfensters Modell stehen können. Den leicht zu beeindruckenden Mädchen der Gemeinde hätte er in einer Mischung aus Verlangen und Schrecken Herzklopfen bereitet, wenn sie sich vorstellten, dass er sie mit seinen blauen Augen anblickte, oder sich sein wie in Marmor gehauener Mund öffnete, um ihnen einen tödlichen Tadel zu erteilen. Selbst der Würfelspieler mit seinem schwarzen Haarschopf und den frechen dunklen Augen besaß die Attraktivität eines schönen und unberechenbaren Raubtiers.

Lord Weybourn war anders. Selbstverständlich wirkte er sehr männlich … Oh ja. Sie erschauerte beim Gedanken daran, wie mühelos er sie getragen hatte. Und er hatte einen verwegenen Zug an sich, der nicht von dieser Welt zu sein schien. Sein Haar war dunkelblond, die Nase schmal, seine Wangenknochen traten deutlich hervor, und das markante Kinn ließ ihn entschlossen wirken. Unter den dunklen Brauen funkelten seine haselnussfarbenen Augen.

Es liegt an seinem Mund, dachte sie, als sie seine Gesichtszüge betrachtete. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, das darauf schließen ließ, dass er an etwas Angenehmes dachte, ihm aber zugleich etwas Geheimnisvolles und vielleicht auch Gefährliches verlieh. Ja, er sieht wie ein besonders gut gekleidetes mythisches Wesen aus, beinahe zwei Meter groß und mit entsprechender Schulterbreite – der Herrscher über dunkle Wälder, in denen Wölfe lauern …

Er blickte zu ihr, was sie aus ihren düsteren Träumereien riss, die wahrscheinlich stark von den Schauergeschichten beeinflusst waren, die Schwester Moira im Gemeinschaftsraum vortrug, wenn die Mutter Oberin gerade nicht zuhörte. Allerdings riefen die fantastischen Kreaturen von Schwester Moira in ihr nie solche Gefühle hervor …

„Tut Rivers Ihnen weh?“ Lord Weybourn trat zu ihr und nahm ihr gegenüber Platz. Sie betrachtete seine entspannt hin- und herwippenden Schuhe, was ihr weniger riskant vorkam, als ihm in die Augen zu sehen. „Ich habe Ihnen nicht den Knöchel gebrochen, oder doch?“

„Nein, glücklicherweise nicht.“ Mr. Rivers kehrte zurück und ging erneut vor ihr in die Hocke. „Das wird sich kalt anfühlen“, warnte er sie, bevor er ein tropfendes Tuch um den geschwollenen Knöchel legte. „Wenn Sie Ihren Tee getrunken und sich ein wenig ausgeruht haben, werde ich Sie verbinden.“

„Das scheint ein sehr komfortabler Gasthof zu sein“, sagte sie, um das Gespräch auf ein unverfängliches Thema zu lenken. Die Konversation mit Männern war für sie ein völlig fremdes Terrain. „Suchen Sie diesen Ort regelmäßig auf?“

„Schon seit langer Zeit“, entgegnete Lord Weybourn. „Sogar während Krieg herrschte, tauchte der ein oder andere von uns in unterschiedlicher Gestalt hier auf. Das Les Quatre Éléments war uns stets sehr nützlich.“ Er grinste. „Wir haben uns selbst ‚Die Vier Elemente‘ genannt, da es so gut zu unseren Namen passt.“

„Elemente? Ich kenne die vier Elemente – Luft, Wasser, Feuer und Erde. Welches davon sind Sie?“

„Alex Tempest – die vom Sturm getriebene Luft.“

„Dann repräsentieren Sie also das Wasser, Mr. Rivers? Das passt auch gut zu der beruhigenden Wirkung Ihrer medizinischen Arbeit.“

In Anerkennung des Kompliments deutete er eine Verbeugung an. „Cris ist ein de Feaux, was sich aus dem Französischen feu für Feuer ableiten lässt.“

„Ja, natürlich.“ Nur zu gut konnte sie sich den blonden Eiszapfen als Racheengel mit brennendem Schwert vorstellen. „Und die Erde?“

„Wenn jemand erdig und diesseitig ist, dann Gabriel Stone.“ Lord Weybourn wies mit dem Kopf auf den Würfelspieler, der gerade mit der linken gegen die rechte Hand zu spielen schien, wobei sich seine dunklen Brauen konzentriert zusammenzogen.

Mr. Rivers tauschte den kalten Umschlag um ihren Knöchel aus. Tess lächelte dankbar und vergaß sowohl ihre Schmerzen als auch das Gespräch über die Elemente, als ein Dienstmädchen ein Tablett neben ihr abstellte. Sie hatte Tee erwartet, aber nicht Gebäck, von dem Honig tropfte, kleine Kuchen und feine, mit Glasur überzogene Kekse. Lord Weybourn stahl sich einen Keks und kehrte dann zu den anderen an den Tisch zurück.

„Ich sollte …“

„Essen Sie in aller Ruhe“, sagte Grant Rivers. „Entschuldigen Sie, jetzt habe ich Sie schon wieder mitten im Satz unterbrochen.“

„Ich fürchte, bei diesen Köstlichkeiten werde ich gar nicht aufhören können.“ Als wärmende Mittagsmahlzeit hatte es im Kloster eine Brotsuppe gegeben. Aber wie immer hatte es vor allem nach Sparsamkeit geschmeckt und sich in ihrem angespannten Magen wie ein klumpiger Brei angefühlt. Der Teller neben ihr und die Umgebung verlangten nicht nach der demütigen und dankbaren Haltung, die von den Nonnen eingefordert wurde. Mr. Rivers nickte ihr nur zu und gesellte sich zu den Freunden, um sie ungestört ihrem Tee – mit Zucker! – und den anderen Versuchungen zu überlassen. Sollte sie zumindest ein Stück von jeder Sorte Gebäck probieren? Den Teller unangetastet zu lassen, war gewiss unhöflich.

Eine halbe Stunde später leckte sich Tess die Finger ab, und ihr wurde auf herrliche Weise übel, wenn sie den Teller betrachtete, auf dem nichts als ein paar Krümel und eine Spur Sahne verblieben waren.

Mr. Rivers kam zu ihr und entfernte das Tablett ohne mit der Wimper zu zucken, als ob er ihre Gier gar nicht bemerkt hätte. „Ich werde den Knöchel jetzt verbinden. Legen Sie sich die Decke über die Knie, und anschließend können Sie ein kleines Nickerchen machen. Sie waren ganz verfroren, als sie hier ankamen und natürlich auch ein wenig erschrocken, nehme ich an. Eine Ruhepause wird Ihnen bestimmt nicht schaden.“

Er war fast ein Arzt und wusste, wovon er sprach. Eigentlich war es nicht nötig, sich sonderlich zu beeilen. Hauptsache, sie traf bei Schwester Claire ein, bevor die Türen der Herberge verriegelt wurden. Und außerdem war es hier … ausgesprochen interessant. Sie fühlte sich behaglich warm, und ihr Magen war mit köstlichen Süßigkeiten gefüllt. Sich dieser ungehörigen Pflichtvergessenheit hinzugeben, besaß etwas Verlockendes. Sie wusste, dass sie eigentlich nicht hier sein sollte, doch diese Männer wirkten alle so … harmlos? Das war das falsche Wort. Vielleicht ließ sie sich von ihrer eigenen Unschuld täuschen.

Tess blinzelte und unterdrückte ein Gähnen. In der letzten Nacht hatte sie gefroren, und vor lauter Hoffnungen und Sorgen hatte sie kaum ein Auge zugetan. Mr. Rivers hatte recht – ein kleines Nickerchen würde ihr guttun, bevor sie in Schwester Claires Herberge das letzte Stew an ärmliche Reisende austeilen würde. Anschließend standen ihr schlaflose Stunden in einer eisigen Kammer auf einem harten Bett neben der unablässig schnarchenden Schwester Claire bevor, die in einen noch frostigeren Morgen münden würden. Schwester Moira behauptete immer, dass es eine Bußübung sei, dieses Schnarchen zu ertragen. Das wird den Genuss der süßen Köstlichkeiten wieder aufwiegen, dachte Tess, während sie sich gegen eine Sofaecke lehnte und sich vom Geräusch der Männerstimmen und ihrem Gelächter berieseln ließ. Nur ein kleines Nickerchen.

„Hm …“ Zitronenduft, gestärktes Leinen … Erneut wurde sie von Lord Weybourn hochgehoben. Es schien ihr ganz natürlich zu sein, den Kopf an seine Schulter zu betten und seinen faszinierenden maskulinen Duft einzuatmen.

„Sie bekommen noch einen steifen Nacken in dieser Sofaecke, kleine Nonne. Außerdem sind wir recht laut. Gleich nebenan gibt es ein ruhiges Zimmer, in dem Sie ein wenig schlafen können.“

Das klang verlockend. „Schwester Claire …“

„Ich weiß. Sie wollen zu Schwester Claire unten am Anlegesteg, damit sie am Morgen das Boot nach Ostende nehmen können.“

Was soll der ganze Unsinn, den die Schwestern uns über Männer erzählt haben? Da musste jeder denken, dass sie alle räuberische Bestien seien … Diese vier sind auf jeden Fall freundlich und vertrauenswürdig. Und die Matratze, auf die er sie legte, war wundervoll weich und die Decken warm und leicht. „Vielen Dank“, murmelte Tess, bevor sie wieder in den Schlaf sank.

„Keine Ursache, kleine Nonne.“ Dann schloss sich die Tür, und alles war still.

2. KAPITEL

Tess erwachte, fühlte sich wunderbar behaglich und verspürte ein dringendes Bedürfnis. Zu viel Tee! „Aua!“ Der Knöchel schmerzte, als sie hinter den Paravent in der Ecke humpelte, sich erleichterte und wieder zum Bett hinkte. Es war noch hell, also konnte sie nicht allzu lange geschlafen haben. In der Tat war es sogar sehr hell. Sie schob den Vorhang zur Seite und blickte in den Innenhof des Gasthofs. Ein Dienstmädchen eilte mit einem Wäschekorb vorbei, während ein Stallknecht Wassereimer schleppte. Unverkennbar war bereits ein neuer Tag angebrochen.

Sie humpelte zur Tür und riss sie auf. Die vier Männer waren nach wie vor am Tisch versammelt. Der Würfelspieler und der blonde Eiszapfen spielten in einer Haltung Karten, als ob sie ohne Probleme noch zwölf Stunden hätten weiterspielen können. Mr. Rivers goss sich mit einer Hand Bier in einen Krug, in der anderen hielt er eine zusammengerollte Scheibe Brot, aus der Schinken hervorquoll. Und Lord Weybourn, von dem sie nun wusste, dass er der unzuverlässigste und schrecklichste aller Männer war – ungeachtet der Tatsache, dass sich ihr Pulsschlag bei seinem Anblick beschleunigte – war offenkundig eingenickt. Sein Stuhl war auf die hinteren Stuhlbeine gegen einen Stützpfeiler gekippt, während seine Füße mitsamt der Stiefel auf einem Haufen Spielkarten lagen. Dass es ihm gelang zu schlafen ohne zu schnarchen und ohne dass seine Kleidung zerknitterte, gab ihrem Zorn nur noch weitere Nahrung.

„Lord Weybourn!“

„Hm?“ Er wachte mit einem Ruck auf, und Tess zuckte zusammen, als sie sah, wie er mit dem Kopf gegen den Stützpfeiler schlug. „Autsch!“

Die anderen Männer erhoben sich. „Guten Morgen, Miss Ellery. Haben Sie gut geschlafen?“, erkundigte sich Mr. Rivers.

„Ich habe es ihm gesagt! Ich erzählte ihm, dass ich zum Anlegesteg am Kanal muss. Er wusste, dass mein Schiff früh am Morgen ablegt.“

„Es ist doch früh am Morgen.“ Lord Weybourn stand mit einer eleganten Bewegung auf und sah wahrhaftig nicht aus, als ob er in seiner Kleidung geschlafen hätte. Welchen äußeren Eindruck sie hingegen machte, daran wollte sie lieber gar nicht denken.

Tess schob sich eine verirrte Locke aus der Stirn. „Wie spät ist es?“

Der blonde Eiszapfen warf einen Blick auf die Kaminuhr. „Es ist erst kurz nach neun.“

„Das ist alles andere als früh! Der halbe Vormittag ist bereits verstrichen.“ Tess hinkte zum nächsten Stuhl und setzte sich. „Ich habe mein Schiff verpasst.“

„Sie können sich einfach eine Bordkarte für das nächste Schiff kaufen. Mehrfach am Tag segeln welche nach Ostende“, sagte der Viscount und stahl sich Mr. Rivers’ unbewachten Bierkrug. Er trank einen kräftigen Schluck, der seinen Adamsapfel zum Hüpfen brachte.

„Ich habe kein Geld“, erwiderte Tess wütend. Wenn sie einen Fluch gekannt hätte, wäre jetzt eine ausgezeichnete Gelegenheit gewesen, ihn zu benutzen. Aber sie kannte keine Flüche. Seltsam genug, dass sie das zuvor nie als Mangel empfunden hatte. „Ich habe eine Bordkarte für das Schiff, das um fünf Uhr in der Früh abgelegt hat. Es kommt gerade noch rechtzeitig in Ostende an, um das Schiff nach England zu erreichen – das Schiff, für das ich ebenfalls eine Bordkarte besitze. Jetzt habe ich nur noch Bordkarten, die mir nichts mehr nützen. Ich habe kein Geld und kann auch nicht ins Kloster zurückgehen und um neues Reisegeld bitten. Überdies bin ich nicht in der Lage, etwas zurückzuzahlen“, fügte sie düster hinzu.

„Ach so, kein Geld“, sagte Lord Weybourn mit diesem rätselhaften Lächeln, das sie zur Weißglut brachte. „Jetzt verstehe ich Ihre Erregung.“

„Ich bin nicht erregt.“ Erregung wurde im Kloster nicht gestattet. „Ich bin verärgert. Sie stießen mich zu Boden, Mylord. Dann brachten Sie mich hierher und ließen mich mit dem Versprechen einschlafen, mich rechtzeitig zu wecken. Daher ist es nun an Ihnen, das Problem zu lösen.“ Sie faltete die Hände im Schoß, setzte sich kerzengerade hin und strafte ihn mit einem Blick, den sie der Mutter Oberin abgeschaut hatte, wenn diese das Geständnis von Sünden größerer und kleinerer Art erzwingen wollte. Worte erübrigten sich dabei für gewöhnlich.

Sie hätte wissen müssen, dass er eine Antwort parat hatte. „Ganz einfach. Grant und ich fahren heute ohnehin mit der Kutsche nach Ostende. Sie kommen einfach mit uns, und ich werde Ihnen eine neue Bordkarte für die Schiffspassage kaufen, sobald wir dort sind.“

Genau das meinte Schwester Luke vermutlich, wenn sie vom Pfad des Vergnügens sprach, der direkt in die Verdammnis führte. Kein Wunder, dass die Nonnen behaupteten, es sei nur ein kurzer Weg in die Hölle. Es reichte, von einem starken und attraktiven Mann getragen zu werden, köstlichen Kuchen zu essen und auf einem herrlich weichen Bett einzuschlafen, obwohl sich im Nebenzimmer vier Männer aufhielten. Das alles roch nach schrecklicher Gottlosigkeit.

Demnach kam es wahrscheinlich auch schon nicht mehr darauf an, mit zwei Gentlemen den Tag in einer Kutsche zu verbringen. Sie war sich nicht sicher, ob sie Lord Weybourns schiefem Lächeln trauen konnte, aber Mr. Rivers schien ihr in hohem Maße vertrauenswürdig zu sein.

„Ich danke Ihnen, Mylord. Das ist eine zufriedenstellende Lösung.“ Gewiss würde es eine bequeme Reisekutsche sein, denn keiner der Männer, nicht einmal der Würfelspieler mit dem zerzausten Haar, machte den Eindruck, als ob er in Bezug auf persönlichen Komfort Abstriche machen würde. Sie lächelte, und als keiner der Männer aufsprang, erhob sie sich und begann trotz des schmerzenden Knöchels hin- und herzueilen, um die Reisevorbereitungen voranzutreiben. „Wann fahren wir los, und wie lange wird die Fahrt dauern?“

„Siebeneinhalb oder acht Stunden.“ Endlich stand Lord Weybourn auf.

„Aber dann kommen wir nach Einbruch der Dunkelheit in Ostende an. Ich denke nicht, dass es dort Schiffe gibt, die noch so spät Anker lichten. Oder etwa doch?“

„Wir holpern nicht den ganzen Tag über matschige Straßen, um direkt an Bord zu gehen, egal ob gerade ein Schiff lossegelt oder nicht.“ Der Viscount schritt zu der Tür, öffnete sie und rief: „Gaston!“

„Der Schiffsbetrieb läuft auch nachts, und ich werde das Schiff nehmen, das um neun Uhr abends nach Leith segelt“, bemerkte Mr. Rivers. „Allerdings habe ich es auch besonders eilig, wohingegen Sie besser die Gelegenheit nutzen sollten, in Ostende eine Ruhepause einzulegen, Miss Ellery.“

„Ich bin ebenfalls in Eile“, erklärte sie mit Nachdruck.

Lord Weybourn drehte sich zu ihr um. „Können Nonnen in Eile sein?“

„Natürlich. Außerdem wissen Sie nur zu gut, dass ich keine Nonne bin, Mylord.“ Diesen unmöglichen Mann schienen ihre vorwurfsvollen Worte nicht zu stören, was entweder an seiner Arroganz, seiner sträflichen Unbeschwertheit oder daran lag, dass er ein besonders dickes Fell hatte. Wahrscheinlich passten alle drei Attribute zu seinem Charakter. „Ich werde im Londoner Ordenshaus erwartet.“

„Wie lange die Überquerung des Ärmelkanals dauert, lässt sich wegen des Wetters nie genau absehen. Daher wird niemand darauf achten, ob Sie einen Tag früher oder später eintreffen. Außer jemand liegt im Sterben.“ Er hob fragend eine Braue. Tess schüttelte den Kopf. „Na also. Dann sollten Sie lieber halbwegs erholt und hoffentlich ohne Humpeln in London eintreffen. Beim ersten Auftritt sollte man immer den besten Eindruck machen. Übrigens wird gleich das Frühstück gebracht.“

Geschmeidig und selbstbewusst schlenderte er durch das Zimmer. Tess’ Hände schmerzten, so gern hätte sie die Finger zu Fäusten geballt.

„Ärgern Sie sich bloß nicht über ihn, Miss Ellery“, riet ihr der blonde Eiszapfen. Offenkundig ließen sich ihre Empfindungen an ihrem Gesicht ablesen. Er senkte anmutig den Kopf. „Crispin de Feaux, Marquess of Avenmore, zu Ihren Diensten. Rivers ist Ihnen ja bereits vorgestellt worden.“ Er wies auf den dritten Mann. „Der hier ist, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, nicht der örtliche Anführer einer Bande von Straßenräubern, sondern Gabriel Stone, der künftige Earl of Edenbridge.“

Lord Edenbridge kam auf die Füße, verbeugte sich in übertriebener Form vor ihr und ließ sich dann wieder auf seinen Stuhl fallen. „Hocherfreut, Miss Ellery.“ Seine Karten schienen ihn jedoch mehr zu erfreuen.

„Ich werde Ihnen heißes Wasser bringen lassen.“ Mr. Rivers hielt ihr die Schlafzimmertür auf. „Bestimmt fühlen Sie sich besser, wenn Sie sich frisch gemacht und gefrühstückt haben, Miss Ellery.“

Tess dankte ihm und knickste, so gut sie konnte in Richtung der anderen drei Männer. Dann humpelte sie in das Nebenzimmer und setzte sich auf das Bett, um auf das Wasser zu warten. Es war nicht ihre Schuld. Sie wusste, wer die Schuld trug. Doch da sie eine Lady war – oder doch zumindest so erzogen worden war, sich wie eine adlige Dame zu benehmen, würde sie sich auf die Zunge beißen und sich um eine würdevolle Haltung bemühen. Auch wenn sie sich wahrhaftig ihren Teil dabei dachte, um diese Zeit zu frühstücken! Bestimmt würde es beinahe Mittag sein, wenn sie sich vom Frühstückstisch erhoben.

Wie sie es erwartet hatte, erwies sich die Reisekutsche als ausgesprochen bequem. „Diese Kutsche und meine eigenen Pferde stehen hier auf dem Kontinent immer für mich bereit“, erläuterte Lord Weybourn, als Tess sich für die weichen Sitze und Polster begeisterte. „Gemietete Kutschen und Pferde werden in der Regel selten meinen Ansprüchen gerecht.“

„Dann halten Sie sich also oft auf dem Kontinent auf, Mylord?“ Tess lehnte sich genüsslich gegen ein Eckpolster, sodass Mr. Rivers ihr die Beine auf den Sitz legen und sie mit einer Wolldecke zudecken konnte. Darunter kam noch ein heißer Ziegelstein, der in Flanell gewickelt war. Was für ein Luxus! Sie würde die Annehmlichkeiten, die diese Reise ihr bot, genießen, zumal für die Zukunft kaum wieder etwas Ähnliches in Aussicht stand.

„Ja, wir vier sind alle regelmäßig auf dem Kontinent.“ Lord Weybourn schlug auf der gegenüberliegenden Seite die Beine übereinander, während Mr. Rivers sich in die andere Ecke setzte. Sie stellte fest, dass sie ihr den besten Platz in der Kutsche in Fahrtrichtung überlassen hatten. „Cris – Lord Avenmore – ist Diplomat und verbringt die Hälfte seiner Zeit beim Wiener Kongress oder geht hier anderen geheimnisvollen Geschäften nach. Gabe liebt es sowohl zu reisen als auch jeden Spieler zu schröpfen, der töricht genug ist, sich auf eine Partie mit ihm einzulassen. Und mein Freund Grant hier kauft Pferde ein.“

„Ich betreibe ein Gestüt“, erläuterte Mr. Rivers. „Ich führe ab und an ein paar der ungewöhnlicheren kontinentalen Züchtungen ein.“

„Und Sie, Mylord?“

„Alex.“ Wieder schenkte er ihr dieses geheimnisvolle Lächeln. „Ich werde immer das Gefühl haben, dass Sie mir nicht verziehen haben, wenn Sie mich weiter mit Mylord ansprechen.“

Es erschien ihr nicht richtig, aber vielleicht war dieser Grad an Ungezwungenheit unter Aristokraten etwas ganz Alltägliches. „Nun gut, obgleich Alex Tempest eher nach einem Freibeuter als nach einem Viscount klingt.“

Mr. Rivers prustete vor Lachen. „Genau das ist er. Er streift über den Kontinent, um Beute zu machen und vergrabene Schätze zu finden.“

„Kunst und Antiquitäten, mein lieber Grant“, verbesserte Alex ihn schmunzelnd. „Und ganz gewiss keine vergrabenen Dinge. Oder kannst du dir vorstellen, dass ich eine Schaufel in Händen halte?“

Keinesfalls war Tess entgangen, was für ein muskulöser Körper sich unter dem maßgeschneiderten Gehrock verbarg. Vielleicht war das nicht unbedingt das Ergebnis schnöder körperlicher Betätigung, doch auf irgendeine Weise hielt sich der Viscount erstaunlich in Form. Nein, Sie rühren vielleicht keine Schaufel an, aber ich sehe bildlich vor mir, wie Sie mit einem Degen kämpfen, dachte Tess.

„Ich bin ein Connaisseur, ein Spürhund, der die Trüffeln in einem vom Krieg verwüsteten Kontinent aufspürt.“

„Ein Poseur, meinst du wohl“, bemerkte Mr. Rivers trocken.

„Natürlich, das auch“, bestätigte Alex mit entwaffnender Offenheit. „Immerhin habe ich einen Ruf zu verteidigen.“

„Bitte verzeihen Sie, wenn ich das frage“, mischte sich Tess ein. „Handelt es sich denn dabei nicht um ein Geschäft? Ich dachte immer, es gehöre sich nicht für einen Adligen, Handel zu treiben.“ Und vielleicht war es auch ungebührlich, das überhaupt zu erwähnen.

„Es bedeutet das gesellschaftliche Todesurteil“, bestätigte Grant Rivers. „Daher halten diejenigen, dich sich nicht auf das Familienvermögen stützen können, die höfliche Fassade aufrecht. Ich unterhalte ein Gestüt zu meinem eigenen Vergnügen und verkaufe an Bekannte, die mich inständig bitten, ihnen ein Rennpferd mit Gewinnerblut zu überlassen. Alex wiederum wird von jenen angesprochen, die über mehr Geld als Geschmack verfügen. Diese Gentlemen zeigen sich sehr dankbar, wenn er ihnen wundervolle und seltene Objekte aus seiner Sammlung zur Verfügung stellt, mit denen sie den Status ihrer neuen großen Häuser aufwerten können. Diese Gnadenakte zahlt er selbstverständlich nicht aus eigener Tasche. Gabe ist ein geborener Spieler, wie man ihn selten trifft. Es ist sonderbar, dass er fast nie verliert, wie es bei den anderen der Fall ist. Doch du kannst das niemandem vorwerfen, solange du ihn nicht beim Betrug erwischst.“

„Und spielt er falsch?“

„Er scheint ein höllisches Glück zu haben und genug Willensstärke, um im richtigen Moment aufzuhören. Außerdem würde er jeden umbringen, der behauptet, er habe die Karten gezinkt“, antwortete Alex. „Und bevor Sie danach fragen, Cris ist der Einzige von uns, der bereits den väterlichen Titel geerbt hat. Wir anderen sind nur Erben, die darauf warten. Er ist ein echter Marquess.“

„Und Sie, kleine Nonne? Wenn wir schon so offen unter Freunden plaudern?“

Er wusste nur zu gut, dass sie keine Nonne war, doch wenn sie seinen Spott nicht beachtete, würde er vielleicht damit aufhören. „Im Gegensatz zu Ihnen und Ihren Freunden besitze ich keinen Heller, außer den wenigen Münzen, die mir die Mutter Oberin für die Reiseverpflegung und die Postkutsche in England gegeben hat.“ Tess gelang es, den beiden Männern ein strahlendes Lächeln zu schenken, obgleich ihre Mittellosigkeit wahrhaftig keinen Anlass zur Freude bot. Vor dem „kleinen Gespräch“ mit der Mutter Oberin vor einer Woche hatte das keine große Rolle gespielt.

Teresa lebte seit zehn Jahren bei den Schwestern im Kloster, auch nachdem ihre Tante, Schwester Boniface, vor fünf Jahren verstorben war. Tess hatte sich hartnäckig geweigert, vom Anglikanismus ihrer Kindheit zum Katholizismus zu konvertieren. Konsequenterweise hatte sie im Kloster keine Zukunft als Nonne. Ebenso wenig konnte sie auf ihre verwandtschaftlichen Verbindungen in England zurückgreifen. Die Mutter Oberin hatte ihr schließlich erklärt, warum.

„Teresa, du bist jetzt dreiundzwanzig Jahre alt. Was willst du also aus deinem Leben machen?“, hatte sie gefragt, während Tess noch die plötzlichen Enthüllungen über ihre skandalöse Herkunft in den Ohren nachhallten.

Ich muss ausgesehen haben, als ob ich vollkommen einfältig wäre, dachte Tess und starrte aus dem Kutschenfenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Die Nonnen hatten ihr anvertraut, die Kleinen zu unterrichten – Waisenkinder wie sie selbst. Doch offenkundig war das nur zur Überbrückung gewesen, bis sie erwachsen war. Oder, wie sie jetzt mutmaßte, bis die Mutter Oberin endgültig zu dem Schluss gelangt war, dass bei ihr keinerlei Aussicht auf eine Konvertierung bestand.

Das alles war so weit in Ordnung. Selbst wenn nichts von dem Geld übrig war, das ihr Vater Tess mitgegeben hatte. Der Traum von einer Familie in England, von Menschen, die vielleicht verziehen, was Mama und Papa getan hatten, hatte sich in Luft aufgelöst. Sie würde es ohne Murren hinnehmen und versuchen, nicht daran zu denken. Sie kannte harte Arbeit und war, weiß Gott, keinen Luxus gewohnt.

Schwere Wolken zogen über den Himmel, und draußen wurde es so dunkel, dass Tess’ Gesicht sich im Glas spiegelte. Was für eine ärmliche Gans sie dort sah! Der Hut trug sein Übriges dazu bei. Sie setzte sich gerader hin und bemühte sich, an etwas Schönes zu denken.

Was war bloß mit der kleinen Nonne los? Alex beobachtete sie mit halb geschlossenen Augen. Grant war neben ihm eingenickt, und auch er fühlte sich nach dem langen nächtlichen Kartenspiel, dem Brandy und den Gesprächen schläfrig. Doch etwas an der Frau auf der anderen Seite hielt ihn wach. Wenn sie keine Nonne war, was tat sie dann in einem Kloster, gekleidet wie ein nasser Sonntagmorgen im November? Ihre Sprache ließ auf eine gute Erziehung schließen. Wenn sie ihn nicht gerade zurechtwies, benahm sie sich wie eine echte Lady.

Das gab ihm in der Tat Rätsel auf. Normalerweise hatte Alex eine Vorliebe für Geheimnisvolles, erst recht, wenn es um Damen ging. Doch diese junge Person machte einen unglücklichen Eindruck, was vergnüglichen Spekulationen einen Dämpfer versetzte. Es steckte mehr dahinter als die Verärgerung über einen verstauchten Knöchel und verpasste Schiffe, da war er sich ganz sicher. Tapfer bemühte sie sich zu verbergen, dass sie etwas bedrückte. Seine kleine Nonne war gewiss kein Feigling.

Sie hob eine dünne dunkle Augenbraue.

„Haben Sie es bequem genug, Miss Ellery?“

„Außerordentlich bequem, Mylord … Alex.“ Ja, dieses Lächeln wirkte in der Tat tapfer, aber geheuchelt.

„Bereitet Ihnen der Knöchel Schmerzen?“

„Nein, Mr. Rivers hat wahre Wunder vollbracht. Es tut nur noch weh, wenn ich den Fuß belaste. Bestimmt handelt es sich lediglich um eine leichte Verstauchung.“ Erneut verfiel sie in Schweigen. Zweifelsohne wurden die Frauen in einem Kloster dazu angehalten, nicht zu viel zu reden.

„Und was haben Sie in London vor? Geben Sie dort Ihr Debüt?“

Sie hatte den Hut abgenommen, und er erinnerte sich daran, wie ihr weiches dunkelbraunes Haar sich an seiner Wange angefühlt hatte, als er sie hochgehoben und zu dem Bett getragen hatte. Es war streng geflochten und hochgesteckt wie am Vorabend. Er fragte sich, wie es aussah, wenn sie es offen trug. Bei dem Gedanken bewegte er sich unruhig auf dem Sitz. Ihre langen Wimpern, die sich auf dem blassen Gesicht mit den leicht errötenden Wangen abzeichneten, und das Paar dunkelblauer Augen lenkten ihn schon genug von allem anderen ab.

Seine … Nein, Miss Ellery lachte. Es war das erste Mal, dass er sie lachen hörte, wenn es auch nur von kurzer Dauer war. Sie bedeckte den Mund mit einer Hand, was bedauerlich war, da es sich um einen hübschen Mund handelte, der sogar noch bezaubernder war, wenn sie lachte oder lächelte.

„Mein Debüt? Nein, das wohl kaum. Ich werde im Londoner Ordenshaus bleiben, bis die dortige Mutter Oberin für mich eine Stelle als Gouvernante oder Gesellschafterin findet.“

„In einer römisch-katholischen Familie?“ Das konnte eine Weile dauern, denn davon gab es nicht viele, zumindest nicht in den Kreisen, die wohlerzogene junge Frauen wie sie einstellten. Reiche Kaufleute kommen vielleicht infrage, dachte er.

„Nein. Nicht nur, dass ich keine Nonne bin, ich bin überdies anglikanisch.“

„Was zum Teu… Was um Himmels willen haben Sie denn dann in einem Kloster zu suchen?“

„Das ist eine lange Geschichte.“ Artig faltete sie die Hände im Schoß, als ob damit alles gesagt wäre.

„Es ist eine lange Reise“, erwiderte er. „Unterhalten Sie mich doch bitte mit Ihrer Geschichte, Miss Ellery.“

„Nun gut.“ Sie schien darüber nicht begeistert zu sein. „Ich werde mich so kurz wie möglich fassen. Die ältere Schwester meiner Mutter, Beatrice, konvertierte gegen den erbitterten Widerstand ihrer Eltern zum Katholizismus und floh nach Belgien, um in einen Orden einzutreten. Sobald meine Mutter mündig war, begann sie, ihr zu schreiben. Trotz des Krieges reisten meine Eltern gern, auch weil es weniger teuer war, auf dem Kontinent zu leben.“ Sie wandte den Blick von ihm ab. Mache ich mir selbst etwas vor? „Kurz nach meinem dreizehnten Geburtstag hielten wir uns in Belgien auf, und meine Mutter beschloss, meine Tante zu besuchen.“

„Und wann war das?“, fragte Alex. Wie alt ist sie? Zwanzig?

„Vor zehn Jahren. Ich bin dreiundzwanzig“, antwortete Tess mit einer Offenherzigkeit, die keine andere unverheiratete Dame aus seinem Bekanntenkreis an den Tag gelegt hätte.

„1809.“ Alex dachte an das Jahr zurück. Er war siebzehn gewesen und versucht, zur Armee zu gehen. Schließlich hatte er sich dagegen entschieden. Wahrscheinlich hätte sein Vater einen Schlaganfall erlitten, wenn sein ältester Sohn und Erbe erstmals in seinem Leben etwas getan hätte, was seine Eltern guthießen. „Wenn ich mich recht erinnere, fand der Krieg damals überwiegend im Osten statt.“

„Ja, ich glaube auch.“ Tess biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.

Alex schlug erneut ein Bein über das andere. Verflucht, das Mädchen – die Frau – machte einen traurigen Eindruck, daran änderten auch ihr strahlender Teint und die Schönheit ihrer Augen nichts. Was war bloß mit ihr los?

„Wie dem auch sei, die Reise schien meinen Eltern damals ungefährlich zu sein. Wir kamen in Gent an, und meine Mutter begab sich zum Kloster. Ihr wurde erlaubt, meine Tante zu sehen, die den Namen Schwester Boniface angenommen hatte. Doch es gab eine Cholera-Epidemie in der Stadt, und sowohl Mama als auch Papa … Sie sind beide gestorben.“

Sie wurde ganz still, und Alex überlegte, ob ihre Erzählung damit endete. Doch schließlich machte sie eine kleine Bewegung, als ob sie sich Regentropfen von den Schultern schütteln würde, und hatte sich wieder gesammelt. „Als meinem Vater bewusst wurde, wie ernst die Lage war, hat er mich mit allem Geld, das er noch hatte, zu meiner Tante geschickt. Seitdem habe ich im Kloster gelebt. Doch da ich keine Nonne werden möchte und das Geld für meinen Unterhalt aufgebraucht ist, muss ich mein Glück in der Welt machen.“

„Aber gewiss haben Sie Verwandte in England … Großeltern, Tanten, Onkel oder Cousins und Cousinen?“

„Es gibt niemanden, zu dem ich gehen könnte.“

Es musste doch Angehörige geben, oder? Erneut wich Tess seinem Blick aus und starrte aus dem Fenster. Hinter der Geschichte steckte noch mehr – etwas, was sie ihm nicht erzählt hatte, und sie war zu ehrlich, um zu lügen. Alex nahm davon Abstand, die Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge lagen. Im Grunde ging es ihn nichts an. „Und das Klosterleben war nichts für Sie?“

„Ich habe immer gewusst, dass ich nicht für ein Dasein als Nonne geschaffen bin.“ Sie lächelte gequält.

Es gibt bestimmt irgendwo Angehörige, dachte Alex. Vielleicht hatte die fortgelaufene Tante das Zerwürfnis ausgelöst, unter dessen Folgen Tess nun zu leiden hatte. Er wusste, was es hieß, zurückgewiesen zu werden, doch er war ein Mann, der über Geld, Unabhängigkeit und inzwischen auch über Einfluss verfügte. Sie hingegen war eine mittellose junge Frau, die abgeschieden von der Welt gelebt hatte.

„Jetzt, da ich Sie ein wenig besser kenne, kann ich bestätigen, dass Sie nicht in ein Kloster passen“, sagte er schmunzelnd, um sie mit etwas Spott aus ihrer Nachdenklichkeit zu reißen. „Zum einen haben Sie zu viel Temperament.“

Tess errötete, ohne sich jedoch gegen die Anschuldigung zu wehren. „Ich bemühe mich darum, es zu zügeln. Allerdings müssen Sie zugeben, dass Sie mich über Gebühr provoziert haben, auch wenn mein Verhalten unentschuldbar ist.“

„Fahren Sie nur fort, tadeln Sie mich. Mein Fell ist dick genug, um das zu verkraften.“ Alex lächelte sie an und stellte fest, dass sie zu Boden sah. Sie ist die Gegenwart von Männern überhaupt nicht gewohnt. Eine echte Unschuld, die keine Vorstellung davon hat, wie man flirtet. Benimm dich, Tempest! Aber sie war ein bezauberndes Novum.

„Ich werde den Dezember und vielleicht auch den Januar im Londoner Konvent verbringen. Vermutlich ist es eine Jahreszeit, in der kaum jemand eine Gouvernante oder Gesellschafterin einstellt.“ Sie fingerte am Rand der Reisedecke herum. „Das ist sehr schade, denn es wäre wunderbar, Weihnachten bei einer Familie zu verbringen. Die Weihnachtstage sind immer eine glückliche Zeit, ganz gleich, wo man sich befindet.“

„Wirklich?“ Alex dachte an das letzte Weihnachtsfest, das er mit seiner Familie verbracht hatte. Er war noch nicht ganz achtzehn Jahre alt gewesen. Seine Eltern hatten nicht miteinander geredet, die verrückte Großtante hatte das Frühstückszimmer in Brand gesteckt, seine jüngeren Geschwister hatten sich unablässig gestritten, und beim abendlichen Weihnachtsdinner war es schließlich zu dem unverzeihlichen Wutausbruch seines Vaters gekommen.

Es gibt eine Reihe von Dingen, über die ein reifer Mann lachen kann, wenn es um die Wutausbrüche eines jähzornigen Elternteils geht. Aber einem empfindsamen Siebzehnjährigen war es unmöglich gewesen, den Unterstellungen mit Humor zu begegnen, geschweige denn, sie zu verzeihen. Schließlich hatten sie eine Tragödie zur Folge gehabt.

An jenem Abend war Alex vom Tisch aufgestanden, hatte seine Sachen gepackt und war schleunigst nach Oxford zurückgekehrt. Dort blieb er, nicht ohne zuvor jeden Penny des Geldes von der Bank abzuheben, bevor sein Vater die finanziellen Zuwendungen unterband. Als er die furchtbare Nachricht von Peters Tod erhielt, hatte er bereits ein unabhängiges Leben begonnen.

„Sie werden doch sicherlich Weihnachten zu Hause verbringen, nicht wahr?“, fragte Tess.

Alex wurde bewusst, dass er eine ganze Weile geschwiegen haben musste. „Natürlich bin ich zu Hause. Allerdings reise ich nicht zu meiner Familie, und schon gar nicht an Weihnachten.“

„Das tut mir leid für Sie“, sagte sie und blickte ihn mitfühlend an.

Neben ihm gab Grant einen unschönen Schnarchlaut von sich und wachte auf. „Weihnachten? Erzähl mir bloß nicht, dass du zurück nach Tempeston gehst, Alex!“

„Du liebe Güte, nein!“ Alex schauderte. „Ich bleibe meinen Gewohnheiten treu. Ich ziehe mich gemütlich mit gutem Wein, hervorragendem Essen, Brandy und einem Haufen Bücher an das prasselnde Kaminfeuer zurück, bis der Rest der Menschheit seinen jährlichen Anfall von Plumpudding entfachter Gefühlsduselei ausgestanden hat und wieder normal wird. Und wie sieht es mit deinen Plänen aus?“

„Ich habe Whittaker versprochen, ihn zu besuchen. Du erinnerst dich bestimmt, als sein Bruder in Salzburg starb, war er zugegen. Er wohnt am Rand von Edinburgh, und ich habe ihm gesagt, dass ich zu ihm komme, sobald ich wieder im Land bin.“ Grant streckte so gut es ging die langen Beine aus. „Allerdings kann ich nur kurz bei ihm bleiben, weil ich von dort aus direkt zu meinem Großvater nach Northumberland reise.“

„Wie geht es ihm?“ Grant war der Erbe des alten Mannes. Nach dessen Tod würde er zum Viscount werden, da sein Vater bereits vor Jahren gestorben war.

„Er ist gebrechlich“, entgegnete Grant knapp. Er mag seinen Großvater, dachte Alex mit einer Spur von Neid, die ihm alles andere als lieb war.

„Bestimmt wird es ihm guttun, wenn Sie ihm an Weihnachten Gesellschaft leisten“, sagte Tess und lächelte.

„Er freut sich immer, Grant zu sehen. Die Jahreszeit spielt dabei keine Rolle.“ Alex gelang es gerade noch, die Schärfe aus seinem Tonfall zu nehmen. „Was soll das ganze Getue um Weihnachten überhaupt?“

Es war eher als rhetorische Frage gemeint, aber Tess starrte ihn an, als ob er behauptet hätte, dass es von unten nach oben regnete. „Sicherlich wollen Sie sich einen Scherz erlauben, oder?“ Als er den Kopf schüttelte, verkündete sie: „Dann werde ich es Ihnen in Erinnerung rufen, obgleich ich wahrhaftig nicht glauben kann, dass Sie ein solcher Zyniker sind.“ Sie hielt kurz inne, als ob sie ihre Gedanken sammeln müsste, und öffnete dann wieder den Mund. „Also zunächst ist da …“

Bitte nicht! dachte Alex entsetzt. Wenn es etwas gab, was noch schlimmer als Weihnachten war, dann jemanden, der sich dafür begeisterte.

„Immergrün …“, begann das verwünschte Mädchen seine Aufzählung. „Es abzuschneiden und …“

Alex zog ein finsteres Gesicht.

3. KAPITEL

Und es ist furchtbar kalt, aber das gehört zum Spaß dazu. Jeder ist dick eingemummelt, und der Schnee knirscht unter den Füßen. Alle atmen den wundervollen Tannenduft ein.“ Tess schloss die Augen, um sich besser an die Einzelheiten zu erinnern. Es waren Erinnerungen an die wundervollen englischen Weihnachtsfeste vor vielen Jahren, bevor Papa gesagt hatte, dass sie das Land verlassen müssten. Sie hatten nicht viel Geld gehabt, und jedes Jahr hatten sie sich in einem anderen Dorf aufgehalten.

Sie hatte nie gefragt, weshalb sie unablässig unterwegs waren. Sie hatte es einfach für selbstverständlich gehalten, wie es Kinder eben tun. Aus heutiger Sicht als Erwachsene war ihr klar, dass es wahrscheinlich darum gegangen war, nirgends erkannt zu werden, um einem Skandal zu entkommen. Und deshalb hatten sie auch das Land verlassen – auf dem Kontinent war das Leben nicht so teuer, und dort mussten die Eltern sich auch weniger vor dem Gerede der Leute fürchten.

Dennoch waren wir glücklich, dachte sie. Schneeballschlachten an Weihnachten und bedingungslose Liebe das ganze Jahr über kamen ihr in den Sinn. Als sie die Augen wieder öffnete, verzog Alex Tempest noch immer das Gesicht, als ob er eine Wespe verschluckt hätte. Was für ein Griesgram!

Sie sprach weiter, ohne auf ihn zu achten, da die kostbaren Erinnerungen unaufhaltsam in ihr hochstiegen. „Und wie schön es ist, Pläne zu schmieden, mit welchen Geschenken, du deinen Freunden Freude machen kannst und dann genau das Richtige zu finden oder es selbst herzustellen. Das ist beinahe noch besser, als selbst beschenkt zu werden. Es ist so vergnüglich, die Geschenke zu verstecken, sie einzupacken und dann in das Gesicht des Menschen zu blicken, der versucht zu erraten, was das Paket beinhaltet.“

Mr. Rivers lächelte, obgleich sein Blick nichts von seiner Traurigkeit verloren hatte. Tess erwiderte das Lächeln. „Und dann die ganzen Vorbereitungen für das Weihnachtsessen. Und das Läuten der Glocken am Weihnachtsabend. Jedes Mal kann man vor Aufregung nicht schlafen, und doch nickt man irgendwann ein.“

Lord Weybourn, Alex, machte jetzt den Eindruck, als ob er Schmerzen hätte. Was war bloß mit diesem Mann los?

„Haben Sie Ihre Weihnachtseinkäufe bereits erledigt, Miss Ellery?“, erkundigte sich Mr. Rivers. „Sie scheinen mir eine Frau zu sein, die lange im Voraus plant.“

„Ich habe meine Geschenke im Kloster gelassen. Die Nonnen werden sie an Weihnachten verteilen. Das meiste habe ich selbst genäht, aber ich besitze beim Nähen und Sticken kein großes Talent.“ Es hieß ja immer, dass allein der Gedanke zählte. Doch sie hatte Schwester Monicas Gesicht vor Augen, wenn sie den klumpigen Saum des Wischtuchs für ihre Schreibutensilien sah. Nie im Leben wäre Tess in die Gruppe aufgenommen worden, die feine Leinentücher für den Verkauf bestickte oder Messgewänder für die Genter Kirchen anfertigte.

„Aber im nächsten Jahr werde ich mein eigenes Geld verdient haben und kann Geschenke verschicken, die ich gekauft habe.“ Immerhin war das ein weiterer positiver Aspekt an der beängstigenden Zukunft, die vor ihr lag. Sie hatte gründlich nachgedacht und war auf beinahe zehn dieser Aspekte gekommen. Bei einer Familie leben. Einer Familie. Das Wort fühlte sich warm und rund an, wie der Geschmack von Plumpudding oder der Duft von Rosen an einem Nachmittag im August.

Tess dachte an die Liste, die sie gemacht hatte. Ein eigenes Zimmer. Farbige Kleidung. Abwechslungsreiches Essen. Wärme. Ein Lohn. Kontrolle über das eigene Schicksal …

Sie nahm an, dass Letzteres sich als unrealistisch erweisen würde. Wie viel Freiheit würde ihr schon das magere Salär einer Gouvernante oder Gesellschafterin gewähren? Sie warf Alex einen flüchtigen Blick zu, doch seine Augen waren geschlossen, und er gab sich alle Mühe, Schlaf vorzutäuschen. Offenbar lag ihm wirklich nichts an Weihnachten. Wie seltsam.

Mr. Rivers unterhielt sich weiterhin höflich mit ihr, und sie antwortete auf seine Fragen, während die Abenddämmerung einsetzte. Ihr Magen begann gerade zu knurren, als die Kutsche im Hof eines Gasthauses halt machte, der Reitknecht die Tür öffnete und sie den Salzgeruch der kalten Abendbrise einatmete.

„Ostende. Wach auf, Alex! Du hast wie ein Murmeltier geschlafen, du fauler Teufel.“ Grant Rivers stupste dem Freund gegen die Rippen. „Kann ich deinen Kutscher bitten, mich bis an die Anlegestelle zu bringen? Du bleibst sicher über Nacht hier. Ich schicke ihn umgehend zurück.“

Alex öffnete ein Auge. „Ja, natürlich kannst du die Kutsche haben. Higgs, laden Sie mein Gepäck und das von Miss Ellery ab und bringen Sie Mr. Rivers zu seinem Schiff.“ Er rappelte sich auf und hielt Tess eine Hand hin. „Wenn Sie bis zum Ende der Sitzbank rutschen, kann ich Sie aus der Kutsche heben.“

Noch bevor sie widersprechen konnte, lag sie in seinen Armen. „Vor allem muss ich mich auf die Suche nach einem Schiff machen, Mylord.“

„Sie sollten mich wirklich endlich Alex nennen. Wir nehmen morgen gemeinsam ein Schiff. Jetzt brauchen Sie eine anständige Mahlzeit, ein heißes Bad und ein bequemes Zimmer für die Nacht. Und jetzt hören Sie auf, sich zu winden, sonst lasse ich Sie noch fallen.“

„Aber …“

„Auf Wiedersehen, Miss Ellery.“ Grant Rivers stieg wieder in die Kutsche, und Bedienstete trugen zwei schöne Lederkoffer sowie Tess’ abgewetzten schwarzen Handkoffer zu den geöffneten Türen des Gasthofs. „Gute Reise! Ich hoffe, dass Sie in London rasch eine geeignete Anstellung finden.“ Er schloss von innen die Kutschentür und lehnte sich aus dem Fenster. „Pass auf dich auf, Alex.“

„Du auch auf dich.“ Alex befreite eine Hand und drückte die Finger des Freundes. „Umarme Charlie von mir.“

„Wer ist Charlie?“, fragte Tess, während er sie in das Gasthaus trug. Es war ausgesprochen angenehm, von einem Mann getragen zu werden. Einen Moment ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf und stellte sich vor, dass er ihr Geliebter wäre, der sie auf Händen trug …

„Sein Sohn.“ Alex’ knappe Antwort holte sie zurück in die Gegenwart.

„Mr. Rivers ist verheiratet?“ In ihren Augen hatte er gar nicht verheiratet ausgesehen – wie auch immer das aussah.

„Er ist Witwer.“ Alex’ Tonfall ermunterte sie nicht dazu, weitere Fragen zu stellen.

Vielleicht lag deshalb diese Traurigkeit in Grant Rivers’ Blick. Bevor sie sich darüber weitere Gedanken machen konnte, kam der Besitzer des Gasthofs ihnen entgegen, um sie zu begrüßen.

„LeGrice, ich brauche ein weiteres Zimmer.“ Alex war hier offensichtlich bekannt und wurde erwartet. „Ein komfortab...

Autor

Louise Allen

Louise Allen lebt mit ihrem Mann  – für sie das perfekte Vorbild für einen romantischen Helden – in einem Cottage im englischen Norfolk. Sie hat Geografie und Archäologie studiert, was ihr beim Schreiben ihrer historischen Liebesromane durchaus nützlich ist.

Foto: ©  Johnson Photography

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