Die Chase-Schwestern - 3-teilige historische Miniserie

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Miniserie von Amanda McCabe

BETÖREND WIE DER DUFT DER LILIEN

Der Liliendieb hat erneut zugeschlagen: Wieder hat er eine antike griechische Kostbarkeit aus einem Stadtpalais entwendet und nichts als eine weiße Lilie hinterlassen! Londons feine Gesellschaft steht vor einem Rätsel – nur die hübsche Calliope hat einen Verdacht: Cameron de Vere, Earl of Westwood. Doch warum sollte der wohlhabende attraktive Lord Antiquitäten stehlen? Beherzt beschließt Calliope, der Sache auf den Grund zu gehen. Ihre Suche beginnt auf einer Hausparty – wo Cameron sie mit einem Kuss betört und sie auf den Olymp der Zärtlichkeit entführt …

FASZINIEREND WIE DER KUSS DES HERZOGS

Was geschieht in der antiken Villa, wenn bei Sizilien die Sonne im Meer versinkt? Clios Neugierde ist größer, als es sich für eine junge englische Lady in der Sommerfrische geziemt! Abenteuerlustig beschließt sie, den Gerüchten auf die Spur zu kommen, nach denen Räuber einen Schatz in dem alten Gemäuer suchen – und läuft dabei Edward Radcliffe, Herzog von Averton, in die Arme: dem Mann, der sie schon so lange fasziniert – und dem sie nie zu vertrauen wagte. Und selbst als er sie heiß küsst, fragt sie sich, ob sie ihr Herz einem Helden oder einem Schurken schenkt …

DAS GEHEIMNIS DES ITALIENISCHEN GRAFEN

An Verehrern mangelt es der betörenden Thalia Chase nicht. Doch die junge Schönheit hat ihr Herz schon vergeben. Seit sie dem geheimnisvollen Marco, Conte di Fabrizzi, auf Sizilien begegnet ist, verzehrt sie sich nach seinen zärtlichen Küssen. Wieso nur muss sie ausgerechnet jetzt nach England zu ihrer Schwester zurückkehren? Verzweifelt fragt sie sich: Wird sie Marco jemals wiedersehen? Umso schockierter ist sie, als er überraschend in Bath auftaucht – in Begleitung einer berüchtigten Kunstdiebin! Was verbirgt er vor ihr? Ist sie etwa auf einen Schwindler hereingefallen?


  • Erscheinungstag 17.04.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751537100
  • Seitenanzahl 624
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

Betörend wie der Duft der Lilien erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
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Redaktionsleitung: Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)
Produktion: Jennifer Galka
Grafik: Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

© 2008 by Amanda McCabe
Originaltitel: „To Catch a Rogue“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe MYLADY
Band 511 - 2009 by CORA Verlag GmbH, Hamburg
Übersetzung: Andrea Kamphuis

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH , Pößneck

ISBN 9783733767211

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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PROLOG
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Keine Nacht war je dunkler gewesen.

Immer wieder verschleierten dahinjagende Wolken die schmale Mondsichel, die hoch über den schiefen Dächern Londons stand. Sterne waren nicht zu sehen, nicht einmal als vereinzeltes, kraftloses Funkeln, und der berüchtigte Londoner Nebel kroch schwer, geradezu ölig, die träge Themse herauf. Bald würde er die Stadt einhüllen und das magere Licht des Mondes vollends auslöschen.

Aber die Gäste der Marchioness of Tenbray – also so ziemlich die gesamte bessere Gesellschaft der Stadt – scherten sich nicht um die Düsternis außerhalb des hell erleuchteten Stadthauses. Sie waren vollauf damit beschäftigt, sich im Gewimmel des marmor- und goldverzierten Ballsaals zu ergehen, zu lachen, zu tanzen, hinter Seidenfächern die neusten Gerüchte auszutauschen, Champagner zu trinken oder im Schutz der Topfpalmen auf der Terrasse zu turteln. Die Musik vermischte sich mit dem Geplauder und dem Klirren der Kristallgläser zu einem berauschenden Strudel, der die kühle Finsternis vergessen ließ.

Nicht nur die heimlichen Verliebten auf der Terrasse machten sich die Dunkelheit zunutze. Hier hatte jemand etwas erheblich Wichtigeres und Unziemlicheres im Sinn.

Die hochgewachsene, ganz in Schwarz gehüllte und maskierte Gestalt wand sich durch die Fensteröffnung und landete lautlos wie eine Katze auf dem seidenen Aubusson-Teppich, der das glänzende Parkett in der Bibliothek bedeckte. Mit angehaltenem Atem ging sie in die Hocke; die hellen Augen, die durch die Schlitze der Satinmaske schimmerten, musterten den Raum systematisch. Wie erwartet war die Bibliothek menschenleer; nur ein süß duftendes Rapsöllämpchen auf dem polierten Tisch warf flackernd einen schwachen goldenen Lichtkreis; die Ecken des großen Raums lagen im Dunkeln. Die Lederbände in den deckenhohen Buchregalen wirkten, als wären sie kaum je berührt, geschweige denn gelesen und geschätzt worden. Lady Tenbray war nicht gerade für ihren Intellekt bekannt.

Ihr verstorbener Gemahl war ein leidenschaftlicher Sammler italienischer Antiquitäten gewesen, und aus diesem Grund war die schwarze Gestalt hier. Sobald sie sich sicher war, allein zu sein, richtete sie sich auf und durchmaß leise und zielstrebig den Raum – denn sie hatte sich den Standort jedes Stuhls und Tisches genauestens eingeprägt.

An der Rückwand flankierten Glasvitrinen zu beiden Seiten den verzierten Kamin, randvoll mit den Schätzen, die der Marquis auf zweifelhaften Wegen zusammengerafft hatte. Als er einst britischer Botschafter im Königreich Neapel gewesen war, hatte er Statuen, Schmuck, Fresken und Vasen kistenweise nach Hause verschifft. Die Bibliothek barg nur die besten Stücke seiner Sammlung.

Der Eindringling zog eine dünnes Werkzeug aus seiner Gürteltasche und schob es vorsichtig in das Schloss einer der Vitrinen. Ein Ruck, eine Drehung, und das Schloss gab nach. Kopfschüttelnd öffnete er die Tür: Wer seine Besitztümer so schlecht schützte, verdiente sie nicht!

Das Objekt seiner Begierde lag genau in der Mitte: ein etruskisches Diadem aus sehr dünn geschlagenem Gold, das zu zarten Blättern und Ranken geformt worden war. Einst hatte es das Haupt einer Königin geziert, jetzt befriedigte es die Eitelkeit einer alten Engländerin.

Nicht mehr lange.

Vorsichtig nahm die Gestalt das Diadem auf. Sogar in der Dunkelheit schimmerte es hell und vollkommen wie die italienische Sonne auf ihren schwarzen Handschuhen. Es wirkte so zerbrechlich, und doch hatte es Jahrtausende überdauert.

„Bald bist du in Sicherheit!“ Schon verschwand das Diadem in der Tasche.

Im selben Augenblick war vor der Bibliothekstür ein Poltern zu vernehmen. Mit pochendem Herzen wirbelte die Gestalt herum.

„Nein, Agnes, wir können …“ Die trunkene Männerstimme drang dumpf, aber vernehmlich durch die Stille.

„Oh doch, und ob!“, erwiderte eine Frau. „Aber schnell, bevor mein Mann vom Kartenspiel zurückkommt.“

Wieder polterte es, und jemand drückte die Klinke herunter.

Zeit zu gehen. Der Eindringling zog eine schneeweiße Lilie aus der Tasche und legte sie genau an die Stelle des Diadems. Dann eilte er zum Fenster. Als die Tür aufflog, war er bereits in der schwarzen Nacht verschwunden.

Der Liliendieb hatte wieder zugeschlagen.

1. KAPITEL
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„Hiermit erkläre ich die Sitzung der Gesellschaft der kunstverständigen Damen für eröffnet.“ Calliope Chase klopfte mit ihrem Hämmerchen auf den Tisch. „Miss Clio Chase, unsere Schriftführerin, wird das Protokoll anfertigen.“

Peu à peu wurden alle Teetassen und Kuchenteller abgestellt, und die Mitglieder der Gesellschaft schenkten ihrer Gründerin und Präsidentin ihre Aufmerksamkeit. Wie um die frostige Düsternis der letzten Nacht vergessen zu machen, fiel warmes Sonnenlicht durch die hohen Fenster in den Salon des Chase’schen Stadthauses und brachte die pastellfarbenen Kleider der anwesenden Damen zum Leuchten. Nichts in dem elegant eingerichteten Zimmer fiel aus dem Rahmen: die luftigen Sitzgruppen aus Stühlen und kleinen Sofas, auf denen die Gäste Platz genommen hatten, das Teeservice, das Silber, die aufmerksamen Hausmädchen im Hintergrund, die sanften Mozartklänge des Pianofortes in der Ecke – alles stilvoll und angemessen.

Alles bis auf die Statue. Hinter Calliope stand ein marmorner Apoll auf seinem Postament, ein anatomisch vollkommener und gänzlich nackter Apoll. Aber im Haus eines bekannten Altertumsforschers wie Sir Walter Chase, der seine neun Töchter nach den griechischen Musen benannt hatte, war dies nicht weiter verwunderlich. In diesem Umfeld konnten sie nach Herzenslust ihren nicht immer ganz damenhaften Interessen nachgehen.

Calliope, mit 21 Jahren die älteste der Chase-Musen, war ein gutes Beispiel. Das schwarze Haar, die braunen Augen und die makellose helle Haut hatte sie von ihrer verstorbenen französischen Mutter geerbt, und ihre Schönheit hatte – im Verbund mit dem Chase’schen Vermögen – etliche begehrte Junggesellen angelockt. Doch sie hatte allen Verehrern die kalte Schulter gezeigt, da diese sich nicht für die Antike interessierten, und ihr Vater war ganz ihrer Meinung gewesen: Banausen kamen für die Chase-Musen einfach nicht in Frage.

Sie gab auch nicht viel um Mode oder Tanzen oder Kartenspiel und verbrachte ihre Zeit lieber mit der Lektüre oder im gelehrten Gespräch mit Gleichgesinnten.

Vor allem deshalb hatte sie die Gesellschaft der kunstverständigen Damen gegründet: damit ihre Schwestern und sie sich mit anderen Frauen austauschen konnten, die mehr als Kleiderstoffe und Hüte im Kopf hatten. „Wir sind doch sicher nicht die einzigen Wesen in London“, hatte sie ihrer Schwester Klio erklärt, „die am liebsten ihre Bücher zu Almack’s mitnehmen würden, um sich die Langeweile zu vertreiben.“

Und da saßen sie nun. Zu den Mitgliedern zählten neben den drei ältesten Chase-Töchtern zwei ihrer Freundinnen; die sechs jüngeren Schwestern gingen noch zur Schule und hatten daher erst Kandidatinnenstatus. Es gab auch eine Warteliste, aber Calliope hatte den Verdacht, dass die meisten der jungen Damen nur einen Blick auf den Apoll werfen wollten. Während der Saison trafen sie sich einmal in der Woche zu Gesprächen über Geschichte, Literatur, Kunst und Musik. Oft besorgte ihr Vater ihnen einen Gastredner, oder ein Maler stellte sein Werk vor. Manchmal blieben sie unter sich und redeten über ein Buch, das sie gelesen, oder eine Oper, die sie gehört hatten, oder die musikverliebte Thalia, die dritte Chase-Tochter, intonierte ein skandalös leidenschaftliches Beethovenstück.

Heute jedoch gab es etwas Ernstes zu besprechen, und als die anderen Calliope in ihrem weißen Musselinkleid so steif und aufrecht dasitzen sahen, verstummten sie prompt. Sogar Thalia nahm die Finger von den Tasten des Pianos und wandte sich ihrer Schwester zu.

Calliope hielt ein Exemplar der Post hoch, um auf eine Schlagzeile aufmerksam zu machen: Der Liliendieb ist wieder da!

„Es ist etliche Wochen her, dass dieser Verbrecher zuletzt zugeschlagen hat“, sagte sie. Zwar sprach sie leise, aber die Röte ihrer Wangen verriet den anderen, wie wütend sie war. Sie hatte gehofft, der Liliendieb sei ebenso in der Versenkung verschwunden wie so viele andere kurzlebige Gesellschaftsskandale: Zwei Tage helle Aufregung, dann musste ein neues Thema her, ein durchgebranntes Pärchen oder eine Affäre. „Vermutlich hatte er Angst, dass seine Missetaten in Vergessenheit geraten.“

Klio blickte von ihren Notizen auf, und über ihrem vergoldeten Brillengestell wurde eine rotbraune Braue sichtbar. Doch sie sagte nichts und schrieb weiter. Es war Lady Emmeline Saunders, die das Schweigen brach. „Vielleicht hat der Liliendieb aber auch ehrenhafte Motive.“

„Ehrenhaft wie Profitgier?“, rief Thalia vom Piano herüber. Mit ihren glänzenden, goldenen Locken wirkte sie sehr weiblich, aber sie hatte das Herz eines Gladiators, was sie oft genug in die Bredouille brachte. „Der Verkauf der Euphronios-Amphore von Lord Egermont und der Bastet-Statue der Clives muss ihm ein hübsches Sümmchen eingebracht haben.“

„Antiquitäten sind nicht nur finanziell wertvoll“, warf Clio leise ein. „Auch wenn ihre Besitzer das offenbar vergessen haben.“

„Natürlich sind solche Kunstwerke unersetzlich“, sagte Calliope. „Das macht die Taten des Liliendiebs umso niederträchtiger. Wer weiß, wohin die Stücke verschwunden sind und ob man sie je wieder sehen wird? Vielleicht sind sie für die Forschung für immer verloren.“

Clio beugte sich wieder über ihre Mitschrift und murmelte so leise, dass nur Calliope es hören konnte: „Als ob in Lady Tenbrays Bibliothek je geforscht worden wäre.“

„Der Liliendieb stiehlt nicht einfach Geld oder irgendwelche austauschbaren Diamanten wie normale Einbrecher. Er stiehlt Geschichte.“

Die anderen Mitglieder warfen sich ratlose Blicke zu. Schließlich hob wiederum Emmeline die Hand. „Was sollen wir tun, Calliope? Sollten wir einen Dozenten aus Cambridge zu einem Vortrag über Kunstdiebstahl einladen?“

„Oder über Grabräuberei!“, rief die leicht erregbare Miss Charlotte Price, das jüngste Mitglied der Gesellschaft. Sie hatte eine Vorliebe für Schundromane. Ihr Vater war mit Sir Walter Chase befreundet und hoffte, die Gesellschaft werde ihren Horizont erweitern. Bislang war davon nichts zu spüren, aber er gab die Hoffnung nicht auf. „In ‚Die Rache des Barons‘ geht es um einen verfluchten Grabräuber …“

„Das wäre eine Möglichkeit.“ Geschickt nutzte Calliope Lottys Atempause, um einer ausufernden Zusammenfassung zuvorzukommen. „Aber mir schwebt etwas wesentlich … Ambitionierteres vor.“

„Ambitionierter?“, fragten die anderen im Chor.

„Ja.“ Calliope legte die Hände flach auf den Tisch und beugte sich vor. „Wir werden den Liliendieb fangen.“

Seufzer und Rufe stiegen zur Stuckdecke empor.

Charlotte wirkte begeistert. „Genau wie in ‚Die Verwünschung der Lady Arabella‘!“

„Wir werden Amateurdetektive?“ Thalia klatschte in die Hände. „Großartig!“

„Genau“, fiel Emmeline ein. „Gelehrsamkeit ist schön und gut, aber manchmal muss man einfach handeln.“

Clios Federhalter schwebte über dem Papier, und sie hatte die Brauen zusammengezogen. „Wie soll uns das gelingen, Calliope? Selbst die Bow Street Runners haben den Liliendieb nicht aufgespürt.“

So genau wusste Calliope das auch nicht. Die Idee war ihr erst beim Frühstück gekommen, als sie sich bei der Zeitungslektüre in einen gerechten Zorn über diesen unverfrorenen Missetäter hineingesteigert hatte. Sie stellte sich vor, dass sie alle als Angehörige der besseren Gesellschaft sich freier und unauffälliger in den Sammlerkreisen bewegen konnten als diese Ermittler. Sie konnten zuhören und beobachten, ohne Argwohn zu wecken, und den Schurken vielleicht sogar auf frischer Tat ertappen.

Denn sie war sich sicher, dass der Dieb zur Londoner Gesellschaft gehörte – schließlich kannte er die Domizile und die gesellschaftlichen Termine der Lords und Ladies. Aber wie sollten sie die Suche angehen?

„Ich schlage vor, dass wir mit dem etruskischen Diadem anfangen, das gestern Abend gestohlen wurde. War jemand von euch auf Lady Tenbrays Soiree?“ Clio und Thalia waren zu Hause geblieben und hatten gelesen, und Calliope selbst war lieber mit ihrem Vater ins Theater gegangen. Macbeth war ihr spannender erschienen als dieser Ball. Hätte sie doch nur geahnt, dass der Liliendieb erneut zuschlagen würde!

Wieder hob Emmeline die Hand. „Ich war dort, habe aber nichts Besonderes bemerkt.“

„Hat sich niemand auffällig benommen?“, hakte Calliope nach.

„Nur Freddie Mountbank“, sagte Emmeline und seufzte. „Aber was will man erwarten? Es wäre verdächtiger gewesen, wenn er sich nicht danebenbenommen hätte.“

Die Damen kicherten. Der arme junge Mr. Mountbank war ernsthaft in Emmeline verliebt, hatte indes die unglückliche Neigung, laut zu fluchen, wenn er die Nerven verlor – und die Nähe einer Dame machte ihn immer nervös. So mancher Kontertanz musste vorzeitig beendet werden, weil er die Teilnehmer von den Füßen gerissen hatte. Mr. Mountbank schied als Liliendieb aus – wenn er nicht ganz besonders gerissen war und sich geschickt verstellte, was ihm jedoch niemand zutraute.

„Es war sehr voll“, fuhr Emmeline bedauernd fort. „Und da Mutter darauf bestand, dass ich mit Mr. Mountbank tanze, war ich vollauf damit beschäftigt, ihm zu entwischen.“

Sogar Calliope musste lachen, als sie sich vorstellte, wie ihre hochgewachsene Freundin sich hinter Vorhängen und Zierpalmen vor ihrem hartnäckigen Verehrer versteckte.

„Und was machen wir nun?“ Thalia klang, als wäre sie am liebsten walkürengleich nach Mayfair gestürmt, um alle Schurken niederzuschlagen, die ihr über den Weg liefen.

„Sicher bin ich mir nicht“, räumte Calliope ein, „aber ich ahne, wo der Liliendieb als Nächstes zuschlagen wird. Beim Ball des Duke of Averton.“

„Himmel!“

„Natürlich!“

„Die Alabastergöttin“, entfuhr es Thalia. „Gar nicht so dumm, Schwesterherz.“

„Eigentlich erstaunlich, dass der Liliendieb sie sich nicht längst unter den Nagel gerissen hat“, kommentierte Emmeline.

„Er wird frecher“, meinte Calliope mit Blick auf die Zeitung. „Während des Balls das Diadem zu entwenden – das zeugt von Selbstbewusstsein.“

Die Alabastergöttin war eine recht kleine, perfekt erhaltene Statue der Artemis mitsamt Bogen, die vor einigen Jahren aus einer griechischen Tempelruine auf der Insel Delos verschwunden war. Jetzt befand sie sich in der Sammlung des Duke of Averton, und er stellte sie gerne aus – obwohl er sonst ein Eigenbrötler war. Die Göttin hatte in der Londoner Damenwelt sogar eine Artemis-Frisuren- und –Sandalenmode ausgelöst. Der Duke hatte verlauten lassen, dass er die Statue bald in sein festungsgleiches Schloss in Yorkshire überführen würde. Zuvor wollte er sie noch ein letztes Mal bei einem großen Griechenland-Maskenball vorführen, seinem ersten Ball seit Jahren.

„Wir müssen alle …“

„Oh!“, fiel Lotty ihr aufgeregt ins Wort. Sie drückte die Nase ans Fenster, um besser hinaussehen zu können. „Da ist Lord Westwood! Und dein Kavalier, Emmeline.“

Mit raschelnden Röcken eilten weitere junge Damen an die Fensterfront und pressten selbstvergessen Finger und Nasen ans Glas.

„Ah, er fährt seinen schönen Phaeton“, rief Thalia. „Ich wünschte, Vater würde mir einen kaufen; ich wäre bestimmt eine gute Wagenlenkerin.“ Sie wechselte das Thema. „Aber Westwood scheint irgendeine Meinungsverschiedenheit mit Mr. Mountbank zu haben …“

Ach was, dachte Calliope. Cameron de Vere, Earl of Westwood, zog Meinungsverschiedenheiten magisch an.

„Callie, Clio, schaut euch das an. Das ist wirklich zu amüsant.“

Clio folgte Thalias Aufforderung und sah auf die Straße hinab wie auf ein wissenschaftliches Experiment.

Calliope fand es beschämend, wie ihre Freundinnen sich von vernünftigen Frauen in alberne Schulmädchen zurückverwandelten, als hätten sie noch nie zuvor einen Mann gesehen. Und sie wollte Lord Westwood nicht die Genugtuung verschaffen, die so viel weibliche Aufmerksamkeit für ihn zweifellos bedeutete. Doch es war, als zöge ein Strick um ihre Taille sie gewaltsam zum Fenster.

Sie legte die Zeitung hin, schlenderte zu den anderen und sah widerwillig über Thalias Schulter. Lord Westwoods leuchtend gelb und schwarz lackierter Phaeton stand still, seine beiden kastanienbraunen Pferde schnaubten und tänzelten nervös, und Mr. Mountbank, dessen Gefährt Westwood den Weg versperrte, brüllte und gestikulierte wie üblich wild herum. Während Mr. Mountbank über dem grotesk gestärkten Krawattentuch violettrot angelaufen war, lag auf Westwoods ungemein gut geschnittenem Gesicht ein Ausdruck amüsierter Langeweile.

„Meinst du, sie schlagen sich?“, fragte Thalia begeistert.

„Wie schön er ist“, seufzte Lotty. „Wie der Comte in ‚Mademoiselle Marguerites verhängnisvolles Geheimnis‘.“

Nicht einmal Calliope mochte da widersprechen. In romantischeren Kreisen wurde Westwood bisweilen „der griechische Gott“ genannt, und rein äußerlich traf diese Charakterisierung durchaus zu. Hätte er seine wildledernen Kniehosen und seinen flaschengrünen Rock abgelegt, so hätte er wohl wie der zum Leben erwachte Apoll der Gesellschaft der kunstverständigen Damen ausgesehen. Trotz der Sonne trug er keinen Hut; seine glänzenden schwarzen Locken fielen ihm verwegen in die bronzefarbene Stirn und über die dunklen Augen.

Während er, ein süffisantes Lächeln auf den Lippen, Mr. Mountbank zur Vernunft zu bringen versuchte, kam er Calliope im Grunde eher wie ein junger griechischer Fischer als wie ein Gott vor: maskulin, bodenständig und trotzdem geheimnisvoll wie das tiefe Meer. Zweifellos hatte er diese Exotik von seiner Mutter geerbt, die – genau wie ihre eigene Mutter – keine Engländerin gewesen war. Sie stammte aus Athen und war die Tochter eines berühmten Gelehrten gewesen.

Kurz sah es so aus, als würde Westwood tatsächlich von seiner Kutsche herabsteigen, um der schäumenden Wut des jungen Mannes handgreiflich zu begegnen, aber dann gab Mountbank auf. In gefährlicher Schräglage jagte er seine Kutsche um die nächste Straßenecke.

Etwas enttäuscht widmeten sich die Damen wieder dem Tee, der Musik und dem Geplauder. Calliope konnte sich jedoch nicht vom Fenster losreißen. Irgendetwas zwang sie, weiter auf Cameron de Vere, Lord Westwood, hinabzublicken.

Hemmungslos über die Flucht seines Widersachers lachend hob er den Kopf, was seine hohen Wangenknochen und die klassisch gerade Nase noch besser zur Geltung brachte. Stolz und frei wie ein Seeräuber am Steuer seines Schiffes lehnte er sich an den gepolsterten Sitz. Passanten starrten ihn an, als zöge seine schiere Lebendigkeit sie in ihren Bann, aber er bemerkte sie gar nicht.

Zum Teufel mit ihm. Dieser Kerl ist das genaue Gegenteil von mir. Er war frei. Frei von Verantwortung. Die Stirn an das kühle Glas gelehnt, sah Calliope zu, wie er sich wieder fing und die Zügel aufnahm. Selbst die alltäglichsten Bewegungen wirkten bei ihm geschmeidig und elegant.

Ihre erste Begegnung fiel ihr wieder ein, am Anfang der Saison. War das wirklich erst Wochen her? Dieser Abend, als …

Nein, sie wollte nicht weiter an ihn denken. Das brachte sie nur aus der Fassung, und diese Blöße wollte sie sich vor ihren Freundinnen nicht geben. Sie war immer gefasst und ruhig. Sie hatte sich im Griff. Ihre Familie verließ sich schließlich auf sie.

Calliope griff nach dem Vorhang aus Atlasseide, um ihn vor das Fenster zu ziehen. Doch bevor es ihr gelang, blickte Lord Westwood auf und ertappte sie dabei, wie sie ihn ansah.

Als hätte sich ein Wölkchen vor die griechische Sonne geschoben, runzelte er die Stirn. Die samtbraunen Augen verengten sich kurz, doch dann kehrte sein breites Seeräuberlächeln zurück, und er entbot ihr einen schwungvollen Gruß.

Calliope stockte der Atem. Dieser Tunichtgut! Abrupt zog sie den Vorhang zu und drehte sich um – nur um festzustellen, dass Clio sie genau beobachtete. Von allen Schwestern war Clio ihr am nächsten, nicht nur vom Alter her, aber manchmal fand sie den intensiven Blick dieser grünen Augen etwas zu durchdringend.

„Du solltest die Sonne meiden, Callie“, sagte Clio leise. „Du hast schon ganz rote Wangen.“

Calliope Chase. Cameron legte die Stirn in Falten, als sie den Vorhang zuzog, wie um einen Dämon auszusperren. Calliope Chase sah gut aus, keine Frage, aber London war voller hübscher Frauen, und die meisten waren erheblich umgänglicher und berechenbarer als sie. Und doch bekam er sie seit ihrer ersten Begegnung – ihrem ersten Zusammenstoß – nicht mehr aus dem Kopf. Entwickelte er etwa ähnliche Schrullen wie sein Cousin Gerald, der Dirnen viel Geld dafür bot, dass sie seine entblößte Kehrseite mit einer Gerte bearbeiteten und ihm Qual und Lust zugleich bereiteten?

Lachend fädelte er sich in den Verkehr ein. Die Vorstellung, wie Calliope Chase mit Feuer in den braunen Augen eine Lederpeitsche schwang, war einfach zu schön – und gar nicht so abwegig: Sie war eindeutig nach der falschen mythologischen Gestalt benannt. Statt einer wetterwendischen, kapriziösen und verführerischen Muse war sie Athene, die Kriegsgöttin, die mit aller Entschlossenheit für ihre Überzeugungen kämpfte, seien sie nun richtig oder falsch.

Athene – mit einer bestürzenden Traurigkeit im Blick.

Weit vor sich sah er Mountbanks Kutsche. Dieser Schnösel: Sich so aufzuregen, nur weil ich mit Lady Emmeline Saunders getanzt habe, dachte Cameron. Es war doch offensichtlich, dass er nicht an ihr interessiert war. Sie war hübsch, eine interessante Gesprächspartnerin (im Gegensatz zu den meisten anderen höheren Töchtern) und offenbar auch humorvoll, obwohl sie Miss Chases Busenfreundin war. Aber wenn er sich mit ihr unterhielt, fehlte doch etwas.

Etwas fehlte immer. Er verspürte eine Leere, die keiner seiner Zeitvertreibe – Clubs, Pferde, Frauen, sogar seine Studien – füllen konnte. Es kam ihm vor, als befinde sich in seiner Mitte ein kalter, hohler Raum, dessen Existenz er kaum je vergaß. Eigentlich nur während seiner Wortgefechte mit Calliope Chase …

Kurz bevor er sein Haus erreichte, musste er die Pferde zügeln, denn vor dem Anwesen der Marchioness of Tenbray hatte sich ein Menschenauflauf gebildet: Alle wollten das Fenster sehen, durch das der Liliendieb eingestiegen war. Cameron grinste: Was für ein dramatischer Spitzname, und was für eine Dreistigkeit: die raffsüchtigsten Sammler derart vorzuführen! Wenn es nur nicht so gefährlich und zerstörerisch gewesen wäre …

Cameron war sonst der Erste, der gewagte Späße guthieß – schließlich stammte er selbst aus einer Familie von Exzentrikern. Aber mit derartig wertvollen und fragilen Kulturschätzen zu spielen, das ging zu weit. Wer wusste, ob, wo und in welchem Zustand die Objekte je wieder auftauchen würden?

Das galt allerdings auch für andere Kunstwerke, zum Beispiel Avertons Artemis. Unwillkürlich verkrampfte sich Cameron, sodass die Pferde nervös die Köpfe herumwarfen. Dieser Bandit! Die Artemis gehörte nach Delos, ihre Heimat seit Jahrtausenden, nicht in die Schatzkammern eines habsüchtigen englischen Adligen, der ihren wahren Wert gar nicht zu schätzen wusste!

Cameron vermeinte fast das Flüstern seiner Mutter zu vernehmen, die ihm einst mit ihrem warmen, musikalischen Akzent von Artemis erzählt hatte. Sie war Zeus’ liebstes Kind, die Göttin des Mon des und der Jagd, die Jungfer mit dem Silberbogen. In ihrem silbernen Wa gen jagt sie durch die Wälder, frei, niemals einem Manne ergeben. Einmal hat sie einen Pfeil in eine Stadt voller Ungerechter abgeschossen, und der Pfeil hat sie alle durchbohrt …

Und jetzt war sie eine Gefangene. Was würde wohl die gelehrte Miss Chase dazu sagen? Cameron war sich sicher, dass sie eine klare Meinung zum Duke of Averton und seiner berühmten Alabastergöttin hatte. Aber würde sie mir diese Meinung anvertrauen?

2. KAPITEL
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Versonnen blickte Calliope in den Spiegel über ihrer Frisierkommode, während Mary ihr das Haar frisierte. An sich freute sie sich auf den bevorstehenden Hausmusikabend, der ausnahmsweise nicht von unbegabten höheren Töchtern an ihren unvermeidlichen Harfen oder Klavieren bestritten werden sollte, sondern ein Versuch war, die Musik nachzuempfinden, die bei den großen Festen der Antike zu den Tragödien von Aischylos oder Euripides aufgeführt worden war. Doch Calliope war abgelenkt.

Immer wieder tauchte Lord Westwood vor ihrem inneren Auge auf, wie er windzerzaust und sorglos lachend auf seinem Phaeton gesessen hatte. Gedankenverloren zupfte sie an einem der zarten weißen Röschen auf der Kommode herum. Mit seinem spöttischen Lächeln und seinen unmögliche Ansichten brachte er sie völlig aus dem Konzept. Was hatte er bloß gegen sie?

„Miss Chase, die Blumen brauche ich für Ihr Haar!“

Betroffen blickte Calliope auf die zerknüllten Blütenblätter und ließ den gerupften Stängel los. „Entschuldige bitte, Mary.“

„Soll ich den Artemis-Stil versuchen, Miss? Das ist doch gerade so en vogue .“

„Nein, danke; lieber das Übliche.“ Calliope graute davor, mit derselben Frisur auf dem Fest zu erscheinen wie alle anderen.

Mary schmollte, weil sie keine Gelegenheit bekam, ihr Talent unter Beweis zu stellen, aber Calliope wusste nun einmal genau, was zu ihr passte.

Eine Weile hatte sie sich allerdings eingebildet, Cameron de Vere könne „zu ihr passen“. Als er nach seiner sehr ausgedehnten Mittelmeerreise nach London zurückgekehrt war, hatten die Salons vor Gerüchten über seine Schönheit und Verwegenheit gebrummt. Aber nicht das war es, was sie gereizt hatte, sondern sein Interesse an Kunst und Geschichte. Zu gerne hätte sie seinen Reiseerzählungen gelauscht.

Ihre Väter hatten sich gut gekannt. Beide waren Gelehrte und Sammler gewesen, zugleich Konkurrenten und Freunde. Der Earl hatte ihren Vater schließlich übertrumpft, indem er eine echte Griechin geheiratet hatte und nicht einfach eine Französin wie Lady Chase. Obwohl Calliope und Cameron in einem ganz ähnlichen Umfeld aufwuchsen, liefen sie sich nicht mehr über den Weg, nachdem die de Veres zu ihren endlosen Reisen aufgebrochen waren.

Als er als erwachsener Mann und frischgebackener Earl zurückkehrte, blühte in ihr die zarte Hoffnung auf, dass sie in ihm ihren Seelengefährten finden würde. Doch die erste Begegnung – bei einem Empfang in dem Stadthaus, das seine Eltern ihm hinterlassen hatten – hatte ihre Hoffnung im Keim erstickt.

Seit ihrer frühen Kindheit erinnerte Calliope sich an eine großartige Hermesbüste, die sie bei einem Besuch in der Residenz der Westwoods einst im Foyer dieses Hauses entdeckt hatte. Sie hatte das schelmische Lächeln des Gottes gemocht, das den kalten Marmor so lebendig wirken ließ. Wie hatte sie sich darauf gefreut, Hermes wiederzusehen!

Doch er war nicht mehr da. Seine Nische war leer, wie alle anderen, in denen einst feinste Vasen und Kelche gestanden hatten. Während ihr Vater und ihre Schwestern sich bereits im Salon unter die Leute mischten, stand sie noch wie vom Blitz getroffen vor der leeren Nische. Ihre Pläne für diesen Abend – die Antiquitäten bewundern, den neuen Earl kennenlernen, mit ihm über seine Schätze reden und vielleicht den Grundstein für eine Freundschaft legen – waren dahin. Und nichts mochte Calliope weniger als gescheiterte Pläne.

Plötzlich erklang hinter ihr eine tiefe, samtige und leicht ironische Stimme: „Ah, wenn das nicht die vermisste Miss Chase ist!“

Calliope sah über die Schulter. Wenige Schritte hinter ihr stand ein Mann, dessen sinnliche Lippen sie sofort an den fehlenden Hermes erinnerten. Die sandfarbenen Kniehosen, der dunkelblaue Rock und die hellgraue Brokatweste standen ihm ausgezeichnet; das einfach gebundene Krawattentuch schmückte eine Kameenbrosche. Und doch wirkte er, als wäre er in diesem luxuriösen Foyer am falschen Platz: Die Haut war zu braun gebrannt, das glänzende, dunkle Haar zu lang. Seine blitzenden braunen Augen kamen ihr seltsam vertraut vor.

„Sie müssen Lord Westwood sein“, erwiderte sie kühl, um den Tumult zu überspielen, den sein Auftritt in ihrem Inneren ausgelöst hatte. So hatte sie sich diese Begegnung nicht vorgestellt!

„So ist es.“ Er trat näher – so nah, dass ihr der schwachen Zitronenduft seines Eau de Cologne in die Nase stieg und sie die Hitze zu spüren meinte, die seine Haut ausstrahlte. Sie wich in Richtung der beruhigend kühlen Marmorwand aus.

„Hier stand früher eine Hermesbüste.“ Sie schluckte, um das plötzliche Beben aus ihrer Stimme zu verbannen. „Ein wunderschönes Stück.“

„Wunderschön“, bestätigte er, wobei sein Blick irritierenderweise nicht auf die Nische, sondern fest auf Calliopes Gesicht gerichtet war. „Ich habe es nach Griechenland zurückgebracht, wo es hingehört.“

In diesem Moment war sie zu der Überzeugung gelangt, dass sie niemals Freunde werden würden …

„Miss Chase? Sind Sie zufrieden?“ Calliope zuckte zusammen und kehrte in die Gegenwart zurück. Sie sah in den Spiegel und fand ihre Wangen auffällig gerötet – als hätte sich die Szene im Foyer nicht vor Wochen, sondern vor Sekunden zugetragen.

Aber ihr Haar saß perfekt: wie üblich in einem verschlungenen Knoten zusammengehalten und mit den verbliebenen Rosen geschmückt, das Gesicht von zwei ordentlichen Locken eingerahmt.

„Sehr schön, Mary.“ Das Mädchen nickte und holte Stola und Schuhe. Calliope griff nach ihren Ohrringen und versuchte, Cameron de Vere zu vergessen. Er war nur ein irregeleiteter Rebell – allerdings ein gut aussehender. Als der Butler klopfte, weil die Kutsche vorgefahren war, hatte sie sich wieder im Griff.

„Wenn Lady Russells Gefieder noch etwas länger wäre, würde sie abheben wie ein hysterischer Papagei“, flüsterte Clio ihr ins Ohr.

Calliope hielt sich die Fingerspitzen vor den Mund, um nicht laut loszulachen. Tatsächlich sah die Gastgeberin des musikalischen Abends mit ihrem violett-grünen Satinturban und den daraus sprießenden regenbogenfarbenen Federn einem Ara nicht unähnlich. Typisch Clio: Sie war meist so schweigsam, dass man ihre Anwesenheit leicht vergaß – bis sie, deren scharfen grünen Augen nichts entging, sich mit einer sarkastischen Bemerkung in Erinnerung brachte. Vergleiche mit Urwaldtieren waren für ihre Verhältnisse geradezu harmlos.

Clio und Calliope ließen die Blicke durch den Raum schweifen und fanden weitere Beispiele für modische Fragwürdigkeiten, über die zu lästern sich lohnte. Obwohl griechische Musik den größten Teil der Londoner Gesellschaft nicht gerade in Begeisterung versetzte, war es relativ voll, denn Lady Russell war beliebt. Eigentlich hätte Calliope ganz in ihrem Element sein müssen, doch sie war immer noch unkonzentriert.

Neben ihr nahm Clio ihre Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Im Gegensatz zu Calliope, die sich wie üblich für schlichten weißen Musselin im griechischen Stil entschieden hatte, trug sie ein smaragdgrünes Seidenkleid mit goldenen Stickereien, und ihr rotbraunes Haar wurde von einem ebenfalls goldfarbenen Band zusammengehalten.

„Was glaubst du, Callie, ist der Liliendieb heute hier?“, fragte sie leise.

Calliope erstarrte. Der Liliendieb – wie hatte sie ihn vergessen können? Sie blickte rasch von einem jungen Mann zum nächsten, doch der, den sie suchte, war nicht dabei.

„Ich glaube nicht“, sagte sie.

„Aber du hast jemand im Verdacht, oder? Weißt du, wer es ist?“, wollte Clio wissen.

„Ich weiß gar nichts“, erwiderte Calliope. „Wie auch? Ich habe nur so ein Gefühl …“

Aber Clio hörte schon nicht mehr zu. Thalia, die am anderen Ende des Raums die Musikinstrumente bewunderte, hatte ihr zugewinkt, und sie ließ Calliope allein.

Zwar sah sie einige Leute, mit denen sie sich sonst sehr gern unterhielt, aber sie hatte das Gefühl, momentan keine angenehme Gesprächspartnerin zu sein. Daher stellte sie ihr halb leeres Glas ab und schlenderte zum Eingang von Lady Russells Wintergarten hinüber.

Im Wintergarten war es angenehm warm, und es duftete würzig nach Pelargonien, Lavendel, Minze und feuchter Erde. Einige schmiedeeiserne Stühle luden zum Verweilen ein, aber es war niemand zu sehen. Calliope genoss die Stille, in der sie sich sammeln und ihren Gleichmut wiederfinden konnte.

Am anderen Ende des Raums standen einige Statuen, eine Aphrodite und ihre nicht minder schönen, kaum bekleideten Begleiter, die die Pflanzen ringsum mit leidenschaftslosen Blicken zu mustern schienen. Ihre kalte Perfektion zog Calliope an.

„Könnte ich nur wie du sein“, wisperte sie der hochmütigen Aphrodite zu. „So … selbstsicher. Unwandelbar. Frei von Zweifeln und Sorgen.“

„Wie langweilig das wäre“, sagte Westwood.

„Sind Sie mir etwa gefolgt?“, fragte sie, nicht im Mindesten überrascht.

„Keineswegs, Miss Chase“, erwiderte er. „Ich war schon hier und habe die Stille und meinen Wein genossen …“, er hielt sein Glas hoch, „… als Sie hereinkamen. Mir blieb nichts anderes übrig, als Ihnen zuzuhören.“

Calliope suchte mit den Händen am kühlen Marmor hinter sich Halt. Vor diesen undurchdringlichen cognacfarbenen Augen gab es einfach kein Entkommen.

„Ich habe ein wenig Ruhe gesucht, bevor die Musik anfängt.“

Er nickte verständnisvoll und kam zwei Schritte näher. Calliope erbebte, aber sein Blick ruhte gar nicht mehr auf ihr, sondern auf der Statue. „Sie haben sich die richtige Vertraute ausgesucht. Sie sieht so wissend aus, als habe sie alles gesehen, was es zu sehen gibt.“

Tatsächlich wirkte Aphrodites Gesichtsausdruck auf Calliope weltgewandt und spöttisch. Genau wie Westwood. „Was sie wohl von Lady Russells Abendgesellschaften hält?“

Sein sonores Lachen ging ihr durch und durch. „Ich möchte wetten, sie findet sie fad im Vergleich zu den Versammlungen im Allerheiligsten der Aphrodite-Tempel, wo regelmäßig … äh …“

„Orgien stattfanden?“

Er zog die Brauen hoch. „Miss Chase! Ich muss mich wundern!“

Calliope unterdrückte ihre aufkeimende Verlegenheit. „Ich habe viel in der Bibliothek meines Vaters gelesen, unter anderem John Galts ‚Briefe aus der Levante‘. Und Lady Mary Wortley Montagues Reiseerzählungen.“ Sie berührte Aphrodites Fuß. Wirklich eine ideale Vertraute: vollkommen stumm. „Wenn es nach Ihnen ginge, würde sie sich wohl längst wieder im Schutt ihres ehemaligen Tempels langweilen.“

„Ach, Miss Chase.“ Er beugte sich vor, sodass sie seinen warmen Atem an der Schläfe spürte. „Wer sagt denn, dass all die Orgien Geschichte sind?“

Wie hypnotisiert von seiner Stimme, seinem Atem, seinem Blick sah Calliope zu ihm auf. In diesem Moment setzte außerhalb ihres grünen Zufluchtsortes die Musik ein, und der Bann war gebrochen. Er richtete sich auf, sie drehte den Kopf weg und schöpfte Atem, als habe sie eine große Anstrengung hinter sich.

„Wollen wir?“, fragte er mit rauer Stimme.

„Gern“, sagte sie leise und ging voran. Sie hörte, wie er ihr folgte, aber zum Glück bot er ihr nicht den Arm an. Sie war sich nicht sicher, wie sie auf eine Berührung reagiert hätte.

3. KAPITEL
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Calliope setzte sich neben Clio und versuchte, ihr rasendes Herz zu beruhigen.

Clio drückte ihr ein Programm in die Hand und flüsterte: „Wo warst du?“

„Im Wintergarten, bei der Aphrodite-Statue.“ Ihre Wangen glühten. Warum musste Lady Russell ihre Räume nur so warm halten?

„Ah. Glaubst du, sie könnte beschließen, mit dem Liliendieb durchzubrennen?“

Calliope unterdrückte ein Lachen. „Bestimmt nicht. Sie ist aus Marmor und lebensgroß. Es sei denn, der Liliendieb ist Herkules.“

In diesem Augenblick lehnte sich Lord Westwood an eine Säule am Rand des Auditoriums. Als Calliope ihn entdeckte, zwinkerte er ihr zu, und sie errötete.

„Warst du allein im Wintergarten?“, fragte Clio. „Oder hast du dich wieder mit ihm gestritten?“

„Ich streite mich nie … außer mit Thalia und dir. Ihr seid meine Schwestern, das ist etwas anderes. Lord Westwood und ich haben lediglich unsere Standpunkte über die Kunst ausgetauscht.“

Zum Glück hob Lady Russell in diesem Augenblick zu ihren einleitenden Worten an. Sonst teilte Calliope ihre Gedanken gerne mit Clio, die eine großartige Zuhörerin war, aber sie sah keinen Sinn darin, ihrer Schwester ihr derzeitiges Gefühlschaos anzuvertrauen. Die einzige Lösung bestand darin, diesen Mann zu meiden. Wenn er doch nur wieder nach Griechenland verschwände …

Lady Russell erklärte, dass die Instrumente für die Uraufführung der Rekonstruktion einer delphischen Hymne an Apoll große Ähnlichkeiten mit jenen auf der großen schwarzgrundigen Amphore hatten, die sie nun von zwei Dienern hereintragen ließ. Dieses bekannte Prunkstück ihrer Sammlung war bis auf einen fehlenden Henkel hervorragend erhalten, zeigte ein Fest mit eleganten Tänzern, Musikern und liegenden Zechern und wäre, wie Calliope auffiel, für den Liliendieb geradezu die ideale Beute.

„Schade, dass sie uns nicht gezwungen hat, in solchen Chitonen zu erscheinen“, wisperte Clio. „Vor allem den alten Lord Erring mit seinen dreihundert Pfund. Aber wahrscheinlich gibt es in ganz London nicht so viel Leinen.“

Calliope hielt sich kichernd das Programm vors Gesicht. Ihr fiel nur ein einziger Mann ein, der in diesem antiken Gewand nicht lächerlich ausgesehen hätte. Sie warf Lord Westwood einen raschen Blick zu und war erstaunt, wie melancholisch er wirkte, als er die Amphore betrachtete: ein unglücklicher Apoll.

Cameron sah dem prächtigen Gefäß nach. Was für eine Tragödie: Genau wie Lady Tenbrays etruskisches Diadem war es seiner Heimat entrissen worden, es hatte seine ursprüngliche Bestimmung eingebüßt und war zur Attraktion elitärer Feste verkommen.

Aber viel mehr beschäftigte ihn im Moment eine der sorgfältig ausgearbeiteten Frauengestalten, die die Amphore zierten. Die schlanke, in eine fließende, elegant gefältelte Robe gekleidete Figur beugte sich über eine Leier. Ein Stirnband hielt ihr die üppigen dunklen Locken aus dem ovalen Gesicht. Sie wirkte ernster als die ausgelassenen Tänzer um sie herum und schien ganz von ihrer Musik, ihren Gedanken und Gefühlen absorbiert zu sein. Ihre Figur, der Ernst, die Konzentration: Man konnte meinen, der antike Künstler habe Calliope Chase porträtiert.

Als das Stück einsetzte, warf er Calliope einen Blick zu. Sie betrachtete die Musiker mit glänzenden Augen, als erwache das alte Griechenland für sie gerade zu neuem Leben. Genauso war es ihm auf seiner Reise gegangen: Überwucherte Ruinen waren vor seinem inneren Augen wieder zu jenen Stätten brodelnden Lebens geworden, die sie einst gewesen waren, voller lachender, rufender, streitender und liebender Bewohner, die einige der großartigsten Kunstwerke der Menschheit geschaffen hatten.

Obwohl Calliope Chase diese Fantasie offenbar mit ihm teilte, verstand er sie nicht: Wenn sie wirklich sah, was er sah, warum begriff sie dann nicht, dass diese Objekte in England nichts verloren hatten?

Sie war schön wie die Leierspielerin auf der Amphore, intelligent und temperamentvoll. Aber auch störrisch wie ein griechischer Maulesel!

Kurz trafen sich ihre Blicke, und er sah, dass ihr vor Ergriffenheit fast die Tränen in den Augen standen. Dann verbarg sie ihre Empfindsamkeit wieder hinter der Maske der Vernunft und wandte sich ab, sodass er nur noch schwarze Locken und einen weißen Nacken sah. Er stellte sich vor, wie es wäre, die Lippen auf diesen Hals zu legen und dann weiterwandern zu lassen, bis sie erbebte und aufseufzte, ihre Maske fallen ließ und ihm ihr wahres Ich enthüllte.

Doch wie sähe dieses wahre Ich wohl aus? War sie wirklich eine Muse oder doch eher eine zerstörerische Gorgo? Nur ein Wahnsinniger würde sich eine der Chase-Musen aufbürden, und Cameron hatte nicht vor, so bald den Verstand zu verlieren. Auf einmal wurden ihm die Musik, die Hitze und die seltsame Faszination, die Calliope Chase auf ihn ausübte, zu viel. Er zog sich ins Foyer zurück, wo einige Diener gerade die Amphore auf ihren hohen Sockel zurückstellten.

Das Gefäß stand so hoch, dass man es ohne Stuhl oder Leiter nicht berühren konnte, doch die Leierspielerin war gut zu erkennen. Mehr denn je erinnerte sie ihn mit ihrer Schönheit und Unberührbarkeit an Miss Chase.

„Überlegen Sie, wie Sie sie entwenden können?“, fragte Calliope.

Er sah sie mit regungsloser, fast marmorner Miene an der Salontür stehen und spürte ihre Anspannung. Ihr Verdacht hätte ihn nicht überraschen sollen. Seit sie den Hermes in seinem Haus vermisst hatte, waren sie immer aneinandergeraten; ja, es wurde von Begegnung zu Begegnung schlimmer. Doch nachdem er sich ihr vorhin im Saal so magisch verbunden gefühlt hatte, schmerzte die Unterstellung nun umso mehr. Offenbar war sie weder eine wundervolle Muse noch eine schreckliche Gorgo, sondern doch einfach die kühle Athene, für die er sie früher bereits gehalten hatte.

Er verbarg seine Enttäuschung unter einstudierter Nonchalance, unter einer Kälte, die sich mit der ihren messen konnte. „Vielleicht möchten Sie näher treten und mich durchsuchen, Miss Chase? Die frische Lilie in meiner Tasche suchen?“ Er spreizte die Säume seines Rocks ab, sodass sie das seidene Innenfutter sehen konnte.

Sie straffte die Schultern. „Ich bin kein Dummkopf, Lord Westwood.“

„Nein, wirklich, Miss Chase: ‚Dumm‘ ist das letzte Wort, mit dem man Sie beschreiben könnte. ‚Irregeleitet‘ vielleicht.“

Tief in ihren unergründlichen Augen blitzte so etwas wie schwarzes Feuer auf, aber sie verlor wie üblich nicht die Beherrschung. „Irregeleitet? Nicht ich bin diejenige, die für eine vermeintlich gerechte Sache zum Verbrecher wird. Nicht ich setze die Ehre meiner Familie oder den guten Ruf unserer Gelehrten leichtfertig aufs Spiel. Wer in den Genuss einer guten Erziehung gekommen ist und das Privileg des Reisens genießt, hat eine Verantwortung …“

„Und was befähigt Sie, Calliope Chase, mich über Pflicht und Ehre zu belehren?“

Sein Temperament, das er so lange gezügelt hatte, explodierte wie ein veritables Feuerwerk. Er trat auf sie zu, bis ihm der Sommerduft der Rosen in ihrem Haar in die Nase stieg und er die zarten bläulichen Adern unter der elfenbeinweißen Haut an ihrer Kehle pulsieren sah. Er konnte das inbrünstige Verlangen kaum noch zügeln, sie zu packen und ihr Eis mit seinen Küssen zum Schmelzen zu bringen.

Sie wandte sich nicht ab, sondern blickte mit großen Augen schweigend und fest zu ihm auf. Fast meinte er, ihr Herz schlagen zu hören. Seine Hand bewegte sich eigenmächtig auf jenes Fleckchen nackter Haut zwischen ihren langen Handschuhen und den kurzen Kleidärmeln zu, aber mit einem letzten Aufgebot an Selbstbeherrschung zwang er seinen Arm wieder nach unten und trat einen Schritt zurück.

„Wie können Sie mich so verkennen, Miss Chase?“, fragte er heiser. Dann stürmte er an den überraschten Lakaien vorbei zu Haustür hinaus. Die Luft war kühl und feucht, als er die stille Straße entlanglief, fort vom Licht und der Musik in Lady Russells Haus. Doch Calliope Chase ließ ihn so leicht nicht los; ihr stummer, anklagender Blick schien ihn zu verfolgen.

„Dieses Höllenweib“, murrte er. Es gab nur einen Ort, der diese Gedanken vertreiben konnte: den verrufensten Spielclub, den er kannte, fern von diesen sauberen Straßen und properen Häusern. Im „Satanswürfel“ würde Calliope Chases Geist das Feld räumen müssen.

Als Lady Russells Haustür hinter Lord Westwood zuschlug, sank Calliope schwach und zittrig am Fuß des Podests, auf dem die Amphore stand, zusammen. Warum musste das nur immer so enden? Ein Schwall Musik drang ins Foyer, als die Salontür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Zarte Füße eilten über das Parkett. „Callie?“, flüsterte Clio und legte den Arm um ihre Schwester. „Ist dir übel?“

„Nein, nein. Ich … brauchte nur etwas frische Luft“, murmelte Calliope. „Ich habe etwas Dummes gesagt, wie immer, und er ist gegangen. Ist einfach auf die Straße hinausgelaufen, weil er mich nicht mehr ertragen hat!“ Calliope bemerkte, dass Clio ihr kaum folgen konnte. Sie verstand sich ja nicht einmal selbst!

Clio blickte zur Haustür. „ Wer ist gegangen?“

„Lord Westwood.“

„Du meinst, du hast dich hier draußen mit Westwood unterhalten, und dann ist er wütend geworden?“ Clios Blick fiel auf die Amphore über ihren Köpfen, und sie riss die grünen Augen auf. „Oh nein, Callie! Du hast ihn doch nicht etwa verdächtigt, der Liliendieb zu sein?“

Calliope legte sich die Hände auf die glühenden Wangen. „Vielleicht … doch.“

„Callie!“, seufzte Clio. „Was ist bloß in dich gefahren? Bei Thalia kann ich mir so etwas vorstellen; sie würde sogar den Teufel höchstpersönlich zum Duell herausfordern. Aber du! Hast du Fieber?“

„Ich wünschte, es wäre so; dann hätte ich wenigstens eine Entschuldigung.“

Clio schüttelte den Kopf. „Arme Callie. Aber er wird es bestimmt für sich behalten; schließlich waren unsere Väter Freunde.“

„Nein, er wird keinem davon erzählen. Außer den Irrenärzten im Bedlam Hospital.“

Clio lachte. „Na also! Wenn du noch Witze machen kannst, ist nicht alles verloren. Vielleicht kannst du ihm bei eurer nächsten Begegnung einfach erklären, dass die Musik dein Blut in Wallung gebracht hat.“

Calliope ordnete ihr Haar und strich ihr Kleid glatt. „Lieber wäre es mir, wenn wir ihm nie wieder begegnen müssten.“

„Die Chancen stehen schlecht; unsere Welt ist so klein.“ Clio sah wieder die Amphore an. „Aber wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, dass Lord Westwood der Liliendieb sein könnte?“

Calliope zog die Schultern hoch. „So etwas Hitzköpfiges würde doch zu ihm passen. Er hat seine eigenen Stücke nach Griechenland zurückgeschickt; vielleicht macht er dasselbe jetzt mit denen anderer Leute. Ich weiß nicht, es war nur so ein Gefühl.“

„Ich glaube, du bist doch krank. Seit wann lässt sich Calliope Chase von Gefühlen leiten?“

Calliope musste lachen. „Mach dich nur über mich lustig, Clio. Ja, normalerweise analysiere ich die Lage erst, bevor ich mir ein Urteil bilde …“

„Man kann die Dinge auch zu Tode analysieren“, grummelte Clio.

Calliope hörte darüber hinweg. „Ich bin mir meiner Sache gern sicher. Aber würden ihm diese Taten nicht ähnlich sehen? Man muss clever sein, um unbemerkt in solche guten Häuser einzudringen. Man muss sich mit Kunst und Altertümern auskennen, denn es verschwinden nur die allerbesten Stücke. Man muss sich seiner Sache sehr sicher sein, genau wie Lord Westwood. Und man muss eine unkonventionelle Moral haben – genau wie er.“

„Das klingt, als würdest du den Liliendieb bewundern“, meinte Clio leise.

Calliope dachte darüber nach. Diesen gefährlichen Missetäter bewundern, der nicht einfach Objekte stahl, sondern die Geschichte selbst? Absurd! „Ich bewundere seinen Geschmack, aber gewiss nicht seine Ziele. Mir ist das Verschwinden dieser Kunstwerke ein Gräuel, das weißt du doch.“

Clio nickte. „Mir ist klar, wie wichtig dir diese Sache ist. Aber lass dich nicht wieder so hinreißen, wenn es um Lord Westwood geht! Wir haben nichts gegen ihn in der Hand.“

Noch nicht.“ Hinter der Salontür verklangen soeben die letzten Akkorde, und Applaus brandete auf. „Es scheint zu Ende zu sein. Sollen wir Thalia suchen und nach Hause gehen? Es ist schon spät.“

4. KAPITEL
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„Guten Morgen, Miss Chase!“ Mary zog die Vorhänge zurück, und das gelbgraue Vormittagslicht flutete das Schlafzimmer.

Am liebsten hätte Calliope sich die Bettdecke über den Kopf gezogen. Schon aufstehen? Sie war doch gerade erst eingeschlafen! Den größten Teil der Nacht hatte sie sich herumgewälzt und an ihre Szene mit Lord Westwood gedacht.

Clio hatte bestimmt recht: Sie musste Fieber gehabt haben; sonst hätte sie ihn niemals so unüberlegt mit ihrem Verdacht konfrontiert. Jetzt war er gewarnt, und die Gesellschaft der kunstverständigen Damen würde es schwerer haben, ihn zu überführen.

„War der Musikabend schön, Miss Chase?“ Mary stellte ein Tablett mit heißer Schokolade und gebutterten Brötchen auf dem Nachttisch ab.

„Ja, danke, Mary.“ Calliope drückte die Kissen an das hohe Kopfteil des Bettes und richtete sich auf, um dem Tag ins Auge zu sehen. Niemand hatte je eine Schlacht gewonnen, indem er tatenlos den Kopf hängen ließ! „Sind meine Schwestern schon auf?“

„Miss Thalia ist bereits zum Musikunterricht gegangen“, antwortete Mary, während sie die Garderobe durchsah. „Und Miss Clio frühstückt gerade mit Ihrem Vater und Miss Terpsichore. Sie hat Ihnen ein Briefchen geschrieben, es liegt auf dem Tablett.“

Während das Mädchen die Kleidung für den Tag bereitlegte, aß Calliope ein Rosinenbrötchen und las Clios Botschaft.

Callie, stand da in Clios energischer Handschrift, ich glaube, wir brauchen eine Luftveränderung. Sollen wir mit Cory in den Elgin-Saal gehen? Sie mag die Skulpturen doch so, und wir können reden, ohne dass Vater etwas mitbekommt.

Calliope seufzte. Ihr Vater würde ihnen im British Museum nicht zuhören, aber dafür halb London. Doch Clio hatte recht: Nach dem gestrigen Abend mussten sie ihre Gedanken ordnen, und welche Umgebung konnte sich dafür besser eignen als die erhebenden Friese und Statuen des Parthenons? Terpsichore – Cory – war gerade dreizehn geworden und sehnte sich danach, endlich als junge Dame behandelt zu werden. Sie war erst kürzlich von ihren jüngeren Geschwistern getrennt worden, die mit ihren Kindermädchen und Gouvernanten auf dem Land lebten, und verdiente eine kleine Belohnung.

Und im Museum würde ihr Lord Westwood bestimmt nicht über den Weg laufen. Der Mann stand gewiss erst nachmittags auf, und die Skulpturen, die Lord Elgin aus Griechenland nach London geschafft hatte, mussten ihm zutiefst verhasst sein.

„Mary, ich brauche ein Ausgehkleid und den warmen Mantel“, sagte sie und stürzte den Rest ihrer Schokolade hinunter. „Und mein Schoßpult. Ich will den Mitgliedern unserer Gesellschaft schreiben.“

Sie mussten sich einen Schlachtplan zurechtlegen.

Das British Museum war so etwas wie das zweite Zuhause des Chase-Musen. Seit ihrer frühsten Kindheit waren sie von den Eltern hierhin mitgenommen worden, hatten sich peu à peu mit den Räumen vertraut gemacht und dank der lebendigen Erzählungen ihres Vaters eine tiefe Zuneigung zur Antike und den schönen Exponaten gefasst. Viele ihrer Lieblingsstücke – griechische Vasen, ägyptischen Skulpturen, Wikingerhelme – waren im Skizzenbuch der Mutter festgehalten, das Clio wie ihren Augapfel hütete, seit ihre Mama vor drei Jahren bei der Geburt der jüngsten Muse Polyhymnia gestorben war.

Aber den Saal, der den Schwestern der liebste von allen war, hatte ihre Mutter nie kennengelernt, da die Elgin-Sammlung erst nach ihrem Tod „vorübergehend“ hier ausgestellt worden war. Mittlerweile hatte sie den Charakter einer Dauereinrichtung angenommen.

Als sie die breite Treppe hinaufschritten und die gigantischen Säulen passierten, um in dieses Allerheiligste zu gelangen, bettelte Cory: „Können wir uns nachher noch die Mumien ansehen?“

Clio lachte. „Du makabres Kind! Du bist doch nur auf Gruselgeschichten aus, mit denen du deine kleinen Schwestern erschrecken kannst. Aber gut, wenn genug Zeit bleibt …“

Cory rümpfte die Nase. „Also nicht. Ihr bleibt doch immer Stunden hier.“

„Als würden dir die Skulpturen nicht auch gefallen, mein Äffchen“, sagte Calliope. „Vielleicht können wir nach den Griechen und den Ägyptern noch ein Eis essen gehen.“

Beglückt durch die Aussicht auf Mumien und etwas Süßes sprang Cory davon, um wieder einmal ihre Lieblingsskulptur zu zeichnen: den Kopf eines Pferdes vom Wagen der Mondgöttin, dessen feuchte Mähne nach den Anstrengungen der Reise über den Himmel schlaff herabhing. Calliope und Clio schlenderten zur Rückwand, an der ein Fries hing, der eine Festtagsprozession zeigte. Trotz des stetigen Besucherstroms, der an den riesigen Statuen des Theseus und einer kopflosen Göttin im Faltengewand vorbeizog, ging es hier relativ ruhig zu.

Calliope blickte zu einer Reihe junger Frauen in wunderschönen Chitonen und Umhängen auf, die mit natürlicher Anmut Gefäße und Schalen für ein Trankopfer trugen. Sie wurden nicht so präsentiert, wie sie es verdient hätten: Der Raum war mit Ausstellungsstücken vollgestopft, die Fenster waren zu klein, die Wände zu dunkel. Calliope ging beim Anblick ihrer klassischen, unvergänglichen Schönheit dennoch jedes Mal das Herz auf, und heute war sie wegen der Schatten unter ihren Augen sogar froh, dass es hier so düster war.

„Morgen Nachmittag trifft sich unsere Gesellschaft“, erklärte sie Clio.

Clio wandte den Blick nicht von der Leitfigur der Prozession, die ein Weihrauchgefäß vor sich in die Höhe hielt, aber das leichte Lächeln schwand von ihren Lippen. „Schon wieder? Normalerweise tagen wir doch wöchentlich.“

„Die Sache duldet keinen Aufschub. Der Ball des Duke of Averton steht kurz bevor. Wir müssen uns vorbereiten.“

„Glaubst du immer noch, dass … besagte Peron vorhat, an dem Abend die Alabastergöttin zu stehlen?“

„Ich weiß es nicht. Wir müssen uns auf alles gefasst machen, auch darauf, dass nichts passiert. Der Ball kann ganz friedlich ausgehen – na ja, so friedlich, wie ein Fest in Avertons Haus eben sein kann. Die Statue bleibt, wo sie ist …“

„Sie wird eben nicht bleiben, wo sie ist!“ Clio umklammerte den Knauf ihres Regenschirms wie den Griff eines Schwerts, sodass Calliope kurz um das Wohlergehen der vorbeischlendernden Besucher fürchtete. „Averton wird sie in seine schreckliche Festung in Yorkshire schaffen, wo sie nie wieder jemand zu Gesicht bekommt! Er ist ein gemeiner Egoist, dem seine Sammlungsstücke im Grunde nichts bedeuten. Findest du wirklich, dass die arme Artemis bei ihm besser aufgehoben ist als in den Händen des Liliendiebs?“

Calliope biss sich auf die Lippe. „Lord Averton wird nicht umsonst ‚Lord Aversion‘ genannt; ich kann ihn ebenso wenig leiden wie du, Clio. Aber wenigstens wüssten wir, wo die Statue ist, und eines Tages könnte ein Museum oder ein verantwortungsbewusster Sammler sie erwerben. Wenn der Liliendieb sie an sich reißt, bleibt sie vielleicht für immer verschwunden.“

„ Bei aller Liebe, Callie, manchmal bist du einfach völlig auf dem Holzweg.“ Regenschirmschwingend stolzierte Clio davon.

Calliope schluckte und versuchte sich wieder auf den Fries zu konzentrieren. Clio und sie standen sich sehr nahe – verbunden durch ihre Leidenschaft für Geschichte und durch die Notwendigkeit, ihren jüngeren Schwestern die verstorbene Mutter zu ersetzen. Und sie wusste, dass Clios Wutausbrüche schnell verebbten. Aber unangenehm blieben ihre kleinen Auseinandersetzungen dennoch.

Was ist es nur, das mich in letzter Zeit immer wieder anecken lässt, überlegte Calliope. Erst der Streit mit Lord Westwood, jetzt mit ihrer Schwester. Sie rieb sich die brennenden Augen, und als sie wieder...

Autor

Amanda Mc Cabe
<p>Amanda McCabe schrieb ihren ersten romantischen Roman – ein gewaltiges Epos, in den Hauptrollen ihre Freunde – im Alter von sechzehn Jahren heimlich in den Mathematikstunden. Seitdem hatte sie mit Algebra nicht mehr viel am Hut, aber ihre Werke waren nominiert für zahlreiche Auszeichnungen unter anderem den RITA Award. Mit...
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