Love & Hope Edition Band 9

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EINE FAMILIE IST DAS SCHÖNSTE GESCHENK von RENEE RYAN

Ethan unterstützt seine Nachbarin Keeley, als diese sich um die Tochter ihrer Cousine kümmern muss. Aber nur, damit die Kleine ein schönes Weihnachtsfest hat – nicht, weil er sich nach einer Familie sehnt! Nach einem schmerzlichen Verlust hat er der Liebe abgeschworen …

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Leseprobe

Renee Ryan, April Arrington, Linda Goodnight

LOVE & HOPE EDITION BAND 9

Renee Ryan

1. KAPITEL

Als an diesem Abend das Telefon klingelte, war es bereits nach zehn. Ethan Scott sah sich im Fernsehen gerade ein Footballspiel an, auf das er sich seit Tagen gefreut hatte. Wer störte ihn um diese Zeit noch?

Er hasste es, wenn jemand zu so später Stunde anrief. Jedes Mal fuhr er dann erschrocken zusammen und erinnerte sich an den Moment, in dem er von dem Tod seiner Eltern erfahren hatte. Sie waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und als das älteste von vier Kindern war es an ihm gewesen, die Leichen zu identifizieren, seine Geschwister zu informieren und sich um die Beisetzung zu kümmern. Das alles hatte Ethan irgendwie hinter sich gebracht. Damals und noch einmal eineinhalb Jahre später, als es einen zweiten Unfall gegeben hatte, bei dem seine Verlobte gestorben war.

Das schrille Klingeln fand noch immer kein Ende. Sollte er den Anruf einfach ignorieren? Seine Festnetznummer kannte kaum jemand. Wenn es ein medizinischer Notfall war, würde man ihn auf dem Handy anrufen. Endlich gab der Anrufer auf. Ethan versuchte, die düsteren Erinnerungen beiseitezuschieben und sich wieder auf das Spiel zu konzentrieren. Sein Team lag immerhin vorne!

Dann jedoch schellte es wieder und Ethans Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Gott würde ihm so etwas nicht ein drittes Mal antun, bestimmt nicht. Die Trauer, die er in sich trug, reichte für ein ganzes Leben. Er stellte den Fernseher leise und ging in die Küche. Das Geräusch von Pfoten, die über die Fliesen tapsten, verriet ihm, dass sein schwarzer Labrador ihm gefolgt war. Er streichelte Baloo über den Kopf und warf dann einen Blick auf das Display des Telefons.

Keely O’Toole.

Wieder zog Ethans Magen sich zusammen, aber aus einem anderen Grund. Er und seine Nachbarin gingen sich so weit wie möglich aus dem Weg. Also musste es einen wichtigen Grund für ihren Anruf geben. Daher nahm er das Gespräch nun doch entgegen.

„Hier ist Ethan.“

Keely seufzte am anderen Ende der Leitung müde.

„Ist Ryder zu sprechen?“

„Dir auch einen guten Abend, Keely.“

Sie seufzte erneut und klang frustriert. „Ist er jetzt da oder nicht?“

„Nein. Er hat Nachtschicht im Krankenhaus.“

„Mist.“

Ihr Tonfall war alarmierend. Sowohl Ethan als auch seine jüngeren Brüder waren Ärzte. Ethan selbst war Allgemeinmediziner, Brody war für die Ärzte ohne Grenzen im Einsatz. Ryder jedoch arbeitete als Notarzt.

„Sprich mit mir, Keely. Was ist los?“

„Ich brauche deine Hilfe.“

Irgendetwas Ernstes musste im Gange sein!

„Bist du verletzt?“

„Nein, es geht um Felicity. Sie ist richtig krank und ich weiß nicht, was ich machen soll. Muss ich mit ihr in die Notaufnahme fahren, bei diesem Wetter, oder kann ich abwarten? Ich mache mir solche Sorgen!“

Felicity. Wer war das? Endlich erinnerte Ethan sich an das kleine Mädchen, das kürzlich bei Keely eingezogen war. Er kannte die genaue Geschichte nicht, aber sie war auf unbestimmte Zeit ihr Vormund.

„Was ist denn mit ihr?“

„Sie hat Bauchweh.“

„Muss sie sich übergeben?“

„Nur einmal bisher, das war so ungefähr vor einer Stunde.“

„Wann hat sie denn zum letzten Mal etwas gegessen?“

„Gegen sechs.“

Er warf einen Blick auf die Uhr. „Und was?“

„Einen Hamburger, Pommes und ein Zimtbrötchen. Ich weiß, das ist nicht besonders gesund, aber morgen fängt die Schule an und wir waren im Einkaufszentrum, um ihr noch ein paar Klamotten zu besorgen. Es sind zwar nur noch zwei Wochen bis zu den Weihnachtsferien, aber ich dachte …“

Ethan unterbrach sie. „Einen Moment. Hat sie Fieber?“

Keely atmete hörbar aus. „37,6 Grad. Ethan, kannst du rüberkommen und nach ihr sehen?“

„Bin schon unterwegs.“ Er legte auf und ging zur Garderobe. Baloo folgte ihm, einen erwartungsvollen Ausdruck in den dunklen Augen. Ethan hatte den Hund aus Afghanistan mitgebracht und ihn längst fest in sein Herz geschlossen.

„Tut mir leid, Kumpel. Ich kann dich nicht mitnehmen.“

Baloo jaulte.

„Es dauert nicht lang.“ Ethan streichelte den Hund. „Wir gehen raus, wenn ich wieder da bin. Mach Platz.“

Der Hund gehorchte und Ethan zog seinen Mantel über. Es hatte Neuschnee gegeben, aber zum Glück wohnte Keely gleich nebenan. Wie er wohnte auch sie in ihrem Elternhaus. Keelys Eltern lebten allerdings noch; sie waren nach Arizona gezogen.

Die Tür wurde aufgerissen, bevor er klopfen konnte.

„Warum hat das so lange gedauert?“

Sie klang hochgradig besorgt, deshalb nahm er ihr den vorwurfsvollen Tonfall nicht übel.

„Schneller ging es nicht.“

„Steh da nicht rum, komm endlich rein.“

Er verkniff sich erneut eine Erwiderung. So war Keely nun einmal. Sie war schon als Kind mit seiner Schwester befreundet gewesen, aber seitdem war aus ihr eine erwachsene, schöne Frau geworden. Sie hatte lange rote Haare, funkelnde grüne Augen und eine traumhafte Figur. Trotzdem war sie im Grunde immer noch das nervige Mädchen, das Ethan nur ertrug, weil sie die beste Freundin seiner Schwester war. Doch irgendetwas hatte sich zwischen ihnen verändert, es lag ein beredtes Schweigen in der Luft, wenn sie sich trafen, eine gewisse Anspannung. Das ging seit fast einem Jahr so, also seit sie aus New York zurück nach Colorado gezogen war. Ethan folgte ihr ins Haus.

„Wo ist die Patientin?“ Er versuchte, das aufgeregte Grummeln in seiner Magengegend zu ignorieren.

„Sie heißt Felicity.“

„Stimmt.“ Ethan zog seinen Mantel aus und warf ihn auf eine Bank. „Wo ist sie?“

„Oben, in ihrem Zimmer.“

Keely klang panisch und ihre Augen flackerten unruhig.

Sanft berührte Ethan sie am Arm. „Bleib ruhig, Keely. Ich kümmere mich um das Mädchen.“

Sie atmete tief ein und die Kratzbürstigkeit, mit der sie ihm sonst immer begegnete, war auf einmal verschwunden. „Danke.“

„Wie alt ist sie denn?“

„Sie ist letzten Monat sieben geworden.“

Auf einmal war Ethans Kehle wie zugeschnürt. Er schluckte schwer und musste sich zwingen, Keely die Treppe hinauf zu folgen. Nein, es war zu unwahrscheinlich! Es gab keinen Grund, sich verrückt zu machen.

Im Flur roch es nach Blumen, Möbelpolitur und frischem Brot. Er war seit Jahren nicht in diesem Haus gewesen, sondern war Keely immer aus dem Weg gegangen.

Warum eigentlich? Er mochte die erwachsene Keely, jedenfalls wenn sie nicht gerade schnippisch zu ihm war. In der Vergangenheit hatte es ein paar unschöne Situationen gegeben, ja, aber das musste doch nicht heißen, dass sie heutzutage nicht gut miteinander auskommen konnten. Vielleicht konnten sie sogar Freunde werden. Sie war inzwischen neunundzwanzig Jahre alt, er vierunddreißig. Kein großer Altersunterschied für Erwachsene.

Im oberen Geschoss blieb Keely vor der zweiten Tür rechts stehen und sah ihn an.

„Keely, wenn ich das Mädchen untersucht habe, würde ich gern mit dir …“ Das Jammern eines Kindes unterbrach ihn. Ethans Herzschlag beschleunigte sich, er meinte, das Blut in seinen Ohren rauschen zu hören. Erinnerungen an eine Zeit voller Kummer und Verlust suchten sich ihren Weg in sein Bewusstsein und drohten, ihn zu ersticken. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er so heftig reagieren würde. Er sah doch jeden Tag Kinder. Er zwang sich, nicht an Fort Bragg zu denken. An die Zeit, als er dachte, er würde ein Ehemann sein, ein Vater. Sie hatte das Lenkrad verrissen, um einem Stinktier auszuweichen. Dieser Bruchteil einer Sekunde hatte ihm die Zukunft gestohlen. Aber hier ging es nicht um ihn. Ethan biss sich auf die Unterlippe, schob die Erinnerungen beiseite und betrat das Kinderzimmer.

Keely fragte sich, was mit Ethan los war. Er hatte bei seinem Eintreffen nicht besonders angespannt gewirkt, aber seit er ihr über die Treppe nach oben gefolgt war, kam er ihr geistesabwesend vor. Der hochgewachsene Mann mit den breiten Schultern näherte sich Felicitys Bett. Mit den glänzenden, schwarzen Haaren und den blassblauen Augen sah er gut aus und die Bartstoppeln unterstrichen seine Attraktivität nur noch, indem sie ihm etwas leicht Verwegenes gaben.

Er war mal Ranger bei der Armee gewesen; die Uniform hatte ihm bestimmt gut gestanden. Keely schob den Gedanken beiseite und betete innerlich, dass er als Arzt wirklich so gut war, wie es jeder hier in der Kleinstadt Village Green behauptete. Keely trat ebenfalls neben Felicitys Bett und musterte Ethan aus dem Augenwinkel. Er trug eine verwaschene Jeans und ein Langarmshirt mit einem albernen Spruch. Typisch Ethan.

„Du musst Felicity sein“, begrüßte er die Patientin in diesem Moment mit seiner tiefen, etwas rauen Stimme. Kam es Keely nur so vor oder klang er gequält?

„Ich bin Ethan, dein Nachbar. Ich bin Arzt.“

Felicity sah ihn aus ihren blauen Augen staunend an. „Du siehst gar nicht aus wie ein Arzt.“

„Mein weißer Kittel ist in der Praxis.“ Er atmete hörbar ein, dann nahm er vorsichtig auf der Bettkante Platz, während er das Kind aufmerksam musterte.

„Dir geht es nicht gut, oder?“

Felicity nickte so heftig, dass ihre blonden Locken auf und ab wippten.

„Mein Bauch tut so weh.“

„Und wo genau?“

„Überall.“ Sie wimmerte.

Keely sah das Mädchen mitleidig an. Seit Monaten hatte sie sich darum bemüht, von einer sorgenfreien Singlefrau zum Vormund dieser Siebenjährigen zu werden, aber erst seit einer Woche war alles in trockenen Tüchern.

„Okay, Felicity, ich werde …“

„Du kannst mich Flicka nennen.“ Die Kleine zuckte mit den Schultern. „Wenn du willst.“

Ethan lächelte.

„Also gut, Flicka. Ich taste dich einmal ab. Wenn es irgendwo weh tut, sag mir bitte Bescheid.“

Das Mädchen nickte und obwohl sie sich an der Bettdecke festkrallte, entging Keely nicht, dass sie Ethan offenbar vertraute.

Ganz vorsichtig drückte er auf ihren Bauch. Als er unten rechts angelangte, hielt Keely die Luft an.

„Wie ist es hier?“, fragte er. „Tut das weh?“

„Eigentlich nicht.“

„Super, Flicka. Gleich haben wir es geschafft.“

Er führte noch einige Tests durch, dann stand er auf und verabschiedete sich von Felicity. Sobald Keely mit ihm außer Hörweite im Flur stand, fragte sie: „Ist es der Blinddarm?“

„Ich glaube nicht.“

„Sicher?“

„Die typischen Stellen sind schmerzfrei, geschwollen ist auch nichts. Aktuell gehe ich davon aus, dass wir keinen Ultraschall oder Laboruntersuchungen brauchen.“

Er sprach leise, als ob er sie beruhigen wollte.

„Aber was ist es dann?“

„Sie hat einfach Magenschmerzen.“

„Kann sie etwas dagegen bekommen?“

„Sie soll trinken und sich ausruhen. Wenn die Symptome anhalten oder schlimmer werden, ruf mich an. Dann komme ich wieder.“

Wie konnte er nur so ruhig sein? Begriff er denn nicht, wie besorgt sie war?

„Ich kann es nicht mit ansehen, wenn es der Kleinen so schlecht geht.“

„Entspann dich, Keely. Sie hatte vermutlich Stress oder es liegt am Fast Food. Vielleicht auch beides.“

„Also ist es meine Schuld?“

„Das habe ich nicht gesagt. Kinder haben ständig Bauchweh, das wird schon wieder.“

„Ich fühle mich so hilflos.“

„Du hast mich angerufen, das war genau richtig.“

Eigentlich hatte sie Ryder angerufen. Ethans zwei Jahre jüngerer Bruder war viel umgänglicher als er. Er sah Ethan ähnlich und war ebenfalls sehr attraktiv, aber mit ihm kam sie viel besser zurecht.

„Im Ernst, Keely. Du kannst jederzeit anrufen.“

Sie starrte ihn an. „Wieso bist du auf einmal so nett?“

„Ich bin einfach ein freundlicher Typ.“ Er grinste und erinnerte sie an den Teenager, von dem sie als Jugendliche so oft geträumt hatte. Nicht an den Jungen, der sie zweimal vor seinen Freunden bloßgestellt hatte.

„Die ganze Elternsache ist noch neu für dich“, ergänzte er. Mitgefühl funkelte in seinen Augen. Dennoch meinte sie, auch einen Hauch von Traurigkeit in seinen Zügen zu erkennen. Ethan war ein Buch mit sieben Siegeln für Keely, dabei liefen sie sich häufig über den Weg. Nicht zuletzt, weil er oft seine Mittagspause in ihrem Restaurant, dem Senor O’Toole’s, verbrachte. Seine Geheimniskrämerei frustrierte sie meistens, aber heute wirkte er anders als sonst. Verletzlicher. Am liebsten hätte sie eine Hand nach ihm ausgestreckt, doch sie blieb standhaft.

„Also kommt alles wieder in Ordnung mit Felicity?“

„Ich denke schon.“

Keely folgte Ethan die Treppe hinunter und sah zu, wie er seinen Mantel überzog.

„Du kannst jederzeit anrufen“, wiederholte er.

„Das mache ich und noch mal danke, dass du so schnell gekommen bist. Ich weiß deine Hilfe wirklich zu schätzen.“

„Gern geschehen.“

Er lächelte sie warmherzig an und zu ihrem eigenen Erstaunen schien ihr Herz einen Hüpfer zu machen. „Gute Nacht, Keely.“

„Gute Nacht, Ethan.“

Er öffnete die Tür und verschwand in die Dunkelheit.

2. KAPITEL

Nun, da die größte Sorge um Felicity überstanden war, bekam Keely Ethan nicht mehr aus dem Kopf. Er war kaum wiederzuerkennen gewesen. Welch eine Ruhe er ausgestrahlt hatte, wie liebevoll er sich um das Mädchen gekümmert hatte. Als er gegangen war und mit ihm sein Lächeln und seine Besonnenheit, fühlte sie sich irgendwie einsam. Sie hatte lange versucht, ihre Tage mit möglichst viel Aktivität zu füllen und Freizeit zu vermeiden, so gut es eben ging. Das Letzte, was Keely brauchte, war Spott. Oder dass ihr jemand noch einmal das Herz brach. Vor einem Jahr war die Beziehung zu ihrem Verlobten, William Cutter Sloan III, gescheitert. Seitdem schlafwandelte sie förmlich durch ihr Leben und versteckte ihren Schmerz und ihre Demütigung hinter der Arbeit. Nur gut, dass es jetzt Felicity in ihrem Leben gab! Sie würde alles tun, um der Kleinen ein gutes Zuhause zu bieten. Dazu brauchte es Glauben, Hoffnung und Liebe. Liebe war der Anfang von allem, sagte der Pastor oft und inzwischen verstand sie, was er damit meinte. Sie ging die Treppe hoch und atmete vor Felicitys Zimmertür ein paar Mal tief ein und aus. Laut Ethan fehlte dem Mädchen nichts Ernsthaftes. Hoffentlich behielt er recht. Die Kleine war die Tochter ihrer Cousine und Keely würde es sich nie verzeihen, wenn dem Kind etwas zustoßen sollte. Immerhin hatte sie Juliette versprochen, auf sie zu achten, bis sie selbst wieder dazu in der Lage war. Aber wann würde das sein? In sechs Jahren, in neun? Oder würde es wirklich ganze zwölf dauern? Das lag in den Händen der Justiz und daran, ob Juliette durch gute Führung auffiel. Ihre Cousine hatte einen fürchterlichen Fehler begangen, verdiente aber dennoch Vergebung. Trotzdem fragte Keely sich immer wieder, warum Juliette sie oder ein anderes Familienmitglied nie um Hilfe gebeten hatte. Sie hatte nicht einmal Keelys Zwillingsbruder Beau gefragt, obwohl der als erfolgreicher Skifahrer geradezu in Geld schwamm.

Ihr Stolz hatte Juliette nicht nur die Freiheit gekostet, sondern sie auch der Möglichkeit beraubt, ihre Tochter aufwachsen zu sehen. Nun war es an Keely, in den entscheidenden Lebensjahren auf Felicity achtzugeben.

Gott, bitte hilf mir, Felicity auf ihrem Weg ins Leben beizustehen.

Leise seufzend betrat sie das Kinderzimmer. Felicity lag mit geschlossenen Augen auf der Seite, die Hände unter dem Kinn gefaltet. Sie sah so niedlich aus, so unschuldig. Keely schluckte gegen den Kloß an, den sie auf einmal im Hals spürte. Bevor sie am letzten Samstag zu ihr gezogen war, hatte sie die Kleine nur dreimal getroffen. Nichts hatte sie darauf vorbereitet, wie schnell das Mädchen ihr Herz erobern würde. Konnte sie vielleicht doch wieder lieben?

Felicity öffnete die Augen, als hätte sie Keelys Anwesenheit gespürt.

„Hey, Kleines.“ Keely trat näher und lächelte. „Wie geht’s dir?“

„Ein bisschen besser“, krächzte sie heiser. „Ich habe Durst.“

„Das kann ich mir vorstellen.“ Keely griff nach der Tasse mit Wasser, die sie schon bereitgestellt hatte. Sie half dem Mädchen, sich aufzusetzen und ein paar Schlucke zu trinken. Dann ließ Felicity sich mit einem Seufzer wieder in ihr Kissen sinken. Keely stellte die Tasse zurück auf den Nachttisch und strich der Kleinen eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Sie sah ihrer Mutter so ähnlich!

„Morgen bist du bestimmt wieder richtig gesund.“

„Das glaube ich nicht.“ Felicity wirkte erschrocken. „Ich meine, nicht richtig. Nicht gesund genug, um zur Schule zu gehen.“

Keely biss sich auf die Unterlippe. Ethan hatte richtiggelegen. Felicity hatte wohl wirklich vor Stress Bauchschmerzen bekommen. Genauer gesagt, aus Angst vor der neuen Schule. Verständlich, hatte die Kleine doch in den letzten Monaten schon dreimal die Schule gewechselt. Das arme Kind. Ihre Mutter hatte Gelder ihres Arbeitgebers unterschlagen und seitdem sie erwischt worden war, war Felicitys Leben ein einziges Chaos. Während des Prozesses hatte sie bei ihrer Großmutter gewohnt, doch nach dem Urteil war sie nun zu Keely gezogen, die offiziell als ihr Vormund benannt worden war. Das war ganz schön viel für einen so jungen Menschen. Es konnte bestimmt nicht schaden, sie ein wenig zu verwöhnen.

„Ich habe nachgedacht.“ Keely räusperte sich. „Es ist schon spät und du hast zu wenig geschlafen. Wir können den Schulstart um ein paar Tage verschieben, denke ich.“

„Wirklich? Ich muss morgen nicht hingehen?“

„Nein, musst du nicht.“

Felicitys Miene hellte sich auf und auf einmal sah man in ihren kindlichen Gesichtszügen, wie schön sie einmal werden würde. Die O’Toole-Familie war schon seit Generationen für gutes Aussehen und Charme bekannt, einige von Keelys Vorfahren waren bekannte Theaterschauspieler gewesen. Keely selbst hatte kein schauspielerisches Talent, hatte sich aber nach der Schule in New York als Model versucht. Nach nicht einmal drei Wochen war ihr allerdings klar geworden, dass sie in ein Büro gehörte, nicht auf einen Laufsteg. Sie hatte dann bei einer Künstleragentur gearbeitet, aber nach zehn Jahren in der Großstadt war sie froh, wieder zu Hause zu sein. Ihr Bruder lebte ebenfalls in Village Green, genau wie ihre beste Freundin Olivia Scott, aus der inzwischen die verheiratete Olivia Mitchell geworden war. Und dann gab es jetzt auch noch dieses kleine Mädchen, das auf sie angewiesen war.

„Keely?“

„Ja?“

Felicity seufzte leise. „Glaubst du, dass meine Mutter mich vermisst?“

„Natürlich vermisst sie dich.“

„Ob sie ohne mich einsam ist?“

„Deine Mutter liebt dich“, wich Keely aus. „Nächsten Monat besuchen wir sie. Und du kannst ihr jederzeit schreiben.“

Zu Beginn ihrer Haftstrafe durfte Juliette nur einmal pro Monat Besuch empfangen, später würde sie Felicity jedoch jede Woche sehen dürfen. Weihnachten würde bestimmt schwierig werden. Ihren Vater kannte Felicity gar nicht, er hatte schon vor ihrer Geburt auf das Sorgerecht verzichtet. Keely würde alles dafür tun, Felicity ein schönes Fest zu bereiten. Natürlich konnte sie ihr den Schmerz nicht nehmen, aber zumindest wollte sie die Kleine ablenken.

„Ich weiß, es ist schwer ohne deine Mom, aber ich bin immer für dich da, Felicity.“

Schluchzend warf das Mädchen sich in Keelys Arme. Sie zog die Kleine eng an sich.

„Ich werde mich gut um dich kümmern, das verspreche ich!“ Sanft wiegte sie das Kind in ihren Armen und erst, als Felicity sich merklich entspannte, half sie ihr, sich wieder hinzulegen.

„Liest du mir noch etwas vor?“

„Gerne.“ Sie sah den Bücherstapel durch, der neben dem Bett lag.

„Oh, wie wäre es hiermit? Meine Freundin Flicka?“

So hatte Felicity von Ethan genannt werden wollen. Keely schmunzelte.

„Ja, bitte!“

Keely begann, die Geschichte über ein Pferd vorzulesen, doch sie konzentrierte sich mehr auf Felicity als auf das Buch. Sie war ein liebes, freundliches Kind. In einigen Jahren würde sie so manchem Jungen das Herz stehlen! Hoffentlich wartete ein gutes Leben auf sie, hoffentlich erging es ihr anders als Juliette. Sie würde Felicity helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sie würde sie lieben, ihr ein stabiles Zuhause schenken und sie natürlich auch mit zur Kirche nehmen.

Am Ende des ersten Kapitels war Felicity eingeschlafen. Den Rest des Abends verbrachte Keely damit, ihre Termine durchzusehen. Sie erkundigte sich bei ihren Angestellten, ob sie im Restaurant noch ein paar Tage ohne sie zurechtkamen, und bat ihren Bruder, gelegentlich dort vorbeizuschauen. Sein Skigeschäft lag direkt neben dem Lokal, sodass es ihm keine großen Umstände bereitete. Vielleicht konnte sie es wirklich schaffen, Felicity ein gutes Zuhause zu bieten.

Bitte, Herr, hilf mir, alles richtig zu machen!

Die Sonne war gerade erst aufgegangen, als Felicity in die Küche tapste, wo Keely gerade eine Tasse Kaffee trank.

„Hallo“, begrüßte sie das Mädchen. „Ich wollte eigentlich gleich nach dir sehen.“

Felicity rieb sich die Augen und gähnte. „Ich habe Hunger.“

Also ging es ihr besser!

„Was hältst du von Pfannkuchen?“

„Lecker.“

Keely bereitete den Teig zu und plauderte dabei mit Felicity über ihre Leibspeisen. Natürlich liebte die Kleine Schokolade und sie beschloss, bald einmal mit ihr in Olivias Chocolaterie vorbeizuschauen. Dann könnte sie auch Olivias Zwillingstöchter Megan und Molly kennenlernen. Sie waren in Felicitys Alter und besuchten ebenfalls die örtliche Grundschule. So könnte Felicity vielleicht in einer geschützten Umgebung schon neue Freundinnen finden. Auf jeden Fall war es besser gewesen, sie heute noch zu Hause zu lassen, dachte Keely und sah zu, wie Felicity sich die Pfannkuchen schmecken ließ. Als sie selbst gerade auch nach einer Gabel griff, klopfte es an der Hintertür. Das war bestimmt Ethan! Keely nagte an ihrer Unterlippe. Eigentlich hatte sie noch nicht genug Koffein intus, um wieder auf ihn zu treffen. Mit seiner Feindseligkeit kam sie zurecht, aber dieses plötzliche Verständnis von gestern hatte sie regelrecht eingeschüchtert. Wieder klopfte es, diesmal lauter.

„Machst du nicht auf?“

„Doch.“ Keely erhob sich und öffnete die Tür. Ethan sah ganz anders aus als gestern. Er war glatt rasiert, trug eine dunkelblaue Anzughose und ein gut sitzendes weißes Hemd. Dazu hatte er eine Lederjacke und eine Sonnenbrille im Pilotenlook kombiniert.

Keelys Puls beschleunigte sich. Verdammt, warum ging er ihr so sehr unter die Haut?

Ethan nahm die Sonnenbrille ab. Er hätte besser anrufen sollen, aber jetzt war es zu spät. Warum war ihm früher eigentlich nie aufgefallen, dass Keelys Augen meergrün waren? Und ihre Wimpern unendlich lang? Er versuchte, wegzusehen, doch er schaffte es nicht, bis ihm auffiel, wie müde sie aussah. Offenbar hatte sie eine unruhige Nacht hinter sich.

„Hat Flicka immer noch Bauchweh?“

„Nein, es geht ihr wieder gut. Sie …“

„Dr. Ethan! Da bist du ja wieder.“

Er freute sich über die überschwängliche Begrüßung und lächelte das Mädchen an, das ihm zuwinkte.

„Hallo, Flicka.“

Sie warf sich in seine Arme, und er drückte sie kurz an sich.

„Da geht es wohl jemandem wieder besser.“

„Ja, zum Glück.“ Sie hüpfte von einem Fuß auf den anderen. „Es tut nichts mehr weh! Kommst du zum Frühstück? Keely hat richtig gute Pfannkuchen gemacht.“

Pfannkuchen. Sein Lieblingsessen! Er warf Keely einen fragenden Blick zu.

„Habt ihr welche übrig?“

„Klar, warum nicht.“ Missmutig ging sie in Richtung Küche. Eine herzliche Einladung war das nicht gerade, aber Ethan war es egal. Er wusste, dass sie eine verdammt gute Köchin war. Das hatte sie von ihrer Mutter geerbt, die das Restaurant der Familie vor ihr geführt hatte.

Flicka nahm ihn an der Hand.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich so schnell wiedersehe.“

Er schmunzelte. „Ich bin doch dein Nachbar. Wir sehen uns jetzt bestimmt oft, vielleicht sogar jeden Tag.“

Keely gab einen widerwilligen Laut von sich.

„Hast du ein Problem damit?“, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern.

„Gar nicht.“ Ihre Worte überzeugten ihn ebenso wenig wie ihr aufgesetzt wirkendes Lächeln. „Ich freue mich über deine Gesellschaft.“

Ethan versuchte, optimistisch zu sein. Vielleicht könnten Keely und er doch noch Freunde werden. Nachbarn sollten schließlich nett zueinander sein!

Ethan ließ sich die fluffigen Pfannkuchen schmecken, während Flicka vor sich hin plapperte. Danach verabschiedete er sich von dem Mädchen und ließ sich von Keely zur Tür begleiten.

„Ich wollte dir noch etwas sagen.“

„Was denn?“

„Zunächst einmal, ich wollte mich nicht durchschnorren, aber das Frühstück war erstklassig. Vielen Dank dafür.“

„Ja … kein Problem. Du lagst übrigens richtig.“

Er hob die Brauen. „Das höre ich immer gern, aber ich weiß gerade nicht, was du meinst.“

Sie zog eine Grimasse. „Wegen Felicitys Bauchschmerzen. Sie waren stressbedingt. Als ich ihr gesagt habe, dass wir den Schulstart verschieben können, ging es ihr gleich besser.“

„Ich fände es aber trotzdem gut, wenn du mit ihr in die Praxis kämst. Für einen Check-up. Du hast doch bestimmt ihre Patientenakte, oder?“

Sie nickte. „Ja, die brauchte ich schon für die Schulanmeldung.“

„Dann bring sie zu dem Termin bitte mit.“

„Okay. Ethan …“ Sie zögerte.

„Keely, die Kleine braucht einen Hausarzt.“

„Ja, natürlich.“ Sie nickte. „Ich mache nachher einen Termin aus.“

„Sehr gut.“

„Aber vielleicht lieber bei einem der anderen Ärzte in deiner Praxis.“

„Wieso?“

„Das … nun, das ist schwer zu erklären.“

„Versuch es.“

Sie senkte den Blick und seufzte leise. „Weil wir Nachbarn sind. Das könnte doch irgendwie unangenehm werden, oder?“

Zwischen ihnen war eigentlich alles unangenehm, aber darum ging es jetzt nicht. Oder doch?

„Ist es wegen der Sache im letzten Jahr? Bei dieser Veranstaltung für Berufseinsteiger?“

„Natürlich nicht“, stieß sie hervor, doch er verstand.

„Na gut, schon“, gab sie zu, als er sie skeptisch musterte. „Teilweise jedenfalls.“

Ethan fröstelte plötzlich. „Wirfst du mir das immer noch vor?“

„Du hast mich vor Parker Thrope und zwei seiner Partner blamiert.“

Ja, er hatte sich eingemischt. Aus gutem Grund.

„Der Kerl war verheiratet!“

„Na und?“

„Verheiratet“, wiederholte er.

„Parker und ich haben uns nur unterhalten.“ Sie schnaubte und Ethan stöhnte innerlich. Sie würde ihm nie glauben, dass er nur ihr Bestes gewollte hatte. Sie war neu in der Stadt gewesen und hatte keine Ahnung gehabt, was für ein Typ Parker wirklich war.

„Ich sage ja gar nicht, dass diese Unterhaltung nicht ohne Hintergedanken war. Von deiner Seite aus. Aber bei ihm war es anders.“

„Das kannst du nicht wissen.“

„Parker Thrope ist ein Playboy. Das war er immer und das wird er immer bleiben.“

„Das hast du auch über Kenny Noble gesagt.“

Ethan runzelte die Stirn. „Der war damals achtzehn. Und du erst zwölf!“

„Ich war dreizehn. Und ich habe nur mit ihm geredet.“

„Du warst auf jeden Fall zu jung.“

Sie verdrehte die Augen. „Du hättest ihm aber nicht vor dem ganzen blöden Footballteam mein Alter verraten müssen!“

Okay, da lag sie wohl richtig. Ethan rieb sich das Kinn und versuchte, sich zu verteidigen. „Ich wollte dich nur beschützen.“

„Indem du mich vor all deinen Freunden erniedrigst?“

Das hatte er gar nicht gewollt. Die Jungs hatten abfällige Bemerkungen gemacht und deshalb war er verärgert gewesen.

„Ich muss jetzt rein. Felicity fragt sich bestimmt schon, wo ich bleibe.“ Sie wandte sich ab.

„Keely, warte. Vergiss bitte nicht, den Termin zu machen.“

Ohne sich umzusehen, nickte sie. „Das mache ich heute noch.“

Sie klang aufgewühlt. Keely war eigentlich nicht nachtragend. Wenn sie ihm die Sache mit dem Footballteam und Parker noch immer übel nahm, musste er sie wirklich getroffen haben. Dann war es an ihm, es wiedergutzumachen. Wenn er nur wüsste, wie.

3. KAPITEL

Der Rest des Vormittags verlief für Ethan kaum besser. Ein ganzer Stapel Laborberichte wartete auf ihn, viele Anrufe mussten erledigt werden und alles schien gleichermaßen eilig zu sein. Als er gerade dabei war, einen Bericht zu diktieren, wurde sein Computerbildschirm schwarz.

„Nicht auch das noch!“ Er hackte auf ein paar Tasten ein, aber die Arbeit der letzten Stunde war verloren. Na wunderbar!

Er versuchte, sich zu konzentrieren, doch immer wieder wanderten seine Gedanken zurück zu dem Frühstück bei Keely. Wie eine kleine Familie hatten sie am Tisch gesessen und zu seinem eigenen Erstaunen hatte ihm das gefallen. Ihm war klar, dass er wie in einer Warteschleife lebte, es ging in seinem Leben nicht vor und nicht zurück. Vielleicht würde er nie bereit für eine neue Beziehung sein, aber trotzdem musste sich etwas ändern. Er musste wieder am Leben teilnehmen. Nur wie? Möglicherweise könnte er wenigstens etwas für die Gemeinde tun. Er öffnete sein Mailprogramm und schrieb an Hardy Bennett, seinen früheren Klassenkameraden, der inzwischen Bürgermeister von Village Green war. Wenn es eine Möglichkeit für Ethan gab, sich irgendwo ehrenamtlich einzubringen, würde Hardy sich bestimmt bei ihm melden. Ethan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, als er die Nachricht abgeschickt hatte. Warum fühlte er sich jetzt nicht besser? Warum wurde er das Gefühl nicht los, dass seine Unterstützung nicht irgendwo gebraucht wurde, sondern im Nachbarhaus? Immer wieder musste er an Flickas Augen denken. Er meinte, ihren Verlust darin gesehen zu haben. Einen Verlust, der seinem eigenen ähnelte. Er wusste genau, wie es war, wenn einem die Zukunft einfach entglitt. Seine Sprechstundenhilfe lugte um die Ecke. Sie trug eine kleine Weihnachtsmannmütze und Ohrringe in der Form von Christbaumkugeln. Also hatte die Vorweihnachtszeit offiziell begonnen!

„Ihre erste Patientin ist da, Dr. Scott.“

Stirnrunzelnd sah er auf seine Uhr. Tasha Dupree legte immer viel Wert auf Pünktlichkeit, aber heute musste sie sich irren.

„Mein erster Termin ist doch erst um neun.“

„Die Patientin ist zur offenen Sprechstunde gekommen und bevor Sie fragen, sie möchte ausdrücklich zu Ihnen.“

Ethan lief um seinen Schreibtisch herum. Erst jetzt bemerkte er den amüsierten Ausdruck in Tashas Augen.

„Wie heißt die Patientin?“

„Das finden Sie besser selbst heraus.“ Sie schmunzelte und reichte ihm das Tablet mit der elektronischen Akte. Ethan warf einen Blick darauf. Lacy Hargrove. Eine junge, geschiedene Frau. Sie war attraktiv, aber auch auf der verzweifelten Suche nach einem dritten Ehemann. Man munkelte, dass sie sich diesmal einen Arzt schnappen wollte, und da Ethans Partner Connor Mitchell kürzlich Olivia geheiratet hatte, stand Ethan nun wohl ganz oben auf ihrer Liste. Tasha tätschelte mitleidig seinen Unterarm.

„Soll ich im Sprechzimmer bleiben?“

„Ja, bitte.“

Ethan warf noch einen Blick auf das Tablet. Tasha kam wegen Bauchschmerzen. Prompt musste er wieder an Flicka denken. Er mochte die Kleine, aber sie erinnerte ihn schmerzhaft an das Mädchen, von dem er angenommen hatte, dass sie seine Stieftochter werden würde. Samantha war genauso süß und bezaubernd gewesen. Er schob die Traurigkeit, die ihn zu übermannen drohte, beiseite und ging mit Tasha in das Sprechzimmer, in dem Lacy bereits wartete. Ihre Bauchschmerzen entpuppten sich als harmlose Verdauungsstörung. Ethan verschrieb ihr einen Säurehemmer und ging weiter zum nächsten Patienten. Erst am Abend saß er erneut vor seinem Computer und starrte geistesabwesend auf den Bildschirm. Die gestrige Begegnung mit Keely hatte alte Wunden wieder aufgerissen und das gemütliche Frühstück mit ihr und Flicka hatte alles noch verschlimmert. Ethan lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sein Blick fiel auf ein Foto aus seiner Zeit beim Militär, das auf dem Schreibtisch stand. Auf dem Bild trug er einen Overall und hatte einen Arm um Tracy gelegt. Er war als Arzt in Afghanistan gewesen und als Helikopterpilotin war es ihre Aufgabe gewesen, für den Transport der Patienten zu sorgen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, auch wenn sie sich den Regularien entsprechend erst nähergekommen waren, als sie wieder in den Vereinigten Staaten waren. Tracy war alleinerziehend gewesen und ihre Tochter Samantha hatte Ethans Herz im Sturm erobert. Sechs Monate nach ihrem ersten Date hatte Ethan Tracy einen Heiratsantrag gemacht, doch nur drei Wochen später war sie bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen, ganz ähnlich wie seine Eltern. Samanthas leiblicher Vater war zu der Beerdigung gekommen und hatte das Mädchen direkt danach mit zu sich genommen, was Ethan erneut das Herz gebrochen hatte. Liebe ging immer mit Schmerz und Verlust einher, daher würde er sich auf keinen Fall noch einmal verlieben. Er würde es nicht ertragen, noch jemanden zu Grabe zu tragen, der ihm am Herzen lag. An seinen Verlusten gab er keineswegs Gott die Schuld, so viel Macht wollte er dieser kalten, unerreichbaren Kraft gar nicht zugestehen. Abrupt stand er auf und verließ die Praxis. Es war bereits spät und Ryder war vermutlich schon zu seiner Schicht im Krankenhaus aufgebrochen, aber wenigstens wartete Baloo auf ihn. Als er den Geländewagen in seine Straße lenkte, fiel ihm auf, dass die Nachbarn damit begonnen hatten, ihre Häuser weihnachtlich zu dekorieren. Funkelnde Lichterketten, künstliche Schneemänner, Rentiere aus Plastik und Schlitten schmückten die schneebedeckten Gärten. Die weihnachtliche Stimmung heiterte Ethan jedoch nicht auf, sondern erinnerte ihn nur noch mehr an die Familie und die Zukunft, die er verloren hatte. Baloo begrüßte ihn mit einem freudigen Bellen, als er ins Haus trat, und Ethan kraulte ihn hinter den Ohren. „Du willst bestimmt nach draußen, oder?“

Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah, dass bei Keely alles hell erleuchtet war. Wie untypisch! Ob Flicka wieder krank war? Oder hatte die Kleine Angst vor der Dunkelheit? Er beschloss, nach ihr zu sehen. Dann konnte er Keely auch gleich an den Termin erinnern, den sie für das Mädchen ausmachen sollte.

Keely stand in der Küche und putzte Gemüse, als sie einen Blick aus dem Fenster warf und Ethan mit dem freudig durch den Schnee tobenden Baloo entdeckte. Der Hund apportierte einen Ball und sie hörte Ethan lachen. Warum zeigte er diese Seite von sich so selten? Irgendetwas Schlimmes musste passiert sein, bevor er nach Village Green zurückgekehrt war. Manchmal meinte sie, Trauer in seinen Augen zu sehen. Keely war sicher, dass er eine Frau verloren und ihm dieser Verlust das Herz gebrochen hatte. Ob eine schlimme Trennung dahintersteckte? Oder gar ein Todesfall? Auf jeden Fall schien er sich an die Vergangenheit zu klammern. Nur noch ein Grund mehr, warum er für sie nicht der Richtige sein konnte. Trotzdem genoss sie seinen Anblick dort draußen in der Kälte, so männlich, so voller Energie. Ethan hielt auf einmal inne, als spürte er ihren Blick. Das Lächeln, das auf seinem Gesicht erschien, wärmte ihr Herz und ließ es schneller schlagen. Sie zog sich vom Fenster zurück. Es gab keinen Zweifel mehr: Sie war in Schwierigkeiten! Was hatte dieser Mann nur an sich? Klar, er sah bestens aus, war Single, gut situiert und ein erfolgreicher Arzt. Sie wusste aber doch, dass er auch eine arrogante, herrische Seite hatte. Er behandelte sie ständig wie eine Zwölfjährige. Außerdem fragte sie sich ohnehin, warum er sich nie mit einer Frau verabredete. Es gab mehr als genug Gründe, misstrauisch zu sein. Als es ein paar Minuten später klopfte, schluckte sie schwer.

Felicity rannte in die Küche. „Es hat geklopft. Ob das Dr. Ethan ist?“

Das Mädchen hatte gute Ohren. Keely schmunzelte. Jeden Tag lernte sie die Kleine etwas besser kennen. Inzwischen wusste sie schon, dass das Mädchen es liebte, zu tanzen, und dass sie gern zum Eislaufen ging. Ganz genau wie sie selbst in dem Alter. Sie spielte auch gern Fußball und mochte Tennis. Das war noch etwas, das sie mit Keely gemeinsam hatte. Leider tat sie sich noch immer schwer mit dem Gedanken, hier zur Schule zu gehen. Wenn Keely davon sprach oder auch nur die Möglichkeit erwähnte, dort neue Freundinnen zu finden, wurde Felicity blass und behauptete wieder, sich nicht gut zu fühlen. Hoffentlich steckte wirklich nichts Ernstes dahinter.

Es klopfte erneut und Felicity warf Keely einen ungeduldigen Blick zu. „Darf ich aufmachen?“

„Na klar.“

Sekunden später hörte sie die beiden plaudern. Ihrem Nachbarn gegenüber war Felicity offenbar nicht besonders schüchtern, das war auf jeden Fall positiv.

„Mein Hund möchte dich gern kennenlernen“, hörte sie Ethan sagen. „Das ist Baloo.“ Felicity jubelte und ließ die beiden eintreten.

„Sitz“, befahl Ethan, als Baloo Keely freudig anspringen wollte. Er gehorchte und hielt Keely stattdessen die Pfote hin.

„Wie cool“, befand Felicity. Ethan zeigte ihr daraufhin ein paar Kunststücke, die Baloo beherrschte. Sich schütteln. Platz machen.

Erst, als sie mit dem Hund ins Spiel vertieft war, wandte er sich Keely zu. Ihr Puls raste. Diese blauen Augen gehörten verboten! Er hatte sich umgezogen, Bartstoppeln zeichneten sich in seinem Gesicht ab und gaben ihm etwas leicht Verwegenes.

„Hallo“, sagte er grinsend.

Sie brummte nur, weil ihre Kehle auf einmal staubtrocken war.

„Ich hätte nicht gedacht, dass du heute vorbeischaust“, brachte sie endlich heraus.

„Ich wollte mal nach meiner Patientin sehen.“ Endlich wandte er den Blick ab und sah sich nach Felicity um. „Wie geht es dir, Flicka?“

„Ach, gut. Ich musste nicht zur Schule. Wir haben Kekse gebacken und Päckchen für die Weihnachtsfeier vom Jugendzentrum gepackt.“

„Hört sich gut an.“

„Ja, das hat echt Spaß gemacht. In ein paar Tagen muss ich aber Keelys beste Freundin Olivia und ihre Töchter Megan und Molly kennenlernen.“ Sie runzelte die Stirn. „Die sind in meinem Alter.“ Sie seufzte tief. „Darf ich Baloo mit nach nebenan nehmen? Wir könnten Tauziehen mit einer Socke spielen. Einen kleinen Kampf veranstalten.“

Ethans Lächeln verblasste und sein Blick ging ins Leere, als sei er auf einmal an einem weit entfernten Ort. Kampf. Was hatte das Wort in ihm ausgelöst?

Er räusperte sich. „Klar, nur zu.“

Die beiden liefen los und in der Küche herrschte ein unangenehmes Schweigen. Keely konnte nicht umhin, sich um Ethan zu sorgen. Er brauchte Hilfe.

Mit den Fingerspitzen berührte sie seinen Unterarm. „Alles in Ordnung?“

Er zuckte zurück, blinzelte und atmete tief ein. Da war er wieder. Mr. Cool persönlich.

„Irgendwas riecht hier gut.“

Keely wusste nicht, was sie von dem Themenwechsel halten sollte.

„Ich habe Hähnchen und Süßkartoffeln gemacht. Dazu gibt es Salat.“

Frag ihn ja nicht, ob er zum Essen bleiben will, ermahnte sie sich, doch da waren die Worte schon ausgesprochen.

„Du kannst gern mitessen, es ist reichlich da.“

Er sah aus, als wollte er ihr Angebot ablehnen. Doch aus irgendeinen Grund wollte Keely auf einmal unbedingt, dass er blieb.

„Betrachte es als Wiedergutmachung für meine Überreaktion von gestern.“

„Das war keine Überreaktion.“

Sie hob die Brauen. „Ich dachte, Felicity hätte eine Blinddarmentzündung.“

„Die Symptome hätten ja auch gepasst, deine Sorge war nicht unberechtigt.“

Wieder einmal kam es Keely vor, als stände ein Fremder vor ihr. Ihre Beziehung veränderte sich, warum auch immer. Auf jeden Fall machte diese Entwicklung ihr Angst. Dieser Mann war voller Geheimnisse, undurchschaubar.

„Da wir gerade von Flicka sprechen …, du hast noch keinen Termin für sie ausgemacht.“

Erschrocken sah sie ihn an.

„Woher weißt du das? Um die Termine kümmern sich doch die Angestellten.“

„Ich habe nachgesehen. Keely, das ist wichtig. Flicka braucht einen Hausarzt.“

Sie wechselte rasch das Thema.

„Felicity mag Baloo sehr, oder? Ob ich ihr zu Weihnachten einen Hund schenken soll? Vielleicht würde ihr das die Eingewöhnung etwas erleichtern. Was meinst du?“

Er lachte. „Netter Versuch!“

„Ich mache morgen einen Termin aus.“ Keely gab sich geschlagen. „Aber was ist jetzt, bleibst du zum Abendessen?“

Er zögerte, aber nur kurz. „Ja. Gerne.“

Sie hörten Felicity lachen und Keelys Kehle schnürte sich zu. Wie sollte sie einem Kind, das sie kaum kannte, die Mutter ersetzen? All die Ängste, die sie quälten, seit sie die Vormundschaft übernommen hatte, waren plötzlich wieder da, und sie stieß einen panischen Laut aus.

„Ich muss ja nicht bleiben.“ Ethan hatte sie missverstanden.

„Darum geht es nicht.“

Er musterte sie besorgt. „Was ist denn los?“

„Ich … ach, Ethan. Ich möchte mich gut um Felicity kümmern, aber ich weiß doch rein gar nichts über Kinder. Die letzten Jahre habe ich umringt von Models in der New Yorker Modewelt verbracht.“

„Keely, hör mir zu.“ Ethan legte seine Hände auf ihre Schultern und sah sie sanft an. „Du machst das super.“

„Was, wenn ich das nicht hinkriege?“

Er schüttelte den Kopf. „Du bist nur erschöpft. Schlaf dich mal aus, dann sieht die Welt wieder ganz anders aus.“

„Vielleicht hast du recht.“

„Ganz bestimmt sogar. Ich habe immer recht.“

Der arrogante Kommentar ärgerte Keely, aber nur, bis sie sein mitfühlendes Lächeln sah.

„Ich habe wirklich Angst“, gestand sie.

„Das ist doch in Ordnung. Das bedeutet, dass die Kleine dir wichtig ist.“

Keely seufzte. Wie freundlich er war, wie mitfühlend. Und doch: Wusste sie nicht zu gut, dass Harmonie zwischen Ethan und ihr nie mehr als eine Momentaufnahme war?

4. KAPITEL

Keely zwang sich, einen Schritt zurückzutreten. Sie brauchte dringend Abstand. Irgendetwas veränderte sich gerade zwischen Ethan und ihr. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Oder etwa doch?

Hör auf damit, ermahnte sie sich. Sie sollte noch mehr Abstand zwischen ihn und sich bringen, dennoch blieb sie wie angewurzelt stehen. Es sollte ihr eigentlich peinlich sein, dass sie ihm all ihre Ängste anvertraut hatte. Was, wenn er dieses neue Wissen irgendwann gegen sie verwenden würde? Aber nein, so war er eigentlich nicht. Er stritt sich gern, ja, aber er war nicht hinterhältig. Also blieb sie stehen, als würde seine pure Anwesenheit ihr zu neuer Stärke verhelfen. Ethan hatte Vertrauen in sie und das fühlte sich gut an. Sie lächelte dankbar, schluchzte jedoch gleichzeitig auf.

„Es ist alles gut.“ Ethan zog sie in eine freundschaftliche Umarmung. „Lass es ruhig raus, Süße.“

Süße.

Ein warmes Gefühl lief durch ihren Körper.

„Flicka himmelt dich an. Das sagt doch schon einiges.“

Keely löste sich aus der Umarmung, doch eine Träne lief über ihre Wange. Vorsichtig, beinahe zärtlich, fing Ethan sie mit einer Fingerkuppe auf. Sie hielt seine Freundlichkeit, die so unbeschwert und natürlich wirkte, kaum aus. Vermutlich würde sie gleich heulen wie ein Schlosshund.

Sie musste unbedingt das Thema wechseln. Fieberhaft dachte sie nach.

„Ich möchte Felicity ein besonderes Weihnachtsfest bereiten. Ich werde alles tun, damit sie sich hier zu Hause fühlt.“

„Kann ich dir dabei helfen?“

Was war nur in den letzten zwei Tagen geschehen? War dieser Ethan, der ihr, ohne mit der Wimper zu zucken, seine Unterstützung anbot, wirklich derselbe, der sonst jeden Kontakt mit ihr vermied?

Sie sah ihm in die Augen. Es war offensichtlich, dass er Geheimnisse mit sich herumtrug. Vermutlich war das der Grund, warum er nur seine engsten Familienmitglieder und seine allerbesten Freunde an sich heranließ. Und hatte Keely sich nicht geschworen, ihr Herz nie wieder einem Mann zu öffnen, der nicht ganz und gar ehrlich zu ihr war? Außerdem musste sie nun auch an Felicity denken, nicht nur an sich selbst. Nein, sie durfte sich nicht in Ethan verlieben. Das war zu riskant. Selbst eine Freundschaft mit ihm könnte schwierig werden. Und trotzdem hörte sie sich selbst fragen: „Wirklich? Möchtest du mir helfen, Felicity ein unvergesslich schönes Weihnachtsfest zu bereiten?“

„Das habe ich doch gerade gesagt, oder?“ Er klang beinahe beleidigt.

„Irgendwie kann ich mir dich gar nicht beim Schmücken eines Weihnachtsbaumes vorstellen. Hast du schon mal Strümpfe am Kaminsims aufgehängt?“

Sein Blick wurde traurig. Genauso hatte er geschaut, bevor er gestern Abend in Felicitys Zimmer gegangen war. Hatte er jemanden verloren, mit dem er all diese Dinge früher sehr wohl gemacht hatte?

„Ich dachte an etwas Maskulineres“, sagte er. „Ich könnte mich zum Beispiel um die Außenbeleuchtung kümmern.“

Das machte normalerweise Keelys Bruder, aber da in seinem Laden zu dieser Jahreszeit viel zu tun war, hatte er wenig Zeit. „Das wäre toll, Ethan. Danke schön.“

Beau würde sich freuen, wenn er sich nicht darum kümmern musste.

„Kein Problem. Das mache ich gern.“

Sie sahen einander in die Augen und irgendwie kam es ihr vor, als läge etwas ganz Besonderes in der Luft. Etwas Wundervolles. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Ethan kam ihr zuvor.

„Wie wäre es am Sonntag?“

„Ich muss schnell nach dem Essen sehen. Schaust du nach Felicity und Baloo?“

„Willst du mich loswerden?“

Nein. Ja.

„Vielleicht.“

Er lachte und ihre Knie wurden weich.

„Alles klar, ich bin schon weg.“

Keely zog hinter seinem Rücken eine Grimasse und versuchte dabei, ihren Herzschlag zu beruhigen. Sie hatte gerade die Salatschüssel aus dem Küchenschrank geholt, als ihr Handy klingelte.

„Keely O’Toole.“

„Keely, hier ist Hardy Bennett

. Wie gut, dass ich Sie erreiche.“

Aus welchem Grund rief der frisch gewählte Bürgermeister von Village Green bei ihr an? Keely runzelte die Stirn. Sie sprach zwar gelegentlich mit ihm, weil sie die Weihnachtsparade der Stadt organisierte, aber der Anruf kam dennoch unerwartet.

„Hardy, was kann ich für Sie tun?“

„Die Frage ist, was ich für Sie tun kann.“ Er lachte über seinen eigenen Witz. „Sie hatten doch erwähnt, dass Ihr Team noch Hilfe gebrauchen könnte.“

„Ja, das stimmt.“

Es waren nur noch drei Wochen bis zu dem Festumzug und es gab noch alle Hände voll zu tun.

„Ich bin die Liste der Ehrenamtlichen noch einmal durchgegangen. Ich schicke Ihnen die Namen gleich per Mail. Gleich heißt jetzt.“ Keely hörte, wie er auf einer Tastatur tippte. „Schauen Sie mal drauf und lassen Sie mich wissen, ob jemand dabei ist, der Sie unterstützen könnte.“

„Wunderbar, ich melde mich gleich morgen früh bei Ihnen zurück.“

Hardy beendete das Gespräch und Keely öffnete die Datei, die er ihr geschickt hatte. Als sie auf einen bekannten Namen stieß, schnaubte sie.

„Ja, sicher.“ Auf keinen Fall. Nicht er. Das kam nicht infrage. Und doch konnte sie den Blick nicht von diesem dritten Namen auf der Liste abwenden.

Als sie Schritte hörte, die sich näherten, fiel ihr fast das Handy aus der Hand. Ethan hechtete herbei und fing es gerade noch auf, bevor es auf den Fußboden aufschlug. Er wollte es ihr wiedergeben, doch dabei streifte sein Blick das Display.

„Warum steht da mein Name?“

„Unser verehrter Bürgermeister glaubt, du möchtest dich in der Gemeinde engagieren.“

„Ach so. Ja. Ich habe ihm eine Mail geschickt, das stimmt.“ Er schüttelte verwundert den Kopf. „Aber wieso schickt er dir diese Liste?“

„Weil ich die perfekte ehrenamtliche Tätigkeit für dich habe.“

Misstrauisch musterte er sie. „Was heißt das?“

„Die jährliche Weihnachtsparade von Village Green braucht deine Hilfe.“

Er verzog keine Miene, sagte aber auch kein Wort. Wenigstens hatte er nicht gleich abgelehnt. Sie lächelte zuckersüß. „Du möchtest deiner Stadt doch etwas zurückgeben, oder? Hattest du dich nicht deshalb bei Hardy gemeldet?“

„Über welchen Zeitraum sprechen wir?“

„Die Parade ist in drei Wochen.“

Er reichte ihr das Handy. „Und was genau wäre meine Aufgabe?“

„Das müsste die Koordinatorin entscheiden.“

„Und das ist wer?“

„Ich.“ Sie strahlte ihn an und seine Augen weiteten sich.

„Also würde ich mein Leben für die nächsten drei Wochen in deine Hände legen?“

„Das ist etwas übertrieben, aber ja, im Grunde genommen schon.“

Er warf ihr einen düsteren Blick zu, doch es gelang ihm nicht, sie einzuschüchtern. Im Gegenteil, Keely trat einen Schritt näher, stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: „Hast du etwa Angst?“

„Kein bisschen“, stieß Ethan hervor. Keely machte einen Schritt zurück und wechselte wieder in einen neutraleren Tonfall, als sie ihm mitteilte, dass das Gros der Arbeit bereits erledigt war. Trotzdem, das Ganze war einfach verrückt. Das Letzte, was sie brauchte, war noch mehr Zeit mit Ethan. Noch könnte sie einen Rückzieher machen, doch stattdessen ergriff sie erneut das Wort.

„Also kann ich auf dich zählen?“

Er nickte, und sie hielt ihm die Hand hin.

„Dann willkommen im Team, Dr. Scott. Das nächste Treffen des Komitees ist am Mittwochabend um sieben.“

Am folgenden Nachmittag ging Ethan in der Praxis gerade die Liste der Anrufer durch, die auf einen Rückruf warteten, als er an den letzten Abend denken musste. Warum hatte er Keelys Einladung zum Essen überhaupt angenommen? Er hatte eigentlich nur vorgehabt, Flicka seinen Hund vorzustellen, und schon hatte er sich quasi in einer anderen Zeit, einem anderen Zuhause, einem ganz anderen Leben wiedergefunden. Er hätte Baloo nehmen und verschwinden sollen, aber trotzdem hatte er Keelys Einladung angenommen. Und ab da war alles nur noch schlimmer geworden. Jetzt musste er auch noch bei der Weihnachtsparade helfen und von ihr Anweisungen entgegennehmen. Ein Teil von ihm konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, aber ein anderer freute sich geradezu darauf, dieser Frau bei der Arbeit zuzusehen. Keely hatte irgendetwas an sich, das ihn einfach nicht losließ. Sie war tatkräftig und entschlossen, das sah man schon an ihrem perfekt organisierten Restaurant. Ethan musste sich eingestehen, dass er sich in ihrer Nähe allmählich wohler fühlte als früher. Sie waren noch keine Freunde, soweit würde er nicht gehen. So einfach war es nicht. Trotzdem, irgendetwas veränderte sich zwischen ihnen.

Und dann gab es ja auch noch Flicka. Sie war ein süßes Mädchen, aber ihre unterschwellige Verzweiflung ging ihm ans Herz und er wollte ihr zu gern helfen. Doch in ihrer Nähe erinnerte er sich auch immer daran, wie sehr er die Familie, die er beinahe gehabt hätte, vermisste: Dann fühlte er sich verwundbar, verletzlich. Er drehte sich auf seinem Stuhl um, damit er aus dem Fenster schauen konnte. Village Green war definitiv bereit für die Weihnachtszeit! Die Gehwege waren geräumt, die Schaufenster festlich mit Girlanden und Lichterketten geschmückt. Die Stadt sah aus wie auf einer Postkarte, doch all das Glitzern und Funkeln vermochten Ethan nicht zu trösten. Vor ihm lag das zweite Weihnachten ohne Tracy und Samantha und er erinnerte sich noch zu gut daran, wie einsam und voller Trauer er das Fest im letzten Jahr verbracht hatte. So schlimm ging es ihm heute zwar nicht mehr, aber dennoch hatte er seinen inneren Frieden noch nicht wiedergefunden, wusste nicht, welchen Weg in seinem Leben er nun einschlagen sollte. Ein Klopfen am Türrahmen ließ ihn herumfahren. Sein Kollege Connor stand in der Tür und starrte auf das Tablet in seiner Hand.

„Können wir kurz über einen Fall sprechen?“

Ethan warf einen Blick auf seine Uhr. „Klar. Mein nächster Termin ist erst in zwanzig Minuten.“

„Ich fasse mich kurz.“ Connor schloss die Tür. Ethan wurde unruhig. Er kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut. Connor würde gleich etwas sagen, das Ethan nicht gefallen würde. Er stand auf und lehnte sich an den Schreibtisch, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

Auch wenn Connor und er seit Ewigkeiten befreundet wa...

Autor

April Arrington
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Linda Goodnight
<p>Linda Goodnight stammt aus einer ländlichen Region in Oklahoma, wo sie auch heute noch lebt. Zwei Anliegen hat die Bestsellerautorin: Ihre Romane sollen ebenso emotional berühren wie unterhalten. Die Quelle ihrer Inspiration ist dabei ihre eigene Patchwork-Familie, zu der auch zwei Adotivkinder aus der Ukraine gehören, sowie die Erfahrungen, die...
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