Reine Kuss-Sache

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Susan Andersen
Mr. Perfect gibt es nicht

Jane braucht keinen Prinzen! Sie hat alles unter Kontrolle: ihre Haare, ihren Job und die Umbauarbeiten an der Villa, die sie mit ihren besten Freundinnen Ava und Poppy geerbt hat. Bis Devlin Kavanagh in ihr Leben tritt - und sie völlig aus dem Gleichgewicht bringt. Besser einen Bogen um den heißen Playboy machen, sagt sich Jane. Aber als in ihr Haus eingebrochen wird, ist sie plötzlich auf Devlins Hilfe angewiesen!

Susan Andersen
Rosarot in Seattle

Sie liebt Männer in Uniformen! Und Jason de Sanges ist ein echtes Prachtexemplar. Der Anblick des Cops treibt den Puls der frechen Poppy in die Höhe und weckt, in ihr den Wunsch rosarote Herzen an die Wand zu sprühen. Obwohl sie findet, dass er zu den drei verurteilten jugendlichen Sprayern, die sie zusammen betreuen, ein wenig streng ist. Überhaupt scheint Jason alles viel zu ernst zu nehmen. Doch sie wird ihm den grimmigen Zug um den Mund schon wegküssen …


  • Erscheinungstag 10.02.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783956495229
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Andersen

Reine Kuss-Sache

Mr. Perfect gibt es nicht

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Rosarot in Seattle

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:

Cutting Loose

Copyright © 2008 by Susan Andersen
erschienen bei: HQN Books, Toronto

Bending The Rules

Copyright © 2009 by Susan Andersen
erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Books II. B.V. / S.ár.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: büropecher, Köln
Redaktion: Mareike Müller
Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München; Andrew Zarivny

ISBN 978-3-95649-522-9

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Susan Andersen

Mr. Perfect gibt es nicht

Roman

Aus dem Amerikanischen von Tess Martin

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PROLOG

Liebes Tagebuch,

Familienleben finde ich beschissen.

Warum kann ich keine normalen Eltern haben?

12. Mai 1990

Jane, Jane, wir sind da!“

Die zwölfjährige Jane Kaplinski beugte sich aus dem Schlafzimmerfenster und sah, wie der Chauffeur mit ernster Miene die Tür der Limousine öffnete. Ihre beiden Freundinnen Ava und Poppy sprangen heraus.

„Ich komme runter“, rief sie und warf noch einen Blick auf Poppys blonde vom Wind zerzauste Locken und den dünnen Rock, in dem sich der Wind verfangen hatte. Obwohl sie die Sachen wahrscheinlich bei Wal-Mart gekauft hatte, sah Poppy ziemlich cool aus. Ava dagegen, die körperlich weiter entwickelt war als alle anderen in ihrer Stufe, erinnerte in ihrem teuren blassgrünen Kleid eher an eine Presswurst. Der Stoff spannte sich unvorteilhaft um Hüfte und Brust. Aber ihr glattes flammend rotes Haar funkelte in der Frühlingssonne, und als sie zu Jane hinaufgrinste, entstanden zwei hübsche Grübchen in ihren Wangen.

Jane strich sich den dunkelblauen Rock glatt, stellte das Radio aus, in dem gerade Madonnas „Vogue“ lief, schnappte sich ihren Rucksack und schloss sorgfältig die Zimmertür hinter sich. Dann flitzte sie die Treppe hinunter. Sie musste lächeln, als sie sich vorstellte, dass Ava darauf bestehen würde, anzuklopfen, während Poppy der Ansicht war, dass sie nun wirklich keine Extraeinladung brauchten.

Die Stimme ihrer Mutter ließ sie am Ende der Treppe erstarren. Der Koffer im Flur hätte sie schon stutzig machen müssen, aber sie war so auf den Ausflug mit ihren Freundinnen fixiert gewesen, dass sie ihn bis jetzt gar nicht bemerkt hatte. Und schon stand Dorrie Kaplinski vor ihr. Eiswürfel klirrten im vertrauten Rhythmus, als sie sich mit dem Glas in der Hand zu ihrem einzigen Kind hinabbeugte.

Blödermistverdammt.

„Du bist zurück“, sagte Jane tonlos, als ihre Mutter sie an den üppigen Busen drückte. Ihre Nase versank in einem nach Obsession duftenden Ausschnitt. Jane rang verzweifelt um Luft, rührte sich aber nicht, bis Dorrie den Griff lockerte. Dann allerdings lief sie sofort auf die Tür zu.

„Aber natürlich bin ich zurück, Darling. Du weißt doch, dass ich niemals lange ohne dich sein könnte. Davon abgesehen …“, sie strich sich über ihr Haar, „… hat dein Vater mich gebeten zurückzukommen.“ Dorrie kam auf sie zu und schlang einen Arm um Janes Schultern. Ihr nach Johnnie Walker riechender Atem vermischte sich mit ihrem Parfüm. „Na, sieh dich nur an! So herausgeputzt! Wohin willst du denn gehen?“

Jane wand sich aus ihrer Umarmung und trat einen riesigen Schritt zurück. „Ich bin bei Miss Wolcott zum Tee eingeladen.“

„Agnes Bell Wolcott?“

Jane nickte.

„Na so was.“ Dorrie musterte ihre Tochter kurz. „Konntest du nicht etwas Farbenfroheres anziehen?“

Jane betrachtete das neonfarbene Top ihrer Mutter und entgegnete nur: „Mir gefällt es.“

„Ich habe eine hübsche rote Perlenkette, mit der du das Ganze etwas aufpeppen könntest.“ Dorrie griff nach einer ihrer schimmernden braunen Haarsträhnen und rieb sie zwischen den Fingern. „Und vielleicht könnten wir irgendetwas mit deiner Frisur anstellen? Du weißt doch, wie wichtig Details sind. Will man die Rolle haben, dann muss man sich das richtige Kostüm besorgen!“

Jane gelang es, nicht zu erschauern. „Nein danke. Ich bin nur zum Tee eingeladen und nicht der Star in einem eurer Theaterstücke. Außerdem hast du doch bestimmt gehört, dass Avas Auto vorgefahren ist.“

„Habe ich?“ Dorrie ließ die Haarsträhne fallen und trank einen weiteren Schluck von ihrem Johnnie Walker. „Nun ja.

Jetzt, wo du es erwähnst – ich habe es wohl gehört, aber nicht darauf geachtet.“

Was für eine Überraschung. Mom interessierte sich wie immer nur für Mom. Oder für das Drama des Tages in der ganz privaten Dorrie-und-Mike-Show.

Es klingelte, und mit einem erleichterten Seufzen drückte Jane sich an ihrer Mutter vorbei. „Ich muss los. Ava und ich übernachten bei Poppy. Wir sehen uns dann also morgen.“

Junge, Junge, wie froh sie war, das abendliche Drama zu verpassen! Wenn ihr Vater entdeckte, dass Mom zurückgekommen war, würde sich ein Feuerwerk der Leidenschaft entzünden. Aber nachdem sie so etwas schon unzählige Male erlebt hatte, konnte Jane heute getrost darauf verzichten.

Ava und Poppy betraten das Haus, bevor sie die Tür erreicht hatte, stellten sich neben sie und riefen: „Hallo, Mrs Kaplinski! Auf Wiedersehen, Mrs Kaplinski!“ Dann schubsten sie Jane so schnell es ging Richtung Auto.

Daniel, der Chauffeur der Familie Spencer, öffnete die Hintertür des Lincolns. Während Poppy auf den Rücksitz hechtete, sah er Jane an und tippte an seine schmucke Kappe. „Miss Kaplinski.“

Über seine formelle Art wollte sie jedes Mal kichern, doch stattdessen schenkte sie ihm ein feierliches Nicken. „Mr Daniel.“ Sie kletterte langsam hinter Poppy in den Wagen.

Ava ließ sich neben sie plumpsen, woraufhin Daniel die Tür schloss.

Die drei Freundinnen sahen einander an, als der Chauffeur um den Wagen lief, dann fuhr sich Poppy mit einer dramatischen Geste durchs Haar und mimte einen Aufschrei: „Tee in der Villa der Wolcotts!“ Sie grinste Jane und Ava an und fragte mit ihrer normalen Stimme: „Warum genau hat uns Miss Wolcott eingeladen?“

„Das habe ich dir ganz bestimmt erzählt.“ Ava zupfte am Saum ihres Kleides, um ihre molligen Schenkel zu bedecken. „Vielleicht, weil wir alle bei diesem blöden Hauskonzert meiner Eltern mit ihr gesprochen haben. Die waren total aus dem Häuschen, dass Mrs Wolcott die Einladung überhaupt angenommen hatte. Ich schätze, sie sagt öfter ab, als tatsächlich irgendwo zu erscheinen. Angeblich wünscht sich jeder, sie einmal als Gast zu haben. Aber sie soll auch total verschroben sein, und meine Mom hatte ganz schön Angst vor ihr.“ Sie zuckte die Schultern. „Keine Ahnung – mir kam sie jedenfalls ziemlich normal vor. Von der Stimme vielleicht abgesehen. Mein Dad sagt, sie klingt wie ein Nebelhorn.“

„Ich fand sie interessant“, sagte Jane.

„Ja, und wie“, meinte Poppy. „Sie war schon überall auf der Welt und hat alles Mögliche gemacht. Könnt ihr euch vorstellen, dass sie schon in Paris war und in Afrika und sogar bis vor einem Jahr ihr eigenes Flugzeug geflogen ist? Außerdem hat sie eine tolle Villa.“ Vor Begeisterung hopste Poppy wild auf dem teuren Ledersitz herum. „Dagegen sieht euer Haus wie eine armselige Hütte aus, Ava. Und dabei dachte ich bisher immer, dass ihr das schönste Haus auf der ganzen Welt habt! Wie es wohl bei Miss Wolcott aussieht? Ich sterbe fast vor Neugier!“

„Ich auch“, stimmte Jane ihr zu. „Anscheinend sammelt sie ganz viele tolle Sachen.“

Ava zog einen Schokoriegel aus ihrem Rucksack, riss die Verpackung auf und bot Poppy und Jane jeweils einen Bissen an. Als die beiden ablehnten, zuckte sie mit den Schultern und schlang ein großes Stück hinunter. „Hauptsache, ich muss heute nicht zum Kotillon-Unterricht. Mir ist alles recht, um das Arschgesicht Cade Gallari nicht sehen zu müssen.“

In der dreistöckigen Villa am dicht besiedelten Westhang des eleganten Viertels Queen Anne angekommen, geleitete eine ältere Frau in einer strengen schwarzen Uniform die Mädchen in ein großes Empfangszimmer. Sie murmelte, dass Miss Wolcott sich bald zu ihnen gesellen würde, dann zog sie sich zurück und schob eine lange, reich verzierte Schiebetür hinter sich zu.

Es war dunkel und kühl, die Fenster waren von dicken Samtvorhängen verhüllt. Überall standen ungewöhnliche Gegenstände herum, was fast schon behaglich wirkte. In diesem Raum hätte leicht das ganze Erdgeschoss von Janes Haus Platz gehabt.

„Wow.“ Jane drehte sich langsam um sich selbst. „Schaut euch diesen ganzen Kram an.“ Sie lief zu einer Glasvitrine und musterte die darin ausgestellten antiken Perlenhandtaschen. „Die sind der Hammer!“

„Woher willst du das wissen?“, fragte Ava. „Es ist total dunkel hier.“

„Eben“, sagte Poppy. „Schau dir mal diese riesigen Fenster an – wenn ich hier wohnen würde, würde ich die Vorhänge den ganzen Tag offen lassen. Und dann vielleicht die Wände in einem hübschen Gelb streichen, um das Ganze etwas aufzumuntern.“

„Ladies“, erklang eine tiefe markante Stimme hinter ihnen. Alle drei drehten sich hastig um. „Danke, dass ihr gekommen seid.“ Agnes Bell Wolcott stand in der halb geöffneten Schiebetür. Sie trug maßgeschneiderte kamelfarbene Hosen und ein locker fallendes Jackett, die Bluse darunter mit dem hohen Kragen war ebenso schneeweiß wie ihr Haar. Eine antik wirkende Kamee schmiegte sich an ihren Hals. Sie warf Poppy einen Blick zu. „Du kannst die Vorhänge aufziehen, wenn du magst.“

Ohne auch nur zu erröten, rannte Poppy auf die Fenster zu und tat, wie ihr geheißen. Kurz darauf erfüllte perlmuttglänzendes Nachmittagslicht den Raum.

„Nun. Möchtet ihr Mädchen euch meine Sammlungen ansehen, oder hättet ihr vorher lieber eine Kleinigkeit zu essen?“

Bevor Jane sich für die erste Möglichkeit entscheiden konnte, rief Ava: „Essen, bitte.“

Ihre Gastgeberin führte sie in ein anderes Zimmer mit einem großen Tisch vor einem Marmorkamin. Eine antike Etagere mit drei Tellern stand in der Mitte und war mit wunderschönen Süßspeisen und Sandwiches gefüllt. Sie setzten sich auf ihre durch kleine Namenskarten ausgewiesenen Plätze. Miss Wolcott klingelte nach Tee.

Dann richtete sie ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf die Mädchen. „Vermutlich wundert ihr euch, warum ich euch zu mir eingeladen habe.“

„Darüber haben wir gerade auf dem Weg hierher gesprochen“, gestand Poppy freimütig, während Jane höflich nickte und Ava murmelte: „Das stimmt, Ma’am.“

„Damit möchte ich mich bei euch bedanken, dass ihr mir bei dem Hauskonzert vor Kurzem Gesellschaft geleistet habt. Es hat mir großen Spaß gemacht, mich mit euch zu unterhalten.“ Sie betrachtete alle drei mit großem Interesse. „Ihr seid sehr unterschiedlich“, stellte sie fest. „Darf ich fragen, wie ihr euch kennengelernt habt?“

„Wir alle besuchen die Seattle Country Day School“, antwortete Poppy. Als sie bemerkte, dass Miss Wolcott diskret ihre billigen Kleider musterte, grinste sie. „Meine Grandma Ingles bezahlt mein Schulgeld. Sie hat selbst studiert.“

„Und ich habe ein Stipendium“, verkündete Jane. Natürlich hatten sich nicht etwa ihre Eltern darum gekümmert. Wenn nicht vor Jahren ein Lehrer den entsprechenden Antrag ausgefüllt hätte, würde sie heute noch eine staatliche Schule besuchen. Inzwischen kümmerte sie sich selbst darum, und ihre Eltern mussten einfach nur noch unterschreiben.

„Ich bin nur eine ganz normale Schülerin“, gestand Ava. „Ich mache nichts Besonderes, und Jane und Poppy sind besser in der Schule als ich.“ Sie lächelte breit. „Vor allem Jane.“

Hitze stieg Jane in die Wangen und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. „Ava ist auf andere Weise etwas ganz Besonderes.“

„Ich finde es toll, wenn Mädchen so eng befreundet sind“, sagte Miss Wolcott. „Das ist ja eine richtige Schwesternschaft.“

Jane ließ sich diese Worte auf der Zunge zergehen, als die schwarz gekleidete Frau einen eleganten Teewagen ins Zimmer schob. Miss Wolcott deutete auf die rechteckigen Päckchen, die auf den Tellern der Mädchen lagen. „Als kleines Zeichen meiner Wertschätzung. Bitte packt aus, während ich den Tee einschenke.“ Jane lächelte in sich hinein. Vielleicht war es ja wirklich gar nicht so leicht, ein reiches Mädchen zu sein. Jedenfalls erzählte Ava ihnen das weiß Gott oft genug.

Sie wickelte ein dunkelgrünes in Leder gebundenes Buch aus dem Papier. Ihr Name war in goldenen Buchstaben auf dem Buchdeckel eingraviert. Poppys war rot und Avas blau. Sie fragte sich, woher diese Frau wusste, dass Grün ihre Lieblingsfarbe war. Als sie das Buch aufklappte, stellte sie fest, dass die goldgeränderten Seiten leer waren. Sie warf Miss Wolcott einen Blick zu.

„Ich schreibe Tagebuch, seit ich in eurem Alter war“, erklärte die weißhaarige Frau mit ihrer Bassstimme. „Und nachdem ich euch alle drei für so interessante junge Damen halte, dachte ich, ihr würdet vielleicht auch gern eines führen. Ich finde, darin sind Geheimnisse großartig aufgehoben.“

„Super“, sagte Poppy.

Avas Gesicht erhellte sich. „Was für eine tolle Idee.“

Jane blickte von Miss Wolcott zu ihren Freundinnen, die sie seit der vierten Klasse kannte, und dachte an all die Eindrücke und Gefühle, die ihr ständig im Kopf herumgeisterten. Dass es bei ihr zu Hause nicht gerade großartig lief, darüber wollte sie mit niemandem sprechen, nicht einmal mit ihren besten Freundinnen. Oder vor allem nicht mit ihnen. Poppy hatte wunderbare Eltern und fand es zwar schade, dass Janes Eltern sich ständig trennten und wieder versöhnten, doch so ganz konnte sie wohl nicht nachvollziehen, wie schlimm das für ein junges Mädchen tatsächlich war. Und obwohl es bei Ava zu Hause nun wirklich auch nicht perfekt lief, so waren ihre Eltern zumindest keine Schauspieler, die nur für das Drama lebten.

Die Idee, einmal aufzuschreiben, was sie wirklich fühlte, gefiel ihr. Sie lächelte.

„Wir könnten sie die Schwesternschaft-Tagebücher nennen.“

1. KAPITEL

Ich werde so was von nie mehr einen Tanga anziehen! Poppy behauptet, die wären bequem – da hätte ich es mir eigentlich gleich denken können.

Oh mein Goooooott, Jane!“, kreischte Ava. „Oh … MEIN … GOTT! Jetzt ist es offiziell.“

Jane streckte den Hörer weit von sich. Ein Wunder, dass die Hunde in der Nachbarschaft wegen der schrillen Stimme ihrer Freundin nicht zu bellen begannen. Doch dann, als die Aufregung in ihrem Bauch einen schnellen Stepptanz vollführte, drückte sie den Hörer wieder ans Ohr. „Ist die Testamentseröffnung beendet?“

„Ja! Seit zwei Minuten!“ Ava lachte aus voller Brust. „Die Wolcott-Villa gehört nun offiziell uns! Kannst du dir das vorstellen? Natürlich vermisse ich Miss Agnes, aber das ist doch einfach der Hammer! Oh mein Gott, ich bekomme kaum noch Luft, so aufgeregt bin ich. Ich rufe gleich Poppy an, das muss gefeiert werden. Macht es dir was aus, nach West Seattle zu kommen?“

„Lass mal sehen.“ Jane dehnte das Telefonkabel so weit es ging, trat aus ihrem engen Büro im sechsten Stock des Seattle Art Museums und spähte durch die offene Tür der Direktorin. Von Marjories Eckbüro aus hatte man einen wunderschönen Blick auf Magnolia Bluff und auf die Olympic Mountains, die sich majestätisch hinter der Elliott Bay und dem Puget Sound erhoben. Von ihrem Standort aus konnte sie zwar nur einen winzigen Teil sehen, aber ihr ging es ja auch weniger um die Landschaft als um den Verkehr auf der Straße. „Nein, das müsste gehen. Treffen wir uns im Matador, in einer Stunde. Die überteuerten Getränke gehen auf mich.“

Grinsend schlüpfte sie aus ihren hochhackigen Schuhen, steckte sie in ihre Tasche und streifte Turnschuhe über. Dann zog sie sich die Lippen nach und bewegte die Hüften dabei zu einem fröhlichen Lied in ihrem Kopf.

„Du bist ja ziemlich aufgedreht.“

Jane schrie auf. „Gütiger Himmel!“ Sie presste eine Hand auf ihr rasendes Herz und wirbelte zu dem Mann herum.

„Verzeihung.“ Gordon Ives, ebenfalls Junior-Kurator, betrat ihr Büro. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Warum dieser kleine Tanz?“

Normalerweise wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, ihm die Frage zu beantworten. Sie hatte Privates immer strikt aus ihrem Berufsleben herausgehalten, was in ihrer Karriere bisher auch immer hilfreich gewesen war. Es gab keinen Grund, daran jetzt etwas zu ändern.

Und doch …

Ein Teil des Erbes betraf auch das Museum, insofern würde er sowieso bald davon erfahren. Außerdem war sie einfach glücklich. „Ich bekomme die Wolcott-Sammlungen.“

Er starrte sie ungläubig aus seinen hellblauen Augen an. „Du meinst die Agnes-Bell-Wolcott-Sammlungen? Wir sprechen von der Agnes Wolcott, die in Hosen die Welt bereist hat, als die Frauen ihrer Generation noch zu Hause bei den Kinder geblieben sind und das Haus, wenn überhaupt, mit Kostüm, Hut und Handschuhen verlassen haben?“

„Genau die. Aber sie hat nicht nur Hosen getragen, sondern gelegentlich auch Kleider und Röcke.“

„Seit ich denken kann, höre ich von ihren Sammlungen. Aber ich dachte, sie wäre gestorben.“

„Das ist sie, letzten März.“ Ein schmerzhafter Stich fuhr Jane in die Brust. Es gab nun einen unbewohnten Platz in ihrem Herzen, den Miss Agnes zuvor ausgefüllt hatte. Sie musste tief durchatmen, und dann – vielleicht, weil sie sich noch nicht ganz gefangen hatte – hörte sie sich gestehen: „Sie hat sie mir und zwei Freundinnen hinterlassen.“ Zusammen mit dem gesamten Anwesen, doch das brauchte Gordon nicht auch noch zu erfahren.

„Du nimmst mich auf den Arm! Warum sollte sie das tun?“

„Weil wir Freundinnen waren. Mehr als das, um genau zu sein – Poppy und Ava und ich waren vermutlich so etwas wie eine Familie für Miss Wolcott.“ Ihr erster Besuch vor achtzehn Jahren war der Anfang für monatliche Treffen zum Tee gewesen. Die Freundschaft hatte sich vertieft, als die faszinierende, wunderbare alte Dame begann, sich so für das Leben und die Erlebnisse der drei Mädchen zu interessieren, als ob sie mindestens genauso faszinierend wären. Sie hatte sich immer besonders um die Mädchen bemüht und viel Aufhebens um ihre Leistungen gemacht, mehr als sonst jemand in ihrem Leben – nun, zumindest in ihrem und Avas Leben.

Jane musste sich zusammenreißen. Hier war nicht der richtige Ort für Gefühle. „Wie auch immer“, sagte sie knapp. „Ich werde in den nächsten Monaten nur noch morgens hier sein. Miss Agnes hat dem Museum zwei Sammlungen vermacht, und Marjorie ist damit einverstanden, dass ich sie nachmittags in der Wolcott-Villa katalogisiere.“

„Die Direktorin weiß Bescheid?“

„Ja.“

„Dann überrascht es mich, dass sonst niemand davon weiß.“ Sie sah ihn erstaunt an. „Wieso?“

„Nun, es ist nur … du weißt schon. Hier bleibt doch nichts lange ein Geheimnis.“

„Stimmt. Aber es ist schließlich eine private Erbschaft, die mich und meine Freundinnen vollkommen überrascht hat. Die Testamentseröffnung hat sich mehrere Monate in die Länge gezogen. Marjorie habe ich nur davon erzählt, weil Miss Agnes’ Nachlass das Museum direkt betrifft. Ansonsten sehe ich keinen Grund, mit Leuten darüber zu sprechen, die nichts damit zu tun haben.“

Weil sie ahnte, dass ihr neugieriger Kollege Näheres über den Nachlass wissen wollte, sah sie auf ihre praktische Armbanduhr mit den großen Ziffern. „Huch, ich muss los. Sonst verpasse ich den Bus.“ Sie schnappte sich ihre Tasche, schob Gordon aus dem Büro und schloss die Tür hinter sich.

Wenige Minuten später trat sie auf die Straße, zog die schwarze Kaschmirjacke über der Brust zusammen, um sich gegen die kühle Brise zu schützen, und setzte die Sonnenbrille auf. Den Bus hatte sie eigentlich nur erwähnt, um Gordon so schnell wie möglich loszuwerden. Doch nach kurzer Überlegung beschloss sie, tatsächlich nicht nach Hause zu laufen, um ihr Auto zu holen, sondern zur Marion Street zu gehen und den 55er zu nehmen.

Kurz vor dem Restaurant wechselte sie wieder in ihre hochhackigen Sandalen. Leopardenmuster. Sie lächelte. Sie liebte diese Schuhe, und wahrscheinlich hatte sie dieses Jahr nicht mehr oft die Möglichkeit, sie zu tragen. Laut Wettervorhersage waren die sonnigen Tage gezählt.

Sie kam als Erste im Restaurant an. Obwohl es noch recht früh am Abend war, füllte sich der Raum stetig. Sie bestellte sich ein Sodawasser an der Bar und suchte sich einen freien Tisch. Jane war zum ersten Mal hier. Sie bewunderte einige Minuten lang den schönen Raum und die komplizierten Metallkunstwerke an den Wänden. Dann schlug sie ein wenig Zeit tot, indem sie die Getränkekarte studierte, doch die anderen Gäste zu beobachten, fand sie dann doch spannender.

Am anderen Ende des Restaurants entdeckte sie einen Tisch mit vier Männern, der immer wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie waren zwischen Ende zwanzig und vielleicht vierzig und führten eine sehr rege Diskussion. Dazwischen brachen sie immer wieder in Gelächter aus, meistens ausgelöst von einem Rothaarigen, dessen Schultern so breit waren, dass sein Hemd aus allen Nähten zu platzen drohte.

Sie hatte sich noch nie besonders für rothaarige Männer interessiert, aber bei diesem Typen war es etwas anderes. Sein Haar hatte die dunkle satte Farbe eines irischen Setters, seine Augenbrauen waren schwärzer als die Federn einer Krähe und seine Haut überraschend goldbraun und nicht etwa blass, wie sie es bei dieser Haarfarbe erwartet hätte. Diese Erwartung rührte vermutlich von den vielen gemeinsamen Jahren mit Ava her.

Obwohl sie versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, fiel ihr Blick immer wieder auf ihn. Er schien sehr in das Gespräch mit seinen Freunden vertieft zu sein. Wenn er sprach, beugte er sich vor. Er zog in einem Moment die dunklen Brauen zusammen, entspannte sich im nächsten und begann zu grinsen. Er gestikulierte viel mit den Händen.

Große, kräftige Hände mit langen Fingern, mit denen er bestimmt …

Jane zuckte zusammen, als ob jemand direkt vor ihrem Gesicht in die Hände geklatscht hätte. Gütiger Gott. Wie in aller Welt konnte sie so etwas über die Finger eines vollkommen Fremden denken? Das war überhaupt nicht ihre Art.

Und ausgerechnet diesen Moment wählte er, um aufzusehen und sie dabei zu ertappen, wie sie ihn anstarrte. Sie versteifte sich. Er sprach weiter mit seinen Freunden, betrachtete sie dabei aber von Kopf bis Fuß, ließ den Blick einen Moment auf ihren Schuhen verweilen, dann wanderte er wieder nach oben. Ohne sie aus den Augen zu lassen, stürzte er mit einem Schluck ein Glas Schnaps hinunter, dann schob er seinen Stuhl zurück und stand auf.

Er kam zu ihr? Oh.

Nein! Sie war doch kein Teenager mehr. Und sicher nicht darauf aus, einen Mann kennenzulernen – und wenn, dann schon gar nicht in einer Bar.

„Hey, Jane, tut mir leid, dass ich zu spät komme. Und Poppy ist auch noch nicht hier, wie ich sehe.“

Jane stellte fest, dass so ziemlich jeder Männerkopf sich nach Ava umdrehte. Der Rothaarige am anderen Ende des Raumes war keine Ausnahme. Er musterte Ava einen Moment lang prüfend, bevor er wieder Jane ansah. Einen kurzen Moment stand er nur da und rieb sich den Nacken. Dann straffte er die breiten Schultern und steuerte auf die Toilette zu.

Sein Hintern war genauso ansehnlich wie der Rest von ihm, doch … Er setzte einen Fuß so zögerlich vor den anderen wie jemand, der zu viel getrunken hatte.

„Scheiße.“ Ihre Enttäuschung war einen Tick zu heftig dafür, dass sie mit dem Kerl noch nicht einmal ein einziges Wort gewechselt hatte.

„Wie bitte?“ Ava warf ihre Kate-Spade-Handtasche auf den Tisch und glitt anmutig auf einen Stuhl.

„Nichts.“ Jane wischte die Frage mit einer Handbewegung weg. „War nicht wichtig.“

Ava sah sie nur an.

„Okay, okay. Ich habe gerade mit diesem muskulösen Rothaarigen da hinten geflirtet und – dreh dich nicht um! Himmel, Ava! Er ist sowieso auf die Toilette gegangen.“

„Flirten ist gut – vor allem in deinem Fall, weil du das sowieso viel zu selten tust. Warum also die Flucherei?“

„Er ist betrunken. Das ist mir aber erst aufgefallen, als ich ihn gehen sah.“

„Ach, Janie. Nicht jeder, der ab und zu mal einen über den Durst trinkt, ist gleich ein Alkoholiker. So was passiert halt manchmal.“

„Ich weiß“, entgegnete Jane. Zum Teil, weil sie es so meinte, aber überwiegend, weil sie heute Abend keine Diskussion anzetteln wollte.

Doch Ava kannte sie viel zu gut, und statt das Thema fallen zu lassen, beugte sie sich über den Tisch. Ihr glänzendes Haar schwang nach vorn. Sie strich es sich hinter das Ohr. „Wenn Poppy und ich uns gelegentlich ein paar Drinks hinter die Binde gekippt haben, war das auch kein Problem für dich.“

„Ja, weil ich euch kenne. Und weil ich weiß, dass ihr äußerst selten zu viel trinkt.“ Jane zuckte ungeduldig mit den Schultern. „Sieh mal, ich weiß, dass ich bei diesem Thema oft überreagiere, und ich brauche keinen Seelenklempner, um zu kapieren, dass die Trinkerei meiner Eltern der Grund dafür ist. Aber du weißt so gut wie ich, dass du meine Meinung nicht ändern wirst. Also lassen wir es einfach, okay? Wir sind hier, um zu feiern.“

Ava grinste breit. „Oh mein Goooooott! Das sind wir allerdings. Bist du genauso aufgeregt wie ich?“

„Und wie. Dass ich mich um die Sammlungen kümmern darf, macht mich so fertig, ich kann kaum noch klar denken. Ich hatte heute Nachmittag keine Gelegenheit, mit Marjorie zu sprechen, aber wenn nichts Außergewöhnliches im Museum geschieht – und in den letzten Wochen war es sehr ruhig –, dann hoffe ich, dass ich gleich am Montag anfangen kann.“

„Entschuldigt die Verspätung.“ Poppy eilte atemlos auf ihren Tisch zu.

Ava gab ein unfreundliches Geräusch von sich. „Als ob wir wüssten, wie wir uns verhalten sollten, wenn du jemals pünktlich wärst.“ Poppy schleuderte ihre riesige Handtasche auf den Boden und fiel auf den freien Stuhl. „Hast du in der Straße geparkt oder auf dem Parkplatz hinter der Gasse?“

„Auf dem Parkplatz“, sagte Poppy.

„Ich bin mit dem Bus gefahren.“

Beide Freundinnen starrten Jane mit offenem Mund an. Sie blinzelte. „Was ist?“

„Du bist verrückt, weißt du das?“ Poppy schüttelte den Kopf.

„Wieso? Nur weil ich ab und zu mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahre?“

„Nein, weil abends nur wenige Busse fahren und es nicht gerade ungefährlich ist, lange an Bushaltestellen herumzustehen.“

„Ach, du meinst, gefährlicher, als durch eine dunkle Gasse zum Parkplatz zu laufen? Davon abgesehen kann ich mir auch jederzeit ein Taxi rufen. Das ist doch nun wirklich keine große Sache. Ava sagte, wir treffen uns in einer Stunde, und ich hätte es nicht rechtzeitig geschafft, wenn ich erst noch nach Hause gelaufen wäre.“

„Und so wie Poppy niemals pünktlich ist, kommst du nie zu spät“, sagte Ava.

Jane zuckte mit den Schultern. „Wir alle haben unsere kleinen Eigenarten. Sollen wir über deine sprechen?“

„Das könnten wir tun … wenn ich welche hätte.“ Sie winkte der Kellnerin und bestellte einen Tequila Spezial.

Poppy entschied sich ebenfalls für Tequila. „Was ist mit dir, Janie? Willst du noch ein Mineralwasser?“

„Nein, ich glaube, ich trinke ein Glas Weißwein. Ein Glas von Ihrem Hauswein, bitte“, fügte sie an die Kellnerin gerichtet hinzu.

Ihre Freundinnen johlten und trommelten begeistert auf den Tisch, und als die Kellnerin gegangen war, warf Jane ihnen einen düsteren Blick zu. „Entgegen eurer allgemeinen Auffassung von mir bin ich bei Gelegenheit durchaus in der Lage, auch mal eine Ausnahme zu machen.“ Dann grinste sie. „Und das hier ist definitiv eine Gelegenheit.“

„Amen, Schwester“, rief Poppy.

Kurze Zeit später erhob Ava ihr Glas. „Auf unser eigenes Haus.“

Jane und Poppy stießen mit ihr an. „Auf unser eigenes Haus.“

Jane probierte einen Schluck Wein, dann hob sie ihr Glas erneut. „Auf Miss Agnes.“

„Auf Miss Agnes!“

„Ich vermisse sie!“, sagte Poppy.

„Ja, ich auch. Sie war einzigartig.“

Nun hob Poppy ihr Glas. „Auf dich, Jane. Mögest du recht schnell die Sammlungen von Miss Agnes katalogisieren.“

„Auf mich“, sagte Jane, dann fügte sie ein wenig unsicher hinzu. „Und wenn ich es verpatze?“

Sie starrten einander an. Dann begann Ava zu lachen, Poppy stimmte ein und Jane schüttelte den Kopf. „Nee.“ Wenn sie etwas wirklich aus dem Effeff beherrschte, dann ihre Arbeit.

„Da fällt mir was ein.“ Poppy drehte sich auf ihrem Stuhl um. „Ich habe den Chef von Kavanagh Constructions gebeten, vorbeizukommen, damit ihr ihn kennenlernen könnt. Und da ist er auch schon!“

Zu Janes Überraschung winkte sie einem der Männer zu, die sie vorher so aufmerksam beobachtet hatte, sprang dann auf und flitzte mit dem ihr eigenen Selbstbewusstsein durch den Raum. Sie ging neben dem kahlköpfigen Mann, den Jane zuvor auf etwa vierzig geschätzt hatte, in die Hocke und begann, mit ihm zu sprechen. Kurz darauf erhob sie sich wieder, gab den anderen drei Männern am Tisch die Hand und deutete dann in Janes und Avas Richtung.

Zu Janes Entsetzen stand daraufhin nicht nur der Glatzköpfige auf und folgte ihr durch den Raum, sondern auch der Rothaarige. Der allerdings über einen freien Stuhl stolperte, die paar Stufen zu ihnen hinuntertorkelte und seine Faust auf die Tischplatte knallen ließ, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er fluchte leise vor sich hin.

„Dev!“, zischte der Glatzkopf. „Reiß dich zusammen!“

„’Tschuldigen Sie, Ladies.“ Er schenkte ihnen allen ein verlegenes Lächeln. „Ich habe einen schlimmen Jetlag.“

„Eher ein schlimmes Alkoholproblem“, sagte Jane halblaut. „Jane, Ava, das sind Bren Kavanagh und sein Bruder Devlin“, übertönte Poppy ihre Worte. „Wie ich euch bereits erzählte, werden die Kavanaghs unseren Umbau machen. Bren hat mir gerade erklärt, dass Devlin das Projekt leiten wird. Er beaufsichtigt …“

„Nein.“ Jane sprang wütend auf. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Es war eine Sache, einen betrunkenen Mann einen einzigen Abend lang in einem Restaurant zu ertragen, aber eine ganz andere, mit ihm auszukommen, während sie die wichtigste Ausstellung ihres Lebens organisierte.

Devlin, der auf seine Fingerknöchel gestarrt hatte, hob seine grünen Augen und blinzelte sie an. Nachdem ihm offensichtlich nicht gefiel, was er sah, kniff er sie zusammen und runzelte die teuflisch schwarzen Augenbrauen. „Was haben Sie gesagt?“

„Nein. Das ist ein recht simples Wort, Mr Kavanagh … Welchen Teil davon verstehen Sie nicht?“

„Hey, hören Sie …“

„Nein, Sie hören mir zu! Ich werde keinen verdammten Betrunkenen … Hey!“ Sie schrie auf, als Poppy sie am Handgelenk packte und beinahe von den Füßen riss. „Entschuldigen Sie uns kurz“, sagt Poppy, drehte sich um und zog Jane hinter sich her zur Bar.

Dev sah, wie die steife Brünette von dem Tisch weggezerrt wurde. „Okay, ich verschwinde besser“, sagte er und richtete sich auf. Oje. Er presste die Handfläche wieder auf die Tischplatte. Der ganze verdammte Raum schwankte.

Bren musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Mann, du bist ja völlig am Ende. Du solltest dich besser setzen, bevor du noch umfällst.“

Guter Plan. Er begann, den Stuhl zurückzuziehen, und zwar den Stuhl neben der Rothaarigen mit den großartigen Ti…

„An unserem Tisch, Bruder.“

„Oh. Ja. Klar.“ Er schenkte der Rothaarigen mit den umwerfenden Rundungen ein dankbares Nicken, dankbar darüber, dass sie ihn so voller Mitgefühl betrachtete. Dann machte er sich auf den Weg zurück zu Finn und David. Was zum Teufel hatte er hier überhaupt zu suchen? Er hätte gleich ins Bett fallen und zehn Stunden durchschlafen sollen. Stattdessen hatte er über die Leitung des Unternehmens gesprochen; er sollte sie übernehmen, während sein Bruder behandelt wurde. Und vielleicht hätte er die beiden Tequilas ablehnen sollen, nachdem er schon ein paar Gläser von Davids Lieblingswhiskey getrunken hatte. Er war Ire, verdammt! Normalerweise vertrug er eine ganze Menge, ohne dass man ihm etwas anmerkte.

Heute Abend aber … Nun, er war nun schon über fünfunddreißig Stunden wach, neunzehn davon hatte seine Reise von Athen nach Seattle gedauert. Als sein Bruder Finn ihn am Flughafen abgeholt hatte, war er bereits vollkommen erschöpft gewesen.

Doch wenn ein Kavanagh nach Hause kam, musste das gefeiert werden. Und eine Feier war keine Feier, wenn sie nicht von all seinen sechs Geschwistern besucht wurde, von deren Partnern und Kindern, von den beiden Großmüttern und dem Großvater, zwei Onkeln, vier Tanten und deren Familien. Nun ja – so war es nun mal.

Aber er hätte sich weniger auf Davids Whiskey als vielmehr auf Moms Essen stürzen sollen.

„Gut gemacht!“, rief sein jüngster Bruder grinsend, als Devlin es an den Tisch zurückgeschafft hatte. „Kaum ein paar Stunden in der Stadt, wirst du schon an den Kindertisch geschickt, damit Bren allein mit den Erwachsenen sprechen kann.“

„Du bist echt der Brüller, David, weißt du das?“ Devlin hakte den Ellbogen um den Hals seines Bruders, schwankte kurz, dann rieb er mit den Fingerknöcheln über Davids braunes Haar. „Du solltest es mal bei der Open-Mike-Nacht im Comedy-Club versuchen.“ Er ließ ihn frei und plumpste auf den Stuhl, auf dem zuvor Bren gesessen hatte. „Allerdings muss ich zugeben, dass es sich tatsächlich ein wenig so anfühlt. Offenbar hat sich eine potenzielle Kundin durch meine Trunkenheit gestört gefühlt.“

„Kann ich mir gar nicht vorstellen“, sagte Finn trocken.

Devlin lächelte schief. „Ja, ich auch nicht. Mist.“ Er strich mit den Fingern über seine Lippen. „Ich wusste gar nicht, wie besoffen ich bin, bevor ich aufstand, um mit Bren zu ihrem Tisch zu gehen. Ich musste mich konzentrieren wie verrückt, um einigermaßen gerade zu gehen.“

Finn sah ihn ausdruckslos an. „Und hat’s geklappt?“

„Nicht besonders.“ Er blickte über seine Schulter zu seinem ältesten Bruder, der noch immer mit der Rothaarigen sprach, dann wandte er sich wieder an die anderen. Er fühlte sich mit einem Mal deutlich nüchterner. „Also, wie geht es ihm wirklich?“

„Er hat gute Tage und schlechte Tage. Aber ich glaube, das würde er dir lieber selbst erzählen.“

„Ja, er ist ja so wahnsinnig gesprächig.“ Devlin warf seinem Bruder einen Blick zu. „Ich bin noch immer sauer, dass ich von alldem erst vor drei Tagen erfahren habe.“

Finn erwiderte ungerührt seinen Blick. „Du warst die letzten zehn Jahre ein bisschen weit weg von uns, kleiner Bruder. Vielleicht dachten wir, es würde dich nicht interessieren.“

Devlin sprang auf, bereit für eine Prügelei.

Finn sah ihn nur mit seinen ruhigen dunklen Augen an, und Dev setzte sich wieder. Rollte mit den Schultern und warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu. „Ich bin vielleicht geografisch gesehen weit weg, aber ich bin noch immer ein Kavanagh. Ich gehöre noch immer zur Familie.“ Was ihn, um ehrlich zu sein, noch genauso in Konflikte stürzte wie mit neunzehn. Er liebte den Kavanagh-Clan, konnte aber nicht lange in seiner Nähe sein, ohne wahnsinnig zu werden. Er ertrug es nicht, dass jeder in der Familie sich ständig in seine Angelegenheiten mischte. Aber jetzt ging es nicht etwa darum, wer mit wem ausging oder nicht, sondern es ging um Bren, und Bren hatte Krebs. Es schmerzte höllisch, dass niemand es für nötig erachtet hatte, zum Telefon zu greifen und ihm Bescheid zu geben. „Ich gehöre noch immer zur Familie“, wiederholte er eigensinnig.

„Ja, ja, Finn weiß das“, sagte David friedfertig. „Aber auch das ist etwas, das du mit Bren besprechen musst. Es war seine Entscheidung, dich nicht damit zu belasten, weil du sowieso nichts tun konntest, um ihm zu helfen. Aber jetzt kannst du etwas tun. Vorausgesetzt, du hast die Kundinnen nicht vollkommen verschreckt. Also … was war los? Kann sie dich nicht leiden, weil du heute keinen Alkohol verträgst? Hast du ihr nicht erklärt, dass du einen Jetlag hast?“

„Klar habe ich das.“

„Also, was soll das dann?“

Devlin dachte über die Brünette nach. Sie war ihm schon vorher aufgefallen. Sie war nicht so fantastisch gebaut wie ihre rothaarige Freundin und nicht so modelmäßig hübsch wie die Blondine, und er konnte sich vorstellen, dass sie in Gesellschaft der beiden öfter mal übersehen wurde. Bei Gott, sie war eigentlich nicht sein Typ. Aber sie war allein gewesen und hatte ihn angesehen, und mit einem Mal hatte er doch ein recht ausgeprägtes Interesse an ihr verspürt.

Das lag an den Gegensätzen, wie er glaubte. Sie trug eine schlichte weiße Bluse und einen geraden halblangen Rock. Aber dazu hochhackige Schuhe mit Leopardenmuster, und es konnte keinem Mann verborgen bleiben, wie verdammt hübsch und schlank ihre blassen Beine waren. Aus ihrem altmodischen Knoten hatten sich auf einer Seite ein paar Strähnen gelöst, was den Eindruck vermittelte, als ob ihr glänzend braunes Haar jeden Moment über ihren langen Hals fallen würde.

Doch am aufregendsten waren ihre Augen. Sie waren blau, und anders als ihr Rock und ihre Bluse wirkten sie kein wenig steif. Sie hatte ihm einen Blick zugeworfen, als würde sie ihn am liebsten mit Haut und Haar …

Mist. Er schüttelte die Vorstellung ab, schließlich war diese Frau ganz offensichtlich vollkommen humorlos und außerdem überheblich. Er sah David schulterzuckend an. „Was weiß denn ich, Bruder. Ich habe keine Ahnung, was für ein Problem sie hat.“

„Willst du wissen, was mein Problem ist?“ Jane riss sich aus Poppys Umklammerung los und hielt sich am Waschbecken der Toilette fest, um ihrer Freundin keinen Haken gegen das elegante Kinn zu verpassen. Mit zehn hätte sie alle Vorsicht in den Wind geschlagen und ausgeholt, doch sie hatte inzwischen gelernt, sich unter Kontrolle zu haben. Ach verdammt, heutzutage bestand sie im Grunde aus nichts anderem als aus Kontrolle.

„Mein Problem“, fuhr sie kühl fort, „ist erstens, dass ich mich von dir nicht gerne durch die Gegend zerren lasse, und zweitens – und das ist wirklich der Gipfel, Calloway –, dass du mir einen Alkoholiker aufhalsen willst, während ich versuche, mich um die wichtigste Ausstellung zu kümmern, für die ich jemals verantwortlich war. Du weißt verdammt gut, dass es extrem stressig wird, wenn ich alles im Januar fertig haben will. Und das Letzte, was ich da brauchen kann, ist, mich um einen Säufer zu kümmern. Das ist mein Problem.“

„Glaubst du vielleicht, dass hier nur für dich was auf dem Spiel steht?“ Poppy stieß ihre Nase direkt in Janes Gesicht. „Hier geht es nicht nur um dich, und das weißt du verdammt gut. Keine von uns will einen Fehler machen, nachdem Miss Agnes so viel Vertrauen in uns gesetzt hat. Wenigstens hast du ja Erfahrung mit dem, was du vorhast. Ava hingegen muss das Haus verkaufen, ohne sich mit Immobilien auszukennen, und ich bin verantwortlich für den Umbau. Und das ist keine Kleinigkeit, Kaplinski, wenn man bedenkt, dass ich mein Geld mit dem Entwerfen von Speisekarten verdiene!“

„Also bitte.“ Jane stieß ihre Nase nun ebenfalls gegen die von Poppy. „Du weißt doch genau, dass Miss Agnes dich dafür wollte, weil du vom ersten Tag an versucht hast, sie zu einem Umbau zu überreden! Wie viele Vorschläge hast du ihr wohl in den vergangenen Jahren gemacht? Eine Million? Zwei Millionen? Und ich schätze, sie hat Ava mit dem Verkauf beauftragt, weil sie mit genau den Leuten ständig Kontakt hat, die in der Lage sind, sich so was überhaupt zu leisten.“

„Na gut, da magst du vielleicht recht haben. Aber ich habe mir den Arsch aufgerissen und mit verdammt vielen Bauunternehmen gesprochen. Die Kavanaghs haben einen guten Ruf. Ganz zu schweigen davon, dass sie bereit sind, zwanzig Prozent unter dem üblichen Preis zu bleiben, wegen der Publicity, die sie sich von dem Umbau der Wolcott-Villa versprechen. Also reiß dich zusammen! Von deiner Abneigung gegen Alkohol lassen Ava und ich uns die Sache nicht verpfuschen. Verstehst du?“

Jane strich ihren Rock glatt und schob sich die Strähnen hinters Ohr, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatten. Dann sah sie ihre Freundin fest an.

„Na schön“, sagte sie widerwillig. „Er kann bleiben. Aber wenn er auch nur ein einziges Mal bei der Arbeit trinkt, kann ich für nichts garantieren.“

„In Ordnung.“

„Das freut mich. Denn ich erwarte, dass du mir dabei hilfst, die Leiche zu verscharren.“

„Du machst wohl Witze!“ Poppy presste eine Hand aufs Herz. „Ich meine – wofür sind Freundinnen schließlich da?“

2. KAPITEL

Ich werde meine Arbeit gut machen. Miss Agnes hat offenbar geglaubt, dass ich das schaffe – dass wir alle drei es schaffen –, und nichts und niemand wird mich davon abhalten, mein Bestes zu geben.

Sie scheinen für diese Arbeit gemacht zu sein.“

Jane verspannte sich beim Klang dieser Stimme. Am liebsten hätte sie eine Reihe unflätiger Worte von sich gegeben, doch stattdessen setzte sie ein ruhiges Gesicht auf und wandte sich um.

Devlin Kavanagh, ein ganzer Kerl mit dunkelblauem T-Shirt, zerschlissenen Jeans und abgewetzten Stiefeln, lehnte im Türrahmen. Sein rostbraunes Haar glänzte im Schein all der Lichter, die sie angeknipst hatte. Ihr Herz begann zu hämmern, woraufhin sie die Hände in die Hüften stemmte und sich gegen alle erdenklichen Versuchungen stählte. „Was wollen Sie, Kavanagh?“

„Oh, wie freundlich.“ Er stieß sich vom Türrahmen ab, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und tippte mit einer weiträumigen Bewegung erst den rechten Finger an die Nase, dann den linken und wieder den rechten. Schließlich sah er sie an. „Sehen Sie, Lady, ich habe den Alkoholtest bestanden.“

„Im Moment. Bleibt abzuwarten, wie lange, nicht wahr?“

Er kniff die Augen zu goldgrünen Schlitzen zusammen. „Was ist eigentlich Ihr Problem? Ich hatte Ihnen doch erklärt, dass ich einen Jetlag hatte. Vielleicht hätte ich die Tequilas nicht trinken sollen, aber ich bitte Sie – ich war eineinhalb Tage auf den Beinen, deswegen haben sie mich fast umgehauen.“

Beschämt sah sie ihn an. Sie benahm sich wirklich wie eine mäkelige Zicke, was ihrer Meinung nach überhaupt nicht zu ihr passte. Sie kannte diesen Typen doch überhaupt nicht und hatte überhaupt kein Recht, sein Verhalten zu verurteilen. „Tut mir leid“, sagte sie steif.

Er schnalzte skeptisch mit der Zunge. „Ja, das klingt wirklich überzeugend.“

Was zum Henker wollte er eigentlich von ihr? Ihr Rücken begann zu schmerzen, so sehr musste sie sich zurückhalten, um ihm nicht näherzukommen. Sie konnte diese verrückte Anziehungskraft kein bisschen verstehen, aber eines wusste sie: Sie war stärker als so ein paar wild gewordene Hormone. Sie hob das Kinn und sah ihm in die Augen. „Dann entschuldige ich mich auch dafür. Ihr Alkoholproblem geht mich nichts an.“

„Himmel, Sie geben nie auch nur einen Millimeter nach, oder?“

„Ich habe mich doch entschuldigt!“

„Noch nie hat eine Entschuldigung unglaubwürdiger geklungen. Aber in einer Hinsicht haben Sie recht, Lady: Wenn ich ein Alkoholproblem hätte, ginge Sie das tatsächlich nichts an.“

Sich selbst zu kritisieren war eine Sache, sich von ihm kritisieren zu lassen, eine ganz andere. „Wollten Sie etwas Bestimmtes, Mr Kavanagh?“

„Dev.“

Sie warf ihm einen Und weiter?-Blick zu.

„Nennen Sie mich Dev. Oder Devlin, wenn Sie auf Formalitäten bestehen. Mr Kavanagh jedenfalls heißt mein Dad.“

„Okay. Kann ich etwas für Sie tun, Devlin?“ Sie hörte einen Moment lang auf, an den Columbia-River-Korbwaren zu ihren Füßen herumzufummeln.

„Ich bin auf der Suche nach einem aktuellen Bauplan für die Villa. Das Haus ist über hundert Jahre alt, und leider habe ich auch nicht die Original-Baupläne. Könnte sein, dass die Bude voller Geheimgänge oder Geheimtüren ist. Ich würde gerne wissen, womit wir es zu tun haben, bevor ich irgendeine Wand einreiße. So ein Geheimgang beispielsweise könnte ein gutes Verkaufsargument sein. Und Bren sagte mir, genau darum ginge es Ihnen.“

Die Idee eines Geheimganges gefiel ihr, aber sie wollte sich nicht ablenken lassen. Je schneller sie diesen Ich bin ja so sexy-Typen loswurde, desto besser. Doch statt ihm eine klare Antwort zu geben, hörte sie sich fragen: „Und warum genau fragen Sie da mich?“

„Sie scheinen hier für die Details zuständig zu sein. Also, wissen Sie zufällig, wo die Baupläne sind?“

„Nein, tut mir leid.“ Das war tatsächlich so. Denn je mehr Informationen Kavanagh Constructions hatte, desto besser würden die Restaurierungsarbeiten ausfallen. Und sie wollte, dass diese alte Villa so hergerichtet wurde, wie sie es verdiente. „Ich bin sicher, es gibt mehrere Baupläne, aber ich habe keine Ahnung, wo Miss Agnes sie aufbewahrt hat. Sie hat uns nur erzählt, dass die Villa mehrfach renoviert worden ist, zuletzt 1985.“

Er nickte. „In dem Jahr, in dem die Wolcott-Juwelen von dem Vorarbeiter geklaut wurden.“

Jane hörte auf, so zu tun, als ob sie angestrengt arbeiten würde, und stand auf, um Devlin direkt anzusehen. „Davon wissen Sie?“

„Also, Kleine.“ Er schenkte ihr ein Lächeln, mit dem er vermutlich schon mehr als eine Frau ins Bett bekommen hatte. „Ich bin ein Kind dieser Stadt. Die Juwelen sind in dieser Stadt eine Legende. Jeder weiß davon.“

Nun, sie war auch ein Kind dieser Stadt, aber … „Ich nicht. Nicht bis vor Kurzem. Miss Agnes hat nie über den Diebstahl oder den Mord an Henry gesprochen.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Erst als Poppy davon gehört und sie gefragt hat.“ Sie lächelte bei der Erinnerung. „Poppy kann ein richtiger Pitbull sein, wenn sie sich mal in was verbissen hat.“

Er wollte einen Schritt in den Raum treten, musste aber bemerkt haben, wie sie sich versteifte, denn er hielt inne. Er lehnte sich mit seiner muskulösen Schulter an den Türrahmen, hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen und musterte sie. „Henry, hm? War das der Mann, der getötet wurde? Als der Dieb zurückkam, um sich die Juwelen zu holen, die er vorher versteckt hatte?“

„Sie sind doch der Experte.“

„Hey, ich war damals noch ein Kind! Mich hat der Mord zwar interessiert, aber richtig fasziniert war ich von der Vorstellung, dass irgendwo Juwelen im Wert von mehreren Millionen Dollar herumlagen.“

„Tja, nun, Henry war ihr Mann für alle Fälle. Er war ihr Butler und Sekretär und Ratgeber, und ich denke, vermutlich auch ihr Lieb…“ Jane brach erschrocken ab. Was machte sie da? Sie hatte doch gerade erst betont, dass sie Devlin überhaupt nicht kannte. Und auch wenn es vielleicht etwas voreilig gewesen war, ihm ein Alkoholproblem zu unterstellen, so musste sie ihn doch nicht ins Vertrauen ziehen. Warum also hätte sie beinahe ausgeplaudert, dass sie und ihre Freundinnen der Ansicht waren, Henry wäre für Miss Agnes mehr gewesen als nur ein Angestellter? Schließlich hatte Miss Agnes nie etwas in dieser Art erwähnt. Doch der Blick in ihren Augen, wenn sie von ihm sprach, und die Tatsache, dass er an besagtem Abend gar nicht in der Villa hätte sein dürfen, deuteten darauf hin, dass Henry tatsächlich ihr Liebhaber gewesen war. Allerdings ging das alles diesen Devlin Kavanagh überhaupt nichts an.

„Nun, hören Sie.“ Sie warf ihm ihr schönstes geschäftliches Lächeln zu. „Ich habe hier zu tun. Wie ich schon sagte: Ich weiß wirklich nicht, wo die Baupläne sind. Ich bin nicht einmal sicher, dass es welche gibt. Aber ich werde die Augen offen halten.“

Er betrachtete sie einen Moment lang, dann trat er zurück und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Danke. Dann werde ich mal in die Stadt fahren und nachsehen, ob das Stadtarchiv die Originale oder irgendwelche Aktualisierungen hat.“ Er musterte sie kurz von Kopf bis Fuß, fuhr sich über die Unterlippe und nickte. „Wir sehen uns, Langbein.“

Langbein? Sie wandte den Blick von der nun leeren Türschwelle auf besagte Gliedmaßen in den alten schwarzen Jeans. Sie hatte recht lange Beine, gut, aber sie waren trotzdem nicht besonders erwähnenswert. Sie selbst fand sie eher etwas zu dünn. Dann schüttelte sie sich und befahl sich, nicht länger über den Kommentar nachzudenken. Aber, du liebe Zeit. Dieser Mann war eine Gefahr für die Frauenwelt! Jane konnte sich bildlich vorstellen, dass sich ihm schon die Mädchen in der Pubertät an den Hals geworfen hatten. Oder vermutlich schon vorher, bei diesem Selbstbewusstsein und diesen Augen und diesem Körper.

Nun, sie nicht. Was sie betraf, war er für sie von nun an unsichtbar. Sie würde Abstand halten. Ihn sich aus dem Kopf schlagen.

Und weiterarbeiten.

Miss Agnes’ Sammlung ordnen, damit sie mit der Recherche und der Katalogisierung der Stücke beginnen konnte, was eine Heidenarbeit werden würde. Sie freute sich wie eine Schneekönigin darüber, doch zugleich schüchterte sie der Umfang der verschiedenen Sammlungen doch ziemlich ein. Deswegen musste sie sich wirklich ranhalten.

„Die Uhr tickt, und ich drehe mich den ganzen Tag im Kreis wie ein Derwisch, weil ich nicht weiß, wo ich anfangen soll“, rief sie, als Ava vorbeikam, um zu sehen, wie es ihr erging. „Und außerdem“, fügte sie kläglich hinzu, „überkommen mich bei einigen Stücken immer wieder nostalgische Gefühle. Und das Ende vom Lied ist, dass ich noch nicht einmal richtig begonnen habe.“

„Jane, Jane, Jane.“ Ava nahm die Erstausgabe eines Buches in die Hand, fuhr mit dem Finger über den Ledereinband und stellte es dann vorsichtig wieder ins Regal. „Ist doch ein Kinderspiel. Wenn du nicht weißt, wo es losgehen soll, fang mit dem Schmuck an.“

Jane lachte überrascht auf, dann riss sie ihre Freundin in eine Umarmung. „Du bist ein Genie, Miss Spencer! Ich habe ein bisschen hier angefangen und ein bisschen dort, statt mich auf die Stücke für das Museum zu konzentrieren. Mit dem Schmuck anzufangen ist wirklich die beste Idee.“ Sie schnappte sich ihr Notebook und eilte zur Treppe. „Komm. Ich habe die Codes für die Safes. Lass uns mal sehen, was wir finden.“

Es war fast siebzehn Uhr, als Dev zurück zur Villa kam. Eigentlich hätte er Feierabend machen und in das Apartment fahren sollen, das seine Schwester Maureen für ihn in Belltown gemietet hatte. Aber es hatte angefangen zu schütten, und außerdem fühlte er sich in der Wohnung nicht heimisch. Da konnte er genauso gut in dem kleinen Büro im ersten Stock ein Feuer machen, in Ruhe den Kaffee trinken, den er sich um die Ecke gekauft hatte, dem Regen lauschen und dabei die Informationen durchlesen, die er von der Bezirksverwaltung und beim Bauamt bekommen hatte.

Viel war es allerdings nicht. Vor 1936 waren die Daten handschriftlich auf Karteikarten vermerkt und immer wieder durchgestrichen und verbessert worden. Und es gab keine einzige Fotografie. Mit anderen Worten: Die Informationen waren ziemlich nutzlos.

Danach war er zur University of Washington gefahren und hatte im Archiv Fotos der Villa aus den späten Dreißigerjahren entdeckt. Sie waren zwar nicht so hilfreich wie Baupläne, aber zumindest konnte er auf diese Weise ungefähr herausfinden, in welcher Reihenfolge die sogenannten Verschönerungen an der Villa vorgenommen worden waren.

Mit gerunzelter Stirn lief er die Treppe hinauf. Wer auch immer verantwortlich für diese Anbauten der alten Villa war, sollte geteert und gefedert werden. Er hatte in seinem Leben schon eine Menge schlechter Umbauten Marke Eigenbau gesehen, aber diese hier waren die Krönung. Nur wenige Veränderungen waren in Übereinstimung mit der originalen Bauweise vorgenommen worden. Zimmer, die einmal geräumig und anmutig gewesen sein mussten, waren so oft aufgeteilt worden, dass sie jeglichen Charme verloren hatten.

Tief in Gedanken versunken gelangte er zum Büro und hörte weibliche Stimmen. Er blieb stehen.

Verdammt. Das war’s dann wohl mit der Idee, gemütlich seinen Kaffee vor dem Kaminfeuer zu trinken. Er drehte sich gerade herum, um wieder zu verschwinden, als aus dem Murmeln ein tiefes, heiseres Lachen wurde. Der Klang schnitt wie ein glühendes Schwert in sein Herz. Er lief zurück zur Tür.

Nachdem er sich nicht vorstellen konnte, dass die kleine hochnäsige Miss Kaplinski dieses Lachen ausgestoßen hatte, als hätte sie einen herrlich schmutzigen Witz gehört, fiel sein Blick auf die üppige Rothaarige, die am anderen Ende des Raumes saß. Doch falls Ava keine Bauchrednerin war, kam das Lachen nicht von ihr. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie ihre Freundin betrachtete, die ihr gegenübersaß. Dev richtete seine Aufmerksamkeit ebenfalls auf sie.

Und mit einem Mal fühlte er sich, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen.

Jane saß in einem Samtsessel vor einem knisternden Feuer, die hochhackigen Stiefeletten lagen vor ihr auf dem Boden, ihre in karierten Strümpfen steckenden Füße hatte sie auf den mit Schachteln und kleinen Taschen überfüllten Couchtisch gestreckt. Sie hielt den Laptop umklammert, damit er ihr nicht vom Schoß rutschte, während sie mit nach hinten geworfenem Kopf brüllte vor Lachen.

Zum ersten Mal sah er sie mit entspanntem Rücken. Nun, er hatte sie insgesamt natürlich nur drei Mal gesehen, doch jedes Mal hatte sie sich sehr gerade gehalten, geradezu steif. Als wäre sie eigentlich eine Prinzessin, die sich ständig darüber wunderte, wie sie in diese Welt voller Bürgerlicher geraten war.

Er beobachtete sie, wie sie um Fassung rang, und begann zu grinsen. Der Prinzessinnen-Vergleich war gar nicht so übel, nachdem sie sich mit Juwelen vollgehängt hatte, die mindestens ein Königreich wert sein mussten.

Sie hatte ihren Blazer ausgezogen und die Blusenärmel hochgekrempelt. Perlen und Smaragde schmückten ihre Handgelenke und baumelten schimmernd und funkelnd um ihren Hals. Ein Diamantdiadem saß auf ihrem Haarknoten, Kaskaden von Edelsteinen, die er nicht erkannte, schwangen an ihren Ohren, und an jedem Finger steckte ein funkelnder Ring.

Ava war ähnlich ausstaffiert, doch ihr schenkte er kaum einen Blick; sie wirkte wie jemand, der es gewohnt war, solchen Schmuck zu tragen. Jane hingegen war wie ein kleines Mädchen, das sich verkleidet hatte. Er hätte seinen Startplatz beim nächsten America’s Cup – den er zugegebenermaßen gar nicht hatte – verwettet, dass sie nicht besonders oft Prinzessin gespielt hatte, selbst als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.

„Du bist dran“, sagte sie, und Ava beugte sich vor und nahm eine Samtschachtel vom Tisch. Doch dann hielt sie mit einem Mal inne und wandte den Kopf in seine Richtung. Eine Sekunde lang wünschte er sich, dass er rechtzeitig verschwunden wäre, doch nun war es zu spät.

Sie neigte den Kopf und sagte freundlich: „Hey, Dev.“

Jane starrte ihn an und riss die Beine so schnell vom Tisch, dass mehrere Schachteln und Taschen auf den Boden fielen. Leise schimpfend hob sie sie auf, woraufhin ihr das Diadem über ein Auge rutschte. Sie zerrte die kleine Krone vom Kopf. Ein winziger Kamm, der das Diadem noch immer auf einer Seite festhielt, befreite eine glänzende Haarsträhne aus dem strengen Knoten, die sich an ihre Wange schmiegte. Sie blies sie weg, richtete sich kerzengerade auf, hob das Kinn und sah ihn an. „Devlin.“

Er stieß die Hacken seiner Stiefel zusammen und verbeugte sich. „Eure Hoheit.“ Gut, das war ein recht billiger Scherz, aber er konnte einfach nicht widerstehen. Er musste ein Grinsen unterdrücken.

„Was können wir für Sie tun, Devlin?“, fragte Ava.

„Hm?“ Er wandte den Blick von Janes errötetem Gesicht ab. „Oh. Nichts. Ich wollte ein kleines Feuer machen und mir ein paar Fotos der Villa ansehen, die ich heute im Staatsarchiv gefunden habe. Aber ich wusste nicht, dass der Raum hier bereits besetzt ist.“

Ava streckte gebieterisch eine Hand aus. „Zeigen Sie sie uns.“

Er durchquerte langsam das Zimmer und reichte ihr den Umschlag. Daraufhin klopfte sie energisch neben sich auf das Sofa. „Setzen!“

„Platz!“, sagte Jane in demselben Kommandoton, und Dev blickte sie überrascht an. Wie – besaß diese Frau vielleicht doch einen Funken Humor? Sie erwiderte seinen Blick ausdruckslos. Er rollte mit den Schultern, dann setzte er sich neben Ava. Nein. Eher nicht.

Ava wollte gerade den Inhalt des Umschlags auf ihren Schoß schütteln, als er eine Hand hob. „Nicht so. Nehmen Sie sie vorsichtig heraus“, wies er sie an. „Ich möchte sie nicht noch einmal in die richtige Reihenfolge bringen müssen.“

Sie tat wie ihr geheißen und stieß einen erfreuten Schrei aus, als sie das oberste Foto betrachtete. „Oh, wie wunderschön. Janie, komm, sieh dir an, wie dieses Haus einmal ausgesehen hat, bevor dieser schreckliche Wintergarten angebaut wurde.“

Zu seiner Überraschung gehorchte Jane, stellte ihren Laptop weg und stand auf. Ava rutschte zur Seite und klopfte erneut auf das Sofa neben sich. „Rutschen Sie rüber“, befahl sie. „Wir nehmen Sie in die Mitte, damit wir alle gut sehen können.“

Er spürte mehr, als dass er sah, wie Jane zögerte. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein, denn eine Sekunde später setzte sie sich neben ihn.

Das war wirklich ein kleines Sofa. Nun, normalerweise hätte er nichts dagegen gehabt, zwischen zwei schönen Frauen eingequetscht zu sitzen. Aber aus irgendeinem Grund machte ihn die Situation schrecklich nervös. „Ähm, ich glaube, dieses Sofa ist nicht für drei Menschen gebaut worden.“ Sich Janes Wärme an seiner Seite vollkommen bewusst, fügte er hinzu: „Vor allem nicht, wenn einer so beeindruckend geschwungene Hüften hat.“

Okay, das war nicht so rübergekommen, wie er es gemeint hatte, obwohl Ava wirklich umwerfende Hüften hatte. Aber er war nicht darauf vorbereitet gewesen, dass die Frauen zu beiden Seiten erstarren würden. Und noch weniger darauf, dass die Rothaarige ihm einen ausdruckslosen Blick zuwerfen und mit kühlem, höflichem Ton fragen würde: „Nehme ich zu viel Platz in Anspruch, Devlin?“

„Wie bitte? Nein! Das habe ich überhaupt nicht gemeint. Ich wollte nur …“ Was, du Genie? Nun, um genau zu sein, hatte er sein Hirn überhaupt nicht benutzt, sondern einfach die erste Entschuldigung ausgestoßen, die ihm eingefallen war, um sich aus dieser Situation zu befreien.

Janes Brust drückte sich an seinen Bizeps, als sie den Hals reckte, um ihre Freundin anzusehen. „Er sagte ‚beeindruckend geschwungen‘, Av. Nicht dick.“

Er zuckte vor Entsetzen zusammen, dann starrte er Jane an. „Natürlich habe ich das nicht gesagt! Großer Gott! Kein Mann, der bei Verstand ist, würde so etwas jemals von ihr denken! Verdammt, sie ist gebaut wie ein leibhaftiger feuchter Traum!“ Die blauen Augen, in die er blickte, wurden rund, und am liebsten hätte er sich selbst eine Ohrfeige verpasst. Was zur Hölle ist eigentlich mit dir los, Dev? Da warst du ja mit neun Jahren taktvoller!

Aber anscheinend hatte er doch das Richtige gesagt, denn er spürte, wie Ava sich neben ihm wieder entspannte, während Jane lächelte. „Das ist verdammt richtig. Und es liegt an Ihren Schultern, Sie Schlaumeier, und nicht an Avas Hüften, dass wir hier zu wenig Platz haben.“

„Nein, vermutlich sind es meine Hüften.“ Sie reichte ihm die Fotos mit einem kläglichen Lächeln. „Es tut mir leid, Dev. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich war ein dickes Kind, und ich habe nach wie vor ein paar Probleme mit meinem Gewicht.“

Als Bruder von drei Schwestern hätte man glauben können, dass er ein wenig Einblick in die weibliche Psyche hatte, doch er begriff überhaupt nichts. Deswegen sagte er nur: „Nun, das sollten Sie nicht. Jeder Mann, den ich kenne, würde zum Mörder werden, um einmal einen Körper wie Ihren berühren zu dürfen.“

Und doch war es nicht Avas Körper, der ihn nervös machte, als sie sich zu dritt über die Fotografien beugten. Das ergab zwar überhaupt keinen Sinn, doch es war Jane, die ihn ins Schwitzen brachte.

Sie hatte ja vielleicht ein kühles Wesen, aber ihr Körper strahlte wirklich eine Menge Hitze aus. Er spürte sie an seiner kompletten linken Seite, als er seinen Kaffeebecher auf den Tisch stellte. Er musste nicht auch noch von innen gewärmt werden. Ihm war sowieso ziemlich heiß.

Ziemlich. Heiß.

Scheiße.

Er konzentrierte sich auf Janes unlackierte Fingernägel. Sie waren abgekaut, und er verspürte einen kleinen Triumph bei der Entdeckung, was nun wirklich nicht für ihn sprach. Aber vielleicht war sie doch nicht so selbstsicher, wie sie tat.

Dafür hatte sie die Haut eines Babys. Nicht dass viel davon zu sehen gewesen wäre – sie hatte die Bluse bis zum Hals zugeknöpft. Und doch bemerkte er die seidenweiche Textur ihrer Finger, wenn sie sich beim Austauschen der Fotos berührten, oder wie ihre nackten Unterarme mit den Perlen der Armbänder um die Wette schimmerten.

Er bewegte sich unbehaglich. Was zum Henker ging hier eigentlich vor? Das passte überhaupt nicht zu ihm. Er konnte schon gar nicht mehr zählen, wie viele Frauen er in den letzten Jahren gehabt hatte – er war Seemann und Handwerker, Himmel noch mal! Sachen wie mit den Perlen um die Wette schimmern, so etwas dachte er nicht.

„Nun, also.“ Er stemmte sich zwischen den beiden Frauen hoch und stand auf. „Ich beginne gleich zu schielen – ich glaube, ich gehe besser nach Hause. Ich habe den Jetlag noch nicht ganz hinter mich gebracht. Ich muss mich in die Falle hauen.“

Vielmehr in eine Kneipe gehen, eine Frau aufreißen und mich dann mit ihr in die Falle hauen, dachte er, während er die Fotos einsammelte, sich dann verabschiedete und im Regen zu seinem Wagen rannte. Eine Frau mit beeindruckendem Dekolleté und lächelnden roten Lippen. Und Fingernägeln, die lang genug waren, um ihm den Rücken zu zerkratzen. Eine, die ihn ansah, als ob er der tollste Hecht im Teich wäre und nicht ein Säufer, der dringend einen Drink brauchte.

Nur …

Er fuhr nach Hause, duschte und ging ins Bett.

Morgen, dachte er. Morgen Nacht würde er sich eine Frau suchen. Denn wenn ihn schon eine verklemmte kleine Miss Jane Kaplinski in Erregung versetzen konnte, dann war er viel zu lange nicht mehr flachgelegt worden.

3. KAPITEL

Sex wird völlig überbewertet. Ich jedenfalls kann sehr gut ohne leben.

Wirklich.

Am nächsten Abend saß Jane im Salon der Wolcott-Villa und tippte Notizen für das vor ihr liegende Gespräch mit der Museumsdirektorin in ihren Laptop. Doch statt sich ganz und gar auf ihren Bericht zu konzentrieren, wanderten ihre Gedanken immer wieder zu einem ganz bestimmten Mann. Zu einem muskulösen rothaarigen Mann.

Was war überhaupt dran an diesem Devlin Kavanagh? Warum kam er ihr immer wieder in den Sinn? Das war doch vollkommen lächerlich!

Nun ja, lächerlich vielleicht, aber nicht vollkommen unverständlich. Schließlich hatte sie sich ja auch durchaus schon vorher zu Männern hingezogen gefühlt.

Allerdings nicht auf diese Weise. Nie hatte sie einen Mann so unbedingt haben wollen, ohne ihre Empfindungen auch nur im Ansatz kontrollieren zu können.

Und genau das war das Problem. Sie hasste es, sich nicht unter Kontrolle zu haben. Mit Eltern, die sich ständig am Rande oder inmitten eines Dramas befanden, hatte sie schon als Kind beschlossen, niemals so zu werden.

Was hatte sie eigentlich Schlimmes getan, um Eltern zu verdienen, die Schauspieler waren? Sie hatte sich nie etwas anderes gewünscht als eine nette, normale Familie. Und hatte sie eine bekommen? Oh nein. Gott hatte sich bestimmt kaputtgelacht vor Vergnügen, als er sie stattdessen mitten in diese Dorrieund-Mike-Show hineingeschickt hatte. Was total unfair war. Denn ihre Eltern hatten nicht einfach nur Meinungsverschiedenheiten ausgetragen, sondern Krieg geführt und Krisen von epischem Ausmaß durchlebt. Das hätte sie ja noch irgendwie ertragen können – wenn die beiden wenigstens ein einziges Mal versucht hätten, sie aus ihren Dramen herauszuhalten.

Also nein. Sie konnte es nicht leiden, sich nicht unter Kontrolle zu haben.

Was die ganze Sache jetzt eigentlich umso einfacher machen müsste, oder nicht? Nur fühlte es sich aus irgendeinem Grund nicht einfach an. Sie konnte nicht begreifen, warum sie ausgerechnet mit diesem Typen solche Schwierigkeiten hatte.

„Mist.“ Sie starrte frustriert auf den Bildschirm. „Ich muss mich endlich zusammenreißen.“

„Lässt ja nichts Gutes ahnen, wenn du jetzt schon mit dir selbst sprichst.“

Jane zuckte zusammen. „Himmel!“, funkelte sie Poppy an, die gerade hereinspaziert kam. „Ich hab fast einen Herzinfarkt bekommen!“ Dabei war es ihre eigene Schuld, wenn sie sich von irgendeinem Mann so ablenken ließ, dass man sich unbemerkt an sie heranschleichen konnte.

„Verzeihung“, sagte Poppy ohne erkennbare Reue. „Also, liegt es wirklich an deiner Arbeit, dass du Selbstgespräche führst?“

„Schön wär’s“, murrte sie. „Dann wäre alles viel einfacher.“ Sie verpasste sich in Gedanken selbst eine Ohrfeige. Halt die Klappe, Kaplinski! Halt die Klappe, halt die Klappe, halt die Klappe. Sie war noch nicht bereit, ihren Freundinnen ihr Herz auszuschütten, und bis dahin war es besser, wenn Poppy nichts von einem Geheimnis ahnte. Das hatte sie in den letzten Jahren doch gelernt.

Aber jetzt war es natürlich zu spät. Denn wie sie Devlin erst gestern erklärt hatte, war Poppy wie ein Pitbull. Und schon hatte ihre Freundin, die heute besonders weich und freundlich mit ihren blonden Locken, den großen braunen Augen und ihrer Hippiemädchen-Aufmachung aussah, sie im Fadenkreuz. „Spuck’s aus“, forderte sie.

Und wie ein undichter alter Öltanker tat Jane genau das. „Ich glaube, ich bin Hals über Kopf der Lust verfallen.“

„Oh.“ Poppy ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. „Erzähl deiner Schwester alles. Und lass kein einziges Detail aus.“

„Ich bin auf jemanden scharf. Das ist alles. Es gibt keine Details, Pop, weil nichts passiert ist.“

Poppy schürzte die Lippen. „Also bitte. Wir sprechen hier von sexueller Anziehungskraft. Von Herzflattern. Vibrierenden Nerven. Richtig?“

Ach je. Jane nickte.

„Dann gibt es natürlich etwas zu erzählen. Wenn es um erotische Dinge geht, gibt es immer was zu erzählen.“

„Diesmal nicht.“

Poppy warf ihr einen empörten Blick zu. „Warum zum Teufel nicht?“

„Hey, nur weil ich bestimmte Bedürfnisse verspüre, muss ich sie noch lange nicht ausleben. Das habe ich nicht – und das werde ich nicht.“ Sie speicherte die Datei ab und klappte den Laptop zu. „Es handelt sich nur um einen vollkommen willkürlichen Anfall von Wollust. Ich habe vor, darüber hinwegzukommen.“

„Warum solltest du?“ Poppy blinzelte ehrlich überrascht. „Lust ist doch eine gute Sache, oder? Ich meine, sie führt zu Sex, und Sex macht Spaß. Nicht, dass ich das aus eigener Erfahrung wüsste“, fügte sie tugendhaft hinzu.

„Natürlich nicht. Du streitest persönliche Erfahrung ab, seit du Ava und mich mit Fehlinformationen über Sex gefüttert hast, als wir neun waren.“

„Was meinst du mit Falschinformationen? Ich war immer die Erste, die neue Erkenntnisse beizusteuern hatte, das weißt du genau.“

„Also bitte. Man wird schwanger, sobald man Speichel mit einem Jungen ausgetauscht hat?“

„Ach ja, das. Diese bescheuerte Schwester von Karen Copelli! Ich dachte wirklich, sie wäre eine verlässliche Quelle. Immerhin war sie eine ältere Frau.“

„Ich weiß. Sie muss bereits zwölf gewesen sein. Jedenfalls kann ich dir eines sagen, nach dieser Speichel-Geschichte war ich mir sicher, dass ich niemals Kinder bekommen würde. Weil: iiiih.“

Poppy grinste. „Ja, das klang nicht besonders lecker, oder? Zum Glück stellte sich das Knutschen selbst als viel cooler heraus.“

„Nicht, dass du damit persönliche Erfahrung hättest.“

„Selbstverständlich nicht“, stimmte Poppy mit einem ernsten Lächeln zu, dann wischte sie die Angelegenheit mit einer Handbewegung beiseite. „Aber wir sprechen hier nicht über mich, Jane. Also wechsle nicht das Thema.“

„Doch. Lass uns genau das tun. Lass uns zu etwas vollkommen anderem übergehen.“

„Na schön, wie wäre es damit? Vielleicht ist es in Wahrheit gar nicht Lust, was du fühlst.“

Sie bedachte diese Möglichkeit volle zwei Sekunden, dann nickte sie entschieden. „Vertrau mir. Es ist Lust.“ Heiße, brennende Lust. „Es könnte sich aber auch um Sodbrennen handeln.“

Poppy war allerdings mit einer selektiven Taubheit geschlagen, die sie befähigte, ihre Nase immer wieder entschlossen in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken. „Vielleicht handelt es sich ja auch um Liebe auf den ersten Blick.“

„Klar. Weil wir ja alle wissen, dass Liebe auf den ersten Blick nicht einfach nur ein Märchen ist!“

„He, bei meinen Eltern hat’s funktioniert. Und Avas Mom und Dad sind vielleicht als Eltern ein bisschen nachlässig, aber schau dir an, wie lange sie schon verheiratet sind.“

„Ich hatte immer den Eindruck, das läge nur daran, dass bei denen zu viel Geld im Spiel ist, um sich scheiden zu lassen. Vielleicht ja nicht. Die beiden scheinen viel miteinander zu unternehmen.“

„Siehst du? Die Welt ist einfach voll von wahrer Liebe. Also sag mir den Namen des Kerls, vielleicht kann ich dir ein bisschen Hilfestellung geben.“

„Das bekomme ich schon allein hin, besten Dank. Es ist in Wahrheit ganz einfach.“ Sie sah Poppy voll an. „Ich werde nämlich einfach gar nichts tun.“

„Das ist ein schrecklicher Plan.“

„Und ganz und gar mein Ernst.“

„Sag mir wer, Jane-Jane.“

„Du willst den Namen gar nicht wissen – Pop-Pop.“

Sag ihn mir!“

„Nein.“

Poppy warf ihr einen teuflischen Calloway-Blick zu, Jane erwiderte ihn mit der Kaplinski-Version.

Ihre Freundin musterte sie einen Moment lang. Dann nickte sie kurz. „Gut, in Ordnung. Aber du weißt, dass ich es früher oder später sowieso herausfinde. Keine Ahnung, warum du uns allen nicht die Mühe ersparst und einfach gleich damit rausrückst.“

„Ich habe nichts gegen ein wenig Mühe.“

„In welchem Universum, bitte schön?“

Jane schenkte ihr nur ein unergründliches Lächeln.

„Fein.“ Poppy seufzte verstimmt. „Dann eben nicht. Ich bin sowieso nicht hierhergekommen, um dich zu sehen. Ava hat mir erzählt, dass Dev ein paar tolle Fotos aus dem Staatsarchiv hat. Hast du ihn heute schon gesehen?“

Janes Herz schlug einmal heftig und begann dann zu galoppieren. Zum Glück war Poppy gerade damit beschäftigt, sich umzusehen, als würde sie erwarten, dass ihre Frage ihn wie durch Magie in dem Raum erscheinen ließe. Das war gut, denn ansonsten hätte sich das Rätsel um den Namen erledigt gehabt.

Es gelang ihr, ausdruckslos dreinzuschauen, als Poppy sich wieder zu ihr umwandte. „Nein, habe ich nicht. Aber nach dem lauten Getrampel zu urteilen, das ich schon den ganzen Morgen im Wintergarten gehört habe, gehe ich schwer davon aus, dass er sich dort aufhält.“

Poppy studierte einen Moment lang ihr Gesicht. „Sag jetzt nicht, dass du noch immer sauer auf ihn bist, weil er letzte Woche ein paar Tequilas zu viel getrunken hatte.“

„Hey! Ich bin unglaublich tolerant! Natürlich hat es auch ein wenig geholfen, dass er nüchtern war, als ich ihn gestern gesehen habe. Oder dass dieses Getrampel, das ich gerade erwähnte, recht standfest geklungen hat.“

„Ach verdammt, Jane! Du musst mit diesen verfluchten Vorurteilen aufhören, denn ich schwöre, wenn du uns das hier versaust …“

„Jetzt reg dich nicht auf, ich habe überhaupt nichts getan, um deine heiß geliebte Vereinbarung mit Kavanagh Constructions zu gefährden. Um genau zu sein, war ich ihm gegenüber die Höflichkeit in Person – und wenn du mir nicht glaubst, dann frag doch Ava.“ Die zum Glück nicht bei dem Gespräch am Nachmittag dabei gewesen war. „Obwohl ich nicht beschwören kann, dass sie überhaupt darauf geachtet hat. Sie war nämlich total hingerissen von diesen Fotos.“

Die Erwähnung der Fotos lenkte Poppy vom Thema ab. „Av hat gesagt, dass du sie auch gesehen hast.“

„Stimmt, und sie sind wirklich so toll, wie sie dir vermutlich gesagt hat.“

„Dann suche ich jetzt Devlin und schaue sie mir selbst an.“ Sie lief auf die Tür zu.

„Bis nachher dann“, rief Jane ihr nach. „Ich mache hier Schluss und fahre nach Hause.“ Wo sie vorhatte, sich Devlin ein für alle Mal aus dem Kopf zu schlagen und ihren Bericht fertig zu schreiben.

Poppy blieb stehen und blickte über die Schulter. „Warte doch noch eine Viertelstunde. Dann können wir uns zusammen was zum Abendessen holen.“

Jane zögerte einen Moment. Sie war unentschlossen, ob sie tatsächlich noch ein paar weitere Runden dafür kämpfen wollte, wenigstens ein paar Gedanken für sich zu behalten. Doch als sie sich ihren fast leeren Kühlschrank vorstellte, nickte sie. „Klingt nach einem guten Plan.“

„Schön, ich bin gleich zurück.“ Sie hob die Augenbrauen. „Oder willst du mit mir in den Wintergarten kommen?“

Jane gelang es, nicht Hast du den Verstand verloren? zu kreischen, sondern nur kühl zu sagen: „Nein, geh du allein. Vermutlich kommen wir viel schneller an unser Abendessen, wenn wir nicht beide über den Fotos in Begeisterungsstürme ausbrechen. Und außerdem kann ich dann doch noch etwas an meinem Bericht arbeiten.“

„Okay. Ich brauche nicht lange.“

„Lass dir ruhig Zeit.“ Sie hatte nichts dagegen, zu warten. Solange sie nicht den Anblick dieses testosteronstrotzenden Typen ertragen musste, war sie vollkommen zufrieden damit. Egal, wie lange es dauerte.

Am frühen Nachmittag des nächsten Tages verließ Jane ein wenig benommen und zugleich aufgekratzt den Besprechungsraum des Seattle Art Museums. Ihr Termin mit Marjorie war gut gelaufen. Damit hatte sie auch gerechnet – schließlich hatte sie in der vergangenen Nacht mit der ihr eigenen Verbissenheit noch so lange gearbeitet, bis ihr die Augen zugefallen waren. Es war ihr sogar gelungen, nicht mehr an diesen eingebildeten Kavanagh zu denken.

Sie war sehr froh, dass Miss Agnes – Gott segne sie – ihr diese Gelegenheit verschafft hatte. Künftig würde sie in der Kunstszene wahrgenommen werden, und wenn sie diese Aufgabe gut erledigte, konnte das ihre Karriere in Höhen katapultieren, von denen sie zuvor nicht einmal geträumt hätte. Sie hatte sogar gute Chancen, die Kuratorenstelle von Paul Rompaul zu übernehmen, wenn er nächsten Oktober in Rente ging. Deswegen war sie Miss Agnes aus ganzem Herzen dankbar und wild entschlossen, ihr Bestes zu geben.

Also ja, sie war hervorragend vorbereitet gewesen, und deswegen überraschte es sie nicht, wie erfolgreich das Treffen verlaufen war. Was sie allerdings regelrecht umgeworfen hatte, war der Kuchen, auf dem in weinrotem Zuckerguss ihr Name gestanden hatte. Und noch überraschender war Marjories kurze Rede gewesen. Die Direktorin hatte allen freiweg mitgeteilt, wie großartig es war, dass Jane die Wolcott-Sammlungen in das Seattle Art Museum brachte.

Mit solch einer Anerkennung hatte Jane nicht gerechnet. In ihrer Rede betonte Marjorie allerdings auch, was sie sich von der Ausstellung im Januar erhoffte und wie fest sie damit rechnete, dass sie für große Besucherströme gerade in der traditionell schwachen Periode nach den Feiertagen sorgen würde. Damit machte sie Jane noch nervöser, als sie sowieso schon war.

„Jane, Jane! Warte mal“, hörte sie eine Stimme hinter sich.

Sie zögerte. Wegen der heutigen Ereignisse schien es ihr fast unmöglich, still zu stehen. Doch sie zwang sich, genau das zu tun und zu warten, bis ihr Kollege Gordon Ives sie eingeholt hatte.

Dann setzte sie ein Lächeln auf, das ihr vermutlich nicht mal ein Kleinkind abgenommen hätte. Wie peinlich. Sie kämpfte gegen den Wunsch an, wegzulaufen, und bemühte sich um einen glaubwürdigeren Gesichtsausdruck.

„Ich hab’s ja vorhin schon gesagt, aber ich möchte es noch einmal wiederholen.“ Gordon schenkte ihr ein blendend weißes Lächeln. „Gratuliere! Da hast du ja eine riesige Aufgabe vor dir.“

„Kann man wohl sagen. Die letzten Tage habe ich damit verbracht, herauszufinden, wie riesig genau sie ist.“ Was ja der Grund für ihre Angespanntheit und gleichzeitige Euphorie war. „Ich mache mir ein wenig Sorgen über die Frist, die die Direktorin mir gesetzt hat. Ich werde mich wirklich reinhängen müssen, um das zeitlich alles hinzubekommen.“

„Ach, das ist doch ein Kinderspiel für dich.“ Er wischte ihre Bedenken beiseite wie nervige Fliegen. „Ganz offenbar zweifelt Marjorie nicht daran, dass du deine Aufgabe gut erledigst – und pünktlich. Aber wenn ich dir irgendwie helfen kann …“

Sie gab ein unverbindliches Geräusch von sich, denn wenn sie Hilfe brauchte, würde sie sich zuerst an Poppy wenden. Ihre Freundin war vielleicht nicht so bewandert wie ihr Kollege, aber sie waren ein gutes Team. Davon abgesehen, dass Poppy vermutlich einen kleinen Zusatzverdienst kurz vor den Feiertagen gut brauchen konnte.

Außerdem … Sie gab es zwar nicht gerne zu, aber Gordon hatte etwas an sich, das sie nicht besonders mochte. Sie konnte es nicht recht erklären; er hatte ihr nie etwas getan. Wahrscheinlich lag es einfach an seiner schleimigen Art und seiner Vorliebe für diese narzisstischen metrosexuellen Klamotten. Wie sollte man aber auch einen Mann ernst nehmen, der in sechs Wochen mehr Geld für Maniküre und Feuchtigkeitscremes ausgab als sie in einem ganzen Jahr? Sie konnte es einfach nicht ändern, aber ihr waren kernigere Männer lieber.

Wie der eine oder andere Handwerker …

Moment. An ihn wollte sie bestimmt nicht denken. „Danke für deine Glückwünsche. Und wenn ich Hilfe brauchen sollte, werde ich auf jeden Fall an dich denken.“ Sie bewegte sich langsam von ihm weg.

„Bist du auf dem Weg in die Wolcott-Villa?“, fragte er. Für jeden Schritt, den sie rückwärtsging, machte er zwei nach vorn.

„Ja.“ Sie versuchte nicht länger, höflich zu sein, sondern lief einfach den Korridor entlang. Gordon ließ sich nicht abschütteln.

„Wenn du magst, könnte ich nach der Arbeit vorbeikommen und dir helfen.“

Sie war ein wenig erschrocken über diesen Vorschlag. „Danke dir, Gordon, ich weiß dein Angebot zu schätzen. Aber ich bin noch am Sortieren, und das möchte ich lieber …“ Verdammt. Wie sollte sie sich ausdrücken, ohne zu unhöflich zu klingen?

„Du willst erst mal selbst alles durchgesehen haben, bevor du jemand anderen die Stücke anfassen lässt?“

„Ja! Genau!“ Sie sah ihn auf einmal in einem neuen Licht. Feuchtigkeitsprodukte und Gesichtsbehandlungen für Männer hin oder her, offenbar war er doch tiefgründiger, als sie ihm zugestanden hatte. „Ich werde dein Angebot auf jeden Fall im Kopf behalten. Doch im Moment sind einfach zu viele Dinge in der Villa, die mit dem Museum überhaupt nichts zu tun haben.“

„Hm. Ich würde dich ja gerne bemitleiden, aber wenn ich ehrlich bin, bin ich gelb vor Neid.“ Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln. „Und Gelb ist überhaupt nicht meine Farbe.“

Sie lachte. „Ich bin momentan nicht gerade eine Kandidatin für die Wahl zur beliebtesten Mitarbeiterin, oder? Mann, ich kann selbst noch nicht glauben, dass ich diese Ausstellung leiten soll. Wo wir gerade davon sprechen“, sie legte noch einmal an Tempo zu, „wenn ich das schaffen will, sollte ich mich jetzt wirklich beeilen.“

„Na dann.“ Er verlangsamte seine Schritte. „Viel Glück. Und denk dran, ich habe Zeit, wann immer du Hilfe brauchst.“

„Das werde ich.“ Sie winkte ihm zu. „Danke.“ Und in diesem Moment meinte sie es auch wirklich so.

Doch als sie das Museum durchquert hatte und in die stürmische Herbstluft hinaustrat, waren ihre Gedanken schon ganz woanders. Vorfreude stieg in ihr auf. Sie konnte es kaum erwarten, mit der Arbeit zu beginnen.

4. KAPITEL

Du heilige Scheiße! Die Kavanagh-Familie scheint riesig zu sein. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es sich anfühlt, mit so vielen Geschwistern aufzuwachsen.

Ist aber bestimmt schön.

Verdammt“, murrte Dev, als er zwei Abende später durch die Hintertür die Wolcott-Villa betrat und den Code der Alarmanlage eintippte. „Wahrscheinlich wirst du überall was auszusetzen haben!“ Nicht zum ersten Mal fiel ihm das fortgeschrittene Alter der Alarmanlage auf, doch das war das Problem dieser Östrogen-Zicke und nicht seines. Er hatte gerade selbst ein Problem.

„Ach, hör auf zu meckern“, rief eben dieses Problem in Form seiner Schwester Hannah. Sie folgte ihm in die Küche und schlug ihm leicht gegen den Hinterkopf.

„Au! Scheiße.“

„Wenn du in den letzten Jahren mal ein bisschen länger als eine Woche geblieben wärst, dann wüsstest du, dass ich jede unserer Baustellen mindestens einmal begehe.“

Er rieb sich den Kopf und starrte sie finster an. „Du bist noch genauso bescheuert wie früher. Sei doch mal fair! Ich komme mindestens ein Mal pro Jahr nach Hause – was viel öfter ist, als du mich besuchst. Gut, letztes Jahr musste ich früher abreisen, um ein Boot nach Marokko zu überführen – aber abgesehen davon war ich immer länger als eine Woche hier.“ Und wenn er dann wieder zurückflog, war er glücklich, seine Familie wiedergesehen zu haben, verspürte aber zugleich ein vages Gefühl von Entfremdung.

„Aber da hast du nicht gerade viel Zeit auf unseren Baustellen verbracht, oder?“ Sie sah sich in der Küche um. „Mann, ich weiß gar nicht, wie oft diese Villa Gesprächsthema beim Abendessen war. Das ist, als ob einem auf einmal Elvis gegenüberstehen würde.“

„Nur dass diese Legende hier tatsächlich eine Chance hat, wieder lebendig zu werden.“

Sie inspizierte die beschädigten schwarzweißen Bodenfliesen aus dem frühen Zwanzigsten Jahrhundert und die im Avocadogrün der Siebzigerjahre gehaltenen Geräte. „Allerdings ist hier wirklich eine Menge Arbeit nötig.“ Sie eilte auf die Küchentür zu.

„Hey, warte mal eine Sekunde.“ Er rannte hinter ihr her in das Esszimmer. Sie begann umgehend, Notizen in ihren Black-Berry zu tippen.

„Wer auch immer diese Ornamente um das Fenster gemalt hat, gehört erschossen“, sagte sie. „Dieses Haus war einmal wunderschön, aber diese ganzen geschmacklosen Verzierungen haben es ziemlich verschandelt.“

„Die ganze Villa ist voll von solchem Kram“, stimmte er zu.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte eine Stimme hinter ihnen, und zwar in einem Ton, der nahelegte, dass sie besser eine gute Erklärung für ihre Anwesenheit haben sollten.

Dev unterdrückte einen Fluch. Er wusste schon beim Umdrehen, wen er erblicken würde.

Jane. Sie stand in der Tür, trug schwarze Leggins unter einer hochgeschlossenen schwarzbraunen Tunika und darüber eine kurze schwarze Jacke, die sie direkt unter ihren kleinen A-Körbchen-Brüsten verknotet hatte.

Dunkle Kleidung schien wirklich ihr Markenzeichen zu sein – wieder einmal von ihren Schuhen abgesehen. Diesmal trug sie gelbe mit Marabufedern verzierte Samtslipper. Sie wirkten viel zu fröhlich für das Outfit – Janes Stirnrunzeln hingegen passte da schon besser.

„Oh. Sie sind es“, sagte sie ohne große Begeisterung, als sie ihn erkannte. „Ich hörte Stimmen und …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ach, egal.“ Sie fixierte Hannah, die, seit sie dreizehn war, das Haus an nicht einem einzigen Tag in ihrem Leben ohne Make-up und aufsehenerregende Klamotten verlassen hatte. „Um Himmels willen! Bringen Sie etwa Ihre Freundinnen mit hierher?“

„Na klar.“ Wütend darüber, dass sie jeweils die unschönsten Schlüsse aus seinem Verhalten zog, lief er auf sie zu und blieb erst stehen, als sich ihre Schuhspitzen berührten. Ohne die sonst üblichen hohen Absätze war sie viel kleiner, als er geglaubt hatte.

Diese Feststellung hatte allerdings überhaupt nichts mit dem Thema zu tun, um das es gerade ging. „Han steht total auf alte Häuser, deswegen mache ich mit ihr einen kleinen Rundgang durch das Erdgeschoss, um sie heißzumachen, bevor wir nach oben gehen, die Rollläden herunterlassen und richtig loslegen. Haben Sie ein Problem damit, Langbein?“

„In meinem Haus, auf meine Kosten?“ Ihre Augen glühten blauer als Gasflammen. „Ja. Ich schätze, man könnte sagen, dass ich damit ein Problem habe. Und ebenso mit dem schlechten Männergeschmack Ihrer Begleiterin.“

Hannah lachte. „Der Punkt geht an sie, mein Junge.“ Sie streckte Jane die Hand hin. „Ich bin Hannah. Devs Schwester.“

„Darf ich dir Jane Kaplinski vorstellen?“, flötete Dev. „Die Frau, die liebend gerne falsche Schlüsse zieht.“

„Oh.“ Heiße Röte überzog Janes Gesicht. „Oh, Mist. Tut mir leid.“

Wie er bemerkte, richtete sie ihre Entschuldigung ausschließlich an Hannah, die Jane aufmerksam musterte, während sie einander die Hände schüttelten. „Sie sehen sich überhaupt nicht ähnlich“, sagte sie dann. Als ob das eine Entschuldigung für ihr Verhalten wäre.

„Ich weiß.“ Hannah warf fröhlich ihr dunkles, welliges Haar zurück. „Finn und Bren und Maureen und ich kommen nach unserem Dad. David und Dev nach unserer Mom, nur dass David hellbraune Haare hat. Kate ist eine Mischung. Sie hat Devs Haarfarbe, sieht aber mehr wie … nun, wie niemand eigentlich. Dad meint, es war der Postbote, das ist aber nur ein Scherz.“

„Glauben wir zumindest.“

Wie üblich kapierte Jane seinen Humor überhaupt nicht. Sie starrte Hannah groß an. „Sie haben sechs Geschwister?“

„Sie kann zählen“, wunderte sich Dev.

Hannah stieß einen Ellbogen in seine Rippen. „Ja. Was soll ich sagen: Wir sind Iren und katholisch. Das ist gleichbedeutend mit einer großen Familie.“

„Ich bin Einzelkind“, sagte Jane. „Und meine beiden besten Freundinnen auch, also kann ich mir nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie es ist, mit so vielen Geschwistern aufzuwachsen. Wow.“ Sie blickte zwischen den beiden hin und her. „Das war bestimmt …“

Als sie die richtigen Worte nicht fand, schlug Hannah vor: „Laut. Und durchgedreht.“

„Keine Privatsphäre“, steuerte er bei. „Jeder mischt sich ständig ein.“ Er hatte schließlich nicht umsonst die Universität von Washington mit neunzehn bereits wieder verlassen, um nach Europa zu gehen.

„Oh nein.“ Jane schüttelte den Kopf. „Ich wollte sagen: nett. Es muss wirklich schön sein, so viel Rückhalt zu haben.“

Dev schnaubte. „Junge, Junge. So was kann auch nur ein Einzelkind glauben.“ Ihm jedenfalls waren der ganze Lärm und das Drama einer Großfamilie ziemlich auf die Nerven gegangen. Er hatte immer schon so schnell wie möglich abhauen und irgendwo leben wollen, wo es nur um ihn ging und er nicht ständig mit seinen Geschwistern verglichen wurde.

„Halt die Klappe, Dev.“ Hannah kniff die Augen zusammen. „Dir mag vielleicht aufgefallen sein, dass du der Einzige bist, der von zu Hause abgehauen ist. Der Rest von uns findet den Familienzusammenhalt tatsächlich angenehm.“

„Abgehauen? Könntest du dich vielleicht noch ein wenig melodramatischer ausdrücken?“ Er war nicht abgehauen. Er hatte sich nur vernünftigerweise aus einer Situation befreit, die ihm konstant zu schaffen gemacht hatte. Aber er hatte keine Lust, schon wieder mit ihr darüber zu streiten, zuckte mit den Schultern und richtete seine Aufmerksamkeit auf Jane. Sie war es schließlich gewesen, die dieses unschöne Thema angesprochen hatte, und vermutlich wollte sie ihm mit diesem Das-muss-aber-nett-sein-Scheiß nur auf die Nerven gehen.

Bloß …

Sie schien es total ernst zu meinen. Genau genommen hatte sie ganz wehmütige Augen. Das merkwürdige Ziehen in seinem Bauch machte ihn ziemlich sauer.

„Was schauen Sie da an?“, fragte sie.

Ihre verärgerte Stimme riss ihn aus dem seltsamen Gefühlszustand, und mit einem stummen Besten Dank, Sweetheart schenkte er ihr sein bestes Satansgrinsen. „Sie. Sie sehen aus wie ein kleines Mädchen, das sich die Nase an einem Süßwarenladen platt drückt.“

„So sehe ich überhaupt nicht aus!“ Sie hob das Kinn, und wieder einmal löste sich eine Strähne aus ihrem Knoten und glitt an ihrem Hals entlang.

Sofort packte ihn wieder dieses seltsame Gefühl. Dieses Gefühl, das seine Handflächen kribbeln ließ. Sein gesunder Menschenverstand setzte einfach aus. Er hob eine Hand und zog die beiden Kämme heraus, die den Rest des Haarknotens noch an seinem Platz hielten.

„Hey!“ Sie packte seine Hände, während ihr Haar herunterfiel. „Geben Sie die zurück.“

Dev warf die Kämme in eine Schüssel auf der Anrichte, hielt dann ihren Arm fest, damit sie ihn nicht schlagen konnte. Er bereute bereits, dass er ihre Frisur durcheinandergebracht hatte. Denn dieser dunkle Wasserfall, der über ihre Schultern floss und ihr in die Augen fiel, gab ihr ein vollkommen anderes Aussehen.

Darauf hätte er gerne verzichtet.

„Warum zur Hölle machen Sie sich überhaupt die Mühe, Ihr Haar hochzustecken? Es bleibt doch sowieso nie dort – jedes Mal, wenn ich Sie sehe, hängt es halb herunter.“

„Was sind Sie, ein verkappter Friseur?“ Sie zerrte an ihrem Arm. „Lassen Sie mich los.“

Er verstärkte den Griff. „Warum sollte ich …“

„O-kay“, sagte Hannah. „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir beide verschwinden, Dev. Jane, es war nett, Sie kennenzulernen. Tolle Schuhe, übrigens. Sie sind très sexy.“

Jane blinzelte, als hätte sie Hannah vollkommen vergessen, dann blickte sie auf ihre Schuhe. „Ach nein, sie sind nur …“ Sie räusperte sich. „Danke. Sie sind jedenfalls bequemer als die hohen Absätze, die ich sonst trage.“

„Und einfach hinreißend. Nun, ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Ich würde gern ein anderes Mal vorbeikommen, um mir das ganze Anwesen anzusehen. Das mache ich bei allen Kavanagh-Aufträgen. Erstens, um eine Vorstellung von dem Umfang der Arbeiten zu bekommen, aber auch wegen der weiblichen Perspektive. Die meisten meiner Brüder“, sagte sie und warf ihm einen Blick zu, „wissen das durchaus zu schätzen. Aber das nächste Mal rufe ich vorher an, um einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren.“

Genau das habe ich doch die ganze Zeit versucht, dir klarzumachen. Dev ließ Jane los und fragte sich, was eigentlich geschehen war. Du liebe Zeit! Normalerweise lief er nicht durch die Gegend und hielt Frauen am Arm fest. Und hatte er wirklich warum sollte ich gesagt? Er rieb mit den Handflächen über seine Jeans, um das prickelnde Gefühl loszuwerden, das ihre weiche Haut verursacht hatte. „Vielleicht mal morgens“, murmelte er. „Dann ist sie nicht hier.“

Jane sah ihn nicht einmal an. „Sie sind jederzeit willkommen“, sagte sie zu seiner Schwester. „Hauptsache, Sie bringen ihn nicht mit.“

„Hören Sie mal, Lady …“ Wieder trat er einen Schritt auf sie zu, alle guten Vorsätze lösten sich umgehend in Luft auf. Ihn nicht mitbringen, so ein Quatsch. Er arbeitete schließlich hier.

Hannah ergriff ihn am Oberarm und zog ihn zur Tür. „Bis dann, Jane.“

Ein feuchter Wind schlug ihm ins Gesicht, als seine Schwester ihn durch die Hintertür in den stürmischen Abend zog. Er befreite sich aus ihrem Griff. „Ist schon gut. Ich werde sie nicht schlagen oder so was.“

„Das würde ich auch nicht eine Sekunde lang glauben.“ Sie schloss ihr Auto auf. „Ich habe ja schon viele Menschen um den heißen Brei herumschleichen sehen, aber ihr beide schießt wirklich den Vogel ab.“

Er hatte die Hand nach dem Türgriff ausgestreckt, erstarrte aber mitten in der Bewegung und starrte sie über das Autodach an. „Wie bitte?“

„Oh, nicht schlecht. Du hättest Schauspieler werden sollen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Also bitte. Ich hätte beinahe die Feuerwehr gerufen. Es hat nicht mehr viel gefehlt, und die Funken zwischen euch beiden hätten das Haus in Brand gesetzt.“

Er lachte kurz auf. „Und da heißt es immer, du wärst die Schlauste in unserer Familie.“

„Nein, das ist Kate.“

Er ignorierte ihre Antwort, riss die Tür auf und kletterte in den Wagen. Dann warf er seiner Schwester einen bösen Blick zu. „Verwechsle einen Funkenschlag nicht mit Wut, Schwesterlein. Jane Kaplinski ist ein griesgrämiges kleines Miststück, das von der ersten Sekunde an nur das Schlimmste von mir angenommen hat.“ Nun, nicht wirklich von der ersten Sekunde an, wie er sich eingestehen musste, als er an den Blickkontakt in dem Restaurant dachte.

Der war wirklich heiß gewesen.

„Ja, ich hab schon gehört, dass du total betrunken warst.“ Sie startete den Motor und fuhr los.

„Natürlich hast du davon gehört. In dem Kavanagh-Clan bleibt schließlich nichts lange geheim.“

„Blieb es nie und wird es nie bleiben“, stimmte sie fröhlich zu.

Er hatte es schon vor Jahren aufgegeben, seine Handlungsweisen zu verteidigen, und doch drehte er sich jetzt auf seinem Sitz um und sah seine Schwester lange an. Sie und Finn standen ihm am nächsten, sowohl was das Alter als auch was die Interessen betraf. „Ich hatte einen schrecklichen Jetlag an diesem Abend, Han. Und dann hat David ein paar Tequilas ausgegeben. Die und die Drinks davor mit Bren und David und Finn an der Bar haben mir den Rest gegeben.“

„Darüber sind sich alle einig.“

Er lachte humorlos. „Und da wunderst du dich, warum ich mein Erwachsenenleben am anderen Ende der Welt verbringe? Geht es dir denn nie auf die Nerven, dass jeder in der Familie alles über dich weiß, praktisch sogar jeden Gedanken kennt, den du denkst?“

„Nein.“ Sie bremste an der Ampel zur Queen Anne Avenue ab und kniff ihn in die Wange. „Andererseits bin ich aber auch eine ziemlich harte Nuss. Unser Devlin hingegen ist ein ganz sensibler Junge.“

Er konnte nicht anders, als zu grinsen. „Hat Tante Eileen dich jemals dabei erwischt, wie du sie nachgemacht hast?“

„Mache ich auf dich den Eindruck, lebensmüde zu sein?“ Sie bog nach links ab. „Das hier ist eine großartige Gelegenheit für uns, Dev“, sagte sie dann ernst. „Verpatz sie nicht.“

„Zwischen mir und dieser Kaplinski gibt es nichts, was verpatzt werden könnte.“

Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu.

„Wirklich nicht“, beharrte er. „Doch selbst wenn, würde ich nie etwas tun, das euch schadet.“

„Es ist auch deine Firma, weißt du.“

Nein. In dem Moment, in dem Bren den Krebs besiegt hatte und er wieder kräftig genug war, um zu arbeiten, wollte Dev sofort nach Europa zurückkehren. Er hatte sich dort ein Leben aufgebaut, war Skipper auf Segeljachten und nahm dazwischen Jobs auf verschiedenen Baustellen an. Was in letzter Zeit allerdings selten vorgekommen war.

„Jedenfalls“, fuhr sie fort, als er nichts dazu sagte, „weiß ich tief im Innersten natürlich, dass du unseren Lebensunterhalt niemals aufs Spiel setzen würdest.“

Er schnitt eine Grimasse. „Ja, klar.“

„Nein, wirklich. Ich kenne dich vielleicht nicht mehr so gut wie früher, aber dieser Dev hätte niemals bewusst etwas getan, was der Familie schadet – egal, wie verrückt sie ihn auch macht.“

Sie überquerten den Denny Way Richtung Belltown und ließen Queen Anne hinter sich. An der Second Avenue ließ sie ihn aussteigen. Er bestellte sich scharfes Wokgemüse mit Basilikum und ein Bier in der Noodle Ranch, suchte sich einen Tisch und blätterte eine Ausgabe von The Stranger durch, während er auf sein Essen wartete. Mit den Berichten in der alternativen Wochenzeitung ließ sich die Zeit normalerweise gut totschlagen.

Doch diesmal wanderten seine Gedanken immer wieder zu Hannahs Worten zurück. Sie betrachtete die ständige Streiterei also als Vorspiel. Was natürlich vollkommen abwegig war. Vielleicht hatte seine Schwester in seiner Abwesenheit irgendwelche Drogen eingeworfen.

Er trank einen großen Schluck Bier. Ja, na klar, Han und Drogen. Aber jedenfalls war diese Theorie nicht weniger absurd als die seiner Schwester.

„Scharfes Wokgemüse mit Basilikum zum Mitnehmen!“, rief der Mann hinter der Theke.

Dev sprang eifrig auf, mehr als froh darüber, von seinen Gedanken abgelenkt zu werden. Er erreichte die Theke in genau demselben Moment wie eine Frau in einem schwarzen Mantel, Leggins und hochhackigen Stiefeln. Sie beide streckten gleichzeitig die Hand nach der Tüte aus. Seine Hand streifte ihre. Und er spürte …

Warme Haut.

Roch …

Duftiges Haar.

Ach du Scheiße. Vielleicht hatte dieser Duft sich noch nicht in seiner Erinnerung festgesetzt, aber diese Haut auf jeden Fall.

Jane sah ihn über die Schulter an. Wäre er selbst nicht so verblüfft gewesen, hätte er vielleicht gegrinst über das perfekte O, das ihre Lippen formten, als sie sah, wer mit ihr um das Wokgemüse stritt. Dann kniff sie die Augen zusammen und bedachte ihn mit einem geradezu irren Höllenblick.

„Ach nein. Also bitte!“ Sie wandte ihm langsam das Gesicht zu. Ihr Haar, das sie noch immer offen trug, funkelte in den Lichtern des Restaurants. „Verfolgen Sie mich jetzt auch noch?“ Sie zupfte an der Tüte.

„Bilden Sie sich nur nichts ein, Babe.“ Er ließ die Tüte nicht los. „Ich war zuerst hier, und das sind meine Nudeln, die Sie da in Ihren gierigen kleinen Händen halten.“

„Das hätten Sie wohl gern. Ich wohne in der Nähe – das ist eine ziemlich gute Erklärung dafür, warum ich hier bin.“

Sein Daumen strich über ihre Hand. Verdammt, sie war wirklich angenehm anzufassen.

Er zog eine Grimasse. Wo zum Teufel kamen diese bescheuerten Gedanken ständig her? Sie war übellaunig und voller Vorurteile und von ihrem guten Geschmack, was Schuhe betraf, einmal abgesehen, hatte sie keine Ahnung, wie man sich verführerisch anzog. Also gab es überhaupt keinen Grund, dass er ihretwegen immer wieder ins Schwitzen geriet.

Und doch konnte er sich selbst nicht vormachen, dass es nicht so wäre. Man durfte die Polizei anlügen, die Schwester, wenn es sein musste, aber niemals sich selbst. Wahrheit war Wahrheit – und die schreckliche Wahrheit in diesem Fall war, dass er am liebsten über diese Miss Kaplinski mit der Seidenhaut herfallen würde. Sie war nicht einmal annähernd sein Typ, und er konnte nicht begreifen, was in ihn gefahren war, aber es ließ sich nicht ändern.

Gut, vielleicht war er einfach nur ein Mann. Und Männer glaubten, eine Gelegenheit für Sex zu entdecken, egal wo sie auch hinschauten.

Sie zuckte kurz zusammen. „Das sind zwar nicht Ihre Nudeln, aber bitte sehr …“

„Äh, Ma’am, das sind tatsächlich seine“, mischte sich der Mann hinter der Theke ein. „Ihre sind in einer Minute fertig.“

„Oh.“ Verlegenheit blitzte kurz in ihren Augen auf. Sie ließ die Tüte los. „Dann entschuldige ich mich.“ Sie errötete tief und sagte so leise, dass er sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen: „Ich bringe mich selbst offenbar immer wieder in Situationen, in denen ich das tun muss.“ Kopfschüttelnd machte sie auf ihren acht-Zentimeter-Absätzen kehrt und spazierte davon.

Schön, dachte er, während er nach seiner Geldbörse wühlte. Das Problem war hier nicht, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, obwohl sie nicht mal einen Hauch von Humor besaß und offenbar keinen Wert darauf legte, sich vorteilhaft zu kleiden. Sondern sein Versprechen, den Auftrag nicht zu verpatzen, den Kavanagh Constructions von Jane und ihren Freundinnen bekommen hatte. Andernfalls würde Hannah ihn erschießen. Er hatte sein Wort gegeben. Und ein Mann war nur so viel wert wie sein Wort – das war die erste Lektion, die er von seinem Vater gelernt hatte. Die an ihm haftete wie Sekundenkleber. Das war praktisch das Kavanagh-Credo.

Er bezahlte, zögerte eine Sekunde, dann lief er zu Jane, die den Kopf in einer Ausgabe der Seattle Weakly vergraben hatte. „Können wir uns kurz unterhalten?“, fragte er, und als sie nicht antwortete, setzte er sich einfach an ihren Tisch. Sie raschelte mit der Zeitung, eine eindeutige Aufforderung an ihn zu verschwinden. Er saß schweigend da und wartete.

Tief seufzend ließ sie schließlich die Zeitung sinken. Ihre Wangenknochen waren noch immer rosa gefärbt, als sie ihn ansah. Sie seufzte erneut, nur diesmal nicht so laut.

„Okay, also dann“, sagte sie. „Es tut mir aufrichtig leid. In vielerlei Hinsicht. Ich habe mit wilden Anschuldigungen um mich geworfen wie mit Konfetti und viel zu viele dumme Kommentare abgegeben. Sie werden es mir vermutlich nicht abnehmen, aber normalerweise bin ich nicht so. Und ich werde damit aufhören. Auf der Stelle.“

Oh, was für ein Tiefschlag. Wenn er sie schon nicht nackt zu Gesicht bekam, dann wollte er doch lieber weiterhin der Vorstellung nachhängen, dass sie eine unsympathische Zimtzicke war. Aber nachdem er sich zu ihr an den Tisch gesetzt hatte, um zu zeigen, wie professionell er sein konnte, straffte er die Schultern.

„Ich habe auch Dinge gesagt, die nicht besonders nett waren. Dinge, wegen der meine Mutter mir den Mund mit Seife ausgewaschen hätte. Also, ich schlage einen Waffenstillstand vor.“

Sie musterte ihn einen Moment, dann nickte sie. „Abgemacht. Wir müssen die nächsten Monate zusammenarbeiten. Und die ganze Zeit genervt zu sein, ist ganz schön anstrengend.“ Sie stieß ihm ihre Hand entgegen.

Er ergriff sie nur zögernd, weil er verdammt genau wusste, was eine Berührung bei ihm auslösen würde. Doch sie schüttelte seine Hand zum Glück nur sehr kurz, und er bemerkte, dass sie einen festen Händedruck hatte.

Er stellte ebenfalls fest, dass in diesem Fall ausnahmsweise nicht 220 Volt zwischen ihnen geflossen waren. Es fühlte sich an wie das, was es sein sollte: das Besiegeln eines Paktes.

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