Romana Exklusiv Band 336

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TRAUMHOCHZEIT IN DER TOSKANA von CAROLINE ANDERSON
Wenn Lydia dem attraktiven Massimo Valtieri auf seinem Anwesen in der Toskana hilft, könnte sich der Wunsch ihrer kranken Schwester erfüllen: in Italien zu heiraten! Lydia überlegt nicht lange: Olivenhaine, sanfte Hügel, Sonne – und vielleicht Massimos feurige Küsse …

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  • Erscheinungstag 28.05.2021
  • Bandnummer 336
  • ISBN / Artikelnummer 9783751503198
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Caroline Anderson, Rachel Gardner, Rebecca Winters

ROMANA EXKLUSIV BAND 336

1. KAPITEL

Was, um alles in der Welt, machte sie da?

Als das Taxi vor dem Jet Centre des Londoner City Airports anhielt, betrachtete er mit der Brieftasche in der Hand wie gebannt die hinreißend schöne Frau vor dem Eingang. Sogar das seltsame Outfit tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Mit den verführerischen Rundungen, der feinen hellen Haut, den geröteten Wangen und dem langen blonden gelockten Haar, das ihr der Wind ins Gesicht wehte, wirkte sie unglaublich reizvoll und anziehend.

Irgendetwas regte sich in ihm. Sie weckte Gefühle in ihm, die er schon lange nicht mehr empfunden hatte.

Während er sie beobachtete, strich sie sich mit der einen Hand das Haar aus dem Gesicht, gestikulierte lebhaft mit der anderen, in der sie eine Karte hielt, und redete lächelnd auf den Mann ein, den sie angesprochen hatte. Offenbar wollte sie etwas verkaufen. Der Mann lachte, hob abwehrend die Hand und betrat immer noch lachend das Gebäude.

Ihr Lächeln erstarb, und sie drehte sich zu ihrer Begleiterin um, die Jeans und eine Jacke trug. Massimo musterte sie kurz, aber er fand sie nicht besonders attraktiv und ließ den Blick wieder zu der Blondine gleiten.

Ja, sie war wirklich eine Schönheit. Jede andere Frau in so einem lächerlichen Brautkleid mit dem tiefen Ausschnitt und mit dem kitschigen Plastikkrönchen auf dem Kopf hätte man für ein Flittchen gehalten, nicht jedoch diese hier, sie war einfach faszinierend. Auf unerklärliche Weise fühlte er sich zu ihr hingezogen.

Er bezahlte den Taxifahrer und stieg aus. Die Flugtasche über die Schulter geschwungen, eilte er zum Eingang. Die schöne junge Frau war wieder beschäftigt und redete mit einem anderen Mann, doch als sich die Tür automatisch vor ihm öffnete, blickte er sie kurz an, und sie lächelte hoffnungsvoll.

Leider hatte er keine Zeit, stehen zu bleiben, ihr Lächeln berührte ihn jedoch zutiefst. Hastig ging er zum Abfertigungsschalter und stellte die Tasche ab.

„Guten Morgen, Mr. Valtieri. Ihre Mitarbeiter sind auch schon da.“

„Vielen Dank.“ Er räusperte sich und warf einen Blick über die Schulter in Richtung der Frau. „Ist das irgendein Werbegag oder was?“

Der Flughafenangestellte seufzte leicht verzweifelt und verzog die Lippen. „Nein, Sir. Angeblich versucht sie, jemanden zu finden, der sie nach Italien mitnimmt.“

Massimo zog eine Augenbraue hoch. „In einem Brautkleid?“

„Ja. Ich glaube, es handelt sich um eine Art Wettbewerb, bei dem man eine Hochzeitsfeier gewinnen kann“, antwortete der Mann.

Enttäuschung stieg in ihm auf, obwohl es ihm eigentlich völlig egal sein konnte, dass sie heiratete.

„Wir haben sie aufgefordert, die Halle zu verlassen, aber wir können ihr nicht verbieten, auf dem Gehweg vor dem Eingang zu stehen. Außerdem ist sie offenbar harmlos. Die Fluggäste finden sie übrigens ganz unterhaltsam, wie mir scheint.“

Das konnte Massimo sich gut vorstellen, denn ihm selbst erging es nicht anders, sie faszinierte ihn.

„Wohin genau will sie in Italien?“, fragte er betont beiläufig.

„Ich meine, ich hätte gehört, dass sie nach Siena will. Sie wollen sich doch hoffentlich nicht darauf einlassen, Mr. Valtieri.“ Der Mann sah ihn besorgt an. „Sie kommt mir etwas seltsam vor.“

Während sie die junge Frau beobachteten, ging der Mann weiter. Sie sagte etwas zu ihrer Begleiterin, zuckte mit den Schultern und rieb sich die Arme. Wahrscheinlich fror sie in dem unmöglichen Outfit. Es war immerhin schon September, und die Sonne ließ sich an diesem Tag nicht blicken.

Es geht dich doch gar nichts an, dass sie für dieses Wetter nicht angemessen gekleidet ist, mahnte er sich energisch. In dem Moment näherte sich ein anderer Fluggast dem Eingang, und die junge Frau ging charmant lächelnd auf ihn zu. Massimo verkrampfte sich der Magen, er kannte ihn flüchtig. Mit ihm sollte sich diese entzückende und leicht exzentrisch wirkende Frau besser nicht einlassen, auch wenn er mit seinem Privatflieger nur eine Autostunde entfernt von Siena landete.

Das kann ich nicht zulassen, das könnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, sagte er sich und straffte die Schultern.

Als er auf die beiden zuging, öffnete sich die Glastür automatisch vor ihm. Ehe er Nico, so hieß der Mann, auf Italienisch aufforderte zu verschwinden, warf er ihm einen Blick zu, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, was er von ihm hielt. Mit einem bedauernden Lächeln in Richtung der jungen Frau eilte Nico zum Abfertigungsschalter.

Massimo wandte sich an die junge Frau und sah ihr in die Augen, in denen es ärgerlich aufblitzte. Sie verzog keine Miene, offenbar nahm sie es ihm sehr übel, dass er sich eingemischt hatte.

Ihre von langen dunklen Wimpern umrahmten Augen waren von einem erstaunlich tiefen Dunkelblau, und ihre verführerischen Lippen luden geradezu zum Küssen ein. Doch wie kam er nur auf so einen dummen Gedanken? Er atmete tief durch – und nahm prompt ihren dezenten Duft wahr.

Der raubte ihm fast die Sinne, und er war sekundenlang verwirrt. Als er wieder klar denken konnte, verspürte er ein so heftiges Verlangen wie seit vielen Jahren nicht mehr. Oder vielleicht wie noch nie zuvor.

„Was haben Sie zu ihm gesagt?“, fuhr Lydia ihn zornig an und konnte kaum glauben, dass er den Mann mit wenigen Worten vertrieben hatte. „Er hatte mir gerade einen Platz in seinem Flieger angeboten“, fügte sie frustriert hinzu.

„Glauben Sie mir, Sie hätten es bereut, mit ihm zu fliegen.“

„Oh ja, wenn Sie es sagen“, entgegnete sie spöttisch und schüttelte den Kopf.

„Es tut mir wirklich leid, aber ich konnte es nicht zulassen, es wäre für Sie zu unsicher gewesen“, erklärte Massimo knapp.

Sie legte den Kopf zurück und seufzte. Wahrscheinlich war er der Chef des Flughafensicherheitsdienstes, auf jeden Fall hatte er eine höhere Funktion inne als der nette junge Mann, der sie nach draußen befördert hatte. Er würde nicht mit sich reden lassen, das spürte sie deutlich. Seine Entschlossenheit erinnerte sie an ihren Vater, deshalb wusste sie genau, wann sie nachgeben musste. Sie sah ihn wieder an und versuchte zu ignorieren, wie faszinierend sie seine warmen braunen Augen fand.

„Es wäre überhaupt kein Risiko gewesen, denn ich bin nicht allein. Im Übrigen bin ich für niemanden eine Bedrohung, es hat sich auch niemand über mich beschwert. Sie können also Ihre Wachhunde zurückpfeifen. Ich verschwinde freiwillig.“

Zu Ihrer Überraschung lächelte er und sah sie so sanft an, dass sie weiche Knie bekam.

„Entspannen Sie sich, ich bin nicht vom Sicherheitsdienst, sondern fühle mich nur für meine Mitmenschen verantwortlich. Stimmt es, dass Sie nach Siena fliegen möchten?“

Bis jetzt hatte noch keiner der Fluggäste, die sie angesprochen hatte, dieses Reiseziel gehabt. Deshalb grenzte es fast schon an ein Wunder, falls er dorthin wollte. Sie versuchte jedoch, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen. „Haben Sie nicht behauptet, es wäre zu unsicher?“

„Ja, wenn Sie mit Nico geflogen wären.“

„Ach so. Mit Ihnen wäre es also etwas ganz anderes, oder?“

„Es wäre nicht ganz so riskant. Mein Pilot trinkt vor und während des Flugs keinen Alkohol, und ich …“ Er beendete den Satz nicht und beobachtete ihr Mienenspiel. Offenbar fing sie an zu begreifen, was er meinte.

„Was ist mit Ihnen?“, hakte sie schließlich misstrauisch nach.

Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das dunkle, an den Schläfen ergraute Haar. Lydia spürte seine Ungeduld, er schien ihr nur ungern zu helfen.

„Er hat einen schlechten Ruf“, erklärte er.

Am liebsten hätte sie ihm das Haar aus der Stirn gestrichen, aber sie nahm sich zusammen und fragte nur: „Sie nicht?“

„Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich respektiere die Frauen“, erwiderte er und fügte leicht spöttisch hinzu: „Sie können sich gern bei meinen beiden Brüdern und meinen drei Schwestern erkundigen. Oder auch bei Carlotta, die schon viele Jahre die Haushälterin meiner Familie ist und meine Kinder versorgt.“

Er hatte also Kinder. Sie seufzte erleichtert auf, als sie den Ehering an seinem Finger entdeckte, und reichte ihm lächelnd die Karte, die sie in der Hand gehalten hatte. Plötzlich war sie ganz aufgeregt, denn dieses Mal konnte es klappen.

„Es handelt sich um einen Wettbewerb, bei dem man eine Hochzeitsfeier in einem Hotel in der Nähe von Siena gewinnen kann. Ich bin in die Endausscheidung gekommen, und nun geht es darum, wer zuerst in dem Hotel eintrifft. Das ist Claire, die Reporterin des Radiosenders, der darüber berichtet“, stellte sie ihre Begleiterin vor.

Massimo nickte höflich, aber Claire interessierte ihn überhaupt nicht, obwohl sie ganz hübsch war. Er hatte nur Augen für die junge Frau in dem billigen Brautkleid und mit dem losen Mundwerk.

Nachdem er die Karte zweimal gelesen hatte, schüttelte er den Kopf und gab sie ihr zurück. „Sie müssen den Verstand verloren haben, im Brautkleid und mit nur hundert Pfund in der Tasche nach Siena zu fliegen, um eine Hochzeitsfeier zu gewinnen“, meinte er. „Was sagt denn Ihr Verlobter dazu? Weshalb lässt er es zu?“

„Ich habe keinen Verlobten, aber selbst wenn ich einen hätte, brauchte ich sein Einverständnis nicht“, entgegnete sie kühl. „Ich mache es für meine Schwester. Sie hatte einen Unfall. Aber das spielt gar keine Rolle. Entweder helfen Sie mir, oder wir beenden das Gespräch. Die Zeit läuft mir davon, ich muss rasch jemanden finden, der mich mitnimmt.“

Sie will also gar nicht heiraten, dachte er und bot ihr spontan an: „Wenn Sie möchten, können Sie mit mir nach Siena fliegen. Übrigens, ich bin Massimo Valtieri“, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand.

Er sprach seinen Namen mit einem deutlich italienischen Akzent aus, und sie erbebte insgeheim. Oder lag es vielleicht an der Kälte? Sie lächelte ihren Retter in der Not an und nahm seine Hand.

„Ich bin Lydia Fletcher. Wenn wir vor meiner Konkurrentin ankommen, bin ich Ihnen ewig dankbar.“

Als sich seine warmen Finger fest um ihre schlossen, hatte sie sekundenlang das Gefühl, ihre Welt würde auf den Kopf gestellt. Und er schien genauso erschüttert zu sein wie sie, denn sie bemerkte seine schockierte Miene und das rätselhaft Aufblitzen in seinen Augen. Irgendetwas geschah in dem Moment mit ihnen, und sie fragte sich, ob alles jemals wieder so sein würde wie zuvor. Aber das war ein völlig verrückter Gedanke.

Die Sitze in dem relativ kleinen Flieger waren bequem und boten viel Beinfreiheit, der Pilot hatte auch keinen Alkohol getrunken, und da sie in wenigen Minuten starten würden, war Lydia sich sicher, die Traumhochzeit für ihre Schwester zu gewinnen.

Sie konnte ihr Glück kaum fassen.

Nachdem sie sich angeschnallt hatte, nahm sie Claires Hand, während die Maschine auf die Startbahn rollte. „Wir haben es geschafft“, flüsterte sie.

„Ja, es ist kaum zu glauben. Du wirst gewinnen, dessen bin ich mir sicher“, erwiderte Claire lächelnd.

Und dann rollte die Maschine über die Startbahn und hob ab, um zu gewinnen. Unter ihnen lag London, und über der Themsemündung drehten sie ab in Richtung Frankreich. Nach wenigen Minuten erlosch die Anzeige, dass sie sich anschnallen sollten.

„Ich finde das Ganze sehr aufregend und schreibe rasch einen Bericht“, erklärte Claire und öffnete ihr Notebook.

Lydia sah sich in dem Flieger um. Massimo, auf der anderen Seite des Ganges, blickte sie an.

Er löste den Sicherheitsgurt und drehte sich zu ihr um. „Alles in Ordnung?“, fragte er.

„Oh ja, bestens“, antwortete sie und bekam Herzklopfen, als er sie anlächelte. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Es tut mir leid, dass ich so unhöflich war.“

Er verzog die Lippen. „Ach, das war doch harmlos im Vergleich zu dem, was Nico sich von mir anhören musste.“

„Was haben Sie denn zu ihm gesagt?“, erkundigte sie sich neugierig.

„Das lässt sich schlecht übersetzen und ist auch nicht für die Ohren von Damen bestimmt.“

„Ich kann mir fast schon vorstellen, was es war.“

„Hoffentlich nicht.“

Sie lachte leise auf. „Ich verstehe sowieso kein Italienisch. Ich habe wirklich ein schlechtes Gewissen, weil ich Sie so angefahren habe, aber es ist mir sehr wichtig, die Hochzeitsfeier zu gewinnen.“

„Das habe ich begriffen. Sie machen es für Ihre Schwester, wie sie erwähnten, oder?“

„Ja, für Jennifer. Sie hatte vor einigen Monaten einen Unfall und musste eine Zeit lang im Rollstuhl sitzen. Es geht ihr jedoch schon wieder etwas besser, sie läuft an Krücken. Ihr Verlobter hat seinen Job aufgegeben, um ihr zu helfen. Sie wohnen bei meinen Eltern, und Andy arbeitet momentan für meinen Vater für Unterkunft und Verpflegung. Meine Eltern besitzen einen kleinen Bauernhof. Es reicht ihnen, was sie damit verdienen, und meine Schwester und ihr Verlobter könnten die Hochzeit bei ihnen feiern. Es wäre kein Problem, eine der Scheunen dafür herzurichten. Aber da meine Großmutter lange in Italien gelebt hat, träumt Jen schon immer davon, dort zu heiraten. Dafür reicht ihr Geld jedoch leider nicht. Deshalb habe ich mich spontan entschlossen, an dem Wettbewerb teilzunehmen, als ich davon hörte. Allerdings hätte ich mir nie träumen lassen, in die Endausscheidung zu kommen, und erst recht nicht, jemanden zu finden, der mich bis nach Siena mitnimmt. Ich bin so glücklich darüber, dass ich gar nicht weiß, wie ich Ihnen danken soll.“ Sie verstummte und lächelte ihn reumütig an. „Entschuldigen Sie, dass ich so viel rede. Das passiert mir immer, wenn ich aufgeregt bin.“

Lächelnd lehnte er sich zurück. „Ach, daran bin ich gewöhnt, ich habe drei Schwestern und zwei Töchter. Sie können sich also entspannen.“ Was für eine bezaubernde Frau, dachte er immer wieder.

„Ah ja. Und zwei Brüder haben Sie auch noch, oder?“

„Ja. Luca ist Arzt und mit Isabelle, einer Engländerin, verheiratet. Gio ist Rechtsanwalt. Außerdem habe ich noch einen Sohn, meine Eltern und unzählige Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen.“

„Was machen Sie beruflich?“, konnte sie sich nicht verbeißen zu fragen.

„Man könnte mich als Farmer bezeichnen, jedenfalls betreibe ich Landwirtschaft. Wir besitzen Weinberge und Olivenhaine und stellen Käse her.“

Sie schaute sich in dem luxuriösen Flugzeug um. „Dann müssen Sie aber sehr viel Käse herstellen“, meinte sie trocken.

„Nein, nicht wirklich“, entgegnete er, während es in seinen Augen belustigt aufblitzte. „Wir konzentrieren uns vor allem auf unsere Weine und unser toskanisches Olivenöl, das etwas intensiver schmeckt als das aus dem Süden Italiens, weil wir die Oliven früher ernten, um Frostschäden zu vermeiden. Und das verleiht ihnen dieses würzige Aroma. Aber auch davon stellen wir keine großen Mengen her, sondern legen mehr Wert auf gute Qualität. Ich war gerade auf einer Fachmesse in England, um unser Öl und den Wein zu präsentieren.“

„Wie interessant. Haben Sie auch Proben mitgenommen?“

„Natürlich“, antwortete er lachend. „Sonst könnte ich die Leute ja nicht überzeugen, dass unsere Erzeugnisse die besten sind. Leider war es ein schlechter Zeitpunkt, denn ich werde zu Hause dringend bei der bevorstehenden Weinlese gebraucht. Deshalb habe ich den Flieger gechartert.“

Es ist also nicht sein Jet, dachte sie. Das machte ihn für sie irgendwie erreichbarer und vielleicht sogar noch attraktiver. Auch dass er sich als Farmer bezeichnete, fand sie ausgesprochen sympathisch. Auf dem Gebiet kannte sie sich aus, ihre Eltern legten ebenfalls mehr Wert auf Qualität als auf Quantität. Sie entspannte sich.

„Haben Sie noch Proben übrig?“, fragte sie.

„Nein, von dem Wein leider nicht mehr.“

Lachend schüttelte sie den Kopf. „Das macht gar nichts. Ich kann mir vorstellen, dass er sehr gut ist. Nein, ich meinte das Olivenöl. Mein Interesse ist rein beruflicher Art.“

„Bauen Sie etwa auch Oliven an?“, erkundigte er sich ungläubig. Als sie erneut lachte, verspürte er zu seinem eigenen Entsetzen heftiges Begehren und zwang sich, sich auf das Gespräch zu konzentrieren.

„Nein, keineswegs. Bis vor Kurzem stand auf der Fensterbank in meiner Wohnung nur ein Blumentopf mit Basilikum. Aber ich interessiere mich für alles, was mit der Zubereitung von guten Gerichten zusammenhängt.“

„Also beruflich?“

„Stimmt.“ Sie nickte. „Ich bin Köchin.“

Massimo stand auf, ging in das Heck des Flugzeugs und kam mit einer Flasche Olivenöl zurück. „Hier.“ Er öffnete sie und reichte sie Lydia.

Langsam atmete sie den würzigen Duft ein. „Fantastisch“, sagte sie schließlich und träufelte einige Tropfen in ihre Handfläche, die sie probierte. „Hm“, brachte sie dann genüsslich hervor.

Es überlief ihn heiß. Rasch verschloss er die Flasche wieder und stellte sie weg, während er versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen.

Was war los mit ihm? So hatte er noch nie auf eine Frau reagiert. Warum war ausgerechnet bei ihr alles anders? Als er ihre von dem Olivenöl glänzenden Lippen betrachtete, hätte er sie am liebsten geküsst.

„Es schmeckt wirklich einmalig gut.“ Sie rieb sich die Hände, um die letzten Reste zu verreiben. „Schade, dass wir kein Brot und keinen Balsamico-Essig haben zum Eintunken.“

Er wandte den Blick von ihrem tiefen Ausschnitt ab, nahm sich zusammen und zog eine Visitenkarte aus der oberen Tasche seines Jacketts. „Sobald Sie wieder zu Hause sind, schreiben Sie mir einfach eine E-Mail mit Ihrer Adresse, damit ich Ihnen einige Flaschen Wein, Olivenöl und auch unseren traditionellen Aceto Balsamico schicken kann, den mein Cousin aus Modena herstellt. Er ist der beste, den ich kenne, und auch er wird nur in kleinen Mengen produziert. Ich hatte einige Flaschen mitgenommen, habe aber leider keine einzige mehr übrig.“

„Wenn er so gut ist wie das Olivenöl, ist er erstklassig.“

„Das ist er auf jeden Fall. Unsere ganze Familie ist stolz darauf.“

Sie lachte und steckte die Visitenkarte in ihre Tasche. „Dann handelt es sich also um ein Familienunternehmen, oder?“

„Ja, es besteht schon seit dreihundert Jahren. Ich denke, wir haben einfach Glück gehabt. Der Boden ist sehr fruchtbar, die Hänge liegen in Richtung Süden, die Flächen, auf denen sich nichts anbauen lässt, nutzen wir als Weideland. Die Kastanien, die wir in unseren Kastanienwäldern ernten, exportieren wir in Gläsern oder in Dosen.“

„Hilft Ihre Frau im Geschäft mit, oder halten Sie sie damit auf Trab, Kinder zu bekommen?“ Lydia konnte ihre Neugier nicht mehr zügeln.

Seine Miene wurde ernst. Sekundenlang schwieg er und wandte sich ab. „Angelina ist vor fünf Jahren gestorben“, erwiderte er leise.

Sie bereute die indiskrete Frage, mit der sie ihn an seinen Kummer und Schmerz erinnert hatte, und legte ihm über den Gang hinweg sanft die Hand auf den Arm. „Es tut mir leid, ich hätte nicht fragen dürfen.“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Sie konnten es ja nicht wissen. Fünf Jahre sind immerhin eine lange Zeit.“ Jedenfalls lange genug, dass ich beim Anblick dieser entzückenden und temperamentvollen jungen Engländerin mit den verführerischen Rundungen meine Frau fast vergessen hätte, fügte er insgeheim hinzu.

Plötzlich fühlte er sich schuldig, griff nach seiner Brieftasche und zog zwei Fotos heraus. Das eine zeigte ihn mit seiner Frau am Hochzeitstag, auf dem anderen, das er ganz besonders liebte und immer bei sich trug, stand sie da mit den beiden Mädchen neben ihr und dem Baby auf dem Arm, und alle lachten fröhlich. Er erwähnte eher beiläufig, wie alt die Kinder jetzt waren.

Lydia betrachtete die Fotos und hatte auf einmal Tränen in den Augen. „Sie vermissen sie sicher sehr. Die armen Kinder.“

„Lange Zeit haben sie sehr gelitten, jetzt haben sie sich etwas daran gewöhnt, ohne ihre Mutter aufzuwachsen“, erklärte er rau. Er hatte seine Frau jeden Tag von Neuem schrecklich vermisst, aber das hatte sie nicht zurückgebracht. Schließlich hatte er sich in die Arbeit gestürzt, und das tat er immer noch.

Aber vielleicht nicht konsequent genug, wie er sich sagte, denn er fing auf einmal an, sich für Dinge zu interessieren, an die er jahrelang nicht gedacht hatte. Dazu war er jedoch noch gar nicht bereit und konnte damit auch nicht umgehen. Was sollte das alles? Er hatte auch so schon genug um die Ohren.

Er schob die Fotos wieder in die Brieftasche, entschuldigte sich, stand auf und setzte sich zu seinen Mitarbeitern weiter vorne in den Flieger, um mit ihnen die weitere Vermarktungsstrategie zu besprechen. Dabei drehte er Lydia den Rücken zu, damit er bei ihrem Anblick nicht wieder den Kopf verlor.

Lydia betrachtete ihn und gestand sich mit leichtem Bedauern ein, dass sie es wieder einmal geschafft hatte, ins Fettnäpfchen zu treten. Das passierte ihr viel zu oft, und nun hatte er sich zurückgezogen. Wahrscheinlich bereute er, dass er sie und Claire mit nach Italien fliegen ließ.

Leider war es unmöglich, die unbedachte Frage zurückzunehmen. Sie musste dafür sorgen, dass es ein einmaliger Ausrutscher blieb, und sich aus seinen persönlichen Angelegenheiten heraushalten. Seine Bereitschaft, sie und ihre Begleiterin mitzunehmen, war nichts anderes als eine freundliche Geste.

Sie durfte einfach nicht mehr an seine schönen braunen Augen und den sanften Blick denken.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass er uns wirklich bis nach Siena bringt“, sagte Claire begeistert. „Jo wird sich ärgern, wenn wir vor ihr eintreffen. Sie war sich so sicher, dass sie gewinnt.“

Eigentlich war Lydia das Lachen vergangen, aber bei der Vorstellung, wie glücklich ihre Schwester darüber sein würde, ihre Hochzeit in der Toskana zu feiern, musste sie doch lächeln. „Ja, ich finde es auch unglaublich.“

„Was hat er dir vorhin gezeigt? Er wirkte plötzlich so traurig.“

„Fotos von seiner Frau, die vor fünf Jahren gestorben ist. Er hat drei Kinder im Alter von zehn, sieben und fünf Jahren, wenn ich ihn richtig verstanden habe.“

„Ist sie bei der Geburt des jüngsten gestorben?“

„Nein, das kann nicht sein. Auf dem einen Foto hatte sie das Baby auf dem Arm. Vermutlich ist sie kurz danach gestorben.“

„Es muss schrecklich für ein Kind sein, die Mutter nie kennenzulernen. Ich fände es unerträglich, wenn ich meine Mutter nicht mehr anrufen und ihr alles erzählen könnte, was ich erlebe oder was mich bedrückt.“

Lydia nickte. Auch sie liebte ihre Mutter sehr, telefonierte regelmäßig mit ihr und besprach alles mit ihr und Jen. Wie wäre es, wenn ich sie nie gekannt hätte? überlegte sie und hatte auf einmal Tränen in den Augen. Während sie sie rasch wegwischte, berührte jemand sie ganz leicht am Arm, und sie sah auf.

Massimo stand mit besorgter Miene vor ihr und fuhr ihr mit den Fingern behutsam über die feuchten Wangen.

„Was ist los, Lydia?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ach, es ist nichts. Vergessen Sie es. Ich bin nur ziemlich sentimental.“

Als er in die Hocke ging und ihre Hand nahm, verspürte sie das überwältigende Bedürfnis, sich an seiner Schulter auszuweinen.

„Es tut mir leid, ich wollte sie nicht beunruhigen“, entschuldigte er sich. „Sie brauchen unsertwegen nicht zu weinen.“

Sie schüttelte erneut den Kopf. „Das tue ich auch nicht wirklich. Ich habe nur an meine Mutter gedacht und wie sehr ich sie vermissen würde. Dabei bin ich schon achtundzwanzig und nicht erst fünf Jahre.“

„Ja, es ist sehr schwierig. Es tut mir leid, dass ich Sie vernachlässigt habe. Möchten Sie etwas trinken? Vielleicht einen Kaffee oder Mineralwasser? Oder etwas Stärkeres?“

„Dafür ist es noch zu früh“, meinte sie und bemühte sich um einen leichten Ton.

Lächelnd richtete er sich auf. „Nico hätte jetzt schon die zweite Flasche Champagner geöffnet.“

Erleichtert atmete sie auf. Er nahm ihr die Taktlosigkeit von vorhin nicht übel. „Ein Mineralwasser nehme ich gern“, erklärte sie.

„Und Sie, Claire?“, wandte er sich an ihre Begleiterin.

„Für mich auch eins, bitte.“

Während er nach vorne ging, um die Getränke zu holen, blickte sie hinter ihm her. Er hatte das Jackett abgelegt und die Ärmel seines weißen Hemds hochgekrempelt. Erst als er sich so dicht vor sie gehockt hatte, war ihr aufgefallen, wie breitschultrig er war. Sie betrachtete seine schmalen Hüften und die langen Beine.

Schließlich kam er mit zwei Gläsern zurück. Seine Hände wirkten kräftig und stark. Sie stellte sich vor, wie er sie streichelte. Bei dem Gedanken überlief es sie heiß, und sie musste sich zusammennehmen, damit ihre Hand nicht zitterte, als sie das Glas entgegennahm, das er ihr reichte.

„Danke.“

„Gern geschehen. Sind Sie hungrig?“, fragte er. „Ich kann Ihnen Obst und Gebäck anbieten.“

„Nein, vielen Dank. Ich bin viel zu aufgeregt und würde keinen Bissen hinunterbekommen“, gab sie zu und trank einen Schluck des gekühlten Mineralwassers, in der Hoffnung, dadurch die innere Hitze in den Griff zu bekommen.

Ich muss den Verstand verloren haben, sagte sie sich. Massimo zeigte überhaupt kein Interesse an ihr als Frau, und sie war auch nicht bereit, sich neue Komplikationen zu schaffen. Ihre Partnerschaft mit Russell war so schwierig gewesen, dass ihr die Trennung wie eine Erlösung erschienen war. Deshalb würde sie sich so schnell nicht wieder in eine Beziehung stürzen.

„Wann landen wir?“, erkundigte sie sich, um sich abzulenken.

Doch als er auf die Uhr schaute, fielen ihr prompt seine gebräunten muskulösen Arme und die kräftigen Handgelenke mit den feinen dunklen Härchen auf. Einfach lächerlich. Sie fand sogar seine Arme sexy.

„In ungefähr einer Stunde“, antwortete er. „Würden Sie mich bitte entschuldigen? Ich muss zurück zu meinen Mitarbeitern. Melden Sie sich bitte, wenn Sie etwas brauchen.“ Er setzte sich wieder mit dem Rücken zu ihr.

Während sie seine breiten Schultern betrachtete, erbebte sie insgeheim. Sie konnte kaum glauben, was da mit ihr geschah. Noch nie zuvor hatte sie so heftig auf einen Mann reagiert.

Eine Stunde noch, dann konnte sie sich noch einmal bedanken und sich verabschieden, ohne sich erneut blamiert zu haben. Der arme Mann trauerte immer noch um seine Frau, und sie hatte mit ihrer taktlosen Frage Erinnerungen geweckt. Obwohl sie ihn erst knapp eine Stunde gekannt hatte, war sie schon ins Fettnäpfchen getreten.

Sie nahm sich fest vor, nichts Unüberlegtes mehr zu sagen, lehnte sich zurück und blickte aus dem Fenster auf die Berge unter ihnen.

Das müssen die Alpen sein, vermutete sie und betrachtete fasziniert die gezackten Gipfel und die tiefen Täler. Schließlich ließen sie die Berge hinter sich und überflogen zunächst eine Ebene und dann eine lieblich anmutende Landschaft mit Wäldern, Olivenhainen, Weinbergen und Feldern, die fast schachbrettförmig angelegt waren. Schmale kurvenreiche Straßen, die von Zypressen gesäumt wurden, führten zwischen den Feldern hindurch.

Das ist die Toskana, dachte sie ganz aufgeregt.

Als die Aufforderung, sich anzuschnallen, aufleuchtete, setzte Massimo sich wieder auf seinen Platz auf der anderen Seite des Ganges neben ihr.

„Wir sind gleich da“, verkündete er lächelnd. Und nach wenigen Minuten setzte der Flieger auf der Landebahn auf.

Jen wird ihre Hochzeitsfeier in der Toskana bekommen, dachte Lydia überglücklich.

Nachdem die Maschine zum Stehen gekommen war, wurde die Tür geöffnet.

„Wir sind wirklich da“, rief Claire begeistert.

„Ja, es ist einfach unglaublich.“ Lydia und Claire standen auf und folgten Massimo, der das Jackett wieder angezogen hatte, zum Ausgang.

Oben an der Passagiertreppe blieb er stehen. „Nach Ihnen. Ich fahre Sie zum Hotel, wenn Sie mir die Adresse verraten.“

„Würden Sie das wirklich tun?“

„Ich will Sie nicht am Ende doch noch verlieren lassen“, erwiderte er lächelnd.

„Das ist nett von Ihnen. Vielen Dank.“ Lydia hob den langen Rock des Kleids etwas hoch und fing an die Treppe hinunterzugehen. Doch plötzlich stolperte sie, fiel die Stufen hinunter und schlug mit dem Kopf auf dem harten Asphalt auf.

Sie schrie kurz auf, dann war alles still.

Massimo eilte die Treppe hinunter. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Nein, sie darf nicht tot sein, sagte er sich entsetzt.

Das war sie auch nicht, wie er feststellte, als er ihren Puls fühlte. Er seufzte erleichtert und kniete sich neben sie, um ihr zu helfen.

Du musst die Ruhe bewahren, mahnte er sich. Sie lebte, und alles würde wieder gut werden. Aber das würde er erst glauben, sobald sie sich bewegte.

„Ist sie okay?“ Claire war ganz blass geworden vor Angst und Sorge und kniete sich auf der anderen Seite neben sie.

„Vermutlich“, antwortete er, war jedoch noch nicht davon überzeugt. Ihm wurde fast übel. Warum bewegte sie sich nicht? Oh nein, es durfte nicht schon wieder passieren.

Auf einmal stöhnte Lydia auf. Sie hatte gespürt, dass jemand seine warmen Finger auf ihren Puls am Hals gelegt hatte. Während sie langsam wieder zu sich kam, hörte sie Massimo etwas auf Italienisch sagen.

„Lydia? Können Sie mich hören? Schauen Sie mich an.“

Sie tat es und wollte sich aufrichten, doch er legte ihr die Hand auf die Schulter und forderte sie auf: „Bleiben Sie ganz ruhig liegen. Sie sind vielleicht verletzt. Haben Sie Schmerzen? Wenn ja, wo?“

Wo eigentlich nicht? fragte sie sich und wollte den Kopf zur Seite drehen. Prompt stöhnte sie wieder auf und ließ es bleiben. „Mein Kopf tut weh. Wie ist das passiert? Bin ich gestolpert?“

„Ja, Sie sind die Treppe hinuntergefallen.“

Lydia betastete die Stirn und bemerkte das Blut an ihrer Hand. „Da ist eine Wunde.“ In dem Moment verschwamm alles vor ihren Augen.

„Es wird alles wieder gut“, versuchte Claire sie zu beruhigen.

Massimo streifte das Jackett ab, faltete es zusammen und legte es behutsam unter ihren Kopf, für den Fall, dass sie sich eine Verletzung der Halswirbelsäule zugezogen hatte. Davor hatte er am meisten Angst. Aber auch die Stirnwunde genau unterhalb des Haaransatzes, die stark blutete, fand er besorgniserregend.

Er blieb neben ihr knien, hielt ihre Hand und redete beruhigend auf sie ein, während er zwischendurch einige Anweisungen auf Italienisch erteilte.

Sie verstand die Worte ambulanza und ospedale, und als sie versuchte, sich zu bewegen, stöhnte sie auf vor Schmerzen.

„Bleiben Sie ganz ruhig liegen“, wiederholte er. „Der Krankenwagen trifft jeden Augenblick ein und bringt Sie in die Klinik.“

„Das ist nicht nötig, so schlecht geht es mir gar nicht“, protestierte sie schwach. „Das Wichtigste ist, dass ich so schnell wie möglich in dem Hotel eintreffe.“

„Nein“, entgegneten Massimo und Claire wie aus einem Munde.

„Ich muss doch den Wettbewerb gewinnen.“

„Der ist jetzt Nebensache“, erklärte er. „Sie sind verletzt und müssen behandelt werden.“

„Das hat Zeit bis später.“

„Nein“, lehnte er hart und entschlossen ab. Seine Stimme klang auf einmal so hart und rau, dass Lydia ihn prüfend ansah. Er war ganz blass, hatte die Lippen zusammengekniffen, und sein Blick wirkte seltsam verschleiert.

Wahrscheinlich kann er den Anblick von Blut nicht ertragen, mutmaßte sie und streckte die Hand nach Claire aus.

Sie nahm sie und wandte sich an Massimo. „Ich bleibe bei ihr. Sie haben genug zu tun und können uns unbesorgt allein lassen. Wir kommen schon zurecht.“

„Ich bleibe hier“, beharrte er, stand jedoch auf und trat einige Schritte zurück.

Lydia wirkte so zerbrechlich, wie sie dalag, mit der blutenden Stirnwunde und dem bis zu den Knien hochgerutschten Rock des langen Kleids. Während er sie betrachtete, glaubte er auf einmal, das Gesicht seiner Frau zu sehen. Er schloss die Augen, um es aufzulösen, aber es gelang ihm nicht.

In dem Moment versuchte Lydia erneut, sich aufzurichten. „Zuerst fahren wir zu dem Hotel, Claire“, verlangte sie.

Er öffnete die Augen wieder. „Das kommt nicht infrage.“

„Der Meinung bin ich auch“, stimmte Claire ihm zu. „Du lässt dich ärztlich versorgen, und dann können wir immer noch ins Hotel fahren. Wir haben Zeit genug.“

Das bezweifele ich, dachte Lydia immer mehr. Sie kam sich völlig hilflos vor in dem lächerlichen Brautkleid, das sie im Laden einer Wohltätigkeitsorganisation billig erstanden hatte, und mit der blutenden Stirnwunde. Während die Minuten verstrichen, schwand ihre Hoffnung auf ein gutes Ende.

2. KAPITEL

Schließlich traf der Krankenwagen ein, Lydia wurde hineingetragen, und Claire begleitete sie.

Am liebsten wäre Massimo in der Ambulanz mitgefahren, schon allein wegen seiner Schuldgefühle. Aber das stand ihm nicht zu. Deshalb folgte er ihr in seinem Wagen, nachdem er seine Mitarbeiter mit der Bitte nach Hause geschickt hatte, seine Familie zu informieren, er wäre noch aufgehalten worden.

Dann rief er seinen Bruder Luca an, um zu erfahren, ob er heute im Krankenhaus in Siena arbeitete.

„Massimo! Willkommen zurück. Hattest du einen guten Flug?“, meldete er sich sogleich.

„Na ja, wie man es nimmt. In welchem Krankenhaus bist du heute?“

„In Siena. Warum?“

„Ich bin auf dem Weg dorthin“, erwiderte er erleichtert. „Ich habe zwei junge Frauen im Flieger mitgenommen, und eine von ihnen ist beim Aussteigen die Treppe hinuntergefallen. Momentan fahre ich hinter dem Krankenwagen her. Sie hat eine Kopfverletzung, Luca“, fügte er hinzu.

Sein Bruder holte tief Luft. „Okay, wir treffen uns in der Notaufnahme. Sie wird wieder gesund, Massimo. Dafür sorgen wir.“

„Gut. Bis gleich.“ Er versuchte, seine Angst und die Schuldgefühle zu ignorieren, und bemühte sich vergeblich, die Gedanken an Angelina zu verdrängen. Nicht schon wieder, dachte er.

Luca erwartete ihn am Eingang zur Notaufnahme. Er ließ Massimo aussteigen und setzte sich in den Wagen, um einen Parkplatz zu suchen, während sein Bruder zu dem Krankenwagen eilte und neben Lydia herlief, als man sie hineintrug. Claire hielt ihre Hand und redete beruhigend auf sie ein, doch leider ohne Erfolg, denn Lydia wollte wegen des Wettbewerbs nur schnellstmöglich ins Hotel und behauptete steif und fest, es wäre alles in Ordnung, was natürlich nicht stimmte.

Claire begleitete sie in den Behandlungsraum, und Massimo musste sich im Wartezimmer in Geduld fassen. Unruhig ging er hin und her und wurde fast verrückt bei der Vorstellung, was alles passieren konnte. Wenige Sekunden später erschien Luca und reichte ihm die Autoschlüssel.

„Geht es dir gut?“, erkundigte er sich mit einem prüfenden Blick.

Wohl kaum, sagte Massimo sich, behauptete jedoch: „Natürlich.“

„Woher kennst du die junge Frau?“

Massimo erzählte ihm kurz, wie der Unfall passiert war. „Sie trägt ein Brautkleid, weil sie an einem Wettbewerb teilgenommen hat“, fügte er hinzu. „Sie wollte eine Hochzeitsfeier in der Toskana gewinnen.“

Er wünschte, er hätte sie am Arm gepackt oder wäre vor ihr die Treppe hinuntergegangen, dann wäre alles nicht so schlimm geworden.

„Luca, sie darf nicht sterben.“

„Das wird sie auch nicht“, versprach Luca ihm, obwohl er sie noch gar nicht gesehen hatte.

Massimo war klar, dass es nur eine Redensart war. „Sag mir Bescheid, sobald du weißt, wie schwer die Verletzungen sind.“

Luca nickte, bevor er die Tür zum Behandlungsraum öffnete und verschwand.

Nach stundenlangem Warten, so kam es ihm vor, erschien Luca mit Claire.

„Ihr Bein wird jetzt geröntgt, sie hat sich wahrscheinlich den Knöchel verstaucht. Durch den Sturz hat sie wohl eine leichte Gehirnerschütterung erlitten, aber keine schwere Kopfverletzung“, berichtete er.

„Das hatte Angelina angeblich auch nicht“, entgegnete Massimo auf Italienisch.

„Sie ist aber nicht Angelina, und sie wird an der Verletzung nicht sterben.“

„Bist du dir ganz sicher?“

„Oh ja. Sie wurde gründlich untersucht und wird wieder völlig gesund.“

Das hätte ihn beruhigen können, aber Massimo bekam seine Angst nicht in den Griff, das tragische Ereignis von damals stand ihm wieder viel zu deutlich vor Augen.

„Glaub mir, sie ist okay“, bekräftigte Luca. „Es lässt sich mit damals nicht vergleichen.“

Massimo nickte und hatte nur noch den einen Wunsch, hinauszugehen an die frische Luft. Doch er wollte und konnte Lydia nicht allein lassen.

Luca nahm ihn mit in den Behandlungsraum. Sie lag auf dem fahrbaren Krankenbett in ihrem blutbeschmierten lächerlichen Brautkleid. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er höflich, obwohl er die Antwort kannte.

In ihren Augen spiegelten sich Schmerz und Sorge, als sie ihn ansah. „Gut. Außer einigen Beulen und Schrammen fehlt mir nichts, es ist nichts gebrochen. Ich ärgere mich über mich selbst und möchte jetzt endlich zu dem Hotel fahren. Aber man will mich noch nicht entlassen. Es tut mir leid, Massimo, dass ich Ihnen so viele Unannehmlichkeiten bereitet habe. Fahren Sie jetzt nach Hause, Claire ist ja bei mir.“

„Ich bleibe hier.“ Warum ihm das so wichtig war, erklärte er nicht. Sie brauchte nicht zu wissen, dass er damals Angelinas Kopfschmerzen nicht ernst genommen, nicht an ihrem Bett gesessen und sie nicht beobachtet hatte. Nie wieder würde er so leichtsinnig sein. Deshalb würde er sich von Lydia erst verabschieden, wenn er sicher war, dass es ihr gut ging.

Während Lucas Kollegen sie noch einmal gründlich untersuchten und den Knöchel verbanden, holte Massimo für sich und Claire einen Kaffee, was keine gute Idee war, wie ihm bald klar wurde, denn das Koffein verstärkte seine Unruhe.

„Ich gehe nach draußen, um zu telefonieren“, erklärte Claire. „Rufen Sie mich, falls sich etwas Neues ergibt?“

„Selbstverständlich.“ Er vermutete, dass sie den Radiosender anrief, um über Lydias Unfall zu berichten. Und dabei war sie so nah dran gewesen zu gewinnen.

Wenig später kam Claire zurück. „Jo ist im Hotel eingetroffen.“

„Wer ist Jo?“

„Die Mitbewerberin. Lydia wird schrecklich enttäuscht sein, dass sie nicht gewonnen hat. Ich wage gar nicht, es ihr zu erzählen.“

„Das sollten Sie aber tun. Wenn sie weiß, dass alles entschieden ist, kann sie sich vielleicht besser entspannen und sich ausruhen.“

Claire lachte auf. „Da kennen Sie sie schlecht.“

„Sie haben recht, ich kenne sie kaum.“ Ich wünschte, es wäre anders, fügte er insgeheim hinzu und lächelte wehmütig.

Als die beiden wieder hereinkamen, sah Lydia die Reporterin prüfend an. „Hast du mit den Leuten vom Sender gesprochen, Claire?“

„Ja.“

„Und?“ Sie brachte es kaum über sich, die Frage zu stellen, die sie so sehr beschäftigte, und atmete tief durch. „Ist Jo schon da?“

Claires Miene verriet ihr alles, und ihr traten die Tränen in die Augen. „Jo und ihre Begleiterin sind im Hotel, stimmt’s?“

Lydia wandte sich ab, als Claire nickte, und schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Sie ärgerte sich schrecklich über sich selbst, denn sie war so nah dran gewesen zu gewinnen, und dann hatte sie durch ihre eigene Unachtsamkeit alles verdorben.

Schließlich schluckte sie und blickte Claire wieder an. „Bestell ihr schöne Grüße von mir und herzlichen Glückwunsch.“

„Das mache ich. Aber du siehst sie ja auch. Man hat uns ja zwei Zimmer für heute Nacht im Hotel reserviert. Wir fahren hin, sobald du entlassen wirst.“

„Ich befürchte, das dauert noch etwas länger. Du fährst am besten ohne mich, isst etwas, unterhältst dich mit den anderen, und ich rufe dich an, wenn ich weiß, wann ich das Krankenhaus verlassen kann. Ich komme dann mit dem Taxi nach.“

„Lydia, ich kann dich doch nicht allein lassen.“

„Doch, das können Sie. Ich bleibe auf jeden Fall bei ihr“, mischte Massimo sich ein, und Lydia war seltsam erleichtert. Doch nicht nur das, sie fühlte sich ihm gegenüber auch schuldig.

Dieselben Regungen spiegelten sich in Claires Gesicht. Sie zögerte und biss sich auf die Lippe.

Lydia drückte ihr die Hand. „Na bitte, du kannst ganz beruhigt sein. Außerdem ist sein Bruder hier als Arzt tätig, es kann also nichts mehr schiefgehen. Wir sehen uns später.“ Anschließend schicke ich auch Massimo weg, nahm sie sich vor.

„Okay, wenn du es unbedingt willst“, gab Claire widerstrebend nach. „Ich habe noch einige Sachen von dir. Soll ich sie in deine Tasche stecken? Wo ist sie überhaupt?“

„Keine Ahnung. Vielleicht unter dem Bett?“

„Nein, da ist sie nicht.“

„Wahrscheinlich lag sie auf dem Flughafen irgendwo neben Ihnen auf dem Boden, und wir haben sie übersehen“, sagte Massimo. „Ich bin sicher, einer meiner Mitarbeiter hat sie aufgehoben.“

„Könnten Sie das bitte prüfen?“, bat Lydia ihn. „Mein Pass befindet sich darin.“

„Natürlich.“ Er ließ die beiden Frauen kurz allein, um zu telefonieren, und kam mit der erfreulichen Nachricht zurück, dass man sie tatsächlich gefunden hatte. „Man wird sie Ihnen noch heute Abend bringen“, versprach er ihr.

„Danke, Massimo. Und du, Claire, solltest endlich gehen.“

„Kann ich mich darauf verlassen, dass du mich anrufst, sobald es etwas Neues gibt?“

„Klar, ich sage dir sogleich Bescheid.“

Claire umarmte sie und verließ den Raum.

Lydia schluckte und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

„Es ist doch alles in Ordnung, Sie sind bald wieder auf den Beinen“, tröstete Massimo sie und streichelte ihr sanft die Wange.

„Ich bereite allen Menschen in meiner Umgebung nichts als Schwierigkeiten.“

„Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. So ist das Leben. Möchten Sie Ihre Familie informieren?“

Eigentlich hätte sie Jen anrufen müssen, aber das verschob sie lieber auf später. Noch brachte sie es nicht über sich, ihr zu erzählen, dass es nun doch keine Hochzeitsfeier in der Toskana gab.

„Dazu bin ich im Moment zu müde“, erwiderte sie deshalb.

„Dann ruhen Sie sich aus. Ich bleibe in Ihrer Nähe.“ Das hätte ich damals auch tun müssen, ich hätte an Angelinas Bett sitzen bleiben müssen, dachte er.

Lydia schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, sah sie ihn im ersten Augenblick nicht und geriet fast in Panik. Doch dann entdeckte sie ihn. Er stand vor einer Tafel, die Kopfverletzungen und deren Folgen beschrieb, und wirkte seltsam angespannt.

Vielleicht hielt er sich nicht gern in Krankenhäusern auf. Dafür hatte sie sogar Verständnis, denn nach Jens Unfall empfand sie genauso. Dennoch war er immer noch hier, vermutlich aus einem völlig unsinnigen Pflichtgefühl heraus.

Plötzlich drehte er sich um und begegnete ihrem Blick.

„Alles in Ordnung?“ Er betrachtete sie aufmerksam.

„Ja, mein Kopf ist schon viel klarer. Eigentlich müsste ich Jen informieren“, sagte sie ruhig.

Er seufzte, streichelte ihr die Wange und wischte mit dem Daumen eine Träne weg.

„Es tut mir so leid, cara. Ich weiß, wie gern Sie den Wettbewerb Ihrer Schwester zuliebe gewonnen hätten.“

„Ach, das ist egal“, erwiderte sie, obwohl es ihr gar nicht egal war. „Es war nur so eine verrückte Idee. Die beiden können die Hochzeit genauso gut zu Hause feiern. Ich habe auch gar nicht ernsthaft geglaubt, dass ich gewinnen würde, und deshalb haben wir auch nichts verloren.“

„Claire hat berichtet, Jo wäre schon lange hier, sodass Sie auch ohne den Unfall wahrscheinlich keine Chance gehabt hätten. Sie hat wohl sehr schnell jemanden gefunden, der sie mitnahm.“

Lydia bezweifelte, dass es stimmte. Wahrscheinlich wollte er sie nur trösten und ihr die Sache erleichtern. Doch ehe sie ihre Vermutung äußern konnte, erschien der Arzt.

„Sie haben keine ernsthaften Verletzungen erlitten, sollten sich aber einige Tage schonen, ehe Sie nach Hause zurückfliegen. Sie können jedoch das Krankenhaus verlassen“, verkündete er.

Lydia bedankte sich, richtete sich mühsam auf und schwang die Beine über die Bettkante. Doch plötzlich verschwamm alles vor ihren Augen, und sie stützte sich mit beiden Händen ab.

„Geht es?“, fragte Massimo besorgt.

„Ja, ja. Ich brauche ein Taxi, das mich zum Hotel bringt.“

„Ich fahre Sie.“

„Nein, das kann ich Ihnen nicht zumuten. Sie hatten meinetwegen schon genug Schwierigkeiten. Ich nehme ein Taxi, das ist kein Problem.“

Als sie aufsah, entdeckte er die Tränen in ihren Augen. Egal, was sie behauptete, es fiel ihr schwer, damit zurechtzukommen, dass sie die Hochzeitsfeier für ihre Schwester nicht gewonnen hatte. Irgendwie fühlte er sich schuldig, obwohl er nichts mit der ganzen Sache zu tun hatte. Er war ihr gegenüber zu nichts verpflichtet und hatte keinen Grund, ihr zu helfen. Es reichte, dass er sie mitgenommen hatte. Doch es hatte sich in den wenigen Stunden, die sie sich kannten, etwas verändert zwischen ihnen, und er konnte sie genauso wenig im Stich lassen wie seine Kinder, die schon viel zu lange auf ihn warteten, wie er sich schuldbewusst eingestand.

„Au!“ Sie stöhnte leise auf.

„Mit dem verstauchten Knöchel können Sie nicht laufen. Bleiben Sie sitzen“, forderte er sie auf.

Sie wünschte, sie hätte ihre Bordtasche, dann könnte sie sich umziehen. In ihren Jeans und dem Baumwolltop würde sie sich viel wohler fühlen als in diesem lächerlichen Brautkleid. Vor Schmerzen und aus lauter Enttäuschung hätte sie am liebsten geweint.

„Hier.“ Er brachte den Rollstuhl an die Liege.

Skeptisch betrachtete sie ihn. „Das wird vielleicht etwas schwierig in dem Kleid. Ich finde es grässlich und werde es verbrennen, sobald ich es ausziehen kann.“

„Das ist eine gute Idee“, stimmte er ihr zu, und sie lächelten sich an. Dann half er ihr in den Rollstuhl, sie faltete den weiten Rock zusammen, und er schob sie zur Tür.

„Wollen Sie wirklich in dieses Hotel?“, fragte er auf einmal und blieb stehen.

Sie wollte den Kopf heben, es tat jedoch so weh, dass sie aufstöhnte. „Ich habe keine andere Wahl. Ich muss heute Nacht irgendwo schlafen und kann mir nichts anderes erlauben.“

Er ging neben ihr in die Hocke. „Da Sie in den nächsten Tagen noch nicht nach Hause fliegen können und auch Ihre Bordtasche noch nicht haben, kommen Sie doch einfach mit zu mir“, schlug er ihr vor. Er war froh über diese Lösung, dann brauchte er auch seine Kinder nicht noch länger warten zu lassen. „Ich muss nach Hause zu meinen Töchtern und meinem Sohn, ich habe ihre Geduld schon viel zu lange strapaziert. Sie können sich dann umziehen, etwas essen und sich hinlegen. Carlotta wird sich um sie kümmern.“

Lydia erinnerte sich daran, dass er den Namen einmal erwähnt hatte. Carlotta war die Haushälterin der Familie und kümmerte sich um seine Kinder. „Meinen Sie das wirklich ernst? Das ist eine Zumutung für Sie und Ihre Familie, finde ich.“

„Nein, das ist es nicht. Im Gegenteil, es macht es leichter für mich und erspart mir viel Zeit, denn das Hotel liegt in der entgegengesetzten Richtung, es wäre ein Umweg. Außerdem müsste ich Ihnen dann später auch noch Ihre Bordtasche bringen. Möchten Sie wirklich einige Tage dort ganz allein herumliegen?“ Er richtete sich auf und schob sie in dem Rollstuhl zu den Parkplätzen.

Ihre Schuldgefühle, die Enttäuschung und die Sorge um ihre Schwester schienen sie zu erdrücken, und sie schüttelte den Kopf. „Es tut mir so leid. Ich habe Ihnen den ganzen Tag verdorben. Wenn Sie nicht so freundlich gewesen wären, mich mitzunehmen, hätten Sie jetzt nicht die Last mit mir.“

„Solche Gedanken sollten Sie gar nicht zulassen. Das ist reine Zeitverschwendung. Also, kommen Sie mit oder nicht?“

„Ja, gern“, erwiderte sie. „Das ist nett von Ihnen.“

„Ach, es ist doch sowieso alles meine Schuld.“

„Unsinn. Das ist es auf keinen Fall. Sie haben schon so viel für mich getan, und ich habe mich noch nicht einmal bedankt.“

„Doch, das haben Sie getan, ehe Sie die Treppe hinuntergefallen sind.“

„So?“ Sie verzog leicht spöttisch die Lippen und drehte sich zu ihm um. Neben seinem Wagen blieben sie schließlich stehen, und sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Es ist wirklich nicht Ihre Schuld“, versicherte sie ihm.

„Eigentlich ist mir das auch klar, dennoch mache ich mir Sorgen.“ Was damals mit Angelina geschehen war, ließ ihn einfach nicht los. Sie hatte Kopfschmerzen gehabt und war in der Küche zusammengebrochen. Im Krankenhaus hatte man sie dann an alle möglichen Gerät angeschlossen. Es war jedoch zu spät gewesen.

„Massimo?“, riss Lydia ihn aus den quälenden Gedanken.

„Ja, okay.“ Er öffnete die Beifahrertür, half ihr ins Auto und brachte den Rollstuhl zurück, ehe er sich ans Steuer setzte. „Ist alles in Ordnung?“

„Natürlich.“

„Gut, dann können wir fahren.“

Sie rief Claire an, um ihr die Neuigkeit zu berichten, und versprach ihr, sich am nächsten Tag wieder zu melden. Dann legte sie das Handy, das Massimo ihr geliehen hatte, auf den Schoß und lehnte den Kopf zurück.

Unter normalen Umständen hätte sie die Fahrt in diesem luxuriösen Wagen mit den bequemen weichen Ledersitzen genossen, die sie über die schmalen kurvenreichen Straßen der traumhaft schönen Landschaft der Toskana führte. Stattdessen saß sie da mit leerem Blick und dachte nur daran, dass sie unbedingt ihre Schwester informieren musste, die gespannt auf eine gute Nachricht wartete. Aber sie hatte einfach nicht die Kraft und den Mut, ihr die Hoffnungen und Träume zu zerstören.

„Wollen Sie nicht mit Ihrer Schwester sprechen?“, fragte Massimo in dem Moment, so als könnte er ihre Gedanken lesen.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiß nicht, wie ich es ihr beibringen soll, dass ich wegen meiner eigenen Ungeschicklichkeit und Unaufmerksamkeit alles verdorben habe.“

Er seufzte und drückte ihr kurz die Hand, wie um sie zu trösten. „Es tut mir wirklich leid, denn ich weiß, wie es ist, sich für das Glück eines anderen Menschen verantwortlich zu fühlen und ihn dann enttäuschen zu müssen.“

„Ja, das ist schlimm.“ Sie sah ihn an. Wie alt mochte er sein? Sie schätzte ihn auf ungefähr vierzig und betrachtete sein markantes Profil. Am liebsten hätte sie mit den Fingern die Bartstoppeln auf seinem Kinn berührt. Seine gebräunte Haut wirkte in der Abendsonne noch etwas dunkler, und ihr wurde bewusst, dass sie ihn überhaupt nicht kannte. Trotzdem vertraute sie ihm und hatte sich zu ihm ins Auto gesetzt. Wie konnte sie so sicher sein, dass er sie mit nach Hause nahm?

Sie schloss die Augen und mahnte sich, jetzt nicht in Panik zu geraten. Immerhin war er hinter ihr her ins Krankenhaus gekommen, hatte sogar seinen Bruder eingeschaltet, der offenbar ein Professor war, jedenfalls hatte ihn jemand so angeredet, und jetzt waren sie auf dem Weg zu seiner Familie, seinen Kindern und seinen Eltern.

„Was ist los?“, fragte er auf einmal.

„Ich habe nur darüber nachgedacht, dass ich Sie gar nicht kenne“, gab sie zu. „Als ich mich von Nico im Flugzeug mitnehmen lassen wollte, haben Sie behauptet, das wäre keine gute Idee. Stattdessen bin ich dann mit Ihnen geflogen. Ehrlich gesagt, ich habe keine gute Menschenkenntnis.“

„Heißt das, Sie vertrauen mir nicht?“

„Seltsamerweise tue ich das, sonst säße ich jetzt nicht neben Ihnen“, erwiderte sie lächelnd.

Er warf ihr einen spöttischen Blick zu und verzog die Lippen. „Dann bin ich ja beruhigt, vielen Dank.“

„Entschuldigen Sie, es war nicht so gemeint. Es ist einfach heute nicht mein Tag, das ist alles.“

„Das sehe ich auch so. Aber keine Sorge, bei mir sind Sie sicher, das verspreche ich Ihnen. Außerdem sind wir gleich da. Dann können Sie duschen oder ein ausgiebiges Bad nehmen oder den Swimmingpool benutzen, wie Sie wollen.“

„Ich bin schon glücklich, wenn ich das lächerliche Kleid endlich ausziehen kann.“

Sein herzliches Lachen berührte sie zutiefst. „Gut, in wenigen Minuten ist es so weit.“ Er bog in die mit hohen Zypressen gesäumte Einfahrt ein.

Lydia richtete sich auf beim Anblick des riesigen Gebäudes vor ihnen, das wie eine Festung aussah. „Was ist das da drüben auf dem Hügel?“ Sie wies in die Richtung.

„Das Haus meiner Familie.“

„Wie bitte?“ Ungläubig schaute sie sich um. „Gehört das ganze Land darum herum etwa auch Ihnen?“

„Ja.“

Die Silhouette des beeindruckenden Gebäudes hob sich in der langsam untergehenden Sonne deutlich vom Horizont ab, und als sie näher kamen, konnte sie die erleuchteten Fenster erkennen.

Schließlich fuhr Massimo durch den mächtigen Torbogen und hielt den Wagen vor der breiten Treppe an. Sogleich schaltete sich die Beleuchtung ein, und Lydia fielen die großen Terrakottatöpfe mit den Olivenbäumen zu beiden Seite der Treppe auf, die zu der breitesten Doppeltür hinaufführte, die sie jemals gesehen hatte. Sie wirkte so fest und solide, als würde sie vor allen Eindringlingen Schutz bieten.

Es verschlug ihr fast die Sprache, was ihr nur sehr selten passierte. Aus irgendeinem Grund hatte sie gedacht, aus der Nähe wäre alles nicht ganz so imposant, aber das war natürlich Unsinn. Ihr wurde bewusst, dass es tatsächlich eine Art Festung war, mit einer vermutlich Jahrhunderte alten Geschichte.

Und das sollte das Zuhause seiner Familie sein? Sie dachte an das bescheidene Farmhaus ihrer Eltern und hatte plötzlich den unbändigen Drang, in lautes Lachen auszubrechen. Für wen, um alles in der Welt, hielt er sie?

„Lydia?“ Er hatte die Beifahrertür geöffnet und wollte ihr beim Aussteigen helfen.

Rasch raffte sie den Rock des billigen Brautkleids zusammen, stieg aus und balancierte auf dem gesunden Bein, während sie die Treppe skeptisch betrachtete. Wie sollte sie da hinaufkommen?

Für Massimo war auch das kein Problem. Nachdem er die Wagentür geschlossen hatte, hob er sie hoch. Vor Verblüffung schrie sie leise auf. Dann legte sie ihm die Arme um den Nacken und nahm prompt seinen dezenten Duft wahr.

Als er ihre leicht gerunzelte Stirn bemerkte, hoffte er, dass er ihr nicht wehtat, und hätte ihr am liebsten die kleinen Fältchen weggeküsst. Aber das war natürlich unmöglich, denn sie war eine Fremde für ihn. Er versuchte ihre vollen Brüste zu ignorieren, die er an seinem Oberkörper spürte. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt, sodass ihr warmer Atem seine Haut streifte. Allzu gern hätte er das Gesicht in ihrem nach Sommerblumen duftenden Haar geborgen.

Er wagte nicht, sie noch länger anzusehen, zu verführerisch war der Anblick des Ansatzes ihrer wunderschönen Brüste unter dem leicht verrutschten Ausschnitt.

Doch was für verrückte Gedanken. Er biss die Zähne zusammen, presste sie etwas fester an sich und ging zur Treppe.

Lydia merkte, wie angespannt er war, hatte jedoch keine Zeit, darüber nachzudenken, warum, denn plötzlich wurde die breite Tür geöffnet, und drei Kinder liefen ihnen entgegen. Unvermittelt blieben sie stehen.

Massimo Das älteste der Kinder, ein hoch aufgeschossenes Mädchen mit dunklem gelocktem Haar und genauso schönen braunen Augen wie sein Vater, blickte entsetzt von einem zum anderen. „Papà?“, wiederholte es.

„Sie sollten Ihren Kindern erklären, dass ich nicht Ihre neue Frau bin“, riet Lydia ihm spöttisch.

Er war jedoch meilenweit weg und stellte sich vor, dass er diese schöne Frau über die Schwelle seines Hauses trug und ihr in seinem Zimmer langsam das Brautkleid abstreifte.

„Massimo? Ihre Kinder erwarten eine Erklärung“, versuchte sie es noch einmal.

„Es ist alles in Ordnung, Francesca“, versicherte er seiner Tochter rasch auf Englisch. „Das ist Lydia. Ich habe sie heute auf dem Flughafen kennengelernt. Da sie einen Unfall hatte, muss sie sich einige Tage schonen. Deshalb habe ich sie mitgebracht. Begrüß sie bitte.“

Seine Tochter runzelte die Stirn und fragte etwas auf Italienisch. Er schüttelte den Kopf. „Nein, wir sind nicht verheiratet. Und nun begrüß Lydia bitte, cara.“

Francesca entspannte sich etwas. „Hallo, Lydia“, sagte sie auf Englisch und deutete ein Lächeln an.

Lydia fühlte sich ziemlich unbehaglich auf Massimos Armen, aber sie konnte es nicht ändern und lächelte auch. „Hallo, Francesca. Danke, dass du Englisch mit mir sprichst.“

„Das ist okay. Mit Tante Isabelle sprechen wir auch immer Englisch. Das sind Lavinia und Antonino“, stellte Francesca ihre beiden Geschwister vor.

Lavinia hatte das gleiche dunkle gelockte Haar wie ihre größere Schwester, doch in ihren Augen blitzte es mutwillig auf. Antonino, der Jüngste, hatte sich an Francesca gelehnt und scharrte verlegen mit dem Fuß im Kies herum.

Der arme Kleine, er hat seine Mutter verloren, als er noch ein Baby war, dachte Lydia voller Mitgefühl. Die Kinder taten ihr unendlich leid, aber sie zwang sich zu lächeln. „Hallo, Lavinia, hallo, Antonino, ich freue mich, euch kennenzulernen.“

Die beiden antworteten höflich, und Lavinia sah sie so aufmerksam an, als hätte sie tausend Fragen.

„Und das ist Carlotta“, ertönte in dem Moment Massimos Stimme.

Lydia hob den Kopf und begegnete dem gütigen Blick der älteren Frau. Er berichtete ihr auf Italienisch, was geschehen war, weshalb Lydia das lächerliche Brautkleid trug und dass sie die Hochzeitsfeier für ihre Schwester dann doch nicht gewonnen hatte. Schließlich schüttelte Carlotta den Kopf.

„Das tut mir leid für Sie“, wandte sie sich an Lydia. „Ich helfe Ihnen, sich umzuziehen. Dann fühlen Sie sich wieder etwas wohler.“

„Ja, gern“, erwiderte Lydia, während er sie noch etwas fester an seine Brust presste und Carlotta folgte, die stöhnend und keuchend die Treppe hinaufging.

Seine Kinder liefen um ihn herum und wollten alles Mögliche wissen. Er antwortete ihnen geduldig. Sie hingen offenbar sehr an ihm, er war der Mittelpunkt ihrer Welt, und sie hatten ihn sehr vermisst. Und dann war er auch noch wegen ihres dummen Unfalls stundenlang aufgehalten worden und hatte die Kinder warten lassen. Wieder fühlte Lydia sich schuldig und wünschte, sie hätte besser aufgepasst. Doch als Carlotta vor ihnen her durch eine andere Tür ins Freie eilte, konzentrierte sie sich auf die Umgebung.

Sie befanden sich in einem Säulengang, der den Innenhof umgab. Im weichen Licht der untergehenden Sonne entdeckte sie in dem Hof noch mehr Terrakottatöpfe mit Olivenbäumchen, und auf den niedrigen Mauern, die den Säulengang zum Hof hin abgrenzten, standen Töpfe mit in verschiedenen Farben blühenden Geranien.

Aber nicht nur das erregte ihre Aufmerksamkeit, sondern auch die Fresken, die die Wände verzierten und ihr fast den Atem raubten.

Doch Massimo ließ ihr keine Zeit, das alles gebührend zu bewundern. Er eilte mit ihr durch eine der vielen Türen, dann über einen Flur und setzte sie schließlich im Gästezimmer behutsam auf das Bett.

„Ich bin mit den Kindern in der Küche“, erklärte er dann und deutete ein Lächeln an, während er sich aufrichtete. „Sobald Sie fertig sind, wird Carlotta mich informieren, und ich hole Sie ab.“

„Vielen Dank.“ Lydia fühlte sich seltsam verloren, als er den Raum verließ und die Haushälterin die Tür hinter ihm schloss.

„Ich bereite Ihnen rasch das Bad vor“, verkündete Carlotta und ging ihr voraus in das angrenzende luxuriös ausgestattete Badezimmer mit den hellen Fliesen aus Travertin-Marmor. Beim Anblick der riesigen Badewanne konnte Lydia es kaum erwarten, hineinzusteigen und sich in das warme Wasser sinken zu lassen. Den bandagierten Knöchel konnte sie hochlegen.

Sie bedankte sich und hatte es plötzlich sehr eilig, endlich das Brautkleid auszuziehen. Doch der Reißverschluss klemmte.

„Lassen Sie mich das machen“, bot Carlotta sogleich an und öffnete ihn mühelos.

Lydia hielt das Kleid fest, das ihr über die Schultern zu gleiten drohte. „Ich komme jetzt allein zurecht, vielen Dank“, sagte sie lächelnd.

„Gut, dann hole ich Ihre Bordtasche.“ Die Haushälterin ging hinaus.

Lydia kehrte zurück ins Schlafzimmer, um sich noch einmal in dem Raum umzusehen, während das Wasser in die Wanne lief. Sie betrachtete den hellen weichen Teppich, das breite Bett mit der edlen Bettwäsche und den hohen Terrassentüren.

Mühsam humpelte sie zum Fenster und presste das Gesicht an die Scheibe. Sogar in der Dämmerung war der Ausblick, der sich ihr bot, einfach überwältigend: Unter ihr glitzerten und funkelten die Lichter der verstreut liegenden Häuser und der kleinen Ortschaften. Wie faszinierend würde es erst bei Tageslicht sein?

Dann betrachtete sie den gefliesten Fußboden und die dunklen Deckenbalken. Robust, schlicht und gemütlich, so ließ es sich beschreiben, wie sie fand, was eigentlich angesichts der Größe des Gebäudes und der prachtvollen Eingangshalle gar nicht zu erwarten gewesen war. Ihr kam es jetzt eher wie ein riesiges Bauernhaus vor und nicht mehr wie eine Festung. Und auch kaum noch bedrohlich.

Erleichtert streifte sie das schreckliche Kleid ab, rollte es zu einem Bündel zusammen und hinkte ins Badezimmer.

3. KAPITEL

Was für ein Lärm, dachte Lydia und hob den Kopf, während ihr das Wasser aus dem Haar tropfte.

„Signorina? Signorina?“, rief Carlotta leicht verzweifelt und rüttelte an der Türklinke.

„Was ist passiert?“ Sie richtete sich so hastig auf, dass das Wasser aus der Wanne spritzte.

„Oh Signorina, ist alles in Ordnung?“

Lydia schloss sekundenlang die Augen und seufzte. „Ja, natürlich. Ich bin gleich fertig.“

„Ich helfe Ihnen gern.“

„Nein, danke, das ist wirklich nicht nötig.“

„Aber Massimo hat mich gebeten, Sie nicht allein zu lassen.“ Aus irgendeinem Grund schien Carlotta besorgt zu sein, sodass sie ihr noch einmal versicherte, es gebe keine Probleme.

„Gut.“ Die ältere Frau zögerte immer noch. „Ich habe Ihnen die Bordtasche gebracht. Rufen Sie mich bitte, wenn Sie Hilfe brauchen.“

„Das mache ich. Danke.“

„Gern.“

Lydia hörte, wie die Schlafzimmertür geschlossen wurde, und lehnte sich wieder zurück. Carlotta meinte es natürlich gut, doch sie wollte momentan einfach nur allein sein. Ihr Kopf und der Knöchel schmerzten, sie hatte blaue Flecken am ganzen Körper, und sie musste unbedingt ihre Schwester anrufen.

In dem Augenblick läutete ihr Handy, so als hätte sie es mit ihren Gedanken ausgelöst, und ihr war sogleich klar, dass es nur Jen sein konnte. Wahrscheinlich hatte sie die schlechte Nachricht schon gehört.

Mühsam stieg Lydia aus der Badewanne, hüllte sich in das größte Badetuch, das sie jemals in der Hand gehabt hatte, und humpelte zum Bett, um ihr Handy aus der Bordtasche zu ziehen und ihre Schwester zurückzurufen.

„Lydia, man hat mich informiert, dass du einen Unfall hattest. Ich versuche schon stundenlang, dich zu erreichen, aber du hast nicht geantwortet. Bist du verletzt? Wir alle hier sind schon ganz verzweifelt und total beunruhigt.“

„Entschuldige, Jen, ich lag gerade in der Badewanne. Mir geht es gut, ich bin nur beim Aussteigen aus dem Flieger auf der Treppe ausgerutscht und habe mir den Knöchel verstaucht. Es ist nichts Ernstes.“ Lydia fügte hinzu, dass Jo als Erste im Hotel angekommen war. „Es tut mir leid, wir haben alles versucht, aber auch ohne den Unfall hätten wir vermutlich nicht gewonnen.“

„Ach, mach dir deswegen keine Gedanken, es ist gar nicht so wichtig“, erwiderte Jen. „Hauptsache, du bist bald wieder gesund. Dass es nicht geklappt hat, ist nicht deine Schuld.“

Warum betonen das eigentlich alle? überlegte Lydia. Natürlich war es ihre Schuld. Nur wegen ihrer Unachtsamkeit konnten Jen und Andy nun nicht ihre Traumhochzeit feiern. Damit ihre Schwester sich keine Vorwürfe machte, verschwieg sie ihr die Kopfverletzung und behauptete, es ginge ihr schon wieder viel besser.

„Ich habe mich entschlossen, noch einige Tage länger hierzubleiben, und mir auf einer Art Farm ein Zimmer mit Frühstück genommen“, fügte sie hinzu und redete sich ein, es wäre ja nicht ganz gelogen. Massimo hatte ja selbst erklärt, man könnte ihn als Farmer bezeichnen.

„Das ist eine gute Idee“, erwiderte Jen so wehmütig, dass Lydia sich schon wieder schuldig fühlte.

Sie war so nahe daran gewesen zu gewinnen. Die Enttäuschung ihrer Schwester, die sie so tapfer zu verbergen versuchte, brach ihr fast das Herz, und sie beendete das Gespräch. Dann nahm sie ihre Sachen aus der Bordtasche, zog ihr T-Shirt an und streifte die Jeans vorsichtig über den verstauchten Knöchel. In dem Outfit fühlte sie sich schon wieder viel wohler. Sie blickte sich nach dem schrecklichen Brautkleid um, aber es war verschwunden. Wahrscheinlich hatte Carlotta es mitgenommen.

Schließlich schlüpfte sie noch in die bequemen Leinenschuhe, durchquerte langsam den Raum und machte sich auf die Suche nach der Küche, wo Massimo sich mit den Kindern aufhielt, wie er gesagt hatte. Aber über den Flur gelangte sie nur in ein kleines Wohnzimmer und ein Arbeitszimmer. Deshalb öffnete sie die Tür am Ende des Flurs und ging hinaus in den wunderschönen Innenhof. Vielleicht fand sie jemanden, der ihr weiterhalf. Es war jedoch weit und breit kein Mensch zu sehen.

Was nun? Sie setzte sich auf die niedrige Mauer um den Brunnen in der Mitte des Hofes herum und betrachtete die wunderschönen Fresken in den Säulengängen, während sie überlegte, was sie machen sollte. In dem Moment wurde eine der vielen Türen geöffnet, und Massimo erschien. Offenbar hatte er geduscht, denn sein Haar war noch feucht. Und statt des eleganten Anzugs trug er Jeans und ein weißes Leinenhemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte und das seine gebräunte Haut betonte.

Als er sie entdeckte und lächelnd auf sie zukam, bekam sie Herzklopfen. Was für eine kindische Reaktion, schalt sie sich ärgerlich.

„Lydia, ich wollte gerade zu Ihnen. Es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen. Wie geht es Ihnen? Schmerzt Ihr Kopf noch?“

„Nein, es geht mir schon wieder viel besser.“ Sie lächelte reumütig. „Ich fand den Weg nicht und wollte nicht so unhöflich sein, eine Tür nach der anderen zu öffnen.“

„Sie hätten doch rufen können. Das hätte ich bestimmt gehört.“

„Ich bin es nicht gewöhnt, um Hilfe zu rufen.“ Sie verzog spöttisch die Lippen.

Lachend stellte er sich neben sie. „Jetzt darf ich Ihnen aber helfen, oder?“ Er bot ihr den Arm. „Halten Sie sich an mir fest, es ist nicht weit. Oder soll ich Sie tragen?“

„Nein, das ist nicht nötig“, lehnte sie hastig ab. Sich noch einmal an seine muskulöse Brust zu schmiegen und sich in seinen starken Arm sicher und geborgen zu fühlen wäre eindeutig zu viel für heute. „Ich möchte Sie nicht überfordern.“

Wieder musste er lachen. „Das schaffen Sie sowieso nicht. Haben Sie alles, was Sie brauchen? Gefällt Ihnen das Zimmer?“

Als sie sich bei ihm einhakte, nahm sie seinen Duft nach Seife und Aftershave wahr und erbebte insgeheim. Rasch zwang sie sich, sich auf das Gespräch zu konzentrieren.

„Es ist wunderschön, und ich vermisse nichts. Das Bad habe ich genossen. Sie können sich nicht vorstellen, welche Erleichterung es ist, nicht mehr in dem grässlichen Kleid herumzulaufen. Hoffentlich hat Carlotta es nicht verbrannt oder auf andere Weise entsorgt, das möchte ich gern selbst tun.“

Sein Lachen klang herzlich und schien rund um den Hof wie ein Echo widerzuhallen, während er sie prüfend betrachtete. „Ich muss gestehen, es war nicht gerade vorteilhaft und wurde Ihnen nicht gerecht“, sagte er sanft. In seinen Augen blitzte es rätselhaft auf. Aber vielleicht hatte sie sich auch getäuscht, denn als er ihr die Tür aufhielt und sie in die große lichtdurchflutete Küche führte, war es wieder verschwunden.

Carlotta stand am Herd, und die Kinder saßen an dem langen Tisch in der Mitte des Raums. Antonino kniete auf dem Stuhl und beugte sich zu Lavinia hinüber, die ihn ärgerlich wegstieß. Ehe der Streit eskalieren konnte, griff Massimo ein und trennte die beiden Kampfhähne.

Unterdessen bot die Haushälterin Lydia einen Stuhl an.

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen so viel Arbeit mache.“ Sie sah Carlotta dankbar an.

„Das ist doch nicht der Rede wert. Setzen Sie sich, das Essen ist fertig.“

„Danke. Es duftet verlockend.“

„Sobald Sie etwas gegessen haben, geht es Ihnen bestimmt besser. Setzen Sie sich bitte“, wiederholte sie.

Lydia setzte sich Francesca gegenüber an den Tisch, der für fünf Personen gedeckt war. Am Ende des Tisches nahm Massimo Platz, sodass er die beiden jüngeren Kinder unter Kontrolle hatte.

Sie waren quengelig und aufsässig, völlig übermüdet und hatten ihren Vater vermisst, wie Lydia vermutete. Francesca hingegen beobachtete sie argwöhnisch.

„Es tut mir so leid, dass ich euren Vater so lange aufgehalten habe.“ Lydia lächelte das Mädchen wie um Entschuldigung bittend an. „Er ist sehr hilfsbereit.“

„Das stimmt, er hilft allen. Geht es Ihnen besser?“

„Ja, danke. Ich habe nur noch leichte Kopfschmerzen, das ist nicht so schlimm. Ich habe sekundenlang nicht aufgepasst, bin über den Saum des Brautkleids gestolpert und die Treppe hinunter auf den Kopf gefallen.“

Und dann geschah etwas, womit sie niemals gerechnet hätte: Francesca wurde ganz blass, und in ihrem Gesicht spiegelten sich Entsetzen und Schmerz. „Entschuldigung“, flüsterte sie, ehe sie aufstand und aus der Küche lief. Ihr Vater folgte ihr so hastig, dass der Stuhl hinter ihm krachend auf den Boden fiel.

Schockiert und mit unglücklicher Miene drehte Lydia sich zu Carlotta um, die sich die Schürze vor das Gesicht hielt.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Lydia so leise, dass die beiden Kleinen es nicht verstehen konnten.

Die Haushälterin schüttelte den Kopf und stellte die Pfanne in die Spüle. „Nichts, nichts. Setz dich hin, Antonino.“ Sie hob den Stuhl auf, den Massimo in der Eile umgestoßen hatte.

Der Junge gehorchte, und Lavinia legte das Buch weg, das er ihr hatte wegnehmen wollen, während Carlotta ihnen das Essen servierte.

Es gab frisches Brot mit Tomaten und Olivenöl und ein Nudelgericht mit einer hausgemachten Soße. Es schmeckte genauso köstlich, wie es duftete, aber Lydia bekam kaum einen Bissen hinunter. Was auch immer sie gesagt oder getan hatte, die beiden Kleinen hatten es offenbar nicht mitbekommen. Jedenfalls hatten sie sich den Appetit nicht verderben lassen.

Lydia erinnerte sich an Massimos Reaktion, als sie auf dem Flughafen die Treppe hinuntergestürzt war. Er war auch blass gewesen, als er neben ihr kniete, und im Krankenhaus hatte er angespannt die Tafel mit der Beschreibung verschiedener Kopfverletzungen studiert, ohne zu ahnen, dass sie es bemerkte.

Was hatte das alles zu bedeuten? Sie stand auf und ging langsam hinüber zu Carlotta, die die Töpfe reinigte. „Ich kann beim besten Willen nichts essen, Carlotta. Was habe ich falsch gemacht?“, flüsterte sie.

Die ältere Frau blickte sie freundlich an, schüttelte aber wieder nur den Kopf und biss sich auf die Lippe, ehe sie die Töpfe auf die Abtropfablage stellte.

Fast schon automatisch nahm Lydia sich das Geschirrtuch und fing an abzutrocknen, während sie sich mit der Hüfte an die Spüle lehnte und das Gewicht auf das gesunde Bein verlagerte.

Schließlich bekamen die Kinder noch ihren Nachtisch. Als sie fertig waren, forderte die Haushälterin Lydia auf, in der Küche auf Massimos Rückkehr zu warten, und brachte die Kinder ins Bett. Als ihre Schritte auf dem Flur verklangen und alles still war, setzte Lydia sich wieder an den Tisch und überlegte erneut, was sie falsch gemacht hatte. Aber sie fand keine Erklärung.

Schließlich kam Carlotta zurück und stellte Francescas Essen in die Mikrowelle, um es aufzuwärmen.

„Kommt sie wieder?“, fragte Lydia. „Ich möchte mich bei ihr entschuldigen.“

„Das ist nicht nötig, Signorina. Ihr Vater kümmert sich schon um sie“, antwortete die Haushälterin, nahm den Teller aus der Mikrowelle und verließ die Küche.

Lydia stocherte in dem mittlerweile kalten Essen herum, nahm ein Stück Brot und schob es geistesabwesend auf dem Teller hin und her. Womit hatte sie eine solche Reaktion bei dem Mädchen ausgelöst?

Sie war völlig ratlos, wollte jedoch erst in ihr Zimmer gehen, wenn sie wusste, woran sie war. Um sich die Zeit zu vertreiben, beschloss sie, das Geschirr, das herumstand, in die Maschine zu räumen.

Ich bin ihr eine Erklärung schuldig und muss mich bei ihr entschuldigen, überlegte Massimo, der am Bett seiner Tochter saß. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, war sie endlich eingeschlafen.

Es behagte ihm gar nicht, mit Lydia zu reden und alles, was damals passiert war, wieder aufzuwärmen. Er hatte jedoch keine andere Wahl. Also küsste er Francesca leicht auf die Stirn und richtete sich auf. Sie schlief jetzt tief und fest, er konnte sie unbesorgt allein lassen.

Mit einer Tasse Kaffee saß Lydia mit Carlotta in der Küche, die blitzsauber war. Erstaunt blickte er die beiden Frauen an und sah sich in dem Raum um. Bis vor wenigen Minuten war die Haushälterin mit den beiden Kleinen beschäftigt gewesen, und in der Küche hatte vorhin das reinste Chaos geherrscht.

„Sie können für heute Schluss machen, Carlotta“, sagte er auf Italienisch. „Sie wirken müde und erschöpft, Roberto macht sich sicher Sorgen um Sie.“

Die ältere Frau nickte und stand langsam auf. Dann tätschelte sie Lydia freundlich die Schulter, ehe sie in ihrer Sprache antwortete: „Sie haben recht, ich bin müde, aber ich wollte die junge Frau nicht allein lassen. Sie müssen mit ihr reden, Massimo. Sie ist ein ganz lieber Mensch und sehr unglücklich und beunruhigt.“

Er seufzte. „Ja, das ist mir klar. Haben Sie es ihr schon erklärt?“

„Nein, das ist Ihre Sache. Gehen Sie bitte behutsam mit ihr um – und auch mit sich selbst“, riet sie ihm und verließ die Küche.

Lydia sah ihn fragend an. „Was hat sie gesagt?“

„Sie wären ein ganz lieber Mensch. Sie hat mir geraten, behutsam mit Ihnen umzugehen“, erwiderte er und deutete ein Lächeln an.

Ihr stiegen Tränen in die Augen, und sie wandte sich rasch ab. „Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, aber es tut mir sehr leid.“

Auf einmal hatte er ein schlechtes Gewissen und bereute, dass er sie nicht gewarnt hatte. Unbehaglich fuhr er sich mit der Hand durchs Haar.

„Nicht Sie müssen sich entschuldigen, sondern ich muss Sie um Verzeihung bitten. Normalerweise behandeln wir unsere Gäste nicht so unhöflich. Aber Francesca war völlig durcheinander.“

„Das habe ich gemerkt, weiß jedoch nicht, warum. Es war offenbar meine Schuld.“ Sie blickte ihn unglücklich an.

Er schenkte sich ein Glas Wein ein. „Darf ich Ihnen auch eins anbieten?“

„Gern. Ist es Ihr eigener?“

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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