Romana Extra Band 132

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STERNSCHNUPPEN ÜBER DER CÔTE D’AZUR von ALICIA LEONARDI
Promi-Hochzeit in Frankreich! Als Reporterin Holly an die Côte dAzur geschickt wird, erkennt sie ihre Chance. Doch dann kreuzt der skandalumwitterte Julien Chartier ihren Weg, und plötzlich knistert es heiß. Bald muss Holly sich entscheiden: ihre Karriere oder Julien?

HEIMLICHE SEHNSUCHT NACH DEM BOSS von KATE SUMMER
Aufgeregt fliegt die junge Architektin Lisa nach Kroatien. Auf einer traumhaften Insel soll sie ein ökologisches Bauprojekt betreuen. Zu spät erkennt sie: Ihr neuer Boss, der attraktive Immobilieninvestor Nikos Tsarakis, hat geheime Pläne! Mit dem Projekt – und mit ihr … (Miniserie "Die Tsarakis-Brüder" Teil 2)

DIE PRINZESSIN AUF DER VESPA von BECKY WICKS
Prinzessin Adrienne weiß, dass sie einen Mann aus dem Hochadel heiraten muss. Doch zuvor will sie ihre medizinische Forschung in Neapel vorantreiben. Wo sie sich in den italienischen Arzt Franco verliebt! Charismatisch und leidenschaftlich ist er – aber nicht standesgemäß …


  • Erscheinungstag 11.04.2023
  • Bandnummer 132
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517454
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Alicia Leonardi, Kate Summer, Becky Wicks

ROMANA EXTRA BAND 132

1. KAPITEL

Jetzt reicht es aber! Holly schlug auf das Lenkrad. Sie kam in ihrem bordeauxroten Mietwagen nur noch im Schneckentempo voran, und im Grunde war das schon lebensgefährlich, denn sie konnte überhaupt nicht sehen, wohin sie fuhr. Die Scheibenwischer waren ausgefallen, was kein großes Drama gewesen wäre, wenn es genieselt hätte, doch was da vom Himmel kam, war nicht mehr normal. Regelrechte Sturzbäche rauschten herab, ach was, das war total untertrieben, es war die Sintflut. Noch dazu war es gefühlt stockdunkel.

Mit einem kurzen Blick auf die Digitalanzeige am Armaturenbrett stellte sie fest, dass es auf einundzwanzig Uhr zuging. Vor ihrer Abreise aus London hatte sie im Hôtel Balzac angerufen und angekündigt, sie würde gegen acht Uhr abends ankommen. Und nun irrte sie gut fünf Kilometer vor ihrem Ziel durch ein heftiges Unwetter. Wieder schlug Holly genervt auf das Lenkrad. Dabei erwischte sie versehentlich die Hupe und erschrak.

Wieso machte Frankreich sich nicht die Mühe, sie mit strahlendem Sonnenschein zu empfangen? Es war immerhin Anfang Juli, ein warmer Sommertag – war das etwa zu viel verlangt? Wie gerne hätte sie die unfassbar schöne Landschaft genossen. Sie kannte die Gegend rund um Théoule-sur-Mer seit vielen Jahren. Es schien ihr jedes Mal, als würde sie eine geheimnisvolle Märchenwelt betreten. Man konnte sich kaum vorstellen, dass das weltbekannte, trubelige Cannes mit all seinen Reichen und Schönen nur wenige Kilometer entfernt lag.

Vom üblichen Zauber war gerade jedoch null Komma null übrig. Selbst das sonst im Abendlicht rot glühende Massif de l’Esterel, ein besonders magischer Gebirgszug, wirkte tiefschwarz übermalt. Auch das nahe Mittelmeer war wie von der Bildfläche verschwunden. An manchen Tagen verströmte es seinen zarten und zugleich betörenden Duft kilometerweit, je nachdem, wie der Wind stand. Holly konnte sich lebhaft daran erinnern. Einmal, darauf würde sie heute noch wetten, hatte es nach Marzipan gerochen.

Der Regen prasselte weiterhin unerbittlich auf das Wagendach, als wäre es fünf Minuten vorm Weltuntergang. Mamma mia! Immerhin musste man das auch erst mal schaffen, sich ausgerechnet den unattraktivsten Tag des ganzen Jahres auszusuchen, um mitten in der Pampa herumzukurven und sich dabei blind wie ein Maulwurf zu fühlen.

Holly, ich gratuliere dir.

Da Aufgeben nicht ihr Ding war, bemühte sie sich trotzdem, weiter voranzukommen. Sie beugte sich so nah an die Windschutzscheibe, dass das Lenkrad gegen ihre Brüste drückte. Konzentriere dich, Holly!

Um ihre Augen schärfer zu stellen, verengte sie sie zu schmalen Schlitzen. Dass sie sich dabei fest auf die Lippen biss, bemerkte sie erst, als es wehtat. Du schaffst das, Holly!

Es half jedoch nichts, wenn sie nicht im Graben landen wollte, musste sie rechts ranfahren und das Unwetter abwarten oder den Pannendienst anrufen oder was auch immer. Holly hielt Ausschau nach etwas, das wie eine Parkbucht aussah. Doch das Einzige, was sie erkennen konnte, waren die weißen Leitpfosten am Straßenrand. Sie orientierte sich daran und schlug langsam nach rechts ein, abseitig zur Straße, wobei sie die Geschwindigkeit weiter drosselte und schließlich bremste. Dann stellte sie den Motor ab und die Warnblinkanlage an. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hier stand, aber auf jeden Fall stand sie erst mal.

Seufzend strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus ihrem locker geflochtenen Zopf gelöst hatte.

„Toll“, murmelte sie ironisch, „ganz, ganz toll.“

Warum lief nur alles schief? Bereits heute Morgen war ihr eine Parfumflasche aus der Hand gefallen und auf dem Kachelboden ihres Badezimmers gelandet. In Hunderte Teile zersplittert. Und am Flughafen war der altersschwache Henkel ihrer Lieblingshandtasche abgerissen. Nicht zu vergessen, der völlig durchgeschwitzte Passagier, der neben ihr gesessen und ungefragt einen Vortrag über das Geheimnis der richtigen Wurftechnik beim Darts genuschelt hatte. Kurz: Das war echt nicht ihr Tag!

Was nun?

Holly starrte ins Dunkel. Sie sah keine Lichter, keine Häuser. Lebte in dieser verlassenen Gegend überhaupt jemand, den sie um Hilfe bitten konnte? Seit mehreren Kilometern war ihr außerdem nicht ein einziges Auto entgegengekommen. Ein bisschen unheimlich war das schon. Das war jedoch nicht gerade der beste Zeitpunkt für Gruselfantasien. Schnell lenkte sie ihre Gedanken woandershin. Tu was!

Sie war in der Lage, Reifen und Öl selbst zu wechseln, aber das war es auch. Bei kaputten Scheibenwischern war sie eindeutig die falsche Ansprechpartnerin. Das musste definitiv ein Fachmann in Ordnung bringen. Im Grunde stand ihr ein anderer Mietwagen zu. Einer, der funktionierte.

Holly entschloss sich, die Sache sofort zu klären. Die Nummer von der Autovermietung ist wo noch mal? Richtig, im Handschuhfach. Sie kramte nach dem Zettel und beugte sich über ihre Handtasche auf dem Beifahrersitz, um ihr Smartphone herauszufischen. Mit einem Druck auf einen kleinen Knopf über dem Rückspiegel schaltete sie das Licht im Innenraum des Fahrzeugs an. Sie wollte gerade die Ziffernfolge eintippen, die auf dem Zettel notiert war, als das Handy seinen Geist aufgab. Der Akku war leer.

„Schlechter Scherz“, entfuhr es ihr. Wütend warf sie ihr Smartphone zurück in die Handtasche. Es half natürlich nichts, durchzudrehen. Jetzt bloß die Nerven bewahren.

Wenn sie wenigstens Mitchell Cooper informieren könnte. Ihr Kollege, der beauftragt war, bei der morgigen Hochzeit die Fotos zu machen, wartete vermutlich schon im Hotel auf sie. Doch offenbar konnte sie gerade nichts anderes tun, als abzuwarten, bis dieser Jahrhundertregen vorbei war. Die Frage war nur, wann genau damit zu rechnen war. Wenn es nach ihr ginge, dann möglichst innerhalb der nächsten fünf Minuten. Geduld war nicht unbedingt ihre Stärke.

Sie zog das Haargummi aus ihrem Zopf und streifte es über ihr Handgelenk. Wie gerne hätte sie jetzt ein Glas Champagner. Oder ein schönes Schaumbad. Oder am liebsten beides zusammen. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich noch tiefer in den Sitz hinein und atmete tief durch.

Hätte ich doch diesen Auftrag gar nicht erst angenommen!

Nein, so durfte sie nicht denken. Schließlich war das ihre große Chance, endlich zur stellvertretenden Chefredakteurin aufzusteigen. Darauf hoffte sie schon seit mehreren Monaten. Und nicht nur sie.

Juliette, ihre erbitterte Lieblingskonkurrentin, wollte ihr den Posten streitig machen. Die war natürlich sofort grün vor Neid angelaufen, als ihre gemeinsame Chefin verkündet hatte: „Holly, Darling, großer Auftrag für dich! Scarlett York heiratet ihren französischen Milliardär. Das wird die Hochzeit des Jahres! Gefeiert wird mit der Promi-A-Liga in einer umwerfenden Villa an der Côte d’Azur, ach, was sag ich, Villa, es ist beinah ein Schloss. Und du wirst exklusiv für Daily Glamour darüber berichten.“

Während sie innerlich vor Freude fast geplatzt wäre, spürte sie, dass Juliette ihr am liebsten an die Gurgel gegangen wäre. Es kann eben nur eine geben, hätte Holly in diesem Moment gerne gesagt, doch Häme war nicht ihr Stil.

Dass sie exklusiv berichten durfte, war nicht verwunderlich. Scarlett York und ihre Chefin waren seit zig Jahren beste Freundinnen. Holly konnte weiß Gott nicht verstehen, was an Scarlett York so umwerfend sein sollte, auch wenn viele für sie schwärmten.

Aus ihrer Sicht war Scarlett eine eher unterkühlte Frau und eine der nervigsten Promis der Londoner Society. Sie hatte mehr mit Skandalen und mit ihren jungen Lovern Furore gemacht als mit herausragenden Filmrollen. Trotzdem schienen ihre Fans sie für die Catherine Deneuve Großbritanniens zu halten. Aber es war schließlich nicht ihre Aufgabe, Scarlett York zu mögen, sondern über sie zu berichten.

Scarletts Anhänger würden dahinschmelzen bei einer hochromantischen Reportage über die Eheschließung. Dass die schillernde Schauspielerin seit Monaten den Bau-Tycoon Victor Chartier datete, hatte die gesamte Klatschpresse überrascht. Schließlich war er gut fünfzehn Jahre älter als sie und passte daher nicht in Scarletts übliches Beuteschema. Vielleicht war sie ja endlich beim richtigen Mann angekommen. Bereits vor wenigen Tagen hatten die Gazetten prophetisch getitelt: „Läuten bald die Hochzeitsglocken?“

Das Trommeln des Regens wirkte einschläfernd. Hollys Glieder wurden immer schwerer, sie merkte, dass sie müde war. Nach und nach glitt sie in eine Art Dämmerzustand. Gerade als sie das Gefühl hatte, Schlaf würde sich wie eine wärmende Decke auf sie legen, fuhr sie hoch. Die Geräusche eines Automotors! Sie riss die Augen auf. Von hinten strahlte Scheinwerferlicht sie an. Ein langes Hupen ertönte, dem ein weiteres und schließlich ein drittes folgte. Holly sah in den Rückspiegel, dann drehte sie ruckartig den Kopf herum. Wie konnte man nur so nervtötend sein. Hatte sie irgendwas falsch gemacht?

Noch während sie grübelte, was hier zum Teufel eigentlich los war, sah sie, wie jemand aus dem Auto ausstieg. Eine dunkle, große Gestalt bewegte sich auf sie zu. Blöd, dass ihr ausgerechnet jetzt Szenen aus Horrorfilmen einfielen, in denen Zombies über Frauen herfielen, die sich in verlassenen Gegenden verlaufen hatten. Gerade als sie alle Autotüren automatisch verriegeln wollte, klopfte der Unbekannte an die Fensterscheibe.

Holly erkannte nur eine dunkle Jacke und eine Kapuze. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich unbehaglich fühlte. Am liebsten hätte sie so getan, als wäre sie gar nicht da. Zugegebenermaßen wäre das allerdings ziemlich albern. Das hier war schließlich kein Horrorfilm. Also kurbelte sie das Fenster einige Zentimeter herunter.

Madame, es ist sicher ein Versehen, aber Sie parken die Einfahrt zu meinem Haus zu“, sprach der Mann sie auf Französisch an. Seine Stimme war zwar angenehm, sein Tonfall dagegen schneidend. „Sie haben auf mein Hupen ja leider nicht reagiert“, setzte er nach.

Es war mehr als deutlich, dass er sich zwingen musste, höflich zu bleiben.

Holly konnte das Gesicht des Mannes kaum erkennen, er hatte den Kragen seiner Regenjacke fast bis zur Nase hochgezogen.

Pardon, Monsieur“, entschuldigte sie sich schnell und erklärte ihm die Lage. Dabei stellte sie zu ihrer Zufriedenheit fest, dass sie die französische Sprache immer noch gut beherrschte. Nur das Wort für „Scheibenwischer“ fiel ihr nicht ein, also deutete sie Richtung Windschutzscheibe. Der Mann interessierte sich jedoch nicht für die Details.

„Fahren Sie einfach ein paar Meter weiter vor, das wird ja nicht so schwer sein“, unterbrach er sie knurrend.

Holly runzelte die Stirn. Sie hätte sich ein bisschen Verständnis für ihre Lage gewünscht. Wo war der Charme der Franzosen, von dem die ganze Welt sprach?

„Keine Sorge, Monsieur“, antwortete sie barsch, „ich werde die Einfahrt nicht weiter blockieren.“

Ohne seine Antwort abzuwarten, ließ sie das Fenster hochfahren und drehte den Zündschlüssel um. Die Einfahrt, wie der Mann sie nannte, war nun wirklich schwer zu erkennen. Kein Tor, kein Schild, das darauf hinwies. Vielmehr handelte es sich um die Zufahrt zu einem Feldweg. Sie war vorhin wohl zu gestresst gewesen, um wahrzunehmen, dass sie ihn blockierte.

Kaum lief der Motor, stellte sie ihn abrupt wieder ab.

Der Mann hat sicher ein Handy! Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht. Wenn er sie telefonieren ließ, könnte sie ihren Kollegen Mitchell verständigen. Und der würde sie aus diesem Schlamassel herausholen.

Kurzentschlossen band Holly ihr hüftlanges Haar nach oben und setzte sich die smaragdgrüne Schiebermütze auf, die auf dem Beifahrersitz lag. Dann schlüpfte sie schnell in ihren lilafarbenen Sommeranorak, der zwar keine Kapuze hatte, aber zum Glück wasserabweisend war. Sie gab sich einen Ruck, stieg aus und lief die wenigen Schritte durch den Regen. Da der Wind heftig war, peitschte der ihr ins Gesicht.

Nun war sie es, die an die Autoscheibe klopfte. Der Mann stieß die Tür auf – ohne jede Rücksicht! – und stieg ebenfalls aus. Holly reagierte blitzschnell und konnte gerade noch einen Satz zurück machen, um einen Zusammenprall zu vermeiden. Sie wollte dem Fremden, der jetzt vor ihr stand, einen strengen Blick zuwerfen, doch er war ein gutes Stück größer als sie, daher musste sie den Kopf tief in den Nacken legen, um ihm in die Augen schauen zu können. Augen, die sie zornig anfunkelten.

Ihre Wut war plötzlich wie weggeblasen, denn sein Gesicht, das nun deutlicher zu sehen war, zog sie sofort in den Bann. Auch wenn sie sich vielleicht dagegen hätte wehren sollen, sie hatte keine Chance.

Was für ein attraktiver Mann! Seine Gesichtszüge waren markant an den richtigen Stellen, aber um die Augen und um den Mund hatte er weiche Linien wie bei jemandem, der sich gut in andere einzufühlen vermochte. Sein Haar war zwar immer noch weitestgehend unter der Kapuze verborgen, trotzdem erkannte Holly, dass es dunkel war und ihm etwa bis zur Schulter reichte. Er sah verwegen aus. Ein Abenteurer! Der Drei-Tage-Bart, der fast schon ein Vier-Tage-Bart sein könnte, unterstrich diesen Eindruck.

Holly war allerdings nicht nur von seiner Attraktivität fasziniert, sondern auch von der geheimnisvollen Aura, die ihn zu umgeben schien. Waren sie sich schon mal begegnet? Sie hatte das unbestimmte Gefühl, den Mann zu kennen, doch sie wusste nicht, woher.

Der magische Moment löste sich sofort in Luft auf, als er ihr barsch entgegenschleuderte: „Was wollen Sie denn noch?“

Schon wieder dieser Ton. Unverschämt. Konnte er sich nicht zusammenreißen? Sie hatte sich die Situation schließlich nicht ausgesucht. Glaubte er etwa, sie hatte Lust, hier mitten in der Nacht im Regen zu stehen? Unbarmherzig prasselte es weiter vom Himmel herab. Holly bemerkte außerdem ein leichtes Magengrummeln. Keine Frage, sie hatte Hunger. Am liebsten hätte sie ihrem Ärger Luft gemacht, doch sie beschloss, die Ruhe zu bewahren, um nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen.

„Ich brauche Ihre Hilfe“, sagte sie und bemühte sich, ein Lächeln zustande zu bringen.

„Soll etwa ich das Auto von der Einfahrt wegfahren?“, fragte er gereizt.

„Das schaffe ich gerade noch“, entgegnete Holly. Sie merkte, dass es ihr wahrlich schwerfiel, nicht schnippisch zu werden, dennoch setzte sie weiterhin auf einen möglichst freundlichen Tonfall.

„Sieht nicht wirklich danach aus.“ Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

Holly beschloss, darauf nicht weiter einzugehen. „Ich würde gerne einen Anruf machen, doch der Akku meines Smartphones hat schlappgemacht. Deshalb wollte ich Sie bitten, ob ich mit Ihrem Handy …“

„Na gut, meinetwegen“, unterbrach er sie. „Aber nur, wenn Sie mir garantieren, dass Sie dann endlich den Weg frei machen.“ Er machte eine kurze Pause und setzte unwirsch nach: „Ich habe nämlich noch was anderes vor.“

„Stellen Sie sich vor, das habe ich auch.“ Holly konnte eine gewisse Ironie in ihrer Antwort nicht vermeiden. Eine weitere blöde Bemerkung von ihm und mit ihrer mühsam aufrechterhaltenen Freundlichkeit wäre es vorbei. Zudem fühlte es sich inzwischen an, als würde der Regen nicht nur von allen Seiten kommen, sondern aus ihren Poren triefen.

Der Mann beugte sich ins Auto und schnellte rasch wieder hoch. Er streckte ihr sein Smartphone entgegen. Ihre Finger berührten sich, als Holly danach griff. Wow! Mit einem Mal durchfuhr sie ein wohlig warmer Schauer. Wie gut sich das anfühlte. Sie war überrascht über ihren Wunsch, diesen prickelnden Lavastrom weiter auszudehnen, nur um ihn noch länger genießen zu können.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie das Gefühl, diesen Fremden ganz nahe bei sich zu spüren. Sie wagte kaum, ihn anzuschauen. Ging es ihm ähnlich? An seiner unverändert verschlossenen Miene konnte sie jedenfalls nichts ablesen. Es war zwar schwer vorstellbar, aber vielleicht lag hinter seiner schroffen Fassade ein leidenschaftlicher Mensch, ein heißblütiger Liebhaber.

Hatte sie gerade Liebhaber gedacht? Und heißblütig?

Holly, schalt mal einen Gang runter!

Seine Ungeduld brachte sie ohnehin schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

„Wollen Sie jetzt telefonieren oder nur das Ding weiter anstarren?“, drängelte er sie.

Hollys Herz hämmerte. Bei ihr brandeten so viele verschiedene Gefühle gleichzeitig auf, dass sie sich mit einem Mal völlig überfordert vorkam. Einerseits war sie erschrocken, weil sie sich zu diesem Fremden hingezogen fühlte, andererseits war sie wütend auf ihn – seine abweisende Art nervte. Und außerdem war sie nach diesem langen Tag einfach viel zu erschöpft.

Zum Glück hatte Mitchell eine Handynummer, die sich jeder Idiot merken konnte, da sie zwar aus zwölf Zahlen, aber nur aus zwei unterschiedlichen Ziffern bestand. Sie tippte sie flugs ein. Mitchell nahm so schnell ab, als habe er nur auf ihren Anruf gewartet.

„Hier ist Holly. Wundere dich nicht, dass du die Nummer nicht erkennst, ich rufe von einem anderen …“

„Darling!“, unterbrach Mitchell sie laut. „Gut, dass du dich endlich meldest, ich mache mir solche Sorgen um dich. Wo bist du, ist was passiert?“ Wie immer, wenn Mitchell aufgeregt war, zog er die Vokale in die Länge.

„Ich hatte eine Panne und bin noch etwa fünf Kilometer vom Hotel entfernt. Du hast doch sicher ein Auto gemietet und kannst mich abholen?“

„Ich bin sofort da!“, versicherte Mitchell ihr schnell. „Wo genau soll ich dich aufpicken, Darling?“

Gute Frage. Holly blickte rüber zu dem Fremden, der sich die Kapuze wieder tief ins Gesicht gezogen hatte und mit den Fingern ungeduldig auf das Autodach trommelte. Er machte den Eindruck, als würde er gerade große Qualen durchstehen. Holly unterdrückte ein Seufzen und fragte ihn nach dem genauen Standort. Er antwortete brummelnd und ohne sie anzusehen.

Nachdem sie die Koordinaten an Mitchell weitergegeben hatte, verabschiedete sie sich von ihm und gab dem Fremden das Smartphone zurück. Dieses Mal achtete sie darauf, dass sich ihre Hände nicht wieder berührten. Sie befürchtete, dass es sie zu sehr verwirren würde, falls das einen nächsten Lavastrom in ihr auslösen sollte.

„Ich bin dann mal weg“, rief sie ihm über die Schulter zu, während sie schon die ersten Schritte Richtung Auto ging. Er nickte kurz und schien ihr, was sie überraschte, sogar noch einen schönen Abend zu wünschen, aber so richtig konnte sie ihn nicht verstehen. Seine Stimme war zu leise und der Regen zu laut.

Holly setzte sich ins Auto, ließ den Motor an und fuhr so langsam wie möglich ein paar Meter vorwärts. Im Rückspiegel beobachtete sie, wie der Fremde nach rechts in den Feldweg einbog. Die Rücklichter seines Wagens verloren sich allmählich in der Dunkelheit.

Holly atmete tief durch. Mitchell würde bald auftauchen und dann nichts wie weg von hier. Sie fühlte sich fast wie eine Gestrandete auf einer einsamen Insel. Während sie angestrengt auf die Straße starrte und auf das erlösende Licht der Scheinwerfer wartete, tauchte vor ihrem inneren Auge wieder das Gesicht des unnahbaren Fremden auf. Seine Augen, sein Mund, seine Haare – einfach wow. Warum musste er nur so unverschämt gut aussehen. Wie ein Filmstar!

Andererseits war sie als Society-Reporterin oft in der Glitzer- und Glamourwelt der Promis auf roten Teppichen unterwegs und hatte daher ständig attraktive Männer um sich. Mit einem von ihnen war sie sogar seit drei Monaten verlobt: Liam Dexter, ein gefeierter und von Frauen schwer umschwärmter Rennfahrer. Ihr war klar, dass viele sie um diese Liaison beneideten. Wenn die wüssten! Ihre Beziehung war nichts weiter als eine exakt durchkalkulierte PR-Strategie. Wahre Liebe? Holly hatte sie noch nie erlebt. Und so langsam begann sie daran zu zweifeln, dass es sie überhaupt gab.

Plötzlich blendeten Scheinwerfer auf, einmal, zweimal, mehrmals hintereinander. Das musste Mitchell sein. Und tatsächlich, durch den strömenden Regen erkannte sie, dass er ihr durch die Windschutzscheibe eines Mietwagens zuwinkte. In Windeseile suchte Holly ihre Sachen zusammen, sprang aus dem Wagen und sperrte ihn mit einem Klick auf den Transponder-Schlüssel ab. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so erleichtert gewesen war. Sie stürmte regelrecht auf Mitchells Mietauto zu und ließ sich laut seufzend auf den Beifahrersitz fallen.

„Erst mal Küsschen!“, forderte ihr Kollege und hielt ihr seine Wange hin.

„Küsschen“, sagte Holly überschwänglich und drückte ihm einen freundschaftlichen Kuss drauf.

„Du kleine Chaos-Queen“, neckte er sie und zog an ihrer Schiebermütze.

„Hey, so klein bin ich auch wieder nicht“, gab sie gespielt beleidigt zurück.

Sie lachten.

„Du siehst übrigens toll aus.“

„Sehr witzig“, entgegnete Holly.

„Im Ernst. Selbst das schlimmste Unwetter kann dir nichts anhaben“, meinte Mitchell ohne jede Ironie.

„Sag mal, Kollege, flirtest du etwa mit mir?“ Die Frage war nicht ernst gemeint. Zwischen Mitchell und ihr war es von Anfang an wie unter Geschwistern gewesen.

Er zwinkerte ihr zu. „So, und nun musst du mir alles erzählen, und zwar haarklein“, forderte er sie auf.

Eine knappe Stunde später saßen sie an der luxuriösen Hotelbar und gingen die Gästeliste und den Ablauf des morgigen Tages zusammen durch. Lagebesprechung nannten sie das.

Holly war nur kurz unter die Dusche gesprungen und hatte sich ein lilafarbenes Casual-Kleid übergezogen, A-Linie, schlicht, aber trotzdem wirkungsvoll. Ihr langes rotblondes Wallehaar hatte sie mit einem streng hochgebundenen Knoten gebändigt.

Sie nahm einen Schluck Gin Tonic, biss von ihrem Club-Sandwich ab und beugte sich wieder über die Gästeliste. Die konnte sich sehen lassen. Zahlreiche Top-Promis hatten sich angekündigt. Das spielte ihr umso mehr in die Hände. Je bekannter die Promis, desto besser würde der Bericht laufen.

Als Mitchell kurz auf die Toilette verschwand, ließ Holly den Blick durch den Raum schweifen. Der Barkeeper bewegte den Cocktailmixer so, als würde er gleich einschlafen, auf den cremeweißen Ledersesseln saßen nur noch vereinzelt Gäste.

Wird wirklich Zeit, dass ich ins Bett komme. Morgen ist ein anstrengender Tag.

Während sie die letzten Kartoffelwedges, die dem Clubsandwich beilagen, in die Cocktailsauce tunkte, drangen Wortfetzen aus einem Gespräch zu ihr, das zwei Frauen führten, die hinter ihr saßen.

„Hast du schon gehört, dass morgen ein ganz besonderer Gast erwartet wird?“, fragte die eine.

Es war ihr anzuhören, dass sie es kaum erwarten konnte, mit der Neuigkeit herauszuplatzen. Trotzdem machte sie eine kunstvolle Pause.

„Nun sag endlich“, drängte die andere.

„Also, halt dich fest.“ Wieder eine kurze Pause. „Es ist … Julien Chartier.“

„Julien Chartier!“ Die Reaktion der anderen wirkte, als könne sie es nicht fassen.

„Ich weiß das aus sicherer Quelle.“

„Das ist ja noch besser als die Hochzeit selbst.“

Die beiden Frauen kreischten, als wären sie Groupies.

Kein Wunder, denn das waren aufregende Neuigkeiten. Holly hätte sich fast verschluckt, da sie kaum glauben konnte, was sie da hörte. Julien Chartier war der Sohn des zukünftigen Ehemannes von Scarlett York. Bei „Daily Glamour“ nannten sie ihn den „verlorenen Milliardärssohn“, da Julien und sein Vater miteinander gebrochen hatten – die beiden hatten seit mindestens sieben Jahren keinen Kontakt mehr.

Wenn das wirklich stimmte und Julien morgen auftauchen sollte, wäre das die Sensation! Die herzzerreißende Versöhnung zwischen Vater und Sohn und mittendrin die zu Freudentränen gerührte Stiefmutter.

Holly konnte ihr Glück kaum fassen. Sie sah schon die großen Schlagzeilen vor sich. Mit dieser Story dürfte sie den Posten der stellvertretenden Chefredakteurin sicher in der Tasche haben. Das müsste Juliette ihr erst mal nachmachen.

2. KAPITEL

Die Sonne brannte am nächsten Tag erbarmungslos vom Himmel, fast so, als würde sie das schlechte Wetter vom Vortag wiedergutmachen wollen. Holly hatte zwar nur wenig geschlafen, aber sie fühlte sich putzmunter. So ein großes Event gab ihr immer einen heftigen Adrenalinschub. Kurz, sie war in ihrem Element.

Während Mitchell am Eingang Position bezogen hatte, um die Hochzeitsgäste zu fotografieren, sobald sie aus dem Auto stiegen, stand Holly in der opulenten, mit Blütenkränzen geschmückten Eingangshalle, deren Boden mit rot-weißem Marmor ausgelegt war. Ihr gefiel die schlichte Eleganz ihres moosgrünen Taftkleides, dessen Saum ihre Knie sanft umspielte. Der Ausschnitt war dezent, die Ärmel dreiviertellang. Wie immer hielt sie sich an die goldene Regel, die ihre Chefin ihr ständig vorbetete: „Kleide dich schick, aber zurückhaltend. Nicht du bist der Star, die anderen sind es.“

Nein, Holly wollte keinem die Show stehlen. Das wäre nicht nur unprofessionell, sondern ihr auch schlichtweg unangenehm. Deshalb hatte sie ihre Haare ganz bewusst zu einer Flechtfrisur zusammengenommen, um sich nicht in den Mittelpunkt zu drängen. Mit ihrer rotblonden Mähne zog sie normalerweise automatisch die Blicke auf sich, fast so, als wäre sie eine leuchtende Fackel.

Sie hatte so ziemlich die gesamte Gästeliste im Kopf abgespeichert und konzentrierte sich darauf, wer bereits eingetroffen war und wer noch fehlte. Von ihr wurde wie immer erwartet, dass sie die bekanntesten Persönlichkeiten interviewte, die auf der Feier auftauchten. Für einen Bericht im „Daily Glamour“, das ein anerkanntes Hochglanzmagazin war, kamen nur A-Promis infrage. Und Scarlett York wäre nicht Scarlett York, wenn sie nicht das Who’s who der europäischen Schauspielbranche eingeladen hätte.

Jeder Gast, der die Empfangshalle betrat, sah glamouröser aus als der vorherige, die Frauen in atemberaubenden Designer-Roben, die Männer ausnehmend elegant, einige trugen sogar Smoking. Holly genoss die luxuriöse Atmosphäre und ging munter von Grüppchen zu Grüppchen. Im unbeschwerten Small Talk lotete sie die Stimmung aus und entlockte den Gästen kleine Geschichten, die ihnen zu Braut und Bräutigam einfielen.

Geschickt lenkte sie das Gespräch auch auf den „verlorenen Sohn“, um herauszufinden, wer etwas darüber wusste. Viel Neues erfuhr sie dabei allerdings nicht. Mehr als Spekulationen hatte niemand zu bieten.

In der Halle wurde es immer enger. Und lauter und lebhafter. Die rund hundertfünfzig Hochzeitsgäste schienen sich alle versammelt zu haben. Man wartete auf das Brautpaar, die Spannung war förmlich körperlich zu spüren.

Kellner bewegten sich mit Tabletts durch die Menge und boten verschiedene Aperitifs an. In dem Moment, als Holly nach einem Glas Bellini greifen wollte, stieß ein Mann im Vorbeigehen versehentlich mit dem Kellner zusammen – und das Tablett fiel krachend zu Boden. Holly konnte gerade noch zur Seite springen, um zu verhindern, dass der gesamte Inhalt der Gläser auf ihr Kleid kippte. Dennoch bekam es ein paar Spritzer ab. Wie ärgerlich. Sie runzelte die Stirn. Der Kellner machte ein bedröppeltes Gesicht und setzte an, um sich zu entschuldigen, doch sie bedeutete ihm, dass das nicht nötig war. Der arme Kerl konnte ja nichts dafür.

Sie beeilte sich, zur Damentoilette zu kommen. Dort würde sie die Flecken sicher herauswaschen können. Mach schnell, Holly! Die Hochzeitszeremonie würde bald beginnen. Sie war zwar geübt auf High Heels, aber bei diesem rasanten Tempo geriet sie einmal fast aus der Balance. Es ging gerade noch mal gut, doch als sie um die Ecke bog, hatte sie weniger Glück. Ihr schien, als würde sie über ihre eigenen Füße stolpern – sie knickte mit einem Schuh böse ab. Um nicht bäuchlings auf dem Boden zu landen – wie peinlich wäre das denn –, hielt sie sich am nächstbesten Arm fest, den sie zu fassen bekam.

„Pardon“, murmelte sie. Ihre Hand hatte sie immer noch in die Anzugjacke gekrallt, als sie aufblickte. Das darf doch nicht wahr sein! Ihr Herz machte einen Satz, als sie erkannte, an wem sie sich da festhielt. Kein Zweifel, es handelte sich um den Mann von gestern. Um den abweisenden Fremden. Nur mit deutlich weniger Bart. Sein dichtes, schulterlanges Haar hatte er streng nach hinten gekämmt. Trotzdem sah er genauso verwegen aus wie in der Nacht zuvor.

Julien Chartier konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er den überraschten – oder sollte er besser sagen den erschreckten? – Ausdruck im Gesicht der Frau sah, die sich bei ihm abstützte. Sie wirkte fast so, als sähe sie einen Geist. Zugegeben, er war nicht minder verwundert, sie hier anzutreffen. Wer war sie? Eine Berühmtheit? Eine Bekannte der Familie?

Ohnehin musste er erst mal in Ruhe ankommen und sich mit den Menschen vertraut machen, die sich in der Sommerresidenz tummelten, die bereits seit drei Generationen in Familienbesitz war. Im Grunde kannte er kaum jemanden aus den Reihen der Hochzeitsgesellschaft.

Er war froh, es überhaupt noch rechtzeitig zur Trauung geschafft zu haben, denn ein vom Sturm umgestürzter Baum hatte den Feldweg blockiert. Der hatte erst mal mit der Hilfe eines benachbarten Landwirts freigeräumt werden müssen. Anschließend hatte Julien ziemlich aufs Gaspedal gedrückt, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen.

Im Moment fühlte er sich ein bisschen überrumpelt, musste sich jedoch eingestehen, dass es ihm nicht unangenehm war, die wunderschöne Frau wiederzusehen, mit der er im Regen gestanden hatte. Er hätte gestern schwören können, dass sie eine Touristin war. Zwar hatte sie Französisch gesprochen, aber ihr britischer Akzent war unüberhörbar gewesen. Sie mochte vielleicht Mitte zwanzig sein, also um die fünf Jahre jünger als er. Obwohl es schummrig gewesen war, hatte er ihr zartes Gesicht mit den Sommersprossen, der eleganten Nase, dem dichten Wimpernkranz und dem fein geschwungenen Mund erkennen können – eine Frau wie aus einem Gemälde.

Besonders nett war er allerdings nicht zu ihr gewesen, das war ihm schon klar. Aber er war nun mal keiner dieser oberflächlichen Sunnyboys, die jeder Frau schöne Augen machten. Nicht sein Stil. Außerdem war sie offenkundig eine Chaotin, und das war nicht gerade ein Wesenszug, den er an Frauen mochte.

Aber was dachte er überhaupt darüber nach? Das ist gar nicht gut, schoss es ihm durch den Kopf. Von Frauen wollte er sich erst mal fernhalten, das hatte er sich fest vorgenommen. Trotzdem konnte er sich dem Zauber ihrer Ausstrahlung nicht völlig entziehen. Es lag nicht nur an ihrem Aussehen. Da war noch etwas anderes. Julien hätte es nicht in Worte fassen können, aber er spürte, dass sie ein Geheimnis mit sich trug. Doch Geheimnisse konnten dunkel sein. Sehr dunkel. Er wusste das aus eigener Erfahrung.

Die schöne „Touristin“ nahm ihre Hand von seinem Arm und ordnete ihre Frisur, an der es aus seiner Sicht gar nichts zu ordnen gab.

„Ich glaube, wir kennen uns von irgendwoher“, eröffnete er das Gespräch. Nicht gerade originell, wie er befand, aber ihm fiel nichts anderes ein.

„Glaube ich auch“, kam es zurück.

Julien wusste ihren Tonfall nicht recht zu deuten. Er bemerkte allerdings, dass ihre Irritation langsam nachzulassen schien. Sie sah ihn aus ihren lebensfrohen grünen Augen mit einem frappierend offenen Blick an. Wow! Er spürte die Versuchung, darin zu versinken. Das Grün mit den schimmernden Goldsprenkeln war von solcher Schönheit, dass er sich daran gar nicht sattsehen konnte. Was hatte diese Frau nur an sich? Im nächsten Moment durchzuckte es ihn, und er holte sich innerlich auf den Boden der Tatsachen zurück.

Lass dir bloß nicht den Kopf verdrehen!

Keiner von ihnen beiden wusste, wie sie ihren eben begonnenen Dialog fortsetzen sollten. Während er sich immer unbeholfener fühlte und noch nach den richtigen Worten suchte, war sie es, die nach einer Pause, die ihm ausgesprochen unangenehm war, weitersprach: „Ich hätte auf diesen hohen Schuhen nicht so schnell laufen sollen“, erklärte sie entschuldigend.

„Ist ja nichts passiert“, beschwichtigte er. Wieder ärgerte er sich, dass ihm nichts Besseres einfiel. Er war momentan nicht gerade der Schlagfertigste. Ob das an ihrer Gegenwart lag?

„Ehrlich gesagt bin ich manchmal einfach eine Chaotin“, setzte sie fort und lächelte ihn ein wenig schief an.

Julien musste schmunzeln. „Das überrascht mich aber, dass Sie das sagen“, entgegnete er. Dabei legte er eine heftige Portion Sarkasmus in seine Antwort, er konnte gar nicht anders.

Die schöne „Touristin“ runzelte die Stirn. Die eben noch einladend blickenden Augen funkelten nun angriffslustig. Sie setzte gerade an, um etwas zu erwidern, als lautes Raunen zu ihnen drang.

Jemand rief: „Es geht los.“

Ein anderer vermeldete: „Der Bräutigam kommt!“

Die Ankündigung versetzte sie in plötzliche Eile. „Also, noch mal, tut mir leid“, sagte sie hastig.

Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und ging mit festen, eleganten Schritten über den Gang zu den Toiletten. Julien schaute ihr hinterher und ihm gefiel, was er da sah. Auch wenn die Frau nicht besonders groß war, so hatte sie dennoch beachtlich lange Beine, die schlank waren, aber nicht zu dürr wirkten. Ihre aufrechte Haltung erinnerte ihn an eine stolze Ballerina. Sie mochte leicht arrogant wirken, und doch ging gerade davon eine starke verführerische Kraft aus. Es war unverkennbar, dass sie eine Frau war, die um ihre Wirkung wusste. Kaum zu glauben, dass sie, die so viel Grazie ausstrahlte, eine solche Chaotin sein sollte.

Entschieden schüttelte er den Kopf. Genug. Er wollte sich nicht weiter mit dieser Frau beschäftigen. Und er konnte es auch nicht, denn man wartete in der Marmorhalle sicher schon auf ihn. Obwohl er wünschte, dieser Kelch ginge an ihm vorüber, musste er sich damit abfinden, dass ihn sein Vater gleich vor allen Leuten offiziell begrüßen würde, wie er es in ihrem gestrigen Telefonat angekündigt hatte. Julien strich sich mit dem Handrücken über die Stirn und unterdrückte ein Seufzen. Er hatte es immer schon gehasst, in der Öffentlichkeit zu stehen und alle Augen auf sich gerichtet zu wissen.

Holly gelang es, die Flecken auf ihrem Kleid einigermaßen zu beseitigen, und sie betrat genau in dem Moment die Marmorhalle, als die Gäste begeistert zu applaudieren begannen. Auch wenn sie wusste, dass der Beifall nicht ihr galt, fühlte es sich für einen kurzen Augenblick dennoch so an.

Sie warf einen prüfenden Blick in die Menge. Die Gesichter der meisten Anwesenden drückten Begeisterung aus, andere Verwunderung. Manche hatten ihren Mund weit aufgerissen, einige die Augen. So wie eben Menschen aussehen, wenn man ihnen etwas Überraschendes mitteilt.

Sie alle schauten nach oben zum Treppenabsatz, wo zwei Männer standen, die sich umarmten. Als sich die beiden voneinander lösten, konnte Holly gerade so einen Aufschrei unterdrücken. Am liebsten hätte sie sich die Hände vors Gesicht geschlagen oder sich selbst auf den Mond geschossen, was vielleicht noch besser gewesen wäre. Das durfte einfach nicht wahr sein! Kann mich bitte mal jemand kneifen?

Niemals hätte sie mit diesem Anblick gerechnet. Der attraktive Fremde winkte von der Treppe herab, als wäre er ein frisch gekrönter Prinz. Neben ihm stand ein sehr eleganter Mann mit welligen, weißen Haaren und aristokratischen Gesichtszügen – es war Victor Chartier, der Gastgeber und Bräutigam. Man musste nur noch eins und eins zusammenzählen. Der attraktive Fremde war kein Geringerer als Julien Chartier. Voilà! Da war er also, der verlorene Milliardärssohn, der in die Arme seines Vaters zurückgekehrt war.

„Ist das nicht herzzerreißend?“, sprach eine ältere, nach schwerem Parfum duftende Dame sie an, die mit einem Taschentuch ihre Augen betupfte, in denen Tränen standen.

Holly nickte. Zu mehr war sie nicht fähig. Ihr fehlten die Worte. Für den Bruchteil eines Augenblicks hatte sie sogar das Gefühl, ihr Herz hätte aufgehört zu schlagen. Im nächsten Moment klopfte ihr jemand auf die Schulter. Mitchell.

„Darling, wer hätte gedacht, dass der hier aufkreuzt“, raunte er ihr aufgeregt ins Ohr.

„Du hast hoffentlich alles im Kasten“, entgegnete Holly automatisch und deutete auf seine Kamera. Sie hatte immer noch das Gefühl, neben sich zu stehen. Passierte das alles tatsächlich?

„Wenn du die Bilder siehst, wirst du dahinschmelzen, Holly, das verspreche ich dir. Unsere Leserinnen und Leser werden sie lieben“, antwortete Mitchel schwärmerisch.

Dann war er auch schon wieder in der Menschenmenge verschwunden.

Der Applaus verebbte, der Pulk begann sich aufzulösen. Wie durch einen Riesenbausch Watte hörte Holly, dass die Gäste übermütig lachten und wild durcheinanderredeten. Da und dort klirrten Gläser. Sie wagte es kaum, erneut nach oben zu schauen, denn sie spürte, dass sie ganz genau beobachtet wurde. Und es war kinderleicht zu erraten, von wem. Julien schien sie mit seinen Blicken regelrecht zu durchbohren.

Lass dich davon bloß nicht aus der Fassung bringen!

Holly schob die Schultern zurück. Sie war froh, dass niemand ihren Puls fühlen konnte, der in einer derart hohen Frequenz zu klopfen schien, wie sie es nur nach dem Marathonlauf vor zwei Jahren in Erinnerung hatte. Tief durchatmen!

Weil ihr klar war, dass sie seinem Blick nicht ewig würde ausweichen können, gab sie sich einen Ruck. Zudem war sie nun wirklich keine Frau, die sich so schnell einschüchtern ließ. Was bildete sich dieser Milliardärssohn eigentlich ein! Wieso nahm er sie derart ins Visier?

Julien stand am Treppengeländer, als sie ihn unerschrocken fixierte. Es sah aus, als würde er sich daran festhalten. Ihre Blicke trafen sich nicht nur, sie zogen sich regelrecht an. Als wären sie Magneten. Obwohl Julien mehrere Meter Luftlinie entfernt war, hatte Holly den Eindruck, ihn atmen zu hören. Sie verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit. Weil ihr schien, als würde sie taumeln, hätte sie auch gerne etwas gehabt, das ihr Halt gab. Was ging hier nur vor?

Komm wieder zur Besinnung!

Hatte sie eben noch überhaupt nicht darüber nachgedacht, wie ihr geschah, prasselten nun zig Fragen gleichzeitig auf sie ein. Hatte sie sich vor Julien blamiert? Was dachte er wohl von ihr? Warum verwirrte er sie so?

Stopp.

Holly beschloss, sich nicht weiter in die unglückselige Gedankenspirale hineinziehen zu lassen. Was sich im Moment abspielte, war einfach nur falsch. Jawohl, falsch! Wozu dieser Gefühlsalarm? Der hatte hier nichts zu suchen. Überhaupt nichts. Sie war Reporterin. Und sie würde Julien Chartier interviewen. Er war nichts weiter als der Protagonist für eine zusätzliche große Exklusiv-Story in „Daily Glamour“.

Gerade als sie auf ihn zugehen wollte, löste er sich vom Treppengeländer und kam ihr entgegen. Zumindest dachte sie das. Doch sie täuschte sich. Julien sprach nicht sie an, sondern eine Frau, die hinter ihr stand. Holly war so in ihre Grübeleien versunken gewesen, dass sie die ausgesprochen hübsche Brünette erst jetzt bemerkte.

„Cousinchen!“, rief Julien aus. Und zog die Frau in seine Arme, die ihn mit großem Hallo begrüßte.

Hastig wandte Holly den Blick ab. Hatte sie tatsächlich angenommen, irgendeine höhere Macht hätte ihn zu ihr gebracht? Wie oberpeinlich war das denn.

3. KAPITEL

Es herrschte tiefe, beinah andächtige Stille. Offenbar traute sich niemand zu husten oder sich auch nur zu räuspern. Die rund hundertfünfzig Gäste, die auf den Stuhlreihen saßen, die man im Blauen Salon aufgestellt hatte, warteten gespannt auf das Eintreffen der Braut. Bräutigam und Priester standen ebenfalls da, ohne einen Laut von sich zu geben. Es wirkte fast so, als würden alle die Luft anhalten. Erst als die Anfangsklänge des berühmten Kanons von Pachelbel ertönten, die eine Pianistin und ein Cellist anstimmten, schien sich eine gewisse Erleichterung auszubreiten.

Holly wusste nicht warum, aber sie wurde gegen ihren Willen von sentimentaler Stimmung erfasst, die ihr fast Tränen in die Augen trieb. Verstohlen blickte sie sich um, um festzustellen, ob jemand davon Notiz genommen hatte. Sie wollte so professionell wie möglich wirken. Das fehlte noch, dass sie anfing, hier herumzuschluchzen. Zum Glück tauchte in diesem Moment Scarlett York auf, und zwar in einem derart kitschigen Hochzeitskleid, dass Holly jeden Anflug von Rührung sofort vergaß.

Statt der schlichten Eleganz, die man an der französischen Riviera pflegte, setzte die Braut mit ihrem Auftritt auf den schrillen Glamour von Las Vegas. Der Designer der opulenten Robe schien kein Problem damit gehabt zu haben, mit Glitzersteinchen und Tüll so verschwenderisch wie nur möglich umzugehen.

Aber die Geschmäcker waren ja bekanntlich verschieden. Und Holly würde einen Teufel tun und schreiben, dass sie das Hochzeitskleid für einen Fehlgriff hielt. Stattdessen würde sie in höchsten Tönen davon schwärmen. Auch das gehörte zu ihrem Job, man musste eine Wohlfühlatmosphäre zaubern. Viel wichtiger als das Brautkleid war ohnehin, dass Scarlett York so strahlte, wie es eine glückliche Braut tun sollte. Und das war die Hauptsache.

Holly musste zugeben, dass ihr der Liebestaumel, in dem Scarlett offenkundig schwebte und der aus jeder Pore ihrer Haut auszuströmen schien, tatsächlich zu Herzen ging. Es war berührend und zugleich schmerzhaft, denn bisher hatte sie nicht mal annähernd ein ähnliches Gefühl kennengelernt. Ob sie sich je so würde verlieben können?

Um einen guten Überblick über das Gesamtgeschehen zu haben, saß Holly in einer der hinteren Reihen. Leider konnte sie Julien, der neben seinem „Cousinchen“ saß, von ihrem Platz aus nicht so gut sehen, wie sie es gerne gewollt hätte. Sie erhaschte nur dann einen Blick auf ihn, wenn er sich vorbeugte, und das auch nur im Profil. Immerhin hatte Mitchell sich bereits ein paar Mal in seiner Nähe positioniert und mehrere Fotos geschossen, die sie sich später in Ruhe anschauen konnte.

Es würde noch dauern, bis das Brautpaar so weit war, sich gegenseitig das Eheversprechen zu geben. Holly beschloss daher, kurz den Blauen Salon zu verlassen, um mit ihrer Chefin zu telefonieren. Die bestand darauf, auf dem Laufenden gehalten zu werden.

Das Gespräch dauerte nur wenige Minuten. Danach legte Holly hochzufrieden ihr Smartphone auf einem Beistelltischchen ab. Sie angelte sich ein paar Erdnüsse aus einer Schale und warf sie sich übermütig in den Mund.

Die sensationelle Nachricht über die Anwesenheit von Julien Chartier hatte ihre Wirkung nicht verfehlt – ihre Chefin war vor Begeisterung völlig aus dem Häuschen geraten. Und das wollte was heißen, denn das kam fast so selten vor wie eine Mondfinsternis. Keine Frage, dieser Auftrag entwickelte sich zum regelrechten Glücksfall für sie. Wenn man mal davon absah, dass dieser Julien sie ordentlich verwirrte.

Holly, hattest du das nicht längst abgehakt?

Eben!

Sie wollte sich nun wirklich nicht die gute Laune verderben lassen. Stattdessen stellte sie sich vor, dass sie, Holly Appleton, bald im Impressum von „Daily Glamour“ als stellvertretende Chefredakteurin aufgeführt werden würde. Endlich! Sie war sich dessen inzwischen beinahe hundertprozentig sicher. Als ein Kellner vorbeiging, wäre sie ihm vor Freude am liebsten um den Hals gefallen.

Ihre heitere Stimmung änderte sich mit einem Schlag, als die Tür des Blauen Salons aufgerissen wurde. Die Wucht, mit der das geschah, erschütterte sie. Es grenzte an ein Wunder, dass das Türblatt dabei nicht aus den Angeln gehoben wurde.

Julien!

Er schoss regelrecht an ihr vorbei. Sein Körper war angespannt, auf seinem Gesicht lag eine Mischung aus Traurigkeit und Wut. Ihre Blicke trafen sich für eine Millisekunde, und Holly hatte den Eindruck, als würde er sie vorwurfsvoll ansehen. Aber warum? Oder täuschte sie sich? War er vielmehr verzweifelt? Verletzt?

Lautes Stimmengewirr drang aus dem Salon zu ihr – unter den Gästen war ein beachtlicher Tumult ausgebrochen. Was war hier los?

Mitchell war der Nächste, der durch die Tür geeilt kam. Über seine Stirn liefen Schweißperlen. Als er sie entdeckte, blieb er stehen.

„Holly, du hast was verpasst!“, rief er ihr ein wenig atemlos zu. „Julien Chartier hat die Hochzeit noch vor dem Eheversprechen verlassen. Wir sollten ihm hinterher.“

Holly runzelte die Stirn. Das hörte sich ja so an, als wären sie mitten in einem Agentenfilm. Sie wusste instinktiv, dass sie nun schnell, und zwar blitzschnell, entscheiden musste.

„Bleib du hier, wir brauchen unbedingt die Fotos, wenn sich die beiden das Ja-Wort geben, und ich hänge mich an Julien dran.“

Während sie sprach, hatte sie bereits nach dem Riemchen an ihrem linken High Heel gegriffen, um den Schuh auszuziehen, dann schlüpfte sie aus dem rechten. Sie bedeutete Mitchell mit dem Kinn, in den Blauen Salon zurückzukehren, und lief, die Schuhe in der Hand, Richtung Ausgang. Sie rannte und rannte. Nun kam sie sich tatsächlich ein bisschen so vor wie eine Agentin auf der Jagd. Es ging treppab, treppauf und über den roten Teppich, wo sie fast gegen eine Bedienstete gestoßen wäre, die einen Servierwagen vor sich herschob. Ob sie Julien noch einholen würde?

Am Hauptportal angekommen, musste Holly kurz stehen bleiben und durchatmen. Obwohl sie gut in Form war – schließlich joggte sie nach der Arbeit regelmäßig an der Themse entlang –, war sie aus der Puste gekommen. Das war ein regelrechter Sprint, den sie da hingelegt hatte. Doch mehr als eine Sekundenpause blieb ihr nicht, denn sie musste sich ranhalten, um Julien nicht aus den Augen zu verlieren – gerade noch konnte sie ihn in einigen Metern Entfernung ausfindig machen. Nachdem er die geschwungene Auffahrt hinuntergestürmt war, steuerte er auf einen Pfad zu, der sich an einem Hügel nach oben schlängelte.

Puh, ist das heiß! Als Holly mit den Fußsohlen das Pflaster aus Sandstein berührte, spürte sie die Tageshitze, die darin gespeichert war. Reflexartig lief sie auf Zehenspitzen weiter, um die Fläche zu minimieren, mit der sie mit dem Boden in Berührung kam. Überraschend blies ihr sanfter Wind ins Gesicht, was ihr nur recht war – sie brauchte dringend eine Abkühlung. Was gäbe sie jetzt für ein Glas Mineralwasser, und zwar eins mit möglichst vielen Eiswürfeln drin.

Je länger sie Julien nachjagte und je näher sie ihm kam, desto absurder erschien ihr die ganze Situation. Was sollte das eigentlich? Sie war weder Agentin noch Privatdetektivin, sie könnte die Verfolgung einfach aufgeben. Doch eine innere Stimme drängte sie, das durchzuziehen. Hatte sie denn eine Wahl? Sie musste schließlich ihren Job machen. Und zwar so gut wie möglich.

Aber gehörte das wirklich dazu? Jemandem hinterherzurennen, um eine gute Story abzuliefern? Bisher hatte sie das jedenfalls noch nicht erlebt. Allerdings hatte ihre Chefin deutlich gemacht, dass sie von ihr erwartete, alle Details über den „verlorenen Milliardärssohn“ zu liefern. Also konnte sie ihn wohl kaum entwischen lassen. Womöglich würde er wieder abtauchen, wer wusste das schon.

Sie brauchte die Beförderung! Und zwar dringender denn je. Ja, es würde ihre Karriere enorm pushen und sie könnte endlich an ihrer ewigen Konkurrentin Juliette vorbeiziehen. Viel wichtiger war jedoch, dass Monat für Monat mehr Geld auf ihrem Konto eingehen würde, als sie jemals zuvor in ihrem Leben verdient hatte. Geld, auf das die Familie angewiesen war – ihr Vater steckte in großen finanziellen Schwierigkeiten.

Geliebter Dad! Wie immer wurde Holly ganz warm ums Herz, wenn sie an ihn dachte. Hätte sie einen Wunsch frei, würde sie wollen, dass er von seiner schweren Autoimmunerkrankung geheilt wäre. Nur ein Wunder konnte ihm noch helfen. Vor etwa fünf Jahren hatte er die erschütternde Diagnose erhalten: Multiple Sklerose.

Anfangs hatte er seinem Job als Koch in einem Restaurant zwar nachgehen können, doch inzwischen quälten ihn Tag um Tag heftige Schmerzen, sodass er arbeitsunfähig war. Nun drohte er das kleine Häuschen zu verlieren, das er sich mühsam zusammengespart hatte und in dem Holly und ihre Zwillingsschwester Lilly aufgewachsen waren. Das musste sie um jeden Preis verhindern! Und wenn ein Bericht über Julien Chartier der Schlüssel dazu war, dann würde sie diesen Bericht liefern. Entschlossen lief sie weiter voran.

Der Pfad nach oben führte für ein paar Meter durch einen Tunnel aus wilden Rhododendren. Holly genoss den Schatten, in den sie für kurze Zeit eintauchte, denn die Sonne knallte weiterhin unbarmherzig vom Himmel. Links neben ihr rauschte das Meer. Ein sanftes, fast zärtliches Tosen. Nur allzu gerne hätte sie den Ausblick gewürdigt, doch das musste sie wohl oder übel auf einen anderen Zeitpunkt verschieben. Sie seufzte leise vor sich hin.

Wohin war Julien eigentlich unterwegs? Sie überlegte, ob sie ihn ansprechen oder weiterhin darauf hoffen sollte, dass er sie nicht bemerkte. Noch war sie unschlüssig. Sie wusste nur, dass es richtig gewesen war, sich an ihn dranzuhängen.

Bist du dir sicher, dass du es nur des Jobs wegen tust?

Holly dachte an den Moment in der Marmorhalle, als sie nicht aufhören konnten, einander anzuschauen. Da hatte etwas in der Luft gelegen, das sich mit Worten kaum beschreiben ließ. Magie vielleicht? Ja, das traf es wohl am besten. Aber was spielte das jetzt für eine Rolle?

Überleg dir lieber mal ein paar Fragen.

Dass er zu einem Interview nicht bereit sein könnte, daran wollte sie gar nicht erst denken. Sie würde ihn schon dazu bringen. Sie musste!

Aus der Ferne erklang Hundegebell. Julien hatte inzwischen seine Anzugjacke ausgezogen und trug sie in der Armbeuge, das Hemd hatte er bis zur Brust aufgeknöpft. Ihm schien, als würde er überhaupt nicht mehr aufhören können, einen Schritt vor den nächsten zu setzen. Eine Stimme in ihm trieb ihn weiter voran.

Nur weg von hier, nur weg!

Nie hätte er gedacht, dass dieser Tag, dem er so entgegengefiebert hatte, diesen unerwarteten Verlauf nehmen würde. Er hatte wirklich geglaubt, dass sich nun zwischen ihm und seinem Vater alles zum Guten wenden würde.

Sieben Jahre hatten sie kein einziges Wort miteinander gewechselt. Und sieben Jahre waren unter solchen Umständen eine verdammt lange Zeit. Dann kam die Einladung zur Hochzeit – eindeutig ein Zeichen der Versöhnung. Und nun der nächste Bruch. Zumindest von seiner Seite aus.

Vater, wie konntest du mir das nur antun?

Dass die Hochzeit ausgerechnet im Blauen Salon stattfinden musste! Was dachte sich sein Vater nur dabei? Er hätte das nicht zulassen dürfen. Auf gar keinen Fall! Der Blaue Salon war seit jeher der Raum, in dem sich Juliens viel zu früh verstorbene Mutter am liebsten aufgehalten hatte. Hier hatte sie ihr eigenes kleines Reich eingerichtet, in das sie sich oft zurückgezogen hatte, um zu zeichnen und zu malen. Er erinnerte sich an die zahlreichen Porzellanfiguren, die sie nach und nach im Blauen Salon aufgestellt hatte. Besonders an den schlafenden Porzellanengel, dessen Flügel wie ein wärmender Mantel um die Schultern lagen.

Wahrscheinlich gab es kein anderes Zimmer, in dem seine Mutter glücklicher gewesen war. Und was tat Vater? Er besaß die Taktlosigkeit, ausgerechnet dort, an diesem besonderen Ort, eine andere Frau zum Traualtar zu führen. Noch dazu eine, die er, Julien, höchst unsympathisch fand. Wenn das kein Schlag ins Gesicht war!

Julien schnaubte vor Wut. Er kickte nach dem nächsten Stein, der ihm im Weg lag. So war das eben im Leben, dauernd lag etwas im Weg. Falls es auf dieser Welt wirklich Glückskinder gab, gehörte er ganz sicher nicht dazu. Am liebsten hätte er auf der Stelle seine Koffer gepackt und wäre zurück nach New York geflogen. Dort hatte er aus eigener Kraft ein Verlagsimperium aufgebaut. Aber es lief auch gut ohne ihn weiter und darüber war er froh. Niemand vermisste ihn, schon gar keine Frau.

Er blieb kurz stehen, um seine Ärmel hochzukrempeln. Diese Hitze! Am liebsten hätte er die Sonne angebrüllt, doch das würde ja nichts ändern. Julien versuchte, seinen Kopf so leer wie möglich zu bekommen.

Mit einem Mal horchte er auf. Täuschte er sich oder ging da jemand hinter ihm? Wahrscheinlich ein Wanderer, die Gegend war bei Tagesausflüglern sehr beliebt. Als er sich umdrehte, um herauszufinden, wer da des Weges kam, entglitten ihm die Gesichtszüge.

Schon wieder diese Touristin! Was hatte sie hier zu suchen? War sie ihm gefolgt? Was wollte sie von ihm? Das konnte doch kein Zufall sein. Julien hoffte inständig, dass sie ihn in Ruhe ließ. Er hatte wahrlich nicht die Nerven, überhaupt mit jemandem zu sprechen.

Vielleicht sollte er sich einfach umdrehen und weitergehen. Das wäre natürlich nicht gerade die feine englische Art. Allerdings, dachte er ironisch, bin ich gar kein Engländer, sondern Franzose.

Sie war nur noch ein paar Schritte entfernt. Ihr Lächeln war eher unbeholfen. Fast so, als wäre es ihr selbst unangenehm, dass sie hier aufeinandertrafen. Andererseits wirkte sie mit ihrem stolzen Gang ausgesprochen souverän. Obwohl Julien sich über ihre Anwesenheit ärgerte, konnte er nicht umhin, erneut festzustellen, wie schön sie war. Allerdings auf eine andere Art als die meisten Frauen, die er bisher kennengelernt hatte. Noch immer war ihm nicht klar, woran das lag.

Ihm kam wieder in den Sinn, dass sie ein Geheimnis haben musste. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein. Auch wenn er auf eine gewisse Weise von ihr fasziniert war, änderte das nichts an der Tatsache, dass er nicht in der Stimmung war, sich mit ihr zu unterhalten. Allerdings schien sie das ganz anders zu sehen.

Schon im nächsten Moment sprudelte sie los: „Monsieur Chartier, Sie sind plötzlich so schnell weggerannt.“ Weil die Sonne sie blendete, hielt sie ihre Hand wie einen Schirm vor die Augen.

Julien verkrampfte sich innerlich. „Na und, was geht das Sie an?“, blaffte er sie an.

„Vielleicht kann ich ja was für Sie tun.“

„Für mich tun? Was denn? Ich bin doch kein kleines Kind.“ Diese Frau! Was ging nur in ihrem Kopf vor?

„Vielleicht könnten wir uns …“

Julien ließ sie nicht ausreden und fiel ihr laut ins Wort: „Ich will meine Ruhe!“

Sie schreckte zusammen, gewann jedoch sofort ihre Fassung wieder. Er merkte selbst, dass er vermutlich ein bisschen zu heftig reagiert hatte. Aber wenn er sich, wie momentan, in dieser Weltuntergangsstimmung befand, war ihm einfach alles zu viel. Dass nun auch noch eine Biene um seinen Kopf schwirrte, machte die Situation nicht unbedingt erträglicher. Er wedelte mit den Händen, um sie zu verscheuchen. Zwar wusste er, dass man besser ruhig bleiben sollte, doch es war ihm noch nie gelungen, die Gegenwart einer Biene mit der Ruhe einer Sphinx hinzunehmen.

Er gehörte nicht zu den ängstlichen Typen, beispielsweise hatte er schon mal Auge in Auge mit einem Wolf gestanden, aber bei Bienen geriet er regelrecht in Panik. Nur ein Stich, und er würde in Lebensgefahr schweben. Das war keine Übertreibung. Seine Allergie gegen Bienenstiche war bereits in der Kindheit festgestellt worden.

Sein hektisches Herumgefuchtel stachelte das Insekt nur noch mehr an, statt es zu vertreiben. Julien drehte sich unbeholfen im Kreis. Die Touristin sagte irgendwas, doch er war viel zu abgelenkt, um ihre Worte aufzunehmen. Er wollte sich ein paar Schritte entfernen, spürte jedoch plötzlich keinen Boden mehr unter seinem vorgestreckten Fuß. Er trat ins Leere und rutschte ab. Es gab nichts, woran er sich hätte festhalten können.

Julien hörte den entsetzten Aufschrei der Touristin, dann prallte sein Körper auf der Erde auf.

4. KAPITEL

Es ging alles viel zu schnell. Eben fuchtelte Julien noch mit den Händen durch die Luft, um eine Biene abzuwehren, im nächsten Moment fiel er die Böschung hinunter. Nicht tief, höchstens einen Meter. Dennoch konnte sie nichts über die Schwere seiner Verletzungen sagen, das kam schließlich ganz auf den Aufprall an.

Holly wusste, dass sie seinen Absturz nicht hätte verhindern können. Trotzdem machte sie sich nach dem ersten Schock sofort Vorwürfe. Die natürlich alles andere als hilfreich waren. Also schob sie alle störenden Gedanken beiseite und konzentrierte sich darauf, sich möglichst schnell zu Julien hinunterzuhangeln, um Erste Hilfe zu leisten. Sie warf ihre Schuhe zur Seite, die sie den ganzen Weg über in Händen gehalten hatte, und schaffte es mit wenigen Bewegungen nach unten.

Julien stöhnte. Er lag mit eingerissenem Hemd und aufgerissener Hose da, den Kopf leicht nach oben gedreht. Eins seiner Knie blutete, das Gesicht war unverletzt, nur an der Wange hatte er einen kleinen Kratzer, an den Händen Schürfwunden.

Holly kniete sich neben ihn und wollte seinen Kopf begutachten, doch Julien wehrte ab.

„Das sieht schlimmer aus, als es ist“, brummelte er kraftlos. Er wollte sich aufstützen, rutschte jedoch ab.

„Es ist keine Schande, sich helfen zu lassen“, redete sie ihm sanft zu. „Vertrauen Sie mir, ich bin ausgebildete Krankenschwester.“ Sie hatte zwar seit Jahren nicht mehr in ihrem erlernten Beruf gearbeitet, aber das brauchte Julien im Moment nicht zu erfahren.

„Sehe ich etwa so aus, als würde ich Hilfe brauchen?“

Holly konnte trotz des Ernstes der Lage ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Aus ihrer Berufspraxis kannte sie diese Art von Patienten nur zu gut. Männern fiel es ohnehin viel schwerer als Frauen, die Kontrolle abzugeben. Wie oft hatte sie im Krankenhaus erlebt, dass Patienten sich widerborstig gaben, ausgerechnet dann, wenn sie besonders starke Schmerzen hatten. Doch sie hätten sich lieber die Zunge abgebissen, als das zuzugeben.

„Können Sie mir sagen, welcher Tag heute ist?“, lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung. Das hatte natürlich einen ganz bestimmten Zweck. Mit einfachen Fragen ließ sich feststellen, ob eventuell eine Verwirrung vorlag, die auf eine Gehirnerschütterung hindeuten konnte.

„Ich kann. Aber ich will nicht.“ Julien gab sich sichtlich Mühe, mit kräftiger Stimme zu sprechen, doch es wollte ihm nicht recht gelingen.

Holly blieb unbeirrt an ihren Fragen dran. „Wo wohnen Sie?“

„Das geht Sie nichts an.“

„Wie heißen Sie?“

„King Kong“, gab er muffelig zurück.

„Na, also. Endlich mal eine konkrete Antwort“, meinte sie trocken. Wenn er Ironie wollte, dann sollte er sie bekommen.

Holly erwartete einen weiteren spöttischen Kommentar, doch Julien schien gar nicht richtig zugehört zu haben. Stattdessen machte er Anstalten, aufzustehen. Sie bot ihm ihren Arm und ihre Schultern an, damit er sich aufstützte, aber statt ihre Hilfe anzunehmen, robbte er in Richtung eines verdorrten Baumstumpfes, um sich daran hochzuziehen.

Als er feststellte, dass er einen Fuß aufstellen konnte, brummelte zufrieden: „Geht doch!“ Er wollte den anderen nachziehen, verzog jedoch sein Gesicht vor Schmerzen.

Er probierte es mehrere Male – das Ergebnis blieb dasselbe. Die Bedeutung seiner nachfolgenden Worte verstand Holly nicht. Es klang, als würde er auf Französisch fluchen. Im nächsten Moment saß er wieder auf dem Boden und lehnte sich erschöpft gegen den Baumstumpf. Seine Miene verfinsterte sich schlagartig.

Nur nicht entmutigen lassen.

Holly hatte keine Ahnung, wem dieser Zuspruch mehr galt, Julien oder ihr selbst. Dabei machte es ihr dieses Mal nicht besonders viel aus, dass er sich ihr gegenüber so ruppig verhielt. Sie wusste zwar seit ihrer ersten Begegnung, dass er nicht gerade der größte Charmeur unter der Sonne war, aber nun konnte sie immerhin die Schmerzen für seine Übellaunigkeit verantwortlich machen. Was ihr Kopfzerbrechen bereitete, war vielmehr, dass sie einen Weg finden musste, Julien von hier wegzutransportieren. Alleine würde sie das allerdings nicht schaffen.

Sie stand auf und sah sich um. Felsen. ...

Autor

Alicia Leonardi
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Kate Summer
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Becky Wicks
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