Romana Extra Band 137

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RISKANTE VERSUCHUNG AUF MADEIRA von LUCY FOXGLOVE
Auf der Blumeninsel Madeira tritt Emily ihren Traumjob an! Doch etwas stimmt nicht auf dem Weingut der Pereiras. Beunruhigt wendet sie sich an den attraktiven Malino, den ältesten Sohn. Heftig knistert es zwischen ihnen – aber warum verrät er ihr nicht, was hier gespielt wird?

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  • Erscheinungstag 29.08.2023
  • Bandnummer 137
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517508
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lucy Foxglove, Ruby Basu, Suzanne Merchant

ROMANA EXTRA BAND 137

1. KAPITEL

Ribeira Brava, Madeira

Die Sonne malte Muster aus Schatten und Licht auf die Steinplatten, der Wind raschelte durch die Palmwedel, und Emily seufzte glücklich. Sie schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab, um eine Möwe zu beobachten, die im Wind segelte. Wieder einmal durchströmte sie das Glück, hier sein zu dürfen – und zu bleiben! Vorbei war die Zeit der Unsicherheit und der Aushilfsjobs. Im vergangenen Sommer hatte sie als Erntehelferin auf dem Weingut der Pereiras begonnen und danach bei verschiedenen Tätigkeiten ausgeholfen, aber ab heute war alles anders. Ab heute war sie offiziell die Buchhalterin auf dem kleinen historischen Weingut Quinta da Luz Vermelho auf Madeira. Die letzten Schritte zum Auto tanzte sie.

Kurz dachte sie an das Telefonat mit ihrer Mutter am Vortag. Bei jedem Gespräch bläute die ihr ein, dass sie nach England gehörte, in ihre Heimat. Ihre Mutter verstand nicht, dass Heimat nicht das Land sein musste, in dem man geboren und aufgewachsen war. Manchmal passierten eben Dinge, die es einem unmöglich machten, einen Ort noch länger als Heimat anzusehen. Und so hatte Emily England und die schmerzhaften Erinnerungen hinter sich gelassen, um eine neue Heimat für ihr Herz und ihre Seele zu finden.

Madeira war schon seit der achten Klasse ihr Traumziel gewesen. Seit ihre Schulfreundin Samantha ihr eine Postkarte von einem Familienurlaub geschickt hatte: Strelitzien vor einem Fliesenmosaik in Blau und Weiß. Die für Portugal so typisch glasierten Keramikfliesen, Azulejos genannt, konnte sie nun endlich in natura bestaunen. Es gab sie überall. Sie zierten Brunnen, schmückten Gebäude und Mauern. Die überwiegend in Blau und Weiß gehaltenen Bilder, die daraus entstanden waren, zeigten Alltagsszenen oder Fabeln. Das Foto auf der Postkarte stammte aus dem Garten des Monte Palace in Funchal. Mittlerweile hatte Emily den Garten schon oft besucht. Die Anlage und die gesamte Insel waren genauso schön wie in ihren Träumen.

Sie erinnerte sich genau an das erste Gespräch über Madeira: „Es gibt dort Strelitzien und Palmen, moosbewachsene Bäume und riesige Farne!“, hatte sie ihrer Mutter damals vorgeschwärmt.

„Gärten gibt es in England doch wie Sand am Meer“, hatte Mum geantwortet.

Emily hatte dieses Desinteresse nie verstanden. Sie wollte die Blumen und ihre Farben mit eigenen Augen sehen, ihren Duft einatmen. Bougainvillea neben riesigen Kakteen, moosbewachsene Lorbeerbäume. Und jetzt war sie hier!

Emily drehte sich noch einmal im Kreis und sog die Atmosphäre des Küstenstädtchens ein, in dem sie nun seit über einem halben Jahr wohnte. Der Schatten der Kirche São Bento mit seinem blau-weiß gekachelten Turmdach fiel auf den gepflasterten Platz zu ihrer Linken. Der strahlend blaue Himmel gehörte schon so sehr zu ihrem Leben wie die von Palmen gesäumte Straße und der schmale Strand unterhalb der Mauer mit dunklem Sand und Kieseln.

Die Frühaufsteher unter den Touristen flanierten bereits zur Kirche, um später vielleicht in einem der Cafés zwischen Bergen und Meer zu sitzen und Pastéis de Nata, die herrlichen Vanilletörtchen, zu genießen, dazu einen Galão, den wunderbaren Kaffee der Insel.

Emily warf einen letzten Blick aufs dunkelblaue Meer, das sich bis zum Horizont erstreckte, und stieg in ihr kleines Auto. Die Fahrt zum Weingut der Pereiras dauerte nur zwanzig Minuten. Erst folgte sie dem Fluss, der ihrem Wohnort den Namen gegeben hatte, dann bog sie zwischen einer Bananenplantage und einem Feld mit Zitronenbäumen ab und fuhr hinauf in die dunkelgrünen Berge. Die Straße schlängelte sich an Feigenbäumen und Obstfeldern mit Melonen und Papayas vorbei. Bei jeder Kurve blitzte das Meer dunkelblau in ihrem Sichtfeld auf. Emily liebte es einfach.

Sie ließ das Fenster ein Stückchen herunterfahren, um die Geräusche des Sommers und den frischen Fahrtwind hereinzulassen. Die Zikaden waren sogar über das Brummen ihres in die Jahre gekommenen kleinen Fiestas zu hören. Bald erreichte sie die ersten Weinstöcke. Ein bemaltes Schild kündigte die Quinta da Luz Vermelho an, wo sie von nun an fest angestellt war. Emily lächelte.

Hinter der nächsten Biegung begrüßte der riesige Eukalyptusbaum sie wie ein alter Freund, und direkt dahinter lag die dunkelrosa gestrichene Mauer des Weinguts. Emily fuhr durch das geöffnete Holztor auf den gekiesten Hof und parkte im Schatten der alten Scheune. Das Wohnhaus der Pereiras und das etwas kleinere Haus, in dem deren Schwiegertochter Luisa mit ihrem kleinen Sohn lebte, thronten erhaben auf einer leichten Anhöhe.

Luisas Haus war im gleichen Rosaton gestrichen wie die Scheune. Das Haus der Besitzer strahlte weiß unter dem traditionellen roten Terrakottadach. Die Fenster aller Gebäude waren mit breiten dunkelgrauen Rahmen versehen. Das ließ alles noch herrschaftlicher wirken, genau wie die Balkone mit den dunkelgrauen verzierten Geländern und die hohen weißen Schornsteine mit ihren kleinen Dächern aus Ziegeln. Die Fensterläden waren geschlossen, um die Tageshitze aus den Räumen zu halten, dennoch wirkte das Gut auf Emily einladend und schon fast wie eine Art Zuhause.

„Bom Dia!“ Emily stieg gut gelaunt aus dem Auto. Gerade trat Senhora Pereira aus dem Haus. Die Portugiesin band sich ihr rot-grün gemustertes Kopftuch um die graumelierten schulterlangen Haare. Mit dem Tuch sah sie älter aus, als sie wahrscheinlich war. Emily schätzte sie auf etwa Ende fünfzig. Die Lachfältchen um ihre Augen vertieften sich, als die Frau sie entdeckte.

„Herzlich willkommen!“, rief die Portugiesin und drückte Emily kurz an ihre üppige Brust. Sie duftete wie immer nach Rosmarin, Seife und Erde. „Herzlich willkommen als unsere neue Buchhalterin!“

„Danke.“ Emily lachte. „Ich hoffe, dass ich Ihre Erwartungen erfüllen kann.“

„Ganz bestimmt, jetzt gehörst du schon fast zur Familie.“

Wärme lag in Senhora Pereiras Stimme, und in Emilys Bauch kribbelte es vor Glück. Sie war wirklich angekommen. Lächelnd reichte sie ihrer Arbeitgeberin den unterzeichneten Vertrag.

„Vorbildlich, komm, ich zeige dir dein Büro.“

Die Portugiesin lief vor ihr her, ihr wadenlanges Schürzenkleid passte so gut in diese Umgebung, dass Emily sich in ihrem schmal geschnittenen dunkelblauen Etuikleid fast wie aus der Zeit gefallen fühlte. Sie gingen in die ehemalige Scheune, stiegen die Steintreppe hoch und betraten ein kleines sonniges Büro mit Schreibtisch, Computer und mehreren Regalen voller Ordner.

Sie warf einen Blick aus dem Fenster, dessen Läden weit geöffnet waren. Von hier aus sah sie hinter den leuchtend grünen Blättern der Weinreben sogar das Meer. Wenn sie sich nur ein wenig nach links beugte, kamen die dunkelgrün bewaldeten Gipfel der Berge ins Blickfeld, an die sich ein paar Wolken schmiegten, darüber strahlend blauer Himmel. „Wie im Paradies.“

Senhora Pereira tätschelte ihr die Hand. „Ja, das ist es. Und jetzt lasse ich dich allein, damit du anfangen kannst, unsere Buchhaltung endlich wieder auf Vordermann zu bringen. Valeria ist ja leider schon einige Monate fort und die ganzen Zahlen sehen wie ein Geheimcode aus, nicht mal Luisa kann da noch helfen.“ Sie lachte und eilte nach draußen, um ihren eigenen Aufgaben nachzugehen.

Emily sah sich in ihrem kleinen Büro um. Endlich war ihr Leben auf Madeira so, wie sie es sich immer erträumt hatte. Sie strich liebevoll über die Tischplatte und machte sich dann voller Elan an die Arbeit. Sie richtete den Computer für sich ein, öffnete die bestehenden Dateien und suchte die aktuellen Unterlagen und die neuen Rechnungen heraus. Sie vertiefte sich in die Zahlen, füllte Tabelle um Tabelle aus und holte alles nach, was ihre Vorgängerin vor ihrem letzten Arbeitstag wohl nicht mehr geschafft hatte.

Obwohl sie Valeria nie persönlich kennengelernt hatte, so hatte sie doch einiges gehört. Von den Pereiras wusste sie, dass die letzte Buchhalterin im vergangenen Jahr nicht mehr regelmäßig arbeiten konnte. Es war die Rede davon, dass sie sich nun in einer Spezialklinik aufhielt. Unter den Erntehelfern hatten verschiedene Gerüchte kursiert, aber niemand schien etwas Genaues zu wissen. Tatsächlich hatten die Pereiras die Hoffnung gehabt, dass Valeria ihre Arbeit wieder antreten würde, doch so war es nicht gekommen. Eines Morgens hatte Senhora Pereira ihr ihr Leid geklagt, und Emily hatte erwähnt, dass sie gelernte Buchhalterin war. Eine wirklich glückliche Fügung.

Irgendwann schreckte Emily aus ihrer Arbeit auf, da sie ein energisches Klopfen hörte. Sie rieb sich den Nacken. „Ja?“

Erst sah sie nur einen Teller mit fünf kleinen Küchlein und frisch aufgeschnittener Mango, dann tauchte Senhor Pereira im Türrahmen auf. Sein Schnurrbart zitterte amüsiert, als er seine neue Buchhalterin musterte.

„Du musst hungrig sein, diese ganzen Zahlen!“ Er lachte leise und lüpfte seine dunkle Baskenmütze.

„Wie lieb, die sehen wunderbar aus. Sind das die berühmten Quarkküchlein Ihrer Frau?“, fragte Emily und nahm den Teller entgegen.

„Queijadas, sim.“ Er nickte und lehnte sich an die Tischplatte, die Hände schob er in seine Hosentaschen und deutete mit dem Kopf zum Fenster. „Du solltest sie draußen essen, Pausen mit frischer Luft sind wichtig.“

„Oh ja, Sie haben recht.“ Emily stand auf und folgte ihrem Arbeitgeber durch das kühle Treppenhaus hinaus in die Nachmittagssonne.

„Emily!“, ertönte eine Kinderstimme, und in der nächsten Sekunde umklammerte der fünfjährige Tiago fest eins ihrer Beine. „Es gibt Queijadas!“

Er ließ sie los und hüpfte hinüber zu dem langen Holztisch, der unter der von Wein überrankten Pergola stand. Seine dunklen Augen strahlten. Neben seinem Teller hatte er ein paar der Schätze aufgebaut, die er offenbar beim Spielen gefunden hatte.

„Sieh mal!“ Er hob zwei schneeweiße Schneckenhäuser hoch, die beinahe so groß waren wie seine Handfläche.

Luisa und ihre Schwiegermutter brachten weitere Platten aus dem Haus und stellten sie auf den Tisch.

Tiago reichte Emily eins der Schneckenhäuser und zog sie zu dem Stuhl neben seinem. Sie bewunderte erst Tiagos Schneckenhäuser, dann die Platten mit Oktopussalat, frischem Brot und gebratenen Sardinen.

„Ich kann doch nicht … ich möchte nicht stören.“ Emily wollte aufstehen und gehen, aber Luisa warf ihr einen genervten Blick zu und schloss Tiago in die Arme, der an ihr hochhüpfte.

„Unsinn!“, sagten Senhora Pereira und ihr Mann zeitgleich und gaben sich kurz einen Kuss, als sie es bemerkten. „Dein erster Tag muss gefeiert werden!“

Senhor Pereira deutete auf Emilys Teller. „Meine Frau hat wieder viel zu viel gemacht“, scherzte der alte Portugiese und hängte seine Mütze über die Stuhllehne.

Senhora Pereira lächelte sie freundlich an. „Wie geht es deiner Mutter?“

„Gut.“ Emily lud sich von den Köstlichkeiten auf ihren Teller und verdrängte das Bild des grauen engen Esszimmers ihrer Mutter.

„Ist sie nicht traurig, dich so selten zu sehen, seitdem du hier wohnst?“

„Antonia“, sagte Senhor Pereira leise. „Lass doch.“

„Oh, ich wollte dir nicht zu nahe treten.“ Senhora Pereira drückte Emilys Hand.

„Wir telefonieren oft“, sagte Emily ausweichend.

„Das ist schön.“

Luisa schnalzte mit der Zunge. „Die Familie muss man besuchen, wenn man sie noch hat. Telefonate sind kein Ersatz.“

Gerade wollte Emily sich verteidigen, da mischte sich der kleine Tiago in das Gespräch ein und lenkte alle ab.

„Ich brauche meine Mama nicht zu besuchen, ich wohne bei ihr“, rief er und nahm sich ein Stück vom frischen Weißbrot. „Hast du auch einen Papa?“

Emily schüttelte den Kopf. „Nein, mein Vater ist leider früh gestorben.“ Wenn es nach ihrer Mutter ginge, müsste sie das Wörtchen „leider“ weglassen. Sie konnte sich gar nicht an ihren Vater erinnern.

„Ich habe auch keinen, das ist nicht so schlimm.“ Tiago lächelte sie an.

Für einen Moment herrschte bedrückende Stille am Tisch, aber dann erzählte Tiago einen Witz und alle lachten. Sie aßen reichlich und unterhielten sich. Luisa hielt sich bei allem zurück. Sie gab nie viel von sich preis. Nur wenn sie ihren Sohn ansah, wurden ihre Züge weich.

Als sie aufgegessen hatten, stand Luisa auf und stapelte die benutzten Teller. Emily nahm die leeren Schüsseln und folgte ihr ins Haus. Nicht zum ersten Mal fühlte sie sich in Gegenwart der gleichaltrigen Frau nicht willkommen.

„Danke“, sagte Luisa kurz angebunden.

„Ich kann dir abspülen helfen“, bot Emily an, aber die junge Portugiesin winkte ab.

„Mache ich später, es lohnt sich erst nach dem Abendessen. Jetzt ruft der Wein, wir müssen wieder raus zu den Reben. Und du musst sicher zu den Büchern.“

Emily kehrte ins Büro zurück. Kurz überlegte sie, woran Tiagos Vater gestorben sein mochte. Sie hatte nur Gerüchte gehört, wusste aber nichts Genaues.

Sie erledigte die anliegenden Arbeiten und sah die aktuellen Unterlagen durch, anschließend widmete sie sich ein paar der älteren Ordner und las sich ein. Irgendwann stutzte sie. Irgendetwas passte hier nicht. Wenn diese Zahlen stimmten … Sie grübelte einen Moment, dann sagte sie sich, dass sie vermutlich nur überarbeitet und müde war. Morgen war auch noch ein Tag, der würde Licht in die Sache bringen und ihre Zweifel beseitigen.

Eine Stunde später schloss Emily die Tür ihres Apartments auf und stellte das Teewasser an, dann lehnte sie sich erschöpft an die schmale Küchenzeile und sah hinaus in die Nacht. Kein Wunder, dass sie so müde war, der Tag war lang gewesen. Energisch schob sie den Gedanken daran, dass die letzten Zahlen nicht stimmen konnten, beiseite. Sie würde sich morgen darum kümmern und sicherlich feststellen, dass sie sich geirrt hatte.

Das Telefon schrillte mitten in ihre Gedanken hinein, und sie schrak zusammen. Sie lief zu ihrem Nachttisch, wo sie das Handy hingelegt hatte, nahm den Anruf an und bemühte sich um einen lockeren Ton: „Hi, Mum.“

„Hallo Schatz, was ist denn los?“

„Ach, ich bin nur müde, es war ein langer Tag. Aber sehr schön“, beeilte sie sich zu sagen.

„Du musst darauf achten, dass du genug Schlaf bekommst“, tadelte ihre Mutter.

„Ja, natürlich, das mache ich schon.“ Sie erzählte von dem gemeinsamen Essen mit den Pereiras und dem kleinen Tiago. Diesen Fehler bemerkte sie allerdings zu spät.

„Du könntest längst selbst Mutter sein, wenn du Jonathan nicht verlassen hättest.“

Emily presste die Lippen zusammen. Sie hatte ihrer Mutter nie erzählt, warum sie die Verlobung gelöst hatte, und das wollte sie auch jetzt nicht ändern. „Tiago ist einfach ein niedlicher kleiner Junge. Das bedeutet ja nicht, dass ich etwas vermisse.“

„Mein armer Schatz“, sagte ihre Mutter, als hätte sie nichts gesagt. „Wo ist denn der Vater des Kleinen? Du erzählst immer nur von seiner Mutter.“

„Er ist leider gestorben, ein Unfall.“ Sie wusste nichts Genaues, das Ganze war wohl schon vor einigen Jahren passiert.

„Der arme Junge, aber es geht uns ja auch eigentlich nichts an.“

„Nein, natürlich nicht.“ Emily gähnte übertrieben laut.

„Manchmal ist es besser, wenn die Männer fort sind. Nicht jeder ist ein guter Vater, weißt du?“

„Ich weiß, Mum.“

„Kaum hat man festgestellt, dass man ein Baby bekommt, schon sind sie über alle Berge. Wenn man Pech hat und sich die Männer verstellen, ist man danach allein und mittellos. Jonathan hätte so etwas nicht gemacht, da bin ich mir sicher. Na ja, die meisten Männer sind so. Das liest man ja auch immer wieder in der Zeitung.“

„Ja, Mum.“ Es machte keinen Sinn, ihrer Mutter zu widersprechen. Schließlich sprach sie von Emilys Vater und hatte mit ihm genau das selbst erlebt.

„Ich sage ja nur, dass du vorsichtig sein und gut prüfen musst, auf wen du dich einlässt. Du bist doch so leichtgläubig.“

Emily schluckte die Bemerkung, dass sie auch gerne mal etwas Positives von ihrer Mutter gehört hätte, hinunter. „Mum, es ist wirklich schon spät …“

„Oh ja, du hast recht. Du brauchst deinen Schlaf. Gute Nacht, Sweetheart!“

„Gute Nacht, Mum. Schlaf gut.“

Emily beendete das Gespräch und starrte minutenlang auf das schwarze Display. Warum waren Telefonate mit ihrer Mutter immer so schwierig? Sie sagte ihr selten, was sie wirklich dachte, denn in Mums Augen war ihre Meinung in der Regel falsch. Genau wie diese Zahlen heute … aber Zahlen ließen sich nicht manipulieren, sie waren ehrlich. Morgen würde sie den Fehler finden, ihn korrigieren, und alles wäre gut.

Edinburgh

Malino stand im Morgenmantel in der Küche seines Penthouses und hob die Hand zum Abschied, als die Blondine den Kopf zur Tür hereinsteckte. Wie war noch gleich ihr Name? Amy? Anna?

„Adeus!“, sagte sie.

Ihr Lächeln sah müde aus, aber nicht traurig. Sie waren sich einig gewesen, dass es ein One-Night-Stand bleiben würde, offenbar war ihr das genauso wichtig wie ihm.

„Werd nicht nass da draußen.“ Malino nickte zum Fenster. Dunkelgraue Wolken hingen über den Dächern der Stadt.

„Ist ja nicht weit, danke für alles.“ Sie deutete auf das benutzte Frühstücksgeschirr.

Malino brachte sie zur Tür. Erneut gab sie ihm die Hand und sie grinsten sich an. Genau wie gestern Abend, als sie sich über zwei Mint Juleps einig geworden waren, dass es nur eine Nacht geben würde.

Malino konnte kaum noch zählen, wie viele verschiedene Frauen er in letzter Zeit in sein Penthouse gebracht hatte, immer für eine einzige Nacht. In die Wohnungen der Frauen ging er nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Dann hatte er viel zu schnell das Gefühl, zu viel von ihnen zu erfahren. Es war ihm zu nah. Seine eigene Wohnung war ein sicherer Hafen. Hier konnte ihm nichts passieren. Die Gegenstände voller Erinnerungen hatte er alle auf Madeira gelassen.

Der Kalender fiel ihm ins Auge. Ende Mai. In ein paar Wochen würde er ein Flugzeug besteigen und für zwei Tage in seine Vergangenheit reisen. Für Davinho. Es war Ironie des Schicksals, dass er jedes Mal beinahe ein Jahr brauchte, um diese kurze Reise zu verarbeiten. Er hatte nicht den Eindruck, dass es mit der Zeit einfacher wurde.

Er könnte seinem Bruder etwas mitbringen. Etwas aus Schottland, vielleicht würde es ihm gefallen. Die Whiskeyfässer hatte Davinho immer gemocht, als sie Kinder gewesen waren und auf dem Gut der Eltern umhertollten. Nie hatten sie sich gelangweilt, zumindest erinnerte er sich nicht daran.

Malino knallte seine Kaffeetasse etwas zu heftig auf die Arbeitsplatte und starrte nach draußen. Dieses Wetter gab ihm den Rest. Eigentlich konnte er diese Stimmung auch ausnutzen und seiner Pflicht nachkommen.

Seufzend griff er nach dem Handy und wählte die Vorwahl von Madeira, dann die Nummer, die er immer noch auswendig kannte. Es klingelte bestimmt zehn Mal, doch niemand hob ab. Vielleicht waren seine Eltern schon draußen bei den Reben. Er würde es einfach morgen noch mal probieren.

Ihn überkam ein schlechtes Gewissen, weil er sich zu wenig meldete. Womöglich war das aber nicht der Grund. Ein schlechtes Gewissen hatte man schließlich automatisch, wenn man sich schuldig gemacht hatte, oder nicht? Zu allem Überfluss war er nach der Tragödie einfach ausgezogen, hatte Hof und Land so schnell den Rücken gekehrt, wie es ging.

Wäre jene furchtbare Nacht nicht gewesen, hätte ihm niemand einen Vorwurf daraus gemacht, dass er mit siebenunddreißig nicht mehr zu Hause wohnte. Doch seinetwegen war der fleißigere Sohn fort, und er hätte fairerweise dessen Aufgaben auf dem Weingut übernehmen müssen, so gut es ging. Das Problem war nur, dass es überhaupt nicht ging.

Malino drehte sich vom Fenster weg, wo der Regen schräg gegen die Scheibe trommelte. Aus dem Augenwinkel sah er einen Blitz und schaltete die Stereoanlage an, um den Donner zu übertönen. Für seine Eltern war Schottland das Land seiner Träume. Er hatte es oft genug in den buntesten Farben geschildert und hatte das Gefühl, dass er dieses Bild um jeden Preis aufrechterhalten musste. Damit der Grund, Madeira und den Familienbetrieb zu verlassen, glaubwürdig blieb.

Auf einmal hörte er nur noch den Regen und sah alles wieder vor sich. Die Dunkelheit, den Rettungswagen, das Polizeiauto, die nasse Straße. Das tränenüberströmte verzweifelte Gesicht seiner Mutter, die kummervollen Augen seines Vaters und das flackernde Blaulicht, das sich darin spiegelte. Die Leere, obwohl so viele Menschen dort waren, laut riefen. In ihm war es still gewesen. Er wusste, dass der Unfall tödlich verlaufen war, noch bevor der Plastiksarg über die Straße getragen wurde.

In dieser Nacht hatte der Regen nicht rechtzeitig aufgehört. Natürlich war der Regen nicht schuld am Tod von Davinho. Schuld war allein er, und dafür würde er für den Rest seines Lebens bezahlen, auch wenn das nie genügen würde.

2. KAPITEL

Am nächsten Morgen war es wie immer, als Emily auf dem Weingut der Pereiras ankam, die Sonne schien, die Zikaden stimmten ihr Lied an, aber etwas wirkte trotzdem falsch. Sie sah sich um und versuchte, das seltsame Gefühl abzuschütteln.

Eine Tür fiel ins Schloss, und Luisa kam auf den Hof. Sie sah müde aus, tiefe Schatten lagen unter ihren Augen, und als Emily sie freundlich grüßte, bekam sie nicht mal ein halbes Lächeln zustande. Luisa wahrte zwar stets eine gewisse Distanz, aber jetzt wurde Emily mulmig zumute.

„Ist alles okay?“, wandte sie sich an die junge Portugiesin.

Die schüttelte stumm den Kopf. Schimmerten da Tränen in ihren Augen? Emilys Herz klopfte schneller. Es war offensichtlich, dass Luisa nicht darüber reden konnte.

„Ist etwas passiert?“, fragte Emily beklommen.

Luisa nickte. „Reinaldo hatte gestern Nacht einen Schlaganfall. Antonia hat ihn ins Krankenhaus begleitet“, murmelte sie und wischte sich über die Augen, gerade als Tiago eilig über den Kies gerannt kam. „Er weiß es nicht“, flüsterte Luisa eindringlich, bevor ihr Sohn sie erreicht hatte.

„Mama! Emily!“, rief er. „Ich muss euch was zeigen! Ganz schnell!“

Der kleine Junge hüpfte auf und ab, und Emily wuschelte ihm durch sein dichtes schwarzes Haar. Seine Augen leuchteten fröhlich, und alles an ihm schien zu hüpfen und gut gelaunt zu sein.

Luisa gähnte hinter vorgehaltener Hand, was ein wenig unecht wirkte. „Seid mir nicht böse, ich brauche erst einen Kaffee. Ich schaue es mir später an, ja, miúdo?“

„Ja, lass deine Mama mal in Ruhe wach werden, und ich komme mit dir mit, ja?“ 

Kurz sah Tiago enttäuscht aus, doch dann griff er nach ihrer Hand und zog sie mit in Richtung der alten Holzscheune. Emily freute sich über das überschäumende Temperament des Kleinen und ging bereitwillig mit. Dennoch sah sie sich besorgt nach Luisa um, aber die eilte bereits zurück zum Haus.

Trotzdem versuchte sie, sich auf Tiago zu konzentrieren. „Was gibt es denn so Tolles zu sehen?“, fragte sie, doch der Kleine verriet nichts. Endlich blieb er stehen und deutete aufgeregt auf eine Lücke zwischen zwei Holzbrettern in der ältesten Scheune. Er legte einen Finger auf seine Lippen und bedeutete ihr, zu lauschen. Gemeinsam knieten sie sich auf den Boden, und Emily strengte sich an, die Geräuschkulisse der Zikaden und Schwalben auszublenden, das Rascheln der Weinblätter. Und da hörte sie es tatsächlich. Ein winziges Maunzen. Sogar mehrere!

„Caramba hat Babys bekommen“, flüsterte er zu laut.

Emily musste lächeln. Sie drückte Tiago kurz an sich und spähte mit ihm in den dunklen Schuppen. „Es klingt nach fünf Kätzchen, oder was meinst du?“, fragte sie leise.

Tiago nickte aufgeregt. „Bestimmt fünf oder sogar sieben!“

„Wir dürfen sie aber nicht stören“, sagte Emily und stand auf. „Sicher kommen die Kleinen bald von selbst heraus, um die Welt zu erkunden, dann kannst du ihnen alles zeigen, oder?“, ergänzte sie, als sie sein enttäuschtes Gesicht sah.

Sofort leuchteten seine Augen wieder.

„Komm, wir lassen ihnen etwas Ruhe. Hast du denn gefrühstückt?“

„Vor Stunden“, sagte Tiago und winkte ab. „Ich bin schon eine halbe Ewigkeit wach. Du nicht?“

„Doch natürlich, aber so lange wie du bin ich bestimmt noch nicht auf den Beinen.“

„Na ja, du bist ja auch älter und brauchst mehr Schlaf“, meinte er fachmännisch.

Emily musste lachen und verdrängte die Sorge um Senhor Pereira. Sie spazierten zurück auf den Hof, und sie steuerte auf das Gebäude zu, in dem ihr Büro lag. Gerade schloss sie die Tür auf, da fuhr ein Auto auf den Hof. Eine Staubwolke wirbelte auf, sodass sie hustete.

Als sie sich umdrehte, erblickte sie einen großen teuer aussehenden Geländewagen mit verdunkelten Scheiben, der besser vor einen Nachtclub gepasst hätte. Der Motor erstarb, und ein gut gekleideter Mann mit perfekt zurückgegelten Haaren und dunkler Sonnenbrille stieg aus. Noch hatte er sie nicht entdeckt, und sie trat instinktiv zurück in den Schatten. Wer war das?

Luisa kam aus ihrem Haus und betrachtete das fremde Auto argwöhnisch. „Kann ich Ihnen helfen?“, erkundigte sie sich.

„Senhora Pereira?“, fragte er.

„Sim.“ Sie nickte.

Er musterte sie und schob seine Sonnenbrille mit einer wichtigtuerischen Geste ins Haar. Emily misstraute ihm auf Anhieb. Noch bevor er sagte, wer er war, wusste sie, dass er keine guten Neuigkeiten bringen würde.

„Senhora Antonia Pereira?“, fragte er, um sicherzugehen.

Es dauerte einen Moment, bis Luisa antwortete. „Não, Luisa Pereira“, stellte sie sich vor. „Und Sie sind?“

„Carvalho, Rafael Carvalho.“ Er klemmte sich seine Mappe unter den Arm und reichte Luisa die Hand.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte Luisa.

Emily hielt in ihrem Versteck die Luft an.

„Das müsste ich mit dem Besitzerehepaar besprechen.“

„Ich fürchte, dann müssen sie an einem anderen Tag wiederkommen. Die beiden sind heute nicht da.“

„Aber ich habe einen Brief geschickt“, maulte er.

„Das mag schon sein, doch es gab einen Notfall. Es tut mir sehr leid, ich kann Ihnen nur anbieten, an ihrer Stelle mit Ihnen zu sprechen und alles an meine Schwiegereltern weiterzugeben. Sie werden sich mit Sicherheit bei Ihnen melden, sobald es geht.“

„Nun ja.“ Er zögerte. „Vielleicht können Sie mir trotzdem helfen. Heute sollte Senhora Pereira mir das Anwesen zeigen. Ich muss natürlich alles sehen, bevor ich eine endgültige Entscheidung treffe.“

„Eine Entscheidung?“, hakte Luisa nach.

Emilys Herzschlag setzte aus. Wer war dieser Senhor Carvalho und was wollte er? Planten die Pereiras irgendwelche Modernisierungen? Davon hätte sie sicherlich erfahren, und dafür müsste es größere Rücklagen geben. Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf, als sie an die Zahlen dachte, die sie gestern nicht ganz einzuordnen gewusst hatte. Hatte sie sich vertan?

„Über den Wert.“

Dieser Satz hallte über den Hof und alles schien die Luft anzuhalten. Der Wind wisperte nicht mehr, die Schwalben waren verschwunden, die Zikaden legten eine Pause ein. Auch Luisa verschlug es offenbar die Sprache.

Warum wollte er den Wert der Quinta wissen? Um es zu kaufen? Oder brauchte er es als Sicherheit?

„Der Hof ist sehr wertvoll“, meldete sich plötzlich Tiago, der an Luisas Seite auftauchte. „Es sind schließlich mehrere Häuser.“

„Ist schon gut, mein Kleiner“, sagte Luisa und strich ihrem Sohn mechanisch durchs Haar. „Ich kläre das mit Avó und Vovô.“ Sie lächelte unsicher. „Ich muss kurz telefonieren.“

Luisa sah so unglücklich aus bei diesem Satz, dass sich Emilys Herz zusammenzog. All das hier war nicht gut, aber sollte sie sich einmischen? Lieber nicht, sie hatte hier am wenigsten zu sagen und leider auch noch nicht genügend Überblick.

„Sind Sie ein Geheimagent?“, brach Tiago das Schweigen und deutete auf den Wagen mit den abgedunkelten Scheiben. Seine Augen strahlten.

„Nein“, sagte der Fremde knapp.

„Ein Polizist?“, fragte Tiago. „Darf ich Ihren Ausweis sehen? Und Ihre Dienstwaffe?“

„Ausweis“, wiederholte Luisa langsam. „Das ist eine gute Idee. Darf ich fragen, wofür Sie den Wert des Weinguts wissen müssen?“

„Darüber kann ich nur mit den Besitzern sprechen“, sagte er störrisch.

„Aber Sie können mir sagen, wer genau Sie sind“, beharrte Luisa nun.

„Finanzamt Funchal“, sagte er kurz angebunden und zog umständlich eine Visitenkarte aus seiner Aktentasche, die er Luisa hinhielt. „In den letzten Jahren wurden keine Steuern abgeführt, und es wurde auf keins unserer Schreiben reagiert.“

„Unsere letzte Buchhalterin ist krank geworden“, erklärte Luisa.

Emily musste sie dafür bewundern, dass sie nicht im Mindesten nervös wirkte. Sie dagegen hätte sich durch diesen Mann einschüchtern lassen. Wie lange hatten die Pereiras keine Steuern bezahlt? Konnte das sein? Hier lag doch bestimmt ein Missverständnis vor.

Der Beamte redete ungerührt weiter. Er sprach von mehreren Jahren. Durch das Rauschen in ihren Ohren hörte sie die Worte „Gläubiger“, „Strafe“ und „Pfändung“. Das war ein Albtraum.

Sie musste das sofort prüfen. Damit niemand auf sie aufmerksam wurde, schlich sie zur Tür, eilte so leise wie möglich in ihr Büro und schloss die Tür mit zitternden Fingern hinter sich ab. Früher oder später würde der Finanzbeamte die Bücher sehen wollen … oder sie sogar beschlagnahmen. Sie hatte vermutlich nur Minuten, um etwas zu unternehmen. Aber was?

Auf die Schnelle würde sie es unmöglich schaffen, alles alleine zu prüfen. Zu dumm, dass sie Valeria nicht fragen konnte. Soweit sie wusste, war die in der Klinik und nicht mal ansprechbar, und sie wollte sie auch nicht mit solch unangenehmen Dingen konfrontieren und ihr womöglich ein schlechtes Gefühl geben. Die Frau konnte ja nichts für ihre Krankheit. Aber vielleicht gab es ja eine Buchhalterin davor?

Atemlos blätterte sie durch die Ordner, endlich! Hier stand ein anderer Name. Vor fünf Jahren hatte Malino Pereira sich um die Finanzen gekümmert. Der „verlorene“ Sohn. Während der Ernte hatte sie Klatsch über ihn gehört. Zwei junge Frauen hatten über ihn gesprochen. An den genauen Wortlaut erinnerte sie sich nicht, aber es ging um eine schreckliche Tragödie, deretwegen er fortgegangen war.

Er war möglicherweise nicht der Richtige, doch er war alles, was sie hatte. Der vorletzte Zuständige für die Buchhaltung der Quinta da Luz Vermelho, die nun Hilfe brauchte. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Der Wagen des Finanzbeamten stand noch auf dem Hof. Hoffentlich machte ihm Luisa einen Kaffee, um ihn milde zu stimmen und hinzuhalten.

Emily erinnerte sich, dass Malino Pereira mit einer Whiskeybrennerei in Schottland erfolgreich war und dass er die Beteiligung an der Brennerei durch geschickte Aktiengeschäfte finanziert hatte. Wenn nur die Hälfte der Geschichten stimmte und ihm der Hof seiner Eltern noch etwas bedeutete, konnte er helfen.

Sie griff nach dem Telefon, hielt dann aber inne. Sollte sie nicht zuerst wenigstens mit Luisa darüber sprechen? Nein. Die Zeit drängte. Emily schaute ins Adressbuch und wählte dann die Vorwahl von Großbritannien und anschließend eine Nummer in Edinburgh. Es tutete und sie betete, dass er rangehen möge.

„Olá!“, rief eine dunkle Stimme in den Hörer und Emily hätte ihn beinahe fallen lassen. „Quem fala? Mamã?“

Oh Himmel, warum waren ihre Knie auf einmal so weich? Sie tat hier nichts Verbotenes, sie hatte doch gewissermaßen sogar die Pflicht, den Sohn des Hauses über die aktuelle Lage zu informieren. Ein Finanzbeamter, der den Wert des Gutes schätzen wollte, während seine Eltern abwesend waren. Der Schlaganfall fiel ihr wieder ein.

Olá“, sagte sie endlich. „Hier spricht Emily White.“

„Kenne ich nicht“, unterbrach er sie. „Sie haben die falsche Nummer.“

„Halt, nicht auflegen!“, rief sie. „Sie lieben doch Ihre Eltern, oder?“ Oje, wo kam das denn jetzt her?

„Auf Wiederhören … oder nein, besser nicht.“

Das Besetztzeichen dröhnte ihr ins Ohr. Das hatte sie ja wunderbar hinbekommen. Hektisch sah sie aus dem Fenster, konnte aber weder Luisa noch diesen fremden Mann entdecken. Sein Auto stand jedoch noch immer dort. Malino Pereira musste ihr zuhören. Nur wie? Egal, sie hatte kaum Zeit. Energisch drückte sie auf die Wahlwiederholung und redete los, sobald er dranging.

„Senhor Pereira, ich muss wirklich darauf bestehen. Luisa führt in diesem Moment einen Finanzbeamten über das Gut, und Ihre Eltern sind nicht da!“

„Sie rufen tatsächlich vom Hof meiner Eltern an.“

Er klang so abweisend, dass Emily sich nicht erklären konnte, wieso sie seine Stimme eben so dermaßen attraktiv gefunden hatte.

„Was hat Luisa mit einem Finanzbeamten zu tun?“

„Ich bin die Buchhalterin Ihrer Eltern, seit Kurzem. Es gibt ein Problem.“ Na bravo, Emily! So hatte sie zwar seine Aufmerksamkeit, aber er war jetzt garantiert noch weniger erfreut über ihren Anruf. Nun, darum ging es hier jedoch nicht. „Ihre Eltern sind wie gesagt nicht da, und der Herr vom Finanzamt will das Gut besichtigen, um dessen Wert festzulegen. Wenn mich nicht alles täuscht, kann das nur eins bedeuten …“

„Schulden?“, knurrte Malino. „Dass sie es verkaufen müssen?“

„Oder verpfänden, er hat etwas von Steuerschulden gesagt.“ Ihr wurde kalt. Die Pereiras liebten ihr Weingut, es war ein Familienunternehmen, seit vielen Generationen in der Familie, und es war der schönste Ort der Welt. „Bitte, Sie müssen unbedingt helfen! Ich habe erst gestern angefangen und mir sind Unregelmäßigkeiten aufgefallen und …“ Sie blätterte im letzten Ordner, den sie noch nicht gesichtet hatte, und schluckte. Rote Zahlen. Lange rote Zahlen. „Das darf nicht sein“, flüsterte sie. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie wie eine hysterische Verrückte klingen musste. Sie wusste zu wenig, um den Sohn der Pereiras vernünftig ins Bild setzen zu können. „Hören Sie, ich weiß nur, dass die Quinta Hilfe braucht. Und zwar schnell.“

Malino Pereira schwieg so lange, dass sie schon dachte, er hätte das Telefon einfach weggelegt.

„Hören Sie, Emily, ich wüsste nicht, was ich von hier aus tun sollte. Sprechen Sie mit meinen Eltern, wahrscheinlich hat das alles seine Richtigkeit. Irgendwann wollen sie sich ja auch zur Ruhe setzen.“

„Aber sie sind nicht hier. Und wenn sie verkaufen wollten, hätten sie mich doch informiert. Und überhaupt wäre dann ein Makler hier und niemand vom Finanzamt, verdammt noch mal!“

„Sie werden schon zurückkommen.“ Damit legte er auf. Na toll.

Verdenken konnte sie es ihm leider nicht, was war nur in sie gefahren? Wo waren ihr Fingerspitzengefühl und ihr Takt? Schließlich brauchten sie seine Hilfe. Er hatte die Bücher früher geführt, und zu der Zeit waren die Zahlen tadellos gewesen, die Gewinne hoch. Man konnte doch nicht in fünf Jahren eine Goldgrube in einen Scherbenhaufen verwandeln. Oder?

Es klopfte laut und jemand drückte die Türklinke herunter. Erst wollte sie nicht antworten, aber dann rief Luisa durch das dicke Holz: „Er ist weg.“

Für eine Schrecksekunde fühlte Emily sich wie gelähmt, schließlich entriegelte sie in Windeseile die Tür. Noch nie hatte sie Luisa so verzweifelt gesehen. Sie konnte nicht anders, ging auf die Frau zu und nahm sie in den Arm. Luisa schluchzte haltlos an ihrer Schulter und klammerte sich so an sie, dass Emily fast Angst bekam. Beruhigend strich sie ihr über den Rücken und murmelte tröstende Worte. Endlich versiegten die Tränen und Luisa löste sich von ihr.

„Danke“, sagte sie leise, als Emily ihr ein Taschentuch reichte.

„Was ist denn passiert?“, fragte sie sanft. „Was hat der Finanzbeamte gesagt?“

Luisa schüttelte den Kopf. „Reinaldo“, flüsterte sie und putzte sich die Nase. „Antonia hat vorhin angerufen, er liegt auf der Intensivstation, aber er scheint stabil. Ob er Langzeitschäden davontragen wird, kann man noch nicht sagen.“

Oh nein. „Bestimmt wird er bald wieder gesund.“ Emily hoffte sehr, dass es so war. Senhor Pereira war der gutmütigste und fröhlichste Mann, den sie kannte. „Und der Finanzbeamte?“

„Ich konnte ihn abwimmeln, er hat die Gebäude zumindest von außen inspiziert. Ich habe behauptet, dass ich keinen Schlüssel zum Haupthaus hätte und auch hierfür nicht. Also habe ich ihm nur Tiagos und meine Wohnung gezeigt. Was er da mit den Steuern gesagt hat, kann doch nicht stimmen, oder?“

Emily sah zu den aufgeschlagenen Ordnern. „Leider weiß ich es noch nicht, aber …“ Sie brach ab. Sollte sie mit Luisa darüber sprechen? Nein, am besten erst mal mit Antonia und Reinaldo Pereira, sie waren schließlich die Besitzer. Luisa, als verwitwete Schwiegertochter, gehörte lediglich ein Viertel des Ganzen, genau wie Malino Pereira. Und der interessierte sich überhaupt nicht dafür, dass das Weingut in Schwierigkeiten steckte.

„Ich sehe mal nach Tiago.“ Luisa ging.

Es schien ihr unangenehm, dass sie sich so hatte gehen lassen, es war jedoch das erste Mal, dass diese Frau ihr nahbar vorkam.

Wieder allein starrte Emily auf das Telefon. Nur langsam sanken die Worte von Luisa richtig in ihr Bewusstsein. Senhor Pereira hatte einen Schlaganfall erlitten. Und wenn er zurück auf dem Gut war, warteten die nächsten schlechten Nachrichten auf ihn. Das war doch nicht fair. Und sein Sohn saß weit weg und interessierte sich für nichts! Ohne großartig darüber nachzudenken, was das bringen sollte, drückte Emily auf Wahlwiederholung.

„Was denn noch?“, fragte Malino Pereira genervt, ohne sie zu begrüßen.

„Ihre Eltern haben wirklich genug Sorgen im Moment, da muss ich ihnen wenigstens die Finanzen genau erläutern können! Es geht ja nur darum, dass ich verstehe, was hier passiert ist in den letzten fünf Jahren, seit Sie sich nicht mehr um die Buchhaltung kümmern.“

„Woher soll ich das wissen? Wie Sie ganz richtig bemerkt haben, vor fünf Jahren hatte ich das letzte Mal mit den Finanzen der Quinta zu schaffen. Danach gab es eine Buchhalterin.“

Er seufzte und trank einen Schluck von irgendetwas. Noch bevor sie wusste, wie sie weitersprechen sollte, knallte er etwas auf eine harte Fläche.

„Was meinen Sie mit den Sorgen meiner Eltern? Was für Sorgen?“

„Nun, Ihre Mutter ist natürlich besorgt und selbst wenn Ihr Vater jetzt stabil ist, die Tatsache, dass er noch auf der Intensivstation liegt, spricht ja für sich.“

„Wovon zum Teufel reden Sie? Was für eine Intensivstation?“

Emily setzte schon an, ihm zu sagen, was sie von seinem Desinteresse hielt, da wurde ihr klar, was seine Worte bedeuteten. „Sie wissen es nicht.“ Sie schluckte.

„Was weiß ich nicht?“, knurrte er.

„Ihr Vater hatte gestern einen Schlaganfall. Ich dachte, man hätte sie informiert, Sie sind doch der Sohn“, endete sie kleinlaut. Warum hatte seine Schwägerin ihn nicht angerufen oder seine Mutter?

„Ein Schlaganfall“, wiederholte er tonlos. „Wieso weiß ich nichts davon?“

„Ich … ich weiß es nicht. Ihre Mutter ist bestimmt völlig durch den Wind. Ich habe es ja auch eben erst erfahren, aber ich dachte, man hätte Sie angerufen.“

„Offensichtlich nicht.“

„Der Finanzbeamte ist wieder gefahren, und ich werde anfangen, mich in die Materie einzuarbeiten. Das nächste Mal wird er sich sicherlich nicht abwimmeln lassen, und dann muss ich ihm eindeutige Zahlen vorlegen und wohl auch die Steuererklärungen der letzten Jahre. Aber ich verstehe nicht, wie das sein kann, die Zahlen sind zu niedrig …“ Emily warf einen Blick auf den Bildschirm. „Ach, bestimmt ist alles nur ein Missverständnis. Ich kann die letzte Buchhalterin nicht fragen, sie ist gesundheitlich nicht in der Lage. Ich dachte, dass Sie sich ja auch auskennen …“

Malino schimpfte auf Portugiesisch, und Emily verstand vieles nicht. Es war offensichtlich, dass er nicht helfen wollte. „Es tut mir leid, ich lasse sie jetzt in Ruhe. Das mit Ihrem Vater tut mir leid, bestimmt geht es ihm bald wieder gut.“ Hoffentlich. Sie griff nach dem nächsten Ordner und legte ihn auf die Tischplatte. Da kam viel Arbeit auf sie zu, aber sie würde einfach so lange hierbleiben, bis sie durchstieg und die ganze Sache aufklären konnte. Wahrscheinlich war irgendwas schiefgelaufen.

„Ich komme.“

„Was?“ Sie musste sich verhört haben. Es raschelte im Hintergrund und Laptoptasten klickten. „Gebucht. Mein Flieger kommt morgen um zwanzig nach zwei an.“

„Oh.“ Mehr fiel ihr nicht dazu ein. „Dann hole ich Sie ab“, sagte sie dankbar.

„Ein Taxi tut es auch“, warf Malino ein.

„Ich bestehe darauf.“ Das war das Mindeste, was sie tun konnte.

Er knurrte etwas Unverständliches zum Abschied, und sie bekam nicht die Chance, sich höflich für das Gespräch zu bedanken. Immerhin wollte er helfen, auch wenn Widerwille deutlich in seinen Worten mitgeschwungen hatte. Sie konnte es ihm kaum verdenken, so wie sie ihm die Nachricht vom Schlaganfall seines Vaters beigebracht hatte. Aber wie hätte sie wissen können, dass ihm niemand Bescheid gesagt hatte? Trotzdem war es ein Lichtblick, Malino Pereira würde kommen, um seinen Eltern beizustehen. Das musste sie Luisa erzählen.

Emily fand sie bei den Weinstöcken, die Luisa langsam entlangschritt und die Pflanzen auf Krankheiten und Pilze kontrollierte, wie sie nach feuchtem Wetter oft auftraten.

„Hilfe ist unterwegs“, platzte Emily heraus. „Immerhin. Bestimmt ist alles nur ein Missverständnis und wir können dem Finanzbeamten bald die richtigen Zahlen liefern, und er ermittelt den Wert des Weinguts ganz umsonst.“

Langsam sah Luisa auf und starrte sie an. „Wer soll uns denn helfen?“

„Ich habe Malino Pereira angerufen, er fliegt morgen her. Er hat doch früher die Buchhaltung gemacht, mit ihm können wir sicher schneller herausfinden, wo die Probleme liegen und ob es überhaupt welche gibt.“

Zu Emilys Schreck platzte ein Lachen aus Luisa, hart und kurz. Danach war es so still, dass die Abwesenheit aller Geräusche in ihren Ohren dröhnte. „Was ist daran so lustig?“, fragte sie vorsichtig.

Luisa verschränkte die Arme vor der Brust, das Bild einer Festung, die ganz sicher niemand einnehmen würde.

„Malino.“ Sie spuckte den Namen geradezu aus. „Er hilft keinem außer sich selbst.“

„Nein, er hat gesagt, dass er seiner Familie helfen wird. Außerdem macht er sich natürlich Sorgen um seine Eltern.“ Nun ja, zwar hatte er nicht direkt von Hilfe gesprochen, doch er würde bestimmt sein Möglichstes tun. „Vielleicht kann er auch finanziell ein wenig aushelfen, wenn es nötig ist.“

„Er hat das Geld“, bestätigte Luisa. „Wenn alles stimmt, was man so hört. Aber ich halte es für genauso wahrscheinlich, dass er längst alles auf seinen Partys ausgegeben hat, viele Frauen sind teuer.“ Auf ihren verwirrten Blick hin erklärte Luisa: „Er ist ein Playboy. Ganz sicher ist er jedenfalls keine Hilfe dabei, das Weingut zu retten.“

„Aber er kommt morgen.“

„Sei’s drum, viel kaputt machen kann er wohl nicht mehr. Alles, was Malino kann, ist, an sich selbst denken und anderer Leute Leben zerstören.“

Auf einmal hatte Luisa Tränen in den Augen und wischte sich ärgerlich mit dem Handrücken über das Gesicht.

„Aber es ist doch auch sein Hof irgendwie, er gehört zur Familie.“

„Ja, leider. Er hat seine Eltern schon mal im Stich gelassen, als sie ihn dringend gebraucht hätten. Er ist nach Schottland abgehauen und hat nur Scherben hinterlassen. Diese Familie hat er in einer einzigen Nacht zerstört.“

Luisa sah sie mit einer Mischung aus Bedauern, Wut und Verzweiflung an, dann drehte sie sich um und eilte davon.

Malino wischte sich ein paar Reiswaffelkrümel von der Hose und ignorierte den entschuldigenden Blick seiner Sitznachbarin. Auf ihrem Schoß hampelte ein kleines Mädchen herum, sodass der Rock seiner Mutter hochrutschte und perfekt gebräunte lange Beine entblößte. Die Kleine mochte vielleicht zwei Jahre alt sein, und nun hielt sie ihm doch tatsächlich ihre angekaute Waffel hin.

„Nein danke, ich habe schon gegessen“, sagte er und versuchte sich an einem möglichst freundlichen Lächeln, dabei war ihm schlecht.

Das kleine Mädchen erinnerte ihn daran, dass er seinen Neffen, das Kind seines Bruders, nur ein einziges Mal gesehen hatte. Ausgerechnet auf der Beerdigung von Davinho. Luisa hatte den Säugling fest an sich gepresst. Ihre Tränen und herzzerreißenden Klagelaute verfolgten ihn in stillen Momenten noch immer. Auch das Baby hatte geweint, obwohl es natürlich nicht wusste, dass sein Vater tot war. Seinetwegen.

An diesem Tag hatte er sich geschworen, sich nie an eine Frau zu binden. Es stand ihm nicht zu, zu lieben, während sein Bruder es nicht mehr konnte. In seinem Leben würde es keine Verpflichtungen geben, keine Liebe, so war es für alle am besten. So würde er auch nie Gefahr laufen, eine eigene Familie zu haben. Keine Ehe und keine Kinder. Niemand, der ihn vermissen würde, niemand, dem er etwas schuldete.

Er war schuld am Tod seines Bruders. Und nun hatte er einer Fremden versprochen, das Weingut nach all der Zeit wieder zu betreten. Weil er es seinen Eltern, Luisa und Tiago schuldig war. Wenn er etwas unternehmen konnte, musste er es tun. Der Anruf der neuen Buchhalterin war wie ein Wink des Schicksals. Jetzt konnte er endlich helfen, vielleicht seine überstürzte Flucht wiedergutmachen. Und seine Eltern sehen.

Malino presste die Lippen aufeinander, als er daran dachte, dass sein Vater in einem Krankenhaus lag … Er musste sich um seine Familie kümmern. Viel zu lange hatte er sich davor gedrückt.

Das Flugzeug schlingerte, aber ihm war klar, dass seine Übelkeit nicht daher rührte. Als die Maschine auf der kurzen Runway zum Stehen kam, wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Noch immer hatte ihn niemand aus seiner Familie angerufen. Vom Schlaganfall wusste er nur von Emily. Warum hielten sie es nicht für notwendig, ihn zu informieren? Weil sie annehmen, dass es dich nicht interessiert, dachte er bitter. Weil er sie alle nach dem Unglück im Stich gelassen hatte und seit damals nicht mehr auf dem Weingut gewesen war. Und diese Emily, die neue Buchhalterin, wieso hatte sie überhaupt an ihn gedacht, als ihr klar wurde, dass das Weingut Hilfe brauchte? Warum mischte sie sich ein?

Ungeduldig wartete Malino am Gepäckband auf seinen Koffer. Schließlich ging er mit langen Schritten auf die Milchglastüren zu und scannte vergeblich die Ankunftshalle nach einem Schild mit seinem Namen ab. Gut, dann hatte sie es sich wohl anders überlegt.

Er steuerte zielstrebig den Ausgang an, um sich dort ein Taxi zu nehmen, da stellte sich ihm eine zierliche Frau in den Weg. Ihr Teint war karamellfarben, ihr Haar von einem hellen Nussbraun und die Augen so blau wie die Tiefsee. Sie trug eine schmal geschnittene dunkelblaue Hose und eine cremeweiße Bluse, darüber eine dünne hellblaue Strickjacke, was sie dann doch wieder englisch aussehen ließ, dennoch sehr elegant.

Sie lächelte nicht, deutete nur auf sein Handgepäck. „Kann ich Ihnen was abnehmen?“

„Miss White?“

„Ja, natürlich.“ Sie musterte ihn. „Sie sehen etwas blass aus. Vielleicht sollten wir Ihnen erst mal einen Galão besorgen oder eine Kleinigkeit zu essen? Ein Thunfisch-Sandwich vielleicht, es gibt dort drüben ein gutes Restaurant.“

Sie deutete zum Ausgang, aber Malino starrte sie einfach nur an. „Engländer.“ Er schüttelte den Kopf. „Ihr glaubt immer, dass ein Sandwich alle Probleme lösen kann.“

„Natürlich“, sagte sie trocken. „Am besten Sie nehmen auch noch einen Tee. Vielleicht Baldrian, das beruhigt die Nerven.“ Sie kniff die Augen zusammen, dann atmet sie tief durch. „Es tut mir leid, Sie hatten sicher eine anstrengende Anreise. Aber wir können aufatmen, Ihr Vater wurde heute früh auf die normale Station verlegt.“ Ihr Ton war sanfter, doch ihr Blick blieb misstrauisch.

„Ich sehe, mein Ruf ist mir vorausgeeilt. Lassen Sie mich raten, Sie haben mit Luisa gesprochen.“ Mist, das hatte er nicht laut sagen wollen. Was sollte sie jetzt von ihm denken? Aber ihr war sicherlich nicht entgangen, dass Luisa ihn hasste, und er konnte es ihr nicht verdenken. Andererseits musste er sich Emily White gegenüber nicht rechtfertigen. Sie hatte ihn angerufen, und er war gekommen, um seinen Eltern zu helfen. Das war alles. Die Buchhalterin gingen Belange der Familie nun wirklich nichts an, und es war völlig nebensächlich, was sie von ihm dachte.

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ Emily White versteifte sich leicht und wich seinem Blick aus. „Also? Einen Kaffee oder ein Sandwich?“

„Nein, danke.“ Er bedeutete ihr, vorzugehen.

Die Engländerin steuerte zielstrebig auf den Ausgang zu, ohne sich zu vergewissern, ob er ihr folgte. Sie bewegte sich elegant und gleichzeitig energisch. Er schätzte sie auf etwa Mitte oder Ende zwanzig. Sie hatte etwas Kämpferisches an sich, als müsse sie sich gegen die Welt wehren.

Malino schüttelte den Kopf über diese Gedanken, er kannte sie nicht, und ganz sicher würde er sie nicht kennenlernen, indem er sie ein paar Minuten lang beobachtete.

Nun drehte sie sich um und sah ihn abwartend an. Da er nichts sagte, ging sie weiter. Vielleicht wäre es doch eine gute Idee gewesen, seine Ankunft in der Quinta da Luz Vermelho, seinem Elternhaus, mit dem Besuch in einem Café hinauszuzögern.

Als Emily vor einem kleinen knallroten Ford Fiesta stehen blieb, die Türen entriegelte und den Kofferraum für ihn öffnete, hob er die Tasche hinein und stieg dann wie selbstverständlich auf der Beifahrerseite ein, als würde ihn diese Frau ständig irgendwo abholen. Emily schwang sich elegant hinters Steuer, startete den Motor und stellte das Radio leiser. Alles routinierte Bewegungen, und Malino wunderte sich, dass er sich in ihrer Gegenwart so sicher und ja … wohl fühlte. Um seine seltsamen Gedanken zu verbergen, verschränkte er die Arme und sah aus dem Fenster.

„Alles in Ordnung?“, fragte Emily und musterte ihn.

„Reiseübelkeit“, murmelte er. Und ja, vermutlich war es das, was ihn so durcheinanderbrachte. Das oder die Tatsache, dass er nach so langer Zeit ganz offiziell seine Heimat besuchte und seine Eltern nach fünf Jahren wiedersehen würde. Sein Blick glitt immer wieder zu Emily, dieser hübschen Fremden, die auf eine seltsame, perfekte Art dieser Reise ein bisschen von ihrem Schrecken nahm.

3. KAPITEL

Die Fahrt über schwiegen sie. Emily verstand nicht, wie dieser völlig fremde Mann neben ihr es geschafft hatte, dass sie ihn sofort mochte. Dabei hatte es noch nicht mal was mit seiner Attraktivität zu tun.

Er sah in natura genauso aus wie auf dem Foto, das im Hausflur seiner Eltern hing, nur das ausgelassene Lachen fehlte. Er trug sein schwarzes Haar kurz und modisch, war glattrasiert, hatte markante Kieferknochen und perfekte Augenbrauen, dicht und schwarz über dunklen Augen. Dass er ihr so gut gefiel und ihr sympathisch war, war aus vielerlei Gründen völlig unlogisch und unpassend. Daher war sie froh, dass er schwieg.

Emily lenkte den Wagen möglichst sachte die Serpentinenstraße hinauf, damit ihrem Fahrgast nicht schlecht wurde. Ab und zu warf sie ihm einen besorgten Blick zu. Er wirkte ruhig, hielt sich gerade. Sein Gesicht verlor allerdings mit jedem weiteren Kilometer an Farbe, und sie war drauf und dran, ihn zu fragen, ob sie anhalten solle. Gleichzeitig strahlte er Wut und eine Art Verletzlichkeit aus, die sie nicht verstand. Gekleidet war er fast förmlich in schwarzer Anzughose mit teuren schwarzen Schuhen und weißem Hemd, die Ärmel hatte er hochgekrempelt, und er trug keine Krawatte.

Endlich erreichten sie das Weingut, und noch bevor Emily den Wagen geparkt hatte, kam Senhora Pereira schon angelaufen. Sie war nach Hause gekommen, nachdem Emily ihr die Nachricht geschickt hatte, dass ihr Sohn heute anreisen würde.

Malino saß wie eine Marmorstatue da und starrte durch die Windschutzscheibe. Emily folgte seinem Blick. Neben dem alten Anbau, halb im Schatten verborgen, stand Luisa. Zu ihren Füßen hockte ihr Sohn und beschäftigte sich mit irgendetwas am Boden, ohne den Besuch zu bemerken.

Emily sah wieder zu Malino, der sich keinen Millimeter gerührt hatte, obwohl der Motor längst nicht mehr lief. Aus einem Impuls heraus, legte sie eine Hand auf seine. Kurz drückte sie seine Finger und wunderte sich, wieso sie sich so etwas bei einem fremden, abweisenden Mann traute.

Endlich ging ein Ruck durch Malino, sein Blick war glasig, als er sie ansah, aber dann huschte ein winziges dankbares Lächeln über seine Lippen. Überraschend und dabei so wunderschön, dass Emilys Herzschlag eine Sekunde aussetzte. Langsam zog sie ihre Hand zurück und nickte ihm ermunternd zu.

Sie stieg zuerst aus, mit der festen Absicht, ihm die Tür zu öffnen und vielleicht seine Mutter zu informieren, dass es ihm gerade magentechnisch nicht so gut ging, aber dann schaffte er es und stieg aus. Auf einmal wirkte er energiegeladen und selbstbewusst. Dennoch hatte Emily das Gefühl, dass er nicht gerne hier war. Oder war ihm doch nur schlecht?

Malinos Mutter schluchzte auf, überwand die letzten Meter und drückte ihren Sohn fest an sich. Zwischen den Schluchzern murmelte sie seinen Namen und andere Dinge, die Emily nicht verstand.

Sie holte sein Gepäck aus dem Kofferraum, sah aber, dass Malino sich versteifte, seiner Mutter unbeholfen den Rücken tätschelte und sich behutsam losmachte. Er erklärte, dass er sich kurz vom Flug erholen müsse, und sofort griff seine Mutter nach seinem Arm und dirigierte ihn ins Haus. Erst jetzt wandte er sich kurz Luisa zu, die ihn schweigend beobachtete, wobei sie die Hände in die Hüften stemmte. Malino nickte seiner Schwägerin zu und betrat mit seiner Mutter die Quinta.

„Wie geht es Vater?“, fragte er. Er klang besorgt.

Die Antwort von Senhora Pereira verstand Emily nicht mehr, da sie die Tür hinter sich schlossen. Einen Moment stand sie mit der schweren Reisetasche in der Hand da und starrte ihnen nach. Ein Knall ließ sie zusammenfahren und weckte sie aus ihrer Bewegungslosigkeit. Luisa hatte den Kofferraum zugeworfen und sah sie böse an.

„Reinaldo kommt in zwei Tagen nach Hause. Es geht ihm besser, aber wer weiß, wie lange noch“, sagte Luisa und sah missmutig zur geschlossenen Haustür, durch die ihr Schwager eben mit seiner Mutter verschwunden war. „Eigentlich klar, dass er jetzt auftaucht.“

„Weil wir Hilfe brauchen?“

„Nein. Weil er aufs Erbe aus ist“, fauchte Luisa und stapfte davon.

Emily starrte der jungen Frau sprachlos hinterher. Sie hatte Malino Pereira gebeten herzukommen, und ja, natürlich hatte er erst zugestimmt, als er wusste, wie es seinem Vater ging, aber doch nicht wegen irgendeines Erbes. Wenn überhaupt, dann, weil ihm klar geworden war, dass sein Vater nicht ewig leben würde und er ihn deswegen besuchen sollte.

Nachdenklich beeilte sie sich, in ihr Büro zu kommen, um die verlorene Zeit aufzuholen. Sie brauchte einen Moment, bis sie Malinos zaghaftes Lächeln aus ihren Gedanken verbannen konnte und die Zahlen vor ihren Augen wieder Sinn ergaben.

Dann vertiefte sie sich in die Tabellen und Listen und suchte die entsprechenden Belege und Rechnungen zusammen. Sie zog einen weiteren Ordner aus dem Regal, und etwas fiel unter lautem Gepolter hinunter. Emily bückte sich. Es war eine Mappe, die hinter die Ordner gerutscht sein musste. Sie hob sie auf, um die Beschriftung zu lesen, aber es gab keine. Da die Mappe hier lag, waren es Geschäftsunterlagen. Sie zog die Lasche auf, und zum Vorschein kamen eine Handvoll ungeöffneter Umschläge.

Emily schluckte, als sie die Absender im Sichtfenster las. Das Finanzamt. Andere Firmen. Ohne die Briefe zu öffnen, wusste sie, dass sie unbezahlte Rechnungen gefunden hatte. Die Poststempel waren vom letztem Jahr.

„Wieso arbeiten Sie noch?“

Emily zuckte zusammen. Nur der Bildschirm beleuchtete den Raum, es war längst dunkel geworden. Malino war unbemerkt hereingekommen. Er drückte auf den Schalter neben der Tür, und Emily schloss einen Moment die Augen gegen die Helligkeit der Deckenlampe.

„Ich habe die Zeit vergessen“, murmelte sie und streckte den Rücken durch. Die Umschläge legte sie auf einen Stapel.

„Wir werden das Ganze nicht an einem Abend klären können.“ Er klang abweisend.

Emily sah ihn an und nickte langsam. „Ich sollte nach Hause fahren.“

„Tun Sie das. Ich werde mich jetzt einlesen.“ Er ging an ihr vorbei, nahm den aufgeschlagenen Ordner und klemmte ihn sich unter den Arm. „Was brauche ich noch?“

Emily zog alle relevanten Ordner aus dem Regal und reichte sie ihm. „Soll ich den Computer anlassen?“, fragte sie.

„Okay.“

„Diese Post wird Ihnen nicht gefallen.“ Sie deutete auf den Tisch.

Malino nahm einen der Umschläge. „Warum haben Sie ihn nicht geöffnet?“

„Ich habe die eben erst in dieser Mappe gefunden. Wollen wir?“ Sie gab ihm die Hälfte der Umschläge und öffnete einen der anderen. Eine Zahlungserinnerung von vor einem Jahr. Beim Anblick der Summe schluckte sie. Offenbar war es nicht die erste, denn es waren beträchtliche Verzugszinsen aufgeführt.

„Rechnung.“ Malino legte das Blatt auf den Tisch und griff nach dem nächsten Brief. „Ein Steuerbescheid aus 2019.“

„Das wird doch abgebucht“, murmelte Emily. Sie studierte ebenfalls ein Schreiben vom Finanzamt. „Oder auch nicht. Hier steht, dass die Kontoverbindung falsch ist … oder das Konto nicht gedeckt. Die Bank hat das Geld nicht ausgezahlt.“

Sie sahen sich an.

„Warum hat mir niemand etwas gesagt?“, fragte Malino wütend. „Die frühere Buchhalterin, meine Eltern.“

Er wurde nicht laut, aber sein Ton war so drohend, dass Emily die Arme schützend vor der Brust verschränkte.

„Es ist nicht sinnvoll, sich über längst Vergangenes zu beklagen“, warf sie ein. „Wir müssen uns jetzt kümmern. Soweit ich das überblicke, sind die nachzuzahlenden Steuern um ein Vielfaches höher als das jetzige Guthaben auf dem Konto der Quinta da Luz Vermelho. Mag sein, dass Ihnen das egal ist, aber Ihre Eltern lieben dieses Weingut. Sie dürfen es nicht verlieren.“

Kurz schloss er die Augen. „Warum sollte mich das nicht interessieren?“

Emily bereute ihren Einwurf sofort.

„Wieso meinen Sie, meine Eltern besser zu kennen als ich? Darf ich fragen, wie lange Sie schon hier arbeiten? Ich denke, Sie dürfen sich gar keine Meinung erlauben.“

„Ich habe Ihre Eltern vermutlich öfter in den letzten Monaten gesehen, als Sie in den vergangenen Jahren“, sagte sie spitz, und es tat ihr im nächsten Moment leid. Allerdings nur, bis Malino in schneidendem Ton antwortete.

„Sie wissen nichts. Manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen.“ Damit klemmte er sich die Ordner unter den Arm und rauschte aus dem Büro.

Er polterte die Treppe hinunter und knallte die Tür ins Schloss. Sogar seine ärgerlichen Schritte über den Hof konnte sie noch hören. Eine weitere Tür knallte ins Schloss, eindeutig die zum Haupthaus. Emily schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte.

Malino verstand sich selbst nicht. Natürlich hatte er das Recht, wütend zu sein, allerdings nicht auf Emily White. Er hatte sich die letzten fünf Jahre nicht um das Familienunternehmen gekümmert. Dass die Frau, die die Buchhaltung nach ihm übernommen hatte, so krank war und dermaßen große Versäumnisse begangen hatte, wie in mehreren Jahren keine Steuern abzuführen, hatte er allerdings nicht gewusst. Er hätte es jedoch wissen können, hätte er nur mal gefragt oder sich die Mühe gemacht, die Finanzen des Guts zu checken. Er hatte nach wie vor einen Zugang zum Onlinebanking.

Und nun fiel auch noch sein Vater aus. Mit so wenigen Mitarbeitern konnte man auf keinen grünen Zweig kommen, und sie hatten nicht das Geld, um jemanden einzustellen, der die Aufgaben seines Vaters übernahm. Oder die Zeit, jemanden einzuarbeiten.

Seine Mutter hatte vorhin gesagt, dass sein Vater Ruhe brauchen würde, wenn er in zwei Tagen entlassen wurde. Viel Ruhe und keine Arbeit auf einem Weingut und erst recht keine Sorgen darüber, ob sie es finanziell schaffen konnten, gegen die Konkurrenz zu bestehen. Und davon gab es viel.

Pereira Madeirawein war jahrzehntelang einer der berühmtesten und beliebtesten Madeiraweine gewesen. Aber mittlerweile gab es viele Anbieter, viele Weingüter. Es wuchs ja kaum noch etwas anderes außer Wein auf der verdammten Insel. Eins stand jedenfalls fest, jetzt, wo er hier war, konnte er seine Eltern nicht erneut im Stich lassen. Die Probleme mit dem Finanzamt musste er gemeinsam mit Emily lösen, der Familienbesitz durfte auf keinen Fall gepfändet oder verkauft werden.

Er knallte die Ordner auf den schmalen Schreibtisch im kleinsten Gästezimmer. Natürlich hatte seine Mutter sein Bett bezogen, doch in seinem alten Zimmer konnte er unmöglich schlafen oder überhaupt Zeit verbringen. Denn da stand ein zweites Bett, in dem sein Bruder oft geschlafen hatte, als sie Kinder waren. Das Anwesen war groß genug für zwei Kinderzimmer, aber die meiste Zeit hatten sie im selben Raum geschlafen, weil sie sich immer so viel zu erzählen gehabt hatten und die leisen Atemzüge des anderen sie beruhigt hatte. Zwei Kinderschlafzimmer mit je zwei Betten, damit sie sich abwechs...

Autor

Lucy Foxglove
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