Romana Extra Band 148

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

SÜSSER LIEBESZAUBER AUF SANTORIN von JULIE DEARING

Die junge Archäologin Courtney plant eine Ausstellung auf der griechischen Insel Santorin. Ein Traumjob! Wäre da nicht ihr attraktiver Kollege Kostas. Vom ersten Moment an knistert es sinnlich zwischen ihnen. Doch er behauptet plötzlich, das bessere Konzept zu haben …

VERFÜHR MICH IM PARADIES von LOUISE FULLER

Sommer, Sonne, Strand – und ein schöner Mann dazu! Ein kurzer Urlaubsflirt mit Milliardär Chase Farrar ist genau das Richtige für Jemima, um ihre schmerzliche Trennung zu vergessen. Bis sie ungewollt ihr Herz an Chase verliert! Der jedoch hat der Liebe abgeschworen …

NEUES GLÜCK IN SPRING RIVER? von JULIETTE HYLAND

Als Holt nach Kalifornien ins idyllische Spring River zurückkehrt, trifft er überraschend seine Jugendliebe Sage wieder. Sofort sehnt er sich nach ihren süßen Küssen. Aber wird sie ihm je verzeihen, dass er sie einst ohne ein Wort des Abschieds verlassen musste?


  • Erscheinungstag 06.07.2024
  • Bandnummer 148
  • ISBN / Artikelnummer 0801240148
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Julie Dearing, Louise Fuller, Juliette Hyland

ROMANA EXTRA BAND 148

1. KAPITEL

Das Meer lag glatt, ein tiefes Dunkelblau, aus dem sich die Insel in ihrer Halbmondform deutlich heraushob. Courtney konnte gut erkennen, dass Santorin vulkanischen Ursprungs war. Aus dem Flugzeug betrachtet wirkte es eher unwirtlich, ein Mix aus Grau- und Brauntönen. Einige der Orte zeichneten sich allmählich als weiße Flecken ab.

Genau genommen waren es zweihundert bis dreihundert Meter aus dem Meer aufragende Vulkanklippen, an die sich die Küstenorte Fira und Oia schmiegten – mit ihren weiß getünchten Häusern, die sich wie Perlen aneinanderreihten. Deutlich auszumachen war zudem der Flughafen, ein langes breites Band, scheinbar im Nirgendwo gelegen. Warum die Griechen die Insel „Kallisti – die Schönste von allen“ nannten, blieb einem, zumindest wenn man von oben aus hinabschaute, erst einmal verborgen.

Die freundlich lächelnde Stewardess tippte Courtney auf die Schulter und riss sie damit aus ihren Gedanken. „Legen Sie bitte den Sicherheitsgurt an, wir haben Santorin erreicht und beginnen nun den Landeanflug“, sagte sie und eilte weiter durch den schmalen Mittelgang des Flugzeugs.

Courtney nickte, schloss den Sicherheitsgurt und blickte erneut aus dem Fenster. Das Sonnenlicht war warm und einladend. Es war gut, dass dieses Ausstellungsprojekt bereits im Mai begann, so würde sie den griechischen Frühling genießen können und der Hitze, die der Sommer in diesen Breitengraden mit sich brachte, noch eine Weile entgehen. Und ganz gleich, wie heiß es werden würde, charmanter als in London war das Wetter in jedem Fall. Dort hatte sie den Flieger in strömendem Regen bestiegen.

Die Maschine flog inzwischen so niedrig, dass die Einzelheiten des Flughafens erkennbar wurden. Den letzten Besuch auf Santorin hatte Courtney vor sechs Jahren unternommen. Süße zweiundzwanzig war sie damals gewesen, während ihres Studiums der Archäologie. Geprägt von ihrem Vater Dr. Curt Williams, dem renommierten Archäologen, dessen Schwerpunkt auf griechischer Prähistorie lag und dabei vor allem auf der minoischen Kultur. Für ihn war die Insel ein nie endendes Betätigungsfeld gewesen. Immer wieder war er nach Kapostiri gereist, zur archäologischen Ausgrabungsstätte im Süden der Insel.

Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, fiel Courtneys Blick auf eine Familie, die auf der anderen Seite des Ganges saß. Das Mädchen im Vorschulalter schmiegte sich an seine Mutter, der Vater legte die Zeitung weg und weckte den noch jüngeren Bruder.

Kurz zog sich Courtneys Herz vor Wehmut zusammen.

Ein Familienleben, wie sie es nie erlebt hatte.

Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, und so war ihr Vater der Herausforderung ausgesetzt gewesen, sich gleichzeitig um seine Arbeit und um seine Tochter kümmern zu müssen. Dementsprechend hatte Courtney ihre Kindheit und ihre Jugend zwischen wechselnden Grabungsstellen und dem Internat verbracht. Nur selten waren sie zu Hause gewesen. Eine kleine, mit Büchern vollgestopfte Wohnung in London, die ihr immer ein Stück weit fremd geblieben war.

Dr. Williams, der umtriebige Wissenschaftler, hatte in seiner Tochter jedoch die Liebe zur Archäologie geweckt. Courtney begeisterte sich ebenso wie er für griechische Geschichte. Sie war glücklich, dass nun ausgerechnet sie ausgewählt worden war, die Zukunft eines großen, durch Spenden und Stiftungen finanzierten Museums in Fira als Kuratorin zu gestalten.

Ein Anbau war geplant, genau genommen war es ein Kellergeschoss, das angedacht war. Ihr Vater hatte das Museum in Fira mehrfach beraten, wie es seine Ausstellung weiterentwickeln könnte, und dabei hatte er stets Wert auf klassische Wissensvermittlung gelegt.

Nun würde ihr die Ehre zuteilwerden, diese Arbeit in die Zukunft zu führen – es war ein Auftrag, auf dem der Name Williams stand und der sie mit Stolz erfüllte.

Sie würde die Arbeit des Vaters in Ehren halten.

Die Maschine setzte hart auf, und Courtney umklammerte für einen Augenblick die Armlehnen. Der Blick aus dem Fenster bestätigte, sie standen auf dem Rollfeld.

Dass noch ein weiterer Kollege aus New York als möglicher Kurator nach Santorin eingeladen worden war, beunruhigte sie nicht. Courtney hatte von ihm gehört, er hatte einen elend langen griechischen Nachnamen, bei dem sie immer befürchtete, sich zu verhaspeln. Für ihn stand nicht die wissenschaftliche Arbeit im Vordergrund, sondern die Unterhaltung.

Er arbeitete stark mit immersiven Methoden, setzte also bevorzugt Filmmaterialien ein, die er selbst in seinem Studio produzierte und an die Wände des Ausstellungsraumes projizierte, sodass der Eindruck entstand, als Besucher würde man inmitten des Geschehens stehen.

Damit war er weltweit aktiv und erfolgreich, ohne Frage, aber … Courtney schüttelte den Kopf. Sicherlich waren seine Arbeiten hübsch anzusehen, doch das war keine Wissenschaft, und sie fragte sich insgeheim, warum das Museum ihn zu diesem sogenannten Open Call eingeladen hatte. Wie auch immer – er konnte nicht gewinnen, hier ging es um griechische Prähistorie und nicht um Popcorn-Kino.

Courtney holte ihre Handtasche aus dem Staufach über ihrem Sitz, hängte sie sich um und drückte den Rücken durch. Sie, die Tochter des berühmten Dr. Williams, würde die Gestaltung der Ausstellung, also den umfangreichen Auftrag für die Neukuratierung, für sich entscheiden. Daran gab es keinen Zweifel!

Wenig später stand Courtney vor dem Flughafengebäude, das sich kaum verändert hatte. Es war und blieb winzig, regelrecht beschaulich und auf irgendeine Art drollig – ein Flachbau, natürlich in Weiß, die Fensterrahmen und Türen in dunklem Blau, und vor dem Kafenio, dem Kaffeehaus, das zur Straße zeigte, standen die typisch griechischen Kaffeehaus-Stühle, in leuchtendem Wasserblau lackiert, mit Sitzflächen aus hellem Geflecht vor runden Tischen.

Hier saßen ältere Herren bei einem griechischen Eiskaffee, ein Gebräu aus Instantkaffee, Milch und Zucker, gekrönt von einer dicken Schaumkrone und auf Eiswürfeln serviert. Es wurde geraucht und lautstark diskutiert.

Vor dem Haupteingang summte der Verkehr. Courtney blieb im Schatten der pergolaähnlichen Überdachung, zog ihren Rollkoffer hinter sich her und hielt Ausschau nach dem Fahrer, der sie abholen sollte.

Schließlich entdeckte sie einen jungen Mann, der vor einem großen Transporter stand und ein Schild in die Luft hielt. Museum Fira war darauf zu lesen, allerdings in kyrillischer Schrift.

Courtney grinste. Die Griechen hatten Humor. Wie lange hätte er wohl gewartet, wenn ihre Griechisch-Kenntnisse schlechter gewesen wären und sie das Schild deshalb gar nicht hätte lesen können? Gut, dass ihr Vater darauf bestanden hatte, dass sie für das Studium nicht nur die antiken Sprachen Latein und Altgriechisch lernte, sondern darüber hinaus in der Lage war, sich in Neugriechisch verständigen zu können.

Williams

Winkend ging sie dem Fahrer entgegen, da drängten zwei Männer an ihr vorbei. Einer war groß mit schwarzem Haar, das ihm in störrischen Wellen bis zum Kinn fiel. Alles an ihm – seine Haltung, die dunkle Stoffhose, das weiße Leinenhemd, die schwere glänzende Armbanduhr im edlen Chronographen-Design, die verdächtig nach Girard Perregaux oder einer Rolex aussah, und der Rimowa-Koffer aus Aluminium – machte deutlich, sein Selbstbewusstsein war ausgeprägt.

Weit mehr als ausgeprägt.

Er wandte sich an den jungen Mann, der ihm folgte, und sagte auf Griechisch: „Jorgos, wichtig ist, in Santorin ist das Leben wesentlich entspannter als auf Mykonos, wir sind hier eher die Sorte Mensch, die ein gutes Glas Landwein zum Sonnenuntergang jedem anderen Drink vorzieht. Aber keine Sorge, es gibt trotzdem überall Kafenia, Bars und auch Clubs, du wirst also ordentlich feiern können.“

Courtney wunderte sich, wie väterlich er dabei klang, schließlich war der Angesprochene vermutlich so alt wie sie selbst, ungefähr Ende zwanzig, und damit schätzungsweise bloß zehn Jahre jünger als sein voraneilender Begleiter.

„Allerdings sind wir beim Thema Romantik weit vorne“, fuhr der fort und verlangsamte seinen Schritt. „Viele Paare kommen für die Flitterwochen auf die Insel. Familien mit kleinen Kindern sind seltener zu Gast, weil unsere Strände wegen des vulkanischen Ursprungs nicht den schneeweißen Sand bieten, in dem Kinder stundenlang herumbuddeln. Und das Gros der Reisenden ist sehr kulturinteressiert. Da hast du schon mal einen Eindruck vom Zielpublikum.“ Nun lief er langsamer und sah sich um.

Da sie mit ihrem Koffer nicht an ihm vorbeikam, musste Courtney ebenfalls langsamer gehen. Sie musterte das schön geschnittene Profil, das denen griechischer Statuen ähnelte, nur der Dreitagebart war zu modern.

„Mutter, wo bist du? Jetzt beeile dich, wir werden abgeholt“, rief er und sah verärgert zur offenen Eingangstür des Duty-free-Shops hinüber. „Das hat man nun davon, wenn man seine Mutter mitnimmt!“

Jorgos, sein Begleiter, nickte pflichtschuldigst. „Aber ich kann schon verstehen, dass sie nach Hause mitreisen wollte“, sagte er.

Courtney schob sich endlich an den beiden vorbei. Als sie den Fahrer erreichte und die Begrüßung hinter sich gebracht hatte, verstaute der junge Mann ihren Koffer.

Mit einem Mal stand der Grieche mit dem klassischen Profil neben ihr. Sie bemerkte, dass er nicht nur gut aussah, sondern auch sehr verlockend roch – ein herber Duft, versetzt mit zarten Noten von Bergamotte, Zitrone und Koriander.

„Kostas Papadopoulos“, sagte er laut und schüttelte dem Fahrer die Hand. „Mein Assistent Jorgos und Maria, meine Mutter. Wir sollen ebenfalls abgeholt werden, denke ich.“

Kurz blickte er zu ihr und fragte dann den Fahrer: „Ach, Sie nehmen auch Touristen mit?“ Ohne abzuwarten, öffnete er die seitliche Schiebetür des Transporters und half seiner Mutter beim Einsteigen.

Das Innere des Wagens ähnelte einem Bahnabteil – die beiden Sitzbänke standen sich gegenüber, getrennt durch einen kleinen Tisch. Vermutlich nutzte das Museum ihn gelegentlich auch für Fahrten an die Grabungsstätte, mutmaßte Courtney, und da war ein Tisch, auf dem beispielsweise Laptops für Auswertungen und Dokumentationen platziert werden konnten, immer hilfreich.

Sie wartete, bis alle saßen, und nahm dann neben Jorgos Platz, ihr gegenüber saß Kostas. Sie musste sich ein Grinsen verkneifen, denn im Gegensatz zu ihm wusste sie, mit wem sie es zu tun hatte.

Kostas Papadopoulos war ihr Konkurrent bei dem Projekt, für das sie anreiste.

Offensichtlich ahnte er nicht, wer sie war. Hielt sie stattdessen für eine Touristin, da er die Antwort des Fahrers nicht abgewartet hatte, der ihm sicherlich erläutert hätte, wer mit ihm im Wagen saß.

Sie musterte ihn verstohlen. Bisher hatte sie nicht gewusst, dass er erstens so gut aussah und zweitens offensichtlich von Santorin stammte. Sein Aussehen war ihr egal, aber seine Herkunft beunruhigte sie. Für einen Moment war Courtney verwirrt, wusste allerdings nicht, wieso. Irgendwas war an diesem Mann.

Als der Fahrer den Motor startete, schaltete sich das Radio an, und ein griechisches Liebeslied ertönte.

Kostas fixierte sie mit einem Mal. „Es geht um die Liebe“, sagte er auf Englisch an sie gewandt. „Die Griechen kennen fast kein anderes Thema, und wenn sie singen, dann nur über die große Liebe.“

Maria schlug ihrem Sohn auf den Unterarm. „Kostas, nicht schon wieder! Lass die junge Frau in Ruhe, was soll sie denn von uns denken? Du bist zum Arbeiten hier. Das gibt nur Kummer! Schluss jetzt!“, maulte sie auf Griechisch.

„Es freut mich, dass die Griechen der Liebe so zugetan sind“, antwortete Courtney der Mutter in fehlerfreiem Griechisch. „Aber ich bin ebenfalls hier, um zu arbeiten. Wenn ich mich vorstellen darf: Dr. Courtney Williams.“

„Die Dr. Courtney Williams aus London?“, fragte Jorgos amüsiert, wohingegen Maria errötete.

Courtney nickte und lächelte zuckersüß, und tatsächlich war Kostas Papadopoulos für einen Augenblick sprachlos.

„Soso, die Newcomerin aus England“, spottete Kostas nach einigen Sekunden. Vielleicht, so hoffte er, war nicht aufgefallen, dass er tatsächlich überrumpelt gewesen war.

Wer kam denn auf die Idee, dass so ein zartes Wesen, so zierlich und mit langen blonden Locken, Wissenschaftlerin war? Zudem noch eine, die vermutlich auf Grabungsstellen herumgekrochen und sich über und über eingestaubt sengender Sonne und sonstigen Unannehmlichkeiten dieses Berufszweiges ausgesetzt haben musste.

„Ich bin keine Newcomerin“, sagte sie streng und schien nach Worten zu suchen.

Er konnte an ihrem Gesichtsausdruck ablesen, dass seine Erwiderung sie verärgert hatte, und tatsächlich beruhigte ihn das. Einen derartigen Punktsieg noch vor Beginn der wissenschaftlichen Challenge um den Auftrag, die Ausstellung zu kuratieren, hätte er ihr nicht gegönnt. Denn eins sah er sofort, sie war eine von denen, die den Job der Kuratorin wörtlich nahmen.

Diese Frau würde immer in Sorge sein – um alles, was die Arbeit anging. Curare, ein Begriff, der aus dem Lateinischen übernommen war und mit sorgen, Sorge tragen übersetzt werden konnte, verwies vermutlich punktgenau auf ihre Arbeitshaltung. Die war sicherlich eine Mischung aus bürokratischen Tätigkeiten und bewahrenden Aufgaben. Darauf würde er seinen Reisekoffer samt Inhalt verwetten.

„Ich bin keine Newcomerin“, wiederholte sie und fügte hinzu: „Ich habe bereits einige renommierte Museen beraten und deren Ausstellungen kuratieren dürfen.“

Hübsch war sie, aber nicht sonderlich schlagfertig. Sicherlich so eine überbehütete Tochter aus gutem Hause. Er seufzte.

„Entschuldigen Sie bitte“, erklärte seine Mutter nun und beugte sich über den Tisch, ihre Wangen waren noch immer rot, anscheinend war sie verlegen. „Ich habe mir wirklich Mühe gegeben als Mutter, aber Sie sehen, Mühe allein genügt nicht.“

Die Wissenschaftlerin lächelte, für einen Augenblick wirkte es fast ein wenig frech. Es stand ihr gut.

Kostas runzelte die Stirn und schaute seine Mutter streng an. „Jetzt fällst du mir auch noch in den Rücken?“

„Na, ist doch wahr! Konzentrier dich gefälligst auf deine Arbeit!“ Maria verschränkte die Arme vor der Brust und sah aus dem Fenster.

Der Wagen wurde langsamer – sie hatten Fira erreicht. Glücklicherweise waren alle Strecken auf dieser Insel kurz, was bei einer Grundfläche von rund sechsundsiebzig Quadratkilometern im wahrsten Sinne des Wortes naheliegend war. Achtzehn Kilometer in die Länge, zwölf Kilometer in die Breite – mehr hatte Santorin nicht zu bieten. Entweder man liebte das Inselleben, oder man hasste es.

Kostas schluckte. Ja, er hatte vor allem diesen Ort früher gehasst. Fira, das alle als schönsten Ort Griechenlands lobpreisten. Ein passender Begriff, die Lobhudeleien waren wirklich nicht zu ertragen gewesen. Ja, Fira war hübsch, aber es war nur eine Seite der Insel. Die Hochglanzvariante, die auf jedem Reiseprospekt, jeder Postkarte und in jedem Buch, das über die Kykladen berichtete, zu sehen war. Ein Ort, der beeindrucken sollte, und der nichts über das Leben auf einer griechischen Insel erzählte.

Er war auf Santorin aufgewachsen, aber er stammte aus einer Familie, die seit Generationen verarmte Tomatenbauern gewesen waren. Während hier, an der Küste, das Leben sorglos und leicht erschien, wurde im Hinterland hart gearbeitet.

Nicht nur in der Landwirtschaft.

Kaum dass es ihm möglich gewesen war, hatte er mithilfe eines Stipendiums die Insel verlassen und in den USA studiert. Nun war er Archäologe. Der erste und bisher einzige Akademiker in seiner Familie.

Er schüttelte nachdenklich den Kopf. Auch während des Studiums hatte er lange das Gefühl nicht loswerden können, nur ein einfacher Bauernbursche zu sein, eine Minderheit unter all den Kommilitonen, deren Familien dem sogenannten Bildungsbürgertum angehörten.

Nach dem Studium hatte er die Ausstellungswelt revolutioniert und die wissenschaftliche Riege mit seinen auf Unterhaltung ausgerichteten Methoden das Schaudern gelehrt. Manchmal hatte er sich gefragt, ob er auf diese Weise Rache nehmen wollte – an jenen Kolleginnen und Kollegen, die es immer leichter gehabt und die auf ihn herabgeschaut hatten. Er wusste, viele Archäologen hielten nichts von seiner Arbeit, aber wenn man von diesen Ausnahmen absah, liebten und feierten an Geschichte oder auch an Kunst interessierte Menschen seine Herangehensweise.

In immersiver Ausstellungstechnik war er wer.

Auf diesem Gebiet war er der Experte.

Inzwischen war er ein reicher Experte, das konnte er nicht leugnen. In seinem Studio in New York arbeiteten siebzehn Angestellte für ihn – Konzepter, Texter, Grafiker und Programmierer setzten um, was Historiker brauchten, um ihr Wissen zu vermitteln. Und immer wieder heuerte seine Firma temporär Filmteams an, um die animierten Abschnitte mit filmischen Sequenzen zu ergänzen.

Er hatte diesen Job für sich geschaffen, und er liebte ihn.

Kostas musterte Dr. Williams, dieses Mal jedoch zurückhaltender. Sie war nicht nur zart und offenbar verkopft, sie war auch jung, vermutlich siebenundzwanzig oder achtundzwanzig. Eine süße Stupsnase, blaue Augen, die sie fast ein wenig naiv wirken ließen.

Das würde ihn jedoch nicht abhalten. Die Challenge hatte er zugesagt, weil er als gefeierter Historiker in die Heimat zurückkehren und deutlich machen wollte, dass er ein gemachter Mann war. Eine Newcomer-Kollegin aus England würde ihn nicht am Gewinnen hindern.

Hier ging es nicht um Geld oder Renommee. Es ging um weit mehr.

Es war sein Heimspiel.

So einfach war das.

Der Wagen hielt, und der Fahrer öffnete die Schiebetür. Zuerst half er seiner Mutter heraus, dann der Wissenschaftlerin.

Kostas musterte den Hotelkomplex, vor dem sie standen. Er hatte anfangs überlegt, selbst ein Appartement zu buchen, eins mit Whirlpool, von dem aus man einen Blick aufs Meer hatte. Aber dann hatte er sich dafür entschieden, sich dort unterbringen zu lassen, wo alle Teilnehmenden des Open Calls vom Museum eingebucht wurden. Er wandte sich an den Fahrer: „Wer nimmt denn an dieser Challenge noch teil? Wen erwarten Sie noch?“

Er bemerkte, dass auch Courtney Williams gespannt auf die Antwort wartete.

Das irritierte Gesicht des Fahrers sprach für sich. „Niemanden mehr. Sie beide. Zwei Teams mit unterschiedlichen Ansätzen.“ Er wies auf den Wagen hinter sich. „Lassen Sie sich nicht täuschen, ich bin kein Fahrer, ich gehöre mit zum Team des Museums, aber bei uns macht jeder nahezu alles. Und wir fanden den Ansatz interessant und ausreichend. Bei den Teilnehmenden stand für uns Qualität vor Quantität.“

„Vielen Dank, das haben Sie schön formuliert“, erwiderte die Engländerin.

Nun bereute Kostas es, nicht irgendeine Unterkunft seiner Wahl gebucht zu haben. Nur mit Goldlöckchen in direkter Nachbarschaft im Hotel herumzusitzen, war nicht gerade das, was er sich erhofft hatte. Und die Tatsache, dass er seinen Assistenten und seine Mutter dabeihatte, änderte daran nichts. Vorhin hatte er versucht, Jorgos davon zu überzeugen, dass Santorin cool und lässig war und dass hier auch gefeiert wurde. Dabei war er, wenn er es genau nahm, ein wenig ungenau gewesen.

Im Frühjahr waren überwiegend Rentner auf der Insel.

Oder Influencer. Eine hart arbeitende Klientel, die tagsüber wie besessen Fotos machte, von allem, wirklich allem, was es um sie herum zu entdecken gab, und die nachts am Computer hing, um Beiträge zu bearbeiten. Er kannte das aus New York, da fielen sie auch in Scharen ein.

Und dann waren da noch die bereits erwähnten Flitterwöchner.

Oder vereinzelt Elternpaare mit Kindern, die noch nicht schulpflichtig waren.

Ja, da war es wieder, Santorin, diese kleine Insel, auf der alles schnell zu eng wurde. Und langweilig.

Er war jetzt schon genervt, und bisher hatte er kaum einen Gedanken an die kommende Aufgabe verschwendet.

Wenn er ehrlich war, hatte er auf weitere oder zumindest andere Akademiker-Töchter gehofft. Welche, die vor Kreativität und verwegenen Einfällen übersprudelten, in der Arbeit und im Privatleben.

So mochte er es gern – immer hübsche Frauen um sich herum. Möglichst unverbindlich. Es war ausreichend, wenn sie den weltbekannten kreativen Kopf kannten, der ein erfolgreicher Unternehmer war. Die Vergangenheit – dieses spindeldürre Bürschchen aus der griechischen Diaspora, das um ein Haar Tomatenbauer geblieben wäre –, davon musste niemand wissen. So viel Privatsphäre verstand sich von selbst.

„Also, der Projektleiter Nicos Tsakiris erwartet Sie erst morgen“, setzte der Fahrer erneut an. „Sie beziehen jetzt Ihre Appartements und kommen erst mal in aller Ruhe an. Wenn Sie mögen, genießen Sie unsere schöne Insel. Morgen, um zehn Uhr, begrüßen wir Sie dann im Museum, Sie wissen es vermutlich – von hier ist es nur ein Steinwurf entfernt. Und dann haben wir um halb zwölf eine kleine Pressekonferenz, in der wir das Vorhaben präsentieren.“

Maria klatschte in die Hände. „Sehr gut“, rief sie und steuerte auf den Eingang des Hotels zu. „Ich brauche einen eiskalten Kaffee, ein Zimmer mit Fernseher und dann eine Dusche. Genau in dieser Reihenfolge!“

Schulterzuckend folgte Kostas ihr.

Kurz darauf hatte jeder von ihnen ein eigenes Appartement bezogen. Kostas war zufrieden – seins hatte einen wunderbaren Ausblick und war traditionell eingerichtet – weiß geputzte Wände, ein großes Sofa in sanftem Beigeton, ein wenig Holz, etwas Korbgeflecht hier, eine hübsche handgefertigte Keramik dort. Unaufdringliches Design, um der großzügigen Terrasse genügend Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Er öffnete die Tür und trat hinaus. Sofort roch er das Meer. Tief einatmend lehnte er sich an die Brüstung, die genau genommen eine halbhohe, weiße Mauer war, an deren rechter Seite eine Bougainvillea mit pink leuchtenden Blüten entlangrankte. Linkerhand war die Mauer geöffnet, von dort führte eine kleine, ebenfalls schneeweiß gekalkte Treppe in die Anlage des Hotels.

Er genoss, was er sah, das Meer mit vereinzelten Segelbooten, die parkähnliche Anlage mit leuchtend grüner Rasenfläche, Oleanderbüschen und kleineren Palmenarten. Die Terrassen der Anlage wirkten wie gewachsen und schienen nahezu organisch ineinander überzugehen.

Plötzlich entdeckte er etwas und hielt inne.

Auf der Terrasse, die schräg links unter seiner lag, aber weiter hervorsprang, saß Dr. Williams in einem Korbsessel. Seine Terrassentreppe führte an ihrem Appartement vorbei. Da sie ihn nicht bemerkt hatte, beobachtete er sie einen Moment.

Courtney – er ließ den Namen in Gedanken erklingen – hatte inzwischen geduscht und ihr nasses Haar zu einem lockeren Knoten gebunden. Die Reisekleidung, die mit Bluse und Chino zweckmäßig gewesen war, hatte sie nun gegen ein bodenlanges luftiges Kleid mit Spaghettiträgern eingetauscht. Sie wirkte noch jünger und noch hübscher, wie sie dort im Halbschatten saß und sich über Unterlagen beugte.

Ja, sie sah einfach hinreißend aus. Das musste er zugeben.

Ihr Gesicht war schmal, die Augen groß, die Lippen weich – alles zusammen betrachtet, umrahmt von den hellen, wie von der Sonne geküssten Haaren, war von Mutter Natur perfekt durchkomponiert.

Gut, dachte er, das erste Aufeinandertreffen war unangenehm gewesen, aber das musste ja so nicht bleiben. Schließlich werden wir in nächster Zeit öfter miteinander zu tun haben. Da könnten wir durchaus auf einen Burgfrieden anstoßen, Konkurrenz hin, Konkurrenz her.

Er machte auf dem Absatz kehrt, schnappte sich die Flasche Rotwein, die er sich aufs Zimmer hatte bringen lassen, und zwei der kleinen Trinkgläser und schritt die Treppe hinab.

Sie wirkte zwar nicht mehr wie die strenge Wissenschaftlerin, er wagte aber dennoch nicht, sie mit Courtney anzusprechen. Also lehnte er sich an die weiß getünchte Mauer ihrer Terrasse und stellte Wein und Gläser darauf ab. „Störe ich, oder wollen wir auf die kommenden Wochen anstoßen?“

Sie lehnte sich in ihrem Korbsessel überrascht zurück und betrachtete ihn genau. „Nein, danke“, sagte sie ruhig. „Ich werde mich vorbereiten auf den morgigen Termin – als Newcomerin erscheint mir das angemessen. Und sollte ich mehr über die Griechen wissen wollen, die ja nur die Liebe im Kopf haben, melde ich mich bei Ihnen.“

„Das war nicht so ein guter Auftakt, oder?“ Er bemühte sich um einen Blick, der bei den Frauen immer gut funktionierte – einer, der, wie er wusste, ein wenig charmant-jungenhaft daherkam.

„Nein, das war es nicht“, erwiderte Dr. Courtney Williams seelenruhig. „Wenn ich mich recht entsinne, waren die Minoerinnen starke Frauen. Gleichberechtigt obendrein. Es wäre schön, wenn wir uns darauf einigen könnten, dies zur Grundlage der kommenden Arbeit zu machen – die ja davon geprägt sein wird, dass wir uns in einem Wettstreit befinden. Umso wichtiger finde ich ein Agieren auf Augenhöhe.“

Kostas starrte Dr. Courtney Williams an – ihre helle, weiche Haut, die den Goldton der Haare unterstrich.

Natürlich, wollte er empört erwidern, natürlich behandelte er Frauen auf Augenhöhe und respektvoll. Er nahm aber nur die Rotweinflasche, goss sich ein Glas ein und prostete ihr zu. Er konnte sich nicht erinnern, wann das letzte Mal jemand so mit ihm geredet hatte. Das versprach anstrengend zu werden. „Das versteht sich von selbst“, sagte er. „Mögen die Spiele beginnen!“

2. KAPITEL

Courtney lehnte mit einer Tasse Kaffee in der Hand in der geöffneten Terrassentür und genoss, was sie sah. Die friedliche Morgenstimmung machte den Ausblick noch malerischer. Sie liebte Griechenland und ganz besonders die Kykladen. Hier wirkten die Farben kräftiger, die Luft schmeckte salziger, und das Sonnenlicht war warm und weich, aber niemals grell.

Sie trat auf die Terrasse und stellte die Kaffeetasse auf den Tisch. Dann zog sie ihren Seidenkimono fester um den Körper, reckte sich und atmete tief ein. Wohlig seufzend wandte sie sich um, wobei sie einen Blick zur Terrasse hinaufwarf, die links über ihrer lag.

Niemand war zu sehen. Sowohl die Tür als auch die Fensterläden waren geschlossen.

Erneut seufzte Courtney. Diesmal verärgert – über sich selbst.

Warum musste sie immer wieder an diesen Mann denken? Diesen griechischen Macho mit seinen schlechten Witzen und … Sie schob den Gedanken beiseite und ging in ihr Zimmer zurück.

Kurzentschlossen schlüpfte sie in eine leichte Sommerhose und wählte ein seidig fallendes Jersey-Shirt, das mit flachen Sandaletten und dem Leinen-Sakko nicht nach Büro, aber dennoch seriös aussah.

Wieder erschien Kostas Papadopoulos vor ihren Augen. Wie er an der Mauer lehnte, die Weinflasche vor sich, wie er für den Bruchteil einer Sekunde überrascht ausgesehen hatte – allerdings eher unangenehm überrascht von ihrer harschen Absage.

Einerseits war sein Kommentar, mit dem er sie zur Anfängerin abgestempelt hatte, herablassend gewesen, und der Spruch über die Griechen und ihre Haltung zur Liebe unangebracht und aus der Zeit gefallen. Andererseits war aber sein Vorschlag, mit ihr einen Wein zu trinken – zumindest im Nachhinein betrachtet –, ein freundlicher Versuch, einander besser kennenzulernen.

Seine Betonung der künftigen Zusammenarbeit war kollegial gewesen, doch sie hatte in diesem Moment nicht aus ihrer Haut gekonnt. Viel zu sehr hatte sie die Reduzierung darauf, nur wissenschaftlicher Nachwuchs zu sein, geärgert. Inzwischen war ihr das jedoch unangenehm. Sie wollte nicht wie eine verknöcherte Wissenschaftlerin wirken, sondern weltoffen, extrovertiert und vor allem interessiert an Vergangenheit und Gegenwart.

Sie schnappte sich den Zimmerschlüssel und ihre Handtasche und machte sich auf den Weg. Das Museum öffnete bereits um halb neun, eine gute Gelegenheit, eine Runde zu drehen und den aktuellen Stand in Augenschein zu nehmen, bevor alle ankamen.

Courtney musste nicht weit laufen. Gegenüber vom Busbahnhof, der noch vom täglichen Trubel verschont war, lag der weiße, eher längliche Bau, vor dem sich Palmen und Büsche im Wind wiegten. Der Vorgarten war terrassenartig angelegt, eine breite Treppe führte hinauf.

An der Kasse löste sie eine Eintrittskarte und konnte unbemerkt vom Museumsteam die Ausstellung noch einmal in Ruhe abgehen. Sie hatte sich alles im Internet angeschaut, was rund um das Museum in letzter Zeit veröffentlicht worden war, auch die Bewertungen von Besuchern, die Fotos und Kommentare auf einer Touristikwebsite hinterlassen hatten. Und sie konnte die dort entgegengebrachte Wertschätzung nur teilen. Das Museum war frisch renoviert, klimatisiert und technisch auf dem neuesten Stand. Alles wirkte gediegen und einladend.

Je länger sie an den Artefakten vorbeilief, umso mehr irritierte sie allerdings genau das – diese Modernität und die gekonnte Ausstellungsarchitektur. Warum wollte man Geld in dieses Haus stecken, wenn die letzte Investition offensichtlich noch nicht lange zurücklag?

Sie widmete sich konzentriert dem Aufbau der Ausstellung, die in gut unterscheidbare Themenbereiche gegliedert war: Die Forschung auf Santorin wurde erläutert, Geologie und Geschichte der Insel fanden Raum, natürlich mit dem Schwerpunkt der Blütezeit von Kapostiri. Die wunderschönen Fresken, die Vasen mit den entzückenden Malereien, auch Ausstellungsstücke der Ausgrabungen in Potamos und Akrotiri waren vertreten sowie zufällige Fundstücke.

Das war solide kuratiert, war ihr Fazit. Es war lange her, dass ihr Vater hier beratend zur Seite gestanden hatte, seine Arbeit hatte ihn immer wieder in die weite Welt zu anderen Grabungsstellen und Forschungsaufträgen geführt. Aber hier, in Fira, war man der Linie seiner Arbeit über die Jahre weiterhin offensichtlich gefolgt.

Kurz hielt Courtney inne. Sie hatte damals auch das Lager kennengelernt, in dem zahlreiche Fundstücke darauf warteten, ausführlich in Augenschein genommen zu werden. Vieles davon war nicht derart sehenswert wie die ausgestellten Schönheiten, aber für jeden Archäologen war es ein traumhafter Ort. Ihr Vater hatte vor allem die Fresken geliebt und sich im Lager wochenlang mit der Frage beschäftigen können, wie sich die berühmten Wandmalereien und Darstellungen auf Keramiken gegenseitig beeinflussten und wie sie sich zeitlich zuordnen ließen.

Sie lächelte, als sie sich an den Gesichtsausdruck ihres Vaters erinnerte, wenn er über seiner Arbeit brütete. Stets hatte sie gewusst, dass er anschließend seine Erkenntnisse mit ihr diskutieren würde.

Ja, er hatte ihren Verstand geschärft und sie zu dem gemacht, was sie heute war, eine klassische Kuratorin, die Fundstücke genauestens erfasste, katalogisierte und wissenschaftlich einordnete. Die anschließende Präsentation war dann vergleichbar mit einem Schaufenster, das einen Blick in die Vergangenheit zuließ.

Früher hatte man den Kurator auch Kustos genannt, ihn also genau genommen als eine Art Wächter bezeichnet, der auch ein wissenschaftlicher Sachbearbeiter war. Dieser Spagat gelang ihr ausgezeichnet, wie sie fand. Sie, Courtney Williams, wachte über Fundstücke vergangener Zeiten, erforschte sie und präsentierte sie würdig und angemessen. Sie führte die Arbeit ihres vor drei Jahren verstorbenen Vaters in seinem Sinne weiter. Ein Gedanke, der sie immer wieder wärmte und ihr Kraft gab, wenn das Gefühl von Einsamkeit sie überkam, weil sie in ihrem Alter bereits ohne Eltern durchs Leben gehen musste.

Sie ließ den Blick umherschweifen, um die Raumgröße abzuschätzen. Wenn für dieses Haus durch ein weiteres Stockwerk mehr Grundfläche entstünde, wäre das hervorragend – so könnte noch mehr über Santorins Geschichte und die europäische Hochkultur berichtet werden.

Ihr Blick fiel zufällig auf ihre Armbanduhr, und sie zuckte zusammen. Gleich sollten sich alle Beteiligten treffen. Hastig eilte sie zum Eingangsbereich, und kurz darauf stand sie umringt von Menschen. Mehrere Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Museums, der Museumsleiter, der Projektleiter, der Bürgermeister sowie ein Gesandter des Ministeriums für Kultur und Sport waren anwesend. Sogar der Architekt, der das Gebäude in die Zukunft führen sollte, war zugegen. Courtney hatte es längst aufgegeben, sich jeden Namen zu merken.

Sie war fast erleichtert, als ihr Kontrahent Kostas Papadopoulos samt seinem Assistenten Jorgos leicht verspätet in die Halle rauschte – die beiden waren ihr in all den neuen Eindrücken nahezu vertraut. Sie grüßte freundlich und versuchte, mit einem offenen Lächeln zu signalisieren, dass sie heute deutlich wohlgesinnter war.

Im Anschluss an die Begrüßung setzte der Bürgermeister zu einer Rede an: „Es freut uns sehr, dass Sie beide hierhergekommen sind, auf unsere wunderschöne Insel, und uns dabei beraten, wie wir unsere Geschichte im neu entstehenden Museum erzählen können. Wir nehmen uns Platz, erheblich mehr Platz – um genau zu sein! Und diesen wollen wir mit Ihrem Fachwissen professionell gestalten.“

Courtney brauchte einen kurzen Moment, um das Gesagte zu erfassen – war ihr Griechisch vielleicht ein wenig eingerostet, oder hatte der Mann gerade von einem neuen Museum gesprochen? Einem großen Museum mit viel Platz? Plötzlich schlug ihr Herz einen nervösen Takt.

Kostas schaute irritiert zu Jorgos, anschließend zur blond gelockten Engländerin. Dann beugte er sich vor: „Das neue Museum? Ich dachte, dieses hier wird erweitert, das meinen Sie doch, oder?“

Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben großzügige Spenden aus dem In- und Ausland erhalten und sind in der glücklichen Lage, ein weiteres Museum auf der Insel zu eröffnen. Es wird eine Ergänzung sein zu diesem und zur Grabungsstätte.“

„Das hatte ich auch anders verstanden“, erklang da Courtneys Stimme.

Sie wirkte ebenfalls verblüfft. Es beruhigte ihn, dass sie offensichtlich auch nichts davon gewusst hatte.

Nun trat Nicos Tsakiris, der Projektleiter, vor. „Es tut mir leid, es könnte sein, dass da Verwirrung entstanden ist. Es gab verschiedene Stadien der Projektentwicklung. Anfangs war die Rede von einem Anbau, dann von einem weiteren Stockwerk, am Ende ist jetzt ein neues Gebäude dabei herausgekommen. Das hing vom Spendenstand ab, und es kann sein, dass Sie – je nach Zeitpunkt der Kontaktaufnahme – den entsprechenden Sachstand erfahren haben.“

„Der nicht korrigiert wurde“, ergänzte Courtney streng.

„Sieht so aus.“ Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. „Das macht nichts, im Grunde genommen ändert es ja nichts an der Tatsache – Sie werden einfach mehr Raum bespielen können. Das ist doch was, oder?“

„Wie Sie wissen“, fuhr nun Tsakiris fort, „wurde Thera, so hieß unsere schöne Insel seinerzeit, circa 1.600 vor Christus von einem Vulkanausbruch heimgesucht und unter Asche beerdigt. Die Grabungsstätte ist nach dem nahe gelegenen Dorf Kapostiri benannt und soll wohl das Vorbild für Platos Version von Atlantis gewesen sein. Bisher sind, nach über vierzig Jahren Arbeit, knapp zwei Hektar der ehemaligen Stadt freigelegt worden, womit wir nur einen kleinen Teil des Ortes abbilden. 1969 erfolgte der erste Spatenstich an der heutigen Ausgrabungsstelle mit der Anlage eines Suchgrabens an der Eselshöhle.“

Nichts davon war Kostas neu, aber er mochte die Esel-Geschichte und musterte Dr. Williams. Sie wirkte so, als wäre sie im Bilde darüber, dass die heutige Grabungsstelle entdeckt wurde, weil Professor Koumanteros, der die Grabung später leitete, von einem einheimischen Bauern erfuhr, dass bei Kapostiri einige Jahre zuvor eine Eselshöhle und ein Feld eingebrochen waren. Ganz ähnlich, wie es bei einer anderen Grabung der Fall gewesen war.

Dabei hatten die Ortsansässigen verschiedene Räume entdeckt und Steinmörsergefäße mitgenommen, die als Tröge benutzt worden waren.

„Doch nun sind in der Nähe von Kapostiri weitere Bereiche erschlossen worden, wir waren sehr produktiv“, ergänzte der Museumsleiter.

„Dann trifft es sich ja gut“, erwiderte Kostas, „dass wir komplett neu ansetzen und nicht an das bestehende Museum anbauen. Also Platz haben für die Gestaltung von Räumen, die sich für immersive Darstellungen anbieten. Bei einem unterirdischen Stockwerk habe ich befürchtet, wenig Raum für die Projektion von Film- und Bildmaterial an die Wände zu haben. Aber so, wie es jetzt klingt, wären großflächige Darstellungen denkbar?“

„Ja, also Platz können wir gewähren.“

Kostas lächelte. „Dann werde ich den kreativen Superlativ entwickeln.“

Nun trat Dr. Williams vor. „Es geht hier darum, die Geschichte der Minoer auf Santorin zu erfassen. Es geht darum, wissenschaftlich zu arbeiten. Es geht nicht darum, ein Unterhaltungsprogramm abzuliefern. Es wird kein Kino gebaut, es wird ein Museum – wenn Sie immersiv arbeiten, dann bleiben Sie bei den Fakten!“ Ihre Augen blitzten empört. „Kreativer Superlativ, wenn ich das schon höre.“

Einerseits hätte er gern gelächelt, so entzückend sah Courtney in ihrer Empörung aus, aber er wollte um jeden Preis vermeiden, sie zu unterschätzen. Noch einmal machte er diesen Fehler nicht. Und andererseits spürte er das Bedürfnis, in aller Schärfe zu kontern. Ein Gefühl, dem er nachgab: „Es wird aber auch nicht darum gehen, möglichst unverständlich zu reden, im Wissenschaftsjargon die neuen Fundstücke zu preisen und die eigene Arbeit intellektuell aufzuladen.“

„Ich nehme an“, die Engländerin wandte sich an den Museumsdirektor, „hier wird ‚lege artis‘ gearbeitet, also ein bestimmtes Niveau nicht unterschritten. Ich gehe davon aus, dass sich das Team des Hauses, wie in der Zusammenarbeit mit Dr. Curt Williams seinerzeit, dem derzeitigen Stand der Wissenschaft verpflichtet fühlt.“

„Natürlich unterhält man sich bei der Planung von Spezialist zu Spezialist, aber wir haben auch das Publikum im Auge“, begann Tsakiris zögerlich, wobei er unsicher zwischen ihnen hin und her schaute.

„Genau darum geht es.“ Kostas fühlte sich bestätigt. „Hier sollen nicht Professoren angesprochen werden, sondern das Publikum. Da hören Sie es!“

„Ich habe nie gesagt, nur für Professoren arbeiten zu wollen …“

„Moment – noch rede ich. Und um unser Publikum zu erreichen, müssen wir uns neuester Methoden bedienen. Wir müssen auch herkömmliche Methoden verwenden, um Interesse zu schaffen. Wir müssen eine Werbeabteilung einschalten – mit einer großen Kampagne. Ich weiß, dass dies für Sie fast unerträglich ist. Aber so funktioniert das Arbeiten im dritten Jahrtausend nach Christus.“

„Dann gehen Sie mit Ihren neuen Methoden zu irgendwelchen Galeristen, verkaufen Sie Kunst. Entwickeln Sie Ihre Ausstellungen für Käufer, Sammler und Investoren, aber lassen Sie die Finger von diesem Thema. Wir müssen hier Geschichte erzählen und bewahren, von damals zu heute den Bogen schlagen. Wir sind hier nicht in irgendeiner …“ Courtney wedelte mit den Händen in der Luft herum. „Ich glaube, Sie sind wunderbar in dem, was Sie da machen, aber hier geht es um Wissenschaft.“

Kurz flackerte bei ihm dieses Gefühl auf, das er so hasste: wieder ein wenig wie der ungehobelte Bauernjunge dazustehen. „Ja, es ist richtig, ich bin kein Prähistoriker, tatsächlich habe ich mich eher mit der Antike befasst. Ich habe auch keinen Doktortitel, aber ich habe ebenfalls eine akademische Laufbahn absolviert, und zudem bringe ich noch einige Kenntnisse mit, die Ihnen fehlen …“ Seine Stimme klang gepresster, als es ihm recht war.

„Gut, wie haben Sie es gestern formuliert: Lassen wir die Spiele beginnen“, erwiderte die Engländerin. Ihre Wangen waren inzwischen gerötet.

„Sehr gern. Dann werden wir ja sehen, welcher Vorschlag überzeugt.“

Sie standen einander gegenüber, und Kostas hörte, wie der Fotograf, den er bisher weitestgehend ignoriert hatte, die Kamera klicken ließ. Er wandte sich ihm zu, lächelte sofort und trat neben die Engländerin. Professionell legte auch sie ihr Fotolächeln auf.

„Ich möchte nicht stören, wir machen nachher in jedem Fall noch Gruppenfotos und Bilder in der Ausstellung“, sagte der Fotograf. „Aber für diesen Moment … Können Sie sich enger zusammenstellen?“

Kostas spürte Courtneys Schulter an seiner.

Dann ihren Arm, kurz sogar ihre Hüfte.

Er meinte, einen leichten Vanilleduft auszumachen.

Ein Kribbeln lief ihm vom Nacken den Rücken hinab. Plötzlich verspürte er den Impuls, den Arm um sie zu legen und sie an sich zu ziehen. Es kostete ihn Kraft, dem nicht nachzugeben.

Als sie wieder Abstand zwischen sich brachten, musste er sich einen kurzen Augenblick sammeln.

Was war das gewesen?

Begierde?

Innerlich schüttelte er den Kopf. Da war es doch viel wahrscheinlicher, dass der Rotwein gestern Abend nicht in Ordnung gewesen war.

Der Projektleiter räusperte sich. „Was meinten Sie damit, die Spiele beginnen zu lassen?“, fragte er und fixierte seine Gäste, wobei er fast lauernd wirkte.

„Zu wann wollen Sie die ersten Konzepte haben?“

„Ab welchem Zeitpunkt wird der Architekt mit eingebunden?“, ergänzte die Engländerin. „Den Zeitplan kennen wir noch nicht.“

„Bevor wir über einen Zeitplan sprechen“, Tsakiris wand sich nervös, „befürchte ich, dass es offensichtlich ein weiteres Missverständnis gibt …“

Kostas spürte, wie bei ihm die innere Alarmsirene ansprang. Worauf will dieser Projektleiter hinaus, dachte er noch, und da kam auch schon, was er befürchtete:

„Also natürlich nehmen wir gerne gesonderte Vorschläge von Ihnen entgegen, aber wir wären grundsätzlich daran interessiert, in diesem Haus etwas zu schaffen, das sich zusammensetzt aus Ihrer beider Arbeit.“

3. KAPITEL

Abermals saß Courtney in dem Transporter auf der Bank – gegenüber von Kostas Papadopoulos. Neben ihm saß sein Assistent Jorgos und neben ihr wiederum Projektleiter Tsakiris, der regelrecht zerknirscht wirkte aufgrund der bisherigen Kommunikationspannen.

Sie schwiegen einander an und starrten vor sich hin. Vor dem Fenster zog die Landschaft vorbei, und obwohl es von Fira bis zur Grabungsstätte nur etwas mehr als zehn Kilometer waren, kam ihr die rund zwanzigminütige Fahrt lang vor.

Sie erreichten das Dorf Kapostiri, das etwa siebenhundert Meter oberhalb der Ausgrabung auf einem Hügel lag, einem Hügel, der, wenn man genau war, aus dem ältesten Vulkangestein der Insel bestand. Courtney entdeckte die Ruine der bekannten Burganlage, die auf der Spitze des Hügels stand. Sie stammte aus der Zeit der venezianischen Herrschaft, die ungefähr vom 13. bis ins 16. Jahrhundert hinein angedauert hatte.

Sie war versucht, aufzuseufzen. Es war so schön hier. Santorin war voller Geschichte. Überall.

Als sie langsam durch die Gassen fuhren, war sie angenehm überrascht, wie hübsch das Dorf im Frühling aussah. Die leuchtend weißen Häuser, der Blick aufs Meer, die Kirche mit dem typisch türkisblauen Kuppeldach und die Weinberge, die sich rund um das Dorf erstreckten, berührten sie. Sie erhaschte einen Blick auf den Leuchtturm des Dorfes, der nicht sonderlich hoch war, aber zu den ältesten in Griechenland zählte.

Kurz musterte sie Kostas. Er schaute ebenfalls angestrengt aus dem Fenster, bemerkte aber ihren Blick und erwiderte ihn.

Dunkle Augen, lange Wimpern.

Sofort schaute Courtney wieder aus dem Fenster, ganz so, als hätte sie ihren Kontrahenten dabei nur beiläufig gestreift. Sie kam sich vor wie zu Teenagerzeiten.

Was um Himmels willen war los mit ihr?

Was machte sie so nervös in seiner Gegenwart?

Er war beileibe nicht der erste gut aussehende Mann, dem sie in ihrem Berufsleben begegnete. Vermutlich war es der Jetlag, versuchte sie sich ihr Verhalten zu erklären. Oder war es eine Stressreaktion, auf die Herausforderung, die vor ihr lag?

Sie stand bei diesem Projekt ziemlich allein auf weiter Flur. Ihr Kontrahent hatte immerhin seine Mutter und seinen Assistenten dabei. In London beschäftigte sie hin und wieder eine Kunststudentin, die ihr bei allen möglichen Dingen zur Hand ging, vor allem bei der Bürotätigkeit und beim Erstellen von wissenschaftlichen Publikationen. Sich allerdings eine eigene Assistentin dauerhaft leisten zu können, davon war sie weit entfernt, und das würde als Kuratorin vermutlich so bleiben. Da hatte ihr Gegenüber sich mit seiner multimedial agierenden Firma tatsächlich etwas geschaffen, das ihm Freiräume bot.

Kurz hielt Courtney inne. Fiel sie jetzt gerade der Wissenschaft in den Rücken und hofierte den Kommerz?

Aber eigentlich traf genau das den Kern, das war es, was ihre Arbeitsweisen unterschied. Ihr lag die Wissensvermittlung am Herzen, ihm die Möglichkeit, über die Vermittlung von Wissen Geld zu schaufeln.

Der Wagen näherte sich der Grabungsstätte, und das nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie konnte die großflächige Überdachung ausmachen und die lang gezogene Mauer aus quaderförmigen rot schimmernden Steinen, an der das Schild angebracht war, das auf die prähistorische Stadt hinwies.

Als der Wagen endlich anhielt, beschleunigte sich ihr Puls.

Nach Kapostiri zu kommen, war ein wenig, wie nach Hause zu kommen.

Wie sie diesen Ort liebte!

Hier kam alles zusammen – die Liebe zu ihrer Arbeit und die Erinnerung an ihren Vater. Noch immer fühlte sie dieses Schuldgefühl, wenn sie an ihn dachte. Zwar war sie geliebt worden, hatte aber als Kind oft zwischen ihm und seiner Arbeit gestanden. Er hatte die Verantwortung getragen und dabei häufig wie ein Wissenschaftler gewirkt, der mit den Realitäten des Lebens, sei es ein krankes Kleinkind oder eine pubertierende Teenagertochter mit erstem Liebeskummer, durchaus immer wieder ordentlich überfordert gewesen war.

Als sie die Grabungsstelle betraten, war es wie üblich das Licht, das sie zuerst beeindruckte. Das riesige Dach, eine offene Konstruktion aus Holz und weiß gestrichenen Stahlträgern, die auf weißen Betonsäulen ruhten, zauberte ein Spiel aus Licht und Schatten auf die bisher ausgegrabenen Häuser und Straßenzüge. Courtney lehnte sich an die Balustrade des Besucherrundwegs und schaute hinab, schweigend und bewegt.

Für einen Moment kämpfte sie gegen Tränen an. Die Stimmung an solchen Orten war für sie unfassbar, sie meinte jedes Mal wieder, die Schwingungen der Vergangenheit spüren zu können. Zu gerne wäre sie die Treppen hinabgestiegen –, in die Grabungsstelle eingetaucht, und hätte sich an die Gespräche erinnert, die sie mit ihrem Vater zu diesem oder jenem baulichen Detail geführt hatte. Sehnsucht schnürte ihr die Kehle zu.

Zeit für eine Begehung war bei diesem Auftakttreffen aber offensichtlich nicht geplant, denn Tsakiris führte die Gruppe direkt zum Diorama, auf dem der bisherige Stand der Grabungen in Miniaturformat vorgestellt wurde. Courtney sah das Südgebäude, die verschiedenen Bereiche wie den Sektor Beta, Delta oder auch Gamma. Das Westhaus, die südliche Mühle, das Haus der Frauen und auch das nördlich gelegene Lager erkannte sie.

Wieder stand Kostas neben ihr, und sie wusste nicht, ob die Gänsehaut, die ihr den Rücken hinablief, ein Frösteln war, weil es in der schattigen Ausstellungshalle kühler war, oder ob er …

Sie verscheuchte den Gedanken, dieser Mann konnte ihr eine Gänsehaut verursachen, und blickte konzentriert auf das Schaustück.

„Wir planen, demnächst weitere Abschnitte zu erschließen, das sollten Sie in Ihren Überlegungen berücksichtigen. Wir sind hier schon weit vorangekommen“, sagte der Projektleiter und wies auf einen Bereich, der sich außerhalb des Schaustücks befand. „Dieser Grabungsbereich, der in diesem Modell bisher nicht erfasst wurde, ist noch nicht für Besucher zugänglich. Wir haben zahlreiche der Öffentlichkeit noch unbekannte Fundstücke. Uns geht es darum, dass Sie sich mit dem aktuellen Stand vertraut machen und dann Entwürfe liefern, wie eine Ausstellung konzipiert werden könnte. Wie können wir dafür sorgen, dass das neu zu bauende Museum erweiterbar bleibt und eine Brücke bildet zwischen dem Prähistorischen Museum in Fira und der Grabungsstelle mit den aktuellen Funden.“

„Gut“, sagte Kostas und wandte sich ab. „Darauf freue ich mich schon die ganze Zeit, diesen Ort zu würdigen und die berühmte Telchinon-Straße abzugehen.“

„Also, das habe ich jetzt nicht eingeplant, ich muss – die Zeit drängt“, stammelte Tsakiris.

„Sie haben gesagt, wir sollen uns mit dem aktuellen Stand vertraut machen, und das werde ich jetzt erledigen. Ich werde eine kleine Runde durch die einzelnen Sektoren drehen, die Terrassenplätze und die betörend schöne Wandmalerei noch einmal erleben.“ Er warf Tsakiris einen Blick zu, der keinen Widerspruch duldete. „Sosehr ich auch mit diesem Ort verbunden bin, dürfte Ihnen bekannt sein, dass ich lange nicht mehr hier war.“

Er hielt ihr unvermittelt seinen Arm entgegen, als wollte er sie einladen, sich einzuhaken, um mit ihm spazieren zu gehen.

„Ich begrüße es sehr, wenn wir diese Zeit haben“, pflichtete Courtney ihm bei, hakte sich bei ihm ein, und schon marschierten sie die Treppen hinab.

Was mache ich hier, dachte sie zeitgleich. Ich lege mich mit dem Projektleiter an, noch bevor wir die Arbeit begonnen haben, und gehe in der Grabungsstätte mit einem Kollegen spazieren?

Hastig zog sie ihren Arm wieder an sich. „Sie haben recht“, sagte sie an Kostas gewandt, ohne den Blick von den aus grobem Stein erbauten Häuserwänden zu nehmen, „wir dürfen uns nicht hetzen lassen. Ich würde auch gerne nachher noch einmal die Gebäude im äußeren Gelände begehen.“

„Natürlich machen wir das! Wussten Sie davon, dass es ein komplett neues Gebäude wird? Ich hatte den Eindruck, es hat Sie auch überrascht?“

„Allerdings“, sagte Courtney. „Es ist nahezu unglaublich, bei einem Projekt dieser Größenordnung mitzuwirken, aber das wird auch eine Herausforderung. Zumindest für mich.“

„Ja, das wird es, auch für mein Team und mich“, sagte Kostas und tatsächlich klang etwas wie Ehrfurcht aus seiner Stimme heraus. „Wenn man sich vor Augen führt, dass diese Stadt in ihrer Blütezeit durch einen Vulkanausbruch verschüttet und dreitausendfünfhundert Jahre bis zu ihrer Freilegung konserviert wurde, dann bin ich fast sprachlos.“

Courtney musste sich zusammenreißen, nicht plötzlich nach Atem zu ringen oder sich Luft zuzufächeln. Wie sexy dieser Mann war, wenn er über diesen Ort sprach – die glühende Leidenschaft, die sie in sich trug, loderte also auch in ihm.

Sie schaute sich um.

Niemand war in diesem Moment in der Nähe, sie hatte das Gefühl, mit ihm allein zu sein.

Verschollen zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

„Ja, dieser hervorragende Erhaltungszustand der Gebäude und die unvergesslichen Fresken ermöglichen uns mit ihren komplexen Funktionsgebäuden einen Einblick in die Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte, der weiter reicht, als es beispielsweise in Pompeji der Fall ist“, erklärte sie.

Er blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das ist doch Ihr Vater, der da spricht, oder?“ Er klang mit einem Mal ungeduldig, fast herrisch.

„Wie bitte?“ Sie blinzelte und fühlte sich, als wäre sie aus einem Tagtraum gerissen worden. „Was hat das mit meinem Vater zu tun?“ Sie musste zu Boden schauen, weil sie Sorge hatte, er könnte in ihren Augen erkennen, dass sie ihn soeben als sexy und begehrenswert wahrgenommen hatte.

„Soviel ich weiß, wurden Sie von Ihrem Vater ausgebildet und waren schon öfter hier?“

„Na, Sie wissen ja gut Bescheid.“

„Natürlich, ich bereite mich vor. Aber jetzt seien wir mal ehrlich. Schon dieser Fachjargon vom Erhaltungszustand und irgendwelchen Funktionsgebäuden ist gestelzt formuliert. Oder was ist mit Pompeji? Ist das Ihr Ernst? Wir sind auf Santorin, was wollen Sie mit Pompeji?“

„Es tut mir leid, wenn Sie diesem Vergleich nicht folgen können“, erwiderte Courtney patzig und hob nun den Blick. „Da an beiden Standorten Vulkanausbrüche stattfanden, die alles unter einer Lava- und Rußschicht begruben, wird dieser Vergleich häufig gezogen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das üblich, ich ging davon aus, das wäre Ihnen geläufig, aber …“ Sie ließ das Wort in der Luft hängen und sah diesen überheblichen New Yorker Filmemacher herausfordernd an.

„Ja, aber das sind doch Fakten am Rande, die nebenbei miterzählt werden können. Es geht darum, den Ort zu fühlen!“

„Fühlen?“ Courtney musste aufpassen, nicht aufzulachen, so unpassend erschien ihr der Vergleich. Sie fühlte unfassbar viel, wenn sie in ihre Arbeit vertieft war, aber sie war stets darum bemüht, die wissenschaftlichen Standards zu halten. „Was reden Sie da?“

„Sie wissen es auch. Vermutlich gab es vor dem Vulkanausbruch Erdbeben, und die Bewohnerinnen und Bewohner haben die Insel mit Booten verlassen.“

„Ja, ich kenne diese Theorie. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es so war. Deshalb ist vermutlich so wenig Gold und Eisen auf der Insel, weil alles, was wertvoll war, mitgenommen wurde. Aber was hat das jetzt damit zu tun, dass ich den Ort fühlen soll?“

„Es geht nicht immer nur um Theorie. Es geht darum, den Moment zu fühlen. Ein Erdbeben – die Welt scheint unterzugehen …“

Kostas trat näher, und ihre Blicke trafen sich, hielten sich.

„Die Frauen raffen und packen zusammen, was geht, scharren die Kinder um sich und treiben sie zum Wasser, wo die Männer die Boote klargemacht haben. Die Erde vibriert, ja bebt, und das mehrfach, der Vulkan spuckt Qualm aus, vielleicht regnet es, wenn ja, dann vermutlich eher Asche und Bimsstein, der dann auch noch unterschiedliche Farben hat – weißer, gelber, rosa- und orangefarbener Bimsstein. Die Menschen auf der Insel kennen ihren Vulkan, und mit einem Mal fürchten sie einen Ausbruch. Sie müssen sich beeilen, denn auf dem Wasser zu sein, bedeutet noch längst nicht, in Sicherheit zu sein. Nur Entfernung bietet Sicherheit …“

Courtney hing an seinen Lippen. Sie vergaß zu blinzeln und hatte das Gefühl, mit ihm innerhalb der Szenerie zu stehen.

„Die Alten …“ Er senkte die Stimme. „Sie wollen die Jungen nicht aufhalten, ihnen nicht zur Last fallen, keinen Platz in Anspruch nehmen, aber sie werden in die Boote gezerrt. Eines der Kinder wimmert, es hat seinen goldenen Stier vergessen. Einige der Frauen und Männer weinen, denn sie ahnen, sie werden ihr Zuhause nie wiedersehen. Die Wellen peitschen … Schnell! Weg! Nur weit weg!“

Am liebsten hätte sich Courtney in seine Arme geworfen. Sie spürte das Leid der Menschen damals wie niemals zuvor. Sie hatte darum gewusst, es aber – da hatte er recht – nüchtern betrachtet. Nun schnürte es ihr die Kehle zu. Es war unglaublich. Sie sah zu ihm auf.

Seine Augen waren noch dunkler als zuvor, er stand dicht vor ihr.

Sehr dicht.

Wie konnte er sie binnen weniger Sekunden durch ein derartiges Wechselbad der Gefühle schicken?

„Spüren Sie es?“, flüsterte er.

Sie nickte und blinzelte. Er ist ein Magier, dachte sie, noch immer von der dramatischen Nacht des Untergangs umfangen, die er hatte entstehen lassen.

Er trat einen Schritt zurück. „Da sehen Sie es“, sagte er nüchtern mit lauter Stimme. „Man muss es fühlen. Ihre klassische Arbeitsweise, in der Sie ein paar Pithoi ausstellen und langwierig erklären, dass es sich nicht um Vasen handelt, sondern um Lagergefäße, in denen Muscheln gefunden wurden, ist überholt. Dann dekorieren Sie hier noch ein paar Scherben, dort noch ein paar Erklär-Texte. Wunderbar, aber das wird diesem Ort und seinen Menschen nicht gerecht. Das war im letzten Jahrhundert sicherlich sinnvoll, als es überhaupt noch kein Bild früher Epochen gab. Aber heute müssen wir diese Ausstellungsmentalität ergänzen, und zwar um Emotionen.“

Das zweite Mal binnen weniger Minuten hatte Courtney den Eindruck, von ihm grob in die Realität zurückgestoßen zu werden. Sie hatte ihm gestanden, seine Vision zu teilen, den historischen Moment, den er geschaffen hatte, emotional zu teilen.

Und was machte er?

Nutzte das, um seine Methoden aufzuwerten und ihre der Lächerlichkeit preiszugeben – all das garniert mit einem bornierten Grinsen.

„Ich frage mich, wo bleiben Sie in all dieser Arbeit? Sie nutzen Methoden anderer Wissenschaftler. Wo ist Ihr Anteil? Was sind Ihre Methoden?“

Sie schüttelte den Kopf ob solcher Unverfrorenheit. „Ich arbeite entsprechend dem wissenschaftlichen Kanon, er ist die Richtschnur meines Handelns. Wir können doch nicht nur Filmchen zeigen …“, stammelte sie.

„Und ob wir das können, Sie werden schon sehen!“ Wortlos wandte sie sich ab und eilte zurück zum Besucherrundweg.

Er ist kein Magier, er ist ein Trickser, wütete Courtney innerlich. Ein unfair spielender Trickser, nicht mehr und nicht weniger.

Kaum hatte sie den Begleittross erreicht, verschränkte sie die Arme und fixierte den Projektleiter. „Ich würde gern die bisherigen Architektenpläne vorgestellt bekommen, und eines kann ich schon jetzt sagen, mein Entwurf wird etwas Eigenständiges sein! Wenn Sie eine Zusammenarbeit mit Kosta Papadopoulos wünschen, müssen Sie jemand anderen einladen. Dann reise ich gern ab.“

„Nein, Mama“, sagte Kostas geduldig, „ich habe sie nicht beleidigt.“

„Aber Jorgos hat mir doch erzählt, dass sie abreisen wollte.“ Maria richtete den Sonnenschirm aus und nahm im überschatteten Korbsessel ihm gegenüber Platz. Auch ihre Terrasse war großzügig geschnitten und bot eine wunderbare Aussicht auf die Bucht.

„Dr. Williams hat das in Erwägung gezogen, aber nicht etwa, weil ich sie angeblich beleidigt habe. Wir sind nur unterschiedlicher Meinung, was die Herangehensweise betrifft, eine Ausstellung zu kuratieren. Darüber haben wir diskutiert. Durchaus leidenschaftlich.“ Er war überrascht, dass er diese Formulierung wählte – wie kam er bei dieser Intelligenzbestie auf Leidenschaft?

„Und wegen einer Diskussion will sie abreisen?“ Seine Mutter schaute ihn skeptisch an. „Sie ist eine nette junge Frau, und ich weiß genau, dass du dich manchmal unmöglich verhältst.“

„Ich war professionell, die ganze Zeit. Das Museum hätte eine Zusammenarbeit von ihr und mir bevorzugt, aber dann wäre sie vom Projekt zurückgetreten. Die Verantwortlichen können aber auch mit eigenständigen Entwürfen leben. Das ist sehr in meinem Sinne.“

„Warum? Was hast du denn jetzt gegen diese Engländerin?“

„Ach, dass sie was gegen mich hat, hinterfragst du nicht, aber wenn es andersherum ist, muss ich mich rechtfertigen?“

Seine Mutter wedelte mit den Händen in der Luft herum und suchte nach Worten. Ihr beredtes Schweigen war für ihn auch eine Antwort.

„Also gut, ich versuche, es dir etwas genauer zu erklären: Sie gehört zu den Kuratorinnen, die ihr Leben der Wissenschaft geweiht haben, und da sieht so einer wie ich, der mediale Elemente in die Arbeit einbringt, sich genau genommen sogar ausschließlich darauf stützt, natürlich alt aus.“

„Was meinst du denn damit? Ihr wollt doch beide das Gleiche.“

„Ja, aber sie will verwalten, Wissen anhäufen und in ihrem stillen Kämmerlein arbeiten. Sie möchte einfach schlau wirken, nehme ich an.“ Kostas lehnte sich in die dicken Polsterkissen der loungeartigen Couch zurück und schaute aufs Wasser hinaus. Der Wind war nicht mehr als eine leichte Brise, die Temperatur angenehm frühlingshaft, und dieser Anblick war beruhigend. Schon immer gewesen.

„Das willst du doch auch, schlau wirken.“

„Nein, mir geht es darum, dass Geschichte spürbar wird.“

„Ich denke, dass eins ohne das andere nicht geht. Du kannst Emotionen nicht erzeugen, wenn die Fakten vorher nicht bekannt sind. Und sie kann mit den reinen Fakten keine Emotionen erzeugen. Was stellt ihr euch denn so an?“

„Oh, wirst du jetzt zur Fachfrau für Ausstellungsarchitektur?“ Kostas spürte, dass er zunehmend genervter wurde.

Erneut fuchtelte seine Mutter mit den Händen in der Luft herum, dieses Mal wirkte es drohender. „Nur weil ich aus einem Dorf komme, bin ich nicht dumm. Ich will mich jetzt nicht mit dir streiten.“

„Was willst du dann?“

„Viel lieber würde ich heute Abend nach Kapostiri fahren.“

„Dann mach das“, sagte er ausweichend.

„Nein, natürlich will ich mit dir nach Hause kommen.“

Ins Dorf zurückfahren mochte er noch immer nicht. Das war ihm zu früh, er wollte sich erst stärker darauf einstimmen. Kostas seufzte innerlich. Da leitete er ein internationales Unternehmen und begeisterte Hunderttausende Besucherinnen und Besucher von Museen, doch wenn es darum ging, in den Ort seiner Kindheit zurückzukehren, war er plötzlich zögerlich. „Es war ein langer Tag heute, und ich würde jetzt gerne noch mit Jorgos erste Ideen entwickeln. Ich hatte gedacht, dass wir am Abend nach Oia fahren, dort ein wenig durch die Altstadt schlendern und später zum Kastell hinaufgehen, um von dort den Sonnenuntergang zu beobachten.“

Seine Mutter wirkte verärgert. „Da solltest du nicht mit mir hingehen. Schnapp dir lieber deine Kollegin, entschuldige dich und geh mit ihr dort oben essen. Aber nicht heute! Ich bin aus New York mit dir hierhergeflogen, und ich habe schon geduldig den ganzen Tag gewartet. Jetzt will ich nach Hause und nicht hier herumsitzen.“

Es klopfte. Kostas war erleichtert, das Gespräch kurz unterbrechen zu können. Er verließ die Terrasse, durchquerte das Appartement seiner Mutter und öffnete die Tür. Vor ihm stand Jorgos.

„Ach, hier ...

Autor

Louise Fuller
<p>Louise Fuller war als Kind ein echter Wildfang. Rosa konnte sie nicht ausstehen, und sie kletterte lieber auf Bäume als Prinzessin zu spielen. Heutzutage besitzen die Heldinnen ihrer Romane nicht nur ein hübsches Gesicht, sondern auch einen starken Willen und Persönlichkeit. Bevor sie anfing, Liebesromane zu schreiben, studierte Louise Literatur...
Mehr erfahren
Juliette Hyland
Mehr erfahren