Sarah Morgan Edition Band 12

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UND WIEDER BRENNT DIE LEIDENSCHAFT

Was fällt Rico nur ein? Am liebsten würde Anastasia dem sizilianischen Multimillionär die Tür vor der Nase zuschlagen. Vor einem Jahr hat er sie verstoßen, und jetzt will er sie zurück? Doch das Nein erstirbt ihr auf den Lippen bei dem heißen Verlangen in seinem Blick …

MÄRCHENHOCHZEIT AUF SIZILIEN

„Hast du wirklich geglaubt, du könntest unbemerkt nach Sizilien zurückkommen?“ Wie erstarrt hört Francesca seine Stimme. Sie wollte ihre Mutter besuchen, stattdessen ist sie dem Mann in die Arme gelaufen, vor dem sie geflohen war: Milliardär Rocco Castellani – ihrem Ehemann!

NUR BEI DIR FÜHL ICH MICH GEBORGEN

Der faszinierende Milliardär Silvio Brianza entführt die schöne Nachtclubsängerin Jessie auf seine Luxusjacht. Nur hier ist sie sicher vor ihren Verfolgern! Oder? Die brodelnde Leidenschaft zwischen Silvio und ihr bringt Jessies Herz in höchste Gefahr …


  • Erscheinungstag 21.06.2025
  • Bandnummer 12
  • ISBN / Artikelnummer 8205250012
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Sarah Morgan

SARAH MORGAN EDITION BAND 12

Sarah Morgan

1. KAPITEL

Sie würde nicht sterben!

Rico Crisanti, Milliardär und Eigner des Crisanti-Konzerns, blickte angespannt durch die Glasscheibe zwischen Besucherzimmer und Intensivstation. Dass die Krankenschwestern dort drinnen ihn träumerisch ansahen, merkte er nicht. Er war daran gewöhnt, von Frauen hingerissen betrachtet zu werden. Manchmal fiel es ihm auf, manchmal nicht.

Diesmal beachtete er es nicht, denn er wandte den Blick nicht vom Bett, in dem ein junges Mädchen völlig bewegungslos lag, angeschlossen an modernste medizinische Apparate.

Das Jackett seines Designeranzugs hatte Rico schon längst ausgezogen und über eine Stuhllehne geworfen, die Ärmel des Seidenhemds über den sonnengebräunten Armen aufgerollt. Auf dem markanten Kinn zeigten sich dunkle Bartstoppeln, und er sah im Moment eher wie ein Gauner denn wie ein Geschäftsmann aus.

Für einen Mann wie ihn, der befahl und kontrollierte, der rasches, überlegtes Handeln gewohnt war, bedeutete es eine Höllenqual, untätig warten zu müssen.

Probleme wollte er immer sofort lösen, Schwierigkeiten innerhalb kürzester Zeit beseitigen.

Nun erkannte er – zum ersten Mal –, dass er eine Situation nicht beherrschte. Dass es etwas gab, was er für Geld nicht kaufen konnte: das Leben seiner Schwester.

Nein, sie durfte nicht sterben! Sie war doch erst sechzehn.

Rico fluchte leise und musste sich zwingen, nicht mit den Fäusten gegen die Glasscheibe zu trommeln. Die vergangenen zwei Wochen hatte er beinah ausschließlich im Krankenhaus verbracht und war sich völlig hilflos vorgekommen.

Er achtete nicht auf das leise Schluchzen der Frauen, die mit ihm im Zimmer waren: seine Mutter, seine Großmutter, eine Tante und zwei Cousinen. Schweigend blickte er unablässig auf Chiara, als könnte er sie gleichsam durch Gedankenübertragung dazu bewegen, endlich aus dem Koma aufzuwachen.

Was konnte er noch für sie tun?

Rico atmete tief durch, um seine Gedanken zu klären. Schlafmangel und Sorgen beeinträchtigten seine Konzentrationsfähigkeit, die Angst um Chiara lähmte ihn von Stunde zu Stunde mehr.

Er hatte bisher nichts weiter für sie tun können, als einen erstklassigen Neurochirurgen einfliegen zu lassen, der sie nach ihrem schweren Sturz operiert hatte. Fürs Erste erfolgreich: Die Hirnblutung war gestoppt, der Druck auf die Nerven beseitigt.

Chiara atmete eigenständig, doch sie hatte das Bewusstsein noch immer nicht wiedererlangt. Ihr Leben stand auf Messers Schneide. Keiner wusste, wie das Schicksal entscheiden würde: Tod oder Leben? Und niemand konnte sagen, ob es dann ein Leben ohne Behinderung sein würde …

Wieder schluchzte seine Mutter leise, und es schnitt ihm ins Herz. Auch für sie konnte er nichts tun. Zum ersten Mal war er völlig machtlos.

Beinah hätte er spöttisch gelacht, wenn er nicht zu erschöpft gewesen wäre. Hatte er sich wirklich bisher eingebildet, das Schicksal lenken zu können?

Seinem Vater hatte er geschworen, sich immer um die Familie zu kümmern. Was war dieses Versprechen jetzt wert? Und was zählte es, dass er, Rico Crisanti, ein Wirtschaftsimperium aus dem Nichts aufgebaut hatte, anfangs mit keinem anderen Kapital als seiner unerschütterlichen Zielstrebigkeit? Was bedeutete sein atemberaubender Erfolg als Geschäftsmann?

Weniger als nichts.

Kein Geld der Welt konnte einen Menschen vor Schicksalsschlägen bewahren. Das wusste er nun.

Frustriert knöpfte Rico sein Hemd weiter auf und ging mit großen Schritten in dem ziemlich kleinen Raum hin und her. Es verschaffte ihm keine Erleichterung. Ungewohnte und unerwünschte Gefühle schnürten ihm die Kehle zu, und zum ersten Mal, seit er ein kleiner Junge gewesen war, brannten ihm heiße Tränen in den Augen.

Reiß dich zusammen, beschwor er sich.

Seine Angehörigen stützten sich auf ihn. Er war ihr Fels in der Brandung, und wenn er umfiel, wenn er jetzt dem Drang nachgab, wie ein kleines Kind zu heulen … dann würden sie alle die Hoffnung verlieren.

Das durfte nicht sein.

Also blickte Rico weiter schweigend durchs Fenster auf die reglose Gestalt seiner Schwester und flehte sie im Stillen an, endlich aufzuwachen.

Die Tür zum Besucherzimmer wurde geöffnet, und der Chefarzt kam herein, begleitet von einem Gefolge jüngerer Mediziner.

Rico wandte sich sofort dem Chefarzt zu, dessen Gehabe verriet, dass er Neuigkeiten mitzuteilen hatte.

„Irgendwelche Änderungen?“, fragte Rico heiser und hatte Angst, es könnte schlechte Nachrichten geben.

„Ja, durchaus.“ Der Doktor schien ein bisschen eingeschüchtert zu sein, weil er es mit einem Milliardär zu tun hatte, der von einem Team von Bodyguards begleitet wurde. Sogar hier im Krankenhaus. „Ihre vitalen Funktionen haben sich verbessert, und sie war kurz bei Bewusstsein. Sie hat sogar gesprochen.“

„Gesprochen?“, wiederholte Rico, und ihm wurde zum ersten Mal seit Langem leichter ums Herz. „Was hat Chiara gesagt?“

„Sie war leider schlecht zu verstehen“, antwortete der Arzt. „Eine der Krankenschwestern meint, es sei ein Name gewesen. Stacey … Stasia … oder so ähnlich. Sagt Ihnen das etwas?“

Nicht Stasia, sondern Anastasia.

Rico erstarrte. Seine Mutter atmete scharf ein, seine Großmutter stöhnte laut.

Kurz schloss er die Augen und strich sich über die Stirn. Während Chiara um ihr Leben kämpfte, hatte er nicht an Anastasia denken wollen. Anscheinend war das Schicksal jedoch darauf aus, ihm eine weitere Bürde auf die Schultern zu legen.

Der Arzt räusperte sich. „Nun … wer immer sie ist, könnte sie hierher ins Krankenhaus geholt werden?“

Rico sah, wie seine Mutter heftig den Kopf schüttelte, ignorierte es aber. Es zählte jetzt nur eins: dass seine Schwester wieder gesund wurde.

„Würde es die Genesung fördern?“, erkundigte er sich zögernd.

„Möglicherweise ja. Es lässt sich schwer sagen.“ Bedauernd zuckte der Arzt die Schultern. „Jedenfalls sollten wir es unbedingt versuchen. Kann man mit dieser Stasia Kontakt aufnehmen?“

Ja, aber nur unter großen persönlichen Opfern, antwortete Rico im Stillen.

Seine Mutter sprang auf, ihr Gesicht war vor Zorn verzerrt. „Nein! Ich will sie nicht hierhaben. Sie ist nichts weiter als …“

„Genug!“ Mit einem einzigen Blick seiner dunklen, sonst meist so kühl wirkenden Augen brachte er seine Mutter zum Schweigen.

Die jüngeren Ärzte musterten ihn neugierig.

Schlimm genug, dass Reporter aus aller Welt vor der Klinik kampierten und jede Wende in dieser privaten Tragödie auszuschlachten versuchten. Man durfte ihnen nicht auch noch Informationen für die Skandal- und Klatschspalten zukommen lassen!

Wieso muss es ausgerechnet Anastasia sein, die Chiara womöglich helfen kann? überlegte Rico. Es war ein grausamer Scherz des Schicksals!

Er hatte erwartet, sie nie mehr wiedersehen zu müssen. Seit Monaten arbeitete ein Stab von Rechtsanwälten an den Bedingungen für die Scheidung. Eine faire Scheidung. Er würde Anastasia großzügig abfinden und konnte sich dann mit ruhigem Gewissen einer anderen Frau zuwenden. Diesmal würde er eine nachgiebige, sanfte Italienerin heiraten – die wusste, worauf es einem traditionell erzogenen sizilianischen Ehemann ankam.

Keine temperamentvolle englische Rothaarige voll Feuer und Leidenschaft, für die der Begriff „Nachgiebigkeit“ ein Fremdwort war.

Scharf atmete er ein, als die Erinnerung an Anastasia – seine ungestüme, schöne Ehefrau – in ihm ungezügeltes Begehren weckte. Seit einem Jahr lebten sie nun getrennt, und es war alles andere als eine freundschaftliche Trennung gewesen. Trotzdem sehnte er sich noch immer leidenschaftlich nach seiner Frau. Er traute sich nicht zu, ein Wiedersehen mit ihr gänzlich ungerührt zu verkraften.

Anastasia beeinträchtigte seine Urteilskraft mehr, als ihm lieb war. Mehr, als er sich eingestehen wollte. Sie war wie eine Droge. Trotz allem, was sie ihm angetan hatte, war er noch immer süchtig nach ihr. Deshalb wäre es nicht ratsam, ihr wieder zu begegnen.

Obwohl er inzwischen gelernt hatte, sie zu hassen.

Obwohl er nun wusste, was für ein Fehler es gewesen war, sich mit ihr einzulassen.

Rico ging wieder zum Fenster und betrachtete seine Schwester schweigend, wobei er überlegte, welche Möglichkeiten ihm offenstanden. Es waren deprimierend wenige. Wenn er davon ausging, dass seine Wünsche und Bedürfnisse im Moment zweitrangig waren verglichen mit Chiaras Genesung, blieb nur ein Schluss übrig: Er musste, so schwer es ihm fiel, ein Wiedersehen mit Anastasia in Kauf nehmen.

Es ändert natürlich nichts an der bevorstehenden Scheidung, sagte er sich schnell. Nein, es bedeutete nur eine kurze Einstellung der Kampfhandlungen in diesem „Rosenkrieg“. Er würde Anastasia nach Sizilien einfliegen lassen, sie würde tun, was immer nötig war, und dann schickte er sie wieder nach Hause.

Bestimmt würden sie nicht mehr als nur die nötigsten Worte wechseln … was ihm recht war. Er wollte sich nicht an Vergangenes erinnern und schon gar nicht Zeit mit der Frau verbringen, die bald seine Exfrau sein würde.

Die Brisanz der Situation wird Anastasia nicht entgehen, dachte Rico und lächelte grimmig. Seine blendend schöne, unkonventionelle Anastasia … Sie hatte nie dem Bild entsprochen, das seine Mutter sich von der idealen Frau für ihn gemacht hatte.

Oder er selbst.

Er hatte ihr alles gegeben. Hatte alles getan, was man von einem Ehemann erwartete. Doch das war, wie es schien, nicht genug gewesen.

Der Chefarzt räusperte sich diskret. Er hatte lang genug auf die Antwort warten müssen.

Rico traf die einzig mögliche Entscheidung. „Ich werde dafür sorgen, dass Anastasia herkommt“, versicherte er und wandte sich an Gio, seinen Sicherheitschef. „Ruf sie an, und sag ihr, sie soll sich bereithalten. Dann sorge dafür, dass das Flugzeug sofort startklar gemacht wird.“

Seine Mutter stöhnte schockiert auf. Gio, ein Freund aus den Kindertagen, sah ihn überrascht an.

Rico fand sich indessen damit ab, dass er etwas tun musste, was nicht zu tun er sich geschworen hatte: Anastasia wiederzusehen.

Eines Tages werde ich sie vergessen haben, sagte er sich. Zumindest würde er an sie denken können, ohne sofort heißes Verlangen zu spüren. Und je eher dieser Tag kam, desto besser.

Anastasia führte noch einige Pinselstriche aus, dann trat sie zurück und betrachtete das Bild mit zusammengekniffenen Augen kritisch. Schließlich nickte sie zufrieden.

Ihr neuestes Werk war fertig. Endlich.

Auch Mark wird sich freuen, dachte sie und reinigte die Pinsel. Danach verließ sie ihr Atelier und ging in die Küche, wo sie den Kessel aufsetzte. Während sie darauf wartete, dass das Wasser zu kochen begann, sortierte sie ihre Post, um die sie sich in den vergangenen vierzehn Tagen so gut wie nicht gekümmert hatte, weil sie ganz aufs Malen konzentriert gewesen war.

Außerdem schaltete sie ihr Handy wieder ein, das beinah augenblicklich zu klingeln begann. Es konnte nur ihre Mutter sein, die sie zu erreichen versuchte.

Anastasia lächelte und meldete sich. „Hallo, Mum! Wie laufen die Geschäfte?“

„Bestens!“ Ihre Mutter klang begeistert.

Und selbstsicher. Nicht mehr verschreckt und eingeschüchtert wie sechs Jahre zuvor, als ihr Mann sie unvermittelt verlassen hatte. Wegen einer Blondine, die nur halb so alt war wie er.

An diese schreckliche Zeit wollte Anastasia sich nicht länger erinnern. Sie hatte damals ihr erstes Jahr auf der Kunstakademie absolviert, und das Schicksal ihrer Mutter hatte ihr eins bewiesen – wenn es dieses Beweises überhaupt bedurft hätte: Es war nicht gut, von einem Mann abhängig zu sein. Ihre Mutter hatte sich in allem stets auf ihren Mann verlassen und war dann gleich im doppelten Sinn völlig verlassen gewesen, als er sie sitzen ließ. Daraufhin hatte sie jedes Selbstvertrauen verloren.

Schließlich hatte Anastasia ihre Mutter ermutigt, sie solle ihr fundiertes Wissen über Antiquitäten nutzen und einen kleinen Laden eröffnen. Nach und nach sprach sich herum, dass Mrs. Silver Antiquitäten nicht nur verkaufte, sondern ihre Kunden auch bezüglich der Einrichtung ihrer Häuser beriet. Ihr Geschäft ging von Jahr zu Jahr besser, und sechs Monate zuvor hatte sie es dank eines großzügigen Kredits der Bank wesentlich ausbauen können.

„Allerdings sollte ich so bald wie möglich mehr Personal einstellen“, berichtete Mrs. Silver weiter. „Ich muss zu der Kunst- und Antiquitätenmesse fahren, anschließend bin ich in ein Herrenhaus in Yorkshire eingeladen. Den Laden kann ich solange nicht einfach schließen. Mittlerweile kommen Leute aus ganz England zu mir. Es wäre ihnen gegenüber unfair, wenn sie plötzlich vor verschlossener Tür stehen müssten. Und du bist ja zu intensiv mit Malen beschäftigt, um aushelfen zu können.“

Wieder lächelte Anastasia, erfreut darüber, wie lebhaft ihre Mutter klang. „Du wirst den Laden schon schmeißen, Mum! Stell ruhig so viel Personal ein, wie du brauchst.“ Sie warf einen Stapel Reklame in den Papierkorb. „Das Bild ist übrigens fertig – seit wenigen Minuten. Mark kann es jederzeit abholen.“

„Wunderbar! Ich werde es ihm ausrichten, falls ich ihn eher sehe als du. Und wie geht es dir, Liebes? Isst du auch genug?“

„Ja, sicher.“ Das war eine Lüge. Im vergangenen Jahr hatte Anastasia überhaupt nicht viel gegessen. Seit sie aus Italien zurückgekommen war, lag ihr nichts mehr am Essen. Doch das brauchte ihre Mutter nicht zu wissen, weil sie sich sonst nur Sorgen machen würde. „Mir geht es glänzend, Mum. Ehrlich.“

Mrs. Silver ließ sich nicht täuschen. „Du weinst noch immer diesem Sizilianer nach, stimmt’s?“ Sie seufzte. „Glaub mir, mein Kind, Männer wie er ändern sich nicht. Ich weiß es. Immerhin habe ich jahrelang mit deinem Vater zusammengelebt, und er war derselbe Typ. Ich war für ihn nur ein Spielzeug, und als ich ihm langweilig wurde, hat er sich ein neues beschafft.“

Anastasia hörte, wie sich ein Auto über die Zufahrt voller Schlaglöcher zu ihrem kleinen Haus quälte. Es war ein guter Vorwand, das Gespräch zu beenden.

„Tut mir leid, Mum, ich muss jetzt Schluss machen, weil ich unerwarteten Besuch bekomme. Wahrscheinlich Mark, der sich erkundigen will, wie weit das Bild gediehen ist. Ich ruf dich später noch mal an, okay?“

Ohne ihrer Mutter Zeit zum Protestieren zu lassen, schaltete sie das Handy aus und seufzte tief. Sie liebte ihre Mutter, doch nicht einmal mit ihr würde sie über ihre Beziehung zu Rico sprechen.

Das Auto blieb vor der Tür stehen. Anastasia schnitt ein Gesicht. Sie hatte keine große Lust, sich mit Mark zu befassen. Er machte keinen Hehl daraus, dass er mehr von ihr wollte als ihre Bilder, aber sie war noch nicht bereit für eine neue Beziehung.

Vielleicht würde sie es nie mehr sein …

Reuevoll lächelnd blickte sie auf ihre mit Ölfarben bekleckste Jeans. Mit ihr war im Moment kein großer Staat zu machen, aber wenn Mark einfach vorbeikam, ohne sich vorher telefonisch anzumelden, durfte er nichts Besseres erwarten.

Bevor er klopfen konnte, öffnete sie die Tür. Und erstarrte vor Schreck.

Draußen stand Rico Crisanti.

Der Milliardär. Der Mistkerl.

Der letzte Mensch auf der ganzen weiten Welt, den zu sehen sie erwartet hätte.

Ihr Herz schien einen, nein, mehrere Schläge lang auszusetzen. Ihr wurde schwindlig. Einen winzigen, herrlichen Augenblick lang glaubte Anastasia, Rico wäre endlich gekommen, um sie zu sich zurückzuholen.

Dann kam sie schlagartig in die Wirklichkeit zurück und erinnerte sich, dass es ein Jahr her war, seit sie sich getrennt hatten. Dass sie in Scheidung lebten. Es musste demnach einen anderen Grund für seinen Besuch geben. Doch was immer ihn zu ihr führen mochte … sie wollte von ihm nichts mehr wissen.

„Nein!“, rief sie hitzig und hätte ihm am liebsten die Tür vor der Nase zugeworfen, aber er legte einfach die Hand dagegen. Wahrscheinlich hatte er sich denken können, wie sie ihn empfangen würde.

„Du antwortest nicht auf Briefe und stehst nicht im Telefonbuch“, begann Rico zornig und funkelte sie an. „Du vergräbst dich, wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagen und man dich beinah nicht finden kann.“

„Dass ich von dir nicht gefunden werden wollte, ist dir nicht in den Sinn gekommen? Wenn mir etwas am Kontakt mit dir liegen würde, hätte ich dir eine Nachsendeadresse übermittelt.“ Sie erwiderte seinen Blick, ebenso wütend wie er. „Und wenn ich vermutet hätte“, fügte sie heiser hinzu, „es könnte auch nur die allerkleinste Chance bestehen, dass du mich suchst, hätte ich mich noch besser versteckt.“

Ihr war nie in den Sinn gekommen, Rico könnte sie suchen. Jedenfalls nicht mehr nach den ersten elenden Monaten, in denen sie ständig aus dem Fenster geblickt und gehofft hatte, sie würde seinen schnittigen Sportwagen vor dem Haus entdecken. Nur allmählich hatte sie sich damit abgefunden, dass er sich nicht mehr bei ihr melden würde.

Dass es mit ihrer Ehe aus und vorbei war.

Anastasia hatte Rico verlassen, er war ihr nicht gefolgt. Das sagte alles, was es zu sagen gab: Ihm hatte nichts daran gelegen, die Ehe zu retten. Eine Ehe, die ohnehin ein einziges Fiasko gewesen war.

Mittlerweile hatte Anastasia sich geschworen, sich beim nächsten Mal – falls überhaupt – nur in einen soliden, wohlerzogenen, modern denkenden Briten zu verlieben. Nicht in einen skrupellosen Sizilianer, der glaubte, dass ihm die ganze Welt gehöre und sich mit Geld alles regeln lasse – und dessen Einstellung zu Frauen nicht besser als die eines Neandertalers war!

Aufgebracht betrachtete sie ihn und gestand sich ein, dass er unverschämt sexy war, trotz seines arroganten Auftretens und des kalten, harten Blicks in den dunklen Augen. Ihr Herz pochte plötzlich rascher, was ihr nicht behagte.

Dass sie so heftig auf Rico Crisanti reagierte, hatte sie anfangs überhaupt erst dazu gebracht, sich mit ihm zu befassen. Wider besseres Wissen.

Er sah so gut aus und besaß eine so starke Ausstrahlung, dass er Frauen magisch anzog.

Und obwohl er ein typisch sizilianischer Macho war, hatte auch sie, Anastasia Silver, seinem Sex-Appeal nicht widerstehen können …

Nun fiel ihr plötzlich auf, dass Rico nicht sie ansah, sondern überrascht seine Umgebung musterte. Beinah hätte sie laut gelacht, weil er so verblüfft wirkte. Er besaß mindestens sechs riesige, luxuriöse Anwesen weltweit und war vermutlich noch nie in einem so kleinen Haus wie ihrem gewesen. Zu Anfang ihrer Beziehung hatte sie ihn deswegen aufgezogen, später war alles, was sie sich sagten, bitter und ernst gewesen.

Ja, die Unterschiede ihrer Weltanschauungen und ihrer jeweiligen Einstellung zum Leben waren so groß, dass sie unüberbrückbar erschienen. Er meinte, der angestammte Platz einer Frau sei ihr Heim, in dem sie geduldig auf die Rückkehr ihres Gatten wartete. Sie hingegen wollte sozusagen im Strom des Lebens schwimmen, an allem teilhaben und es bis zur Neige auskosten.

„Was soll das hier sein?“, fragte Rico schließlich ungläubig.

„Mein Zuhause“, antwortete Anastasia kühl und hatte keine Lust mehr zu lachen. „In dem du nicht willkommen bist.“

Er hätte sie nicht daran zu erinnern brauchen, dass er ihr Heim, das sie so liebte, noch nie gesehen hatte. Dass er so wenig über sie wusste, obwohl sie verheiratet waren. Dass er keine Ahnung hatte, was ihr wirklich etwas bedeutete.

Wieder versuchte sie, die Tür zu schließen, obwohl es reine Zeitverschwendung war. Rico war einen Meter siebenundachtzig groß und muskulös. Außerdem wurde er bestimmt von seinen Bodyguards begleitet. Dessen war sie sich sicher, auch wenn sie die Männer nicht sehen konnte. Früher hatte es sie amüsiert, dass diese Männer immer bei ihm waren, denn wenn jemand sich notfalls selbst verteidigen konnte, dann Rico. Er war Experte in verschiedenen Kampfsportarten, dazu äußerst fit, und er besaß die Ausdauer eines echten Athleten.

Trotzdem hielt er an den Sicherheitsmaßnahmen fest, denn als Eigner eines der erfolgreichsten und lukrativsten Wirtschaftsimperien der westlichen Welt lief er natürlich ständig Gefahr, entführt zu werden. Er wollte es möglichen Kidnappern so schwer wie möglich machen, ihn zu erwischen.

Und wenn es doch jemandem gelingen sollte, wäre es für Rico die schlimmste Folter, zwei, drei Tage nicht arbeiten zu können, dachte Anastasia und hätte beinah hysterisch gelacht.

Er war der typische Workaholic, immer wie besessen von seiner Arbeit. Ohne die funktionierte er nicht richtig, was Anastasia ihm früher oft scherzhaft vorgehalten hatte. Einmal hatte sie sein Handy versteckt, woraufhin er beinah ausgerastet wäre … bis er entdeckte, wo sie es verborgen hatte!

Nun straffte sie sich und versuchte, nicht länger an diese herrlichen Tage zu denken, als sie frischverheiratet gewesen waren … Bevor die Wirklichkeit sie eingeholt hatte. Bevor sie entdeckt hatten, dass – außer Leidenschaft – absolut nichts sie beide verband.

„Wie hast du mich denn überhaupt gefunden?“, erkundigte sich Anastasia.

„Mit viel Mühe und unter großen Strapazen“, erwiderte Rico schroff. „Und ich habe schon zu viel Zeit vergeudet. Mein Pilot tankt im Moment das Flugzeug auf. In einer Stunde befinden wir uns auf dem Rückflug.“

Nun sah sie ihn so überrascht an wie er vorhin ihr Haus. „Wir?“, hakte sie nach. „Wen genau meinst du damit? Dich und mich ja ganz bestimmt nicht.“

Nein, er konnte sie nicht mitnehmen wollen! Seit einem Jahr hatten sie kein einziges Wort mehr gewechselt. Seit jener Nacht …

Er hatte sie beschuldigt, ihm untreu zu sein. Und da sie genauso wütend gewesen war wie er, war sie aus dem Schlafzimmer – und aus Ricos Leben – gestürmt. Sie beide waren ohnehin zu unterschiedlich für eine glückliche Beziehung.

Trotzdem hatte sie insgeheim gehofft, er würde um die Ehe kämpfen. Und war schon bald enttäuscht worden.

„In meinem Wortschatz bedeutet ‚wir‘ immer noch so viel wie ‚du und ich‘“, erwiderte Rico ungeduldig.

Weshalb will er, dass ich ihn begleite, wohin auch immer? fragte Anastasia sich bestürzt.

„Ich kann mir nicht vorstellen, was dich hergeführt hat.“ Sie klang abweisend. „Du müsstest doch wissen, dass ich mit dir nirgends hingehe. Nie mehr! Schon seit einem Jahr bin ich nicht mehr dein Anhängsel und deine Gespielin.“

Und nicht länger Sklavin der Leidenschaft, fügte sie im Stillen hinzu. Sex war das Einzige gewesen, was sie und Rico verbunden hatte. Heißblütiger, hemmungsloser, wunderbarer Sex …

Da sie eine scharfe Erwiderung erwartete, war sie überrascht, als Rico schwieg. Nun erst merkte sie, wie angespannt er wirkte. Gestresst. Unendlich müde.

Früher war er nie müde gewesen! Er besaß mehr Ausdauer als jeder andere Mensch, den sie kannte. Oft hatte er sie die ganze Nacht lang wach gehalten und war morgens energiegeladen aufgestanden, um an einer Besprechung teilzunehmen, während sie nach einer Nacht der Leidenschaft so erschöpft gewesen war, dass sie nur noch hatte schlafen wollen.

Wenn Rico jetzt müde aussah, stimmte etwas ganz und gar nicht.

Sie blickte an ihm vorbei und entdeckte nun einige Meter hinter ihm seinen Chauffeur und zwei Leibwächter, die sie noch nicht kannte.

„Wo ist denn Gio?“, fragte Anastasia und runzelte die Stirn.

Während ihrer kurzen Ehe hatte sie sich an den Chef der Sicherheitstruppe nicht nur gewöhnt, sondern ihn schätzen gelernt. Ja, sie mochte ihn, und sie wusste, dass er nicht nur Ricos Angestellter, sondern auch sein Freund war. Die beiden kannten sich seit der Kinderzeit. Gio betrachtete es als seine Lebensaufgabe, für Ricos Sicherheit zu sorgen und seine Privatsphäre abzuschirmen.

„Gio macht Dienst im Krankenhaus“, erklärte Rico. „Er ist der Einzige, dem ich zutraue, die Horden in Schach zu halten.“

„Im Krankenhaus?“, wiederholte sie verwirrt. „Warum denn das? Was ist passiert?“

„Chiara hatte einen Unfall. Beim Reiten. Sie ist vom Pferd gestürzt“, informierte er sie kurz angebunden. Seine Stimme verriet nicht, wie ihm zumute war. „Seitdem liegt sie im Koma. Ich hätte gedacht, du wüsstest das. Alle Zeitungen haben doch darüber berichtet.“

„Ich lese keine Zeitungen mehr, Rico.“ Vielmehr verabscheute sie die Presse seit der gemeinsamen Zeit mit ihm, als häufig über sie berichtet worden war. „Ist Chiara sehr schwer verletzt?“, fügte sie mitfühlend hinzu.

„Ja.“ Er ließ die Schultern hängen.

So hatte sie ihn noch nie gesehen: grau im Gesicht vor Müdigkeit, erschöpft, völlig ausgepumpt.

Ohne weiter zu überlegen, trat sie endlich beiseite. „Komm doch rein. Drinnen können wir besser reden.“

Rico folgte ihr und musste sich bücken, um sich nicht den Kopf am Türrahmen zu stoßen. Im winzigen Wohnzimmer schaute er sich kritisch um, und man sah ihm deutlich an, wie wenig ihm ihr Zuhause gefiel.

„Wieso lebst du hier?“, fragte er brüsk. „Hast du nicht genug Geld?“

Geld ist alles, worauf es ihm ankommt, dachte Anastasia wütend. Dass sie hier lebte, weil es ihr gefiel, kam ihm offensichtlich nicht in den Sinn. Wie hatte sie sich nur in einen Mann verlieben können, der keinerlei Gefühle kannte?

„Wie ich lebe, geht dich nichts an“, erwiderte sie abweisend. „Du hast dich ja früher auch nicht dafür interessiert.“

„Du brauchst nicht in so beengten Verhältnissen zu leben. Du bist doch noch immer meine Frau!“

Das Beste, was ihr – seiner Meinung nach – passieren konnte. Seine Selbstherrlichkeit wäre zum Lachen gewesen, wenn sie ihr nicht schon so viel Kummer bereitet hätte.

„Ich lebe gern hier“, erklärte sie mit bebender Stimme und strich sich die kupferroten Locken aus der Stirn. „Und ich war eigentlich nie wirklich deine Frau, Rico.“

Hingerissen betrachtete er ihr dichtes, glänzendes Haar, und plötzlich schien die Luft im Raum vor Spannung zu knistern.

„Wieso nicht, Anastasia? Ich habe dich geheiratet.“

Das hielt er offensichtlich für die höchste Ehre, die er ihr hatte erweisen können! Wieso hatte sie inzwischen vergessen, wie unglaublich arrogant er war?

„Aus einem Impuls heraus, den wir beide schließlich bedauert haben“, meinte sie und wünschte, er würde ihr Haar nicht so ansehen.

Den Blick kannte sie von früher. Gleich würde Rico ihr die Finger in die Locken schieben, dann die Lippen verführerisch über ihren Hals gleiten lassen … Plötzlich atmete sie schneller. Nein, sie wollte jetzt nicht daran denken, wie aufregend Sex mit Rico gewesen war.

„Unsere Ehe war nicht so, wie eine Ehe sein sollte“, erklärte Anastasia bedrückt. „In einer Ehe geht es darum zu teilen. Das Einzige, was wir geteilt haben, war das Bett.“

Und das Einzige, was sie beide gleichermaßen interessiert hatte, war Sex. Unglaublich erregender, heißblütiger, stürmischer Sex. Die Erinnerung daran raubte ihr gelegentlich noch immer den Schlaf.

Widerstrebend ließ Rico den Blick von ihrem Haar zu ihrem Gesicht gleiten, und sie wusste, dass er gerade an dasselbe gedacht hatte wie sie.

„Ja, unsere Beziehung war katastrophal, aber ich bin nicht hier, um mich – und dich – daran zu erinnern“, sagte Rico schroff. „Trotz allem bist du noch immer meine Frau, und als die brauche ich dich in Italien. Versteh mich nicht falsch“, fügte er schnell hinzu. „Ich habe nicht die geringste Absicht, dir wieder nahezukommen. Mein Besuch hat keine persönlichen Beweggründe.“

Das zu hören tat ihr weh. Obwohl sie doch gewusst hatte, dass er nichts mehr von ihr wissen wollte!

„Das hätte ich auch nie vermutet“, erwiderte sie kühl, obwohl sie unglaublich wütend auf ihn war. Und das nach nur fünf Minuten! „Unsere Ehe war ja auch sehr unpersönlich, oder? Was wir beide hatten, müsste man eher als legalisierte Affäre bezeichnen.“

Rico atmete scharf ein, auf seinen markanten Wangenknochen zeichneten sich rote Flecken ab. Man sah ihm an, wie zornig er war. Doch er wies ihren Vorwurf nicht zurück … weil der die reine Wahrheit darstellte. Sie hatten im Bett wunderbare Stunden verlebt, aber tiefer war die Beziehung nie gegangen. Jedenfalls nicht, was ihn betraf. Für sie sah es anders aus.

Rico war die Liebe meines Lebens.

„Ich bin nicht hier, um über unsere Ehe zu diskutieren“, sagte er kalt.

Wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätte sie über seine Unfähigkeit, sich mit Gefühlen auseinanderzusetzen, gelacht.

„Natürlich nicht“, bestätigte Anastasia zornig. „Du würdest mich am liebsten ohne ein Wort loswerden und nur noch mittels Anwälten mit mir kommunizieren.“

„Du hast mich verlassen, nicht umgekehrt“, konterte er, ebenso aufgebracht wie sie. „Du hast unsere Ehe zerstört.“

„Wir hatten keine, wie ich schon sagte! Du hast mir nicht vertraut. Du hast mich an nichts Wichtigem teilhaben lassen. Jede Entscheidung hast du getroffen, ohne mich zu fragen, was ich davon halte. Und ich habe dich so gut wie nie gesehen – außer im Bett.“ Sie atmete scharf ein. „Es wundert mich, dass du selbst zu mir gekommen bist, anstatt einen deiner Lakaien zu schicken. Es muss dir doch sehr schwer fallen, mir persönlich gegenüberzutreten.“

„Schwierigkeiten haben mich noch nie abgeschreckt, Anastasia.“

„Warum hast du dann ein Jahr lang nur durch die Anwälte Verbindung zu mir gehalten?“

„Zur Hölle, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für eine Debatte über unsere Ehe.“ Feindselig sah er sie an. „Du sollst nicht meinetwegen mit nach Italien kommen, sondern Chiara zuliebe.“

Ihre Wut wich plötzlicher Scham. Sie hatte völlig vergessen, dass es um Chiara ging. Wenn sie mit Rico zusammen war, konnte sie offensichtlich an nichts anderes denken als ihn.

„Es tut mir natürlich leid, dass sie verletzt ist“, sagte sie steif, „aber ich sehe nicht ein, warum du mich nach Italien mitnehmen möchtest.“

„Du gehörst zur Familie.“

„Wie bitte?“, fragte sie entgeistert. „Du willst die Familie am Bett deiner Schwester versammeln und zählst mich plötzlich wieder dazu?“ Sie lachte, spöttisch und ungläubig zugleich. „Ist es dafür nicht ein bisschen zu spät? Außerdem habe ich nie wirklich zu euch gehört!“

Seine Angehörigen hatten sie nie akzeptiert. Von Anfang an hatten sie durchblicken lassen, dass sie glaubten, sie hätte Rico nur seines riesigen Vermögens wegen geheiratet. Was lachhaft war, denn sie machte sich überhaupt nichts aus Reichtum und Luxus.

Nein, es war nicht lachhaft, es war tragisch! Ricos Angehörige waren so von Vorurteilen geblendet, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hatten, sie, Anastasia, besser kennenzulernen. Man hatte sie von vornherein ausgeschlossen und ihr zu verstehen gegeben, dass sie eine Außenseiterin bleiben würde.

Rico hatte geheiratet, ohne ihnen vorher etwas zu sagen und, schlimmer noch, ohne sie zur Hochzeit einzuladen. Und das legte man natürlich auch ihr zur Last. Dass sie nicht die Frau war, die sich alle für Rico gewünscht hatten, hatten sie ihr immer deutlich gezeigt.

Rico hatte es nie gemerkt.

Und nun funkelte er sie wütend an. „Lieber Himmel, meine Schwester ringt mit dem Tod, und du hast nichts Besseres zu tun, als immer noch meine Familie schlechtzumachen!“

Schockiert sah Anastasia ihn an. „Chiara ist so schwer verletzt, dass sie sterben könnte?“

Jetzt verstand sie, warum er so gestresst und erschöpft aussah. Er liebte seine um viele Jahre jüngere Schwester innig.

Kurz schloss er die Augen und seufzte tief. „Gestern haben uns die Ärzte mitgeteilt, dass Chiara wahrscheinlich durchkommt. Ob ihr Gehirn dauerhaft geschädigt ist, lässt sich allerdings erst feststellen, wenn sie richtig aufwacht. Bisher war sie nur Sekunden bei Bewusstsein und hat nur ein Wort gesprochen.“ Sein Ausdruck wurde hart. „Wir sind alle außer uns vor Sorge. Insofern hast du einen schlechten Zeitpunkt für deine Kritik an meiner Familie gewählt.“

„Ich habe doch nichts gegen deine Angehörigen gesagt, nur über mein Verhältnis zu ihnen“, verteidigte sie sich gegen den unberechtigten Vorwurf. Wenn es um seine Familie ging, war Rico völlig voreingenommen. Ausschließlich zu deren Gunsten. „Und ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm um Chiara steht.“

„Sie musste am Gehirn operiert werden und liegt seither im Koma. Seit zwei Wochen!“

Ehrlich bestürzt streckte Anastasia tröstend die Hand aus und ließ sie sofort wieder sinken.

Ricos Blick sprach Bände. Rühr mich nicht an. Hände weg.

Sie hatte kein Recht mehr, ihn zu trösten. Trost erwartete er ohnehin nicht. Er ließ niemanden nahe genug an sich heran.

Nicht einmal seine Frau.

Der Kampfgeist verließ sie. Warum sollte sie sich noch gegen Rico auflehnen, wenn sie ihm gleichgültig geworden war?

Früher war das nicht so gewesen. Im Gegenteil. Er hatte die Hände nicht von ihr lassen können, und dass er von ihr wie besessen war, hatte auf sie wie ein Liebestrank gewirkt.

Daran wollte sie jetzt nicht denken. Was damals war, sollte ihr nun egal sein. Es war ihr egal!

Stolz hob Anastasia den Kopf und sagte beherrscht: „Es tut mir aufrichtig leid, dass es Chiara so schlecht geht, und ich tue natürlich alles, um ihr zu helfen, aber … ich verstehe nicht, warum du mich zu ihr bringen willst.“

Rico rieb sich den Nacken und wirkte, als würde er sich zu den nächsten Worten zwingen müssen. „Sie hat nach dir gefragt, Anastasia.“

„Sie hat ausgerechnet nach mir gefragt? Das ist doch ein Witz, oder?“

Das junge Mädchen hatte sich immer deutlich anmerken lassen, wie sehr es seine Schwägerin verabscheute.

„Früher hast du mir ständig vorgeworfen, das Leben zu ernst zu nehmen“, rief er und funkelte sie an. „Sehe ich so aus, als würde ich ausgerechnet jetzt Witze machen?“

Von der Heftigkeit seiner Reaktion überrascht, wich Anastasia zurück. Wenn sie einen Beweis dafür gebraucht hätte, unter was für starkem Druck Rico stand, hätte sie ihn jetzt gehabt. Er verriet sonst niemals seine Gefühle, und dass er die Beherrschung verlor, machte sie zunächst sprachlos.

„Ich … ich kann mir nicht vorstellen, dass Chiara ausgerechnet mich bei sich haben möchte“, erklärte Anastasia schließlich stockend.

„Wir hatten uns doch geeinigt, nicht an alte Wunden zu rühren!“, erwiderte er schroff und ging zum Fenster, wobei er nur um Haaresbreite vermied, sich den Kopf an einem Deckenbalken zu stoßen. Kurz sah er so aus, als wollte er das Holz mit bloßen Händen herunterreißen. „Dieses Haus ist die reinste Todesfalle“, meinte er erbost.

„Es ist eben nicht für Leute mit deiner Statur gebaut worden“, sagte sie und wünschte, er würde sie endlich allein lassen. Er war so groß und beherrschend, dass er in dem kleinen Raum fehl am Platz wirkte. Und er weckte Erinnerungen, die sie in den vergangenen Monaten mühsam verdrängt hatte.

Wie glatt sich die sonnengebräunte Haut seines Halses anfühlte, wenn sie die Lippen darübergleiten ließ … Dass diese sanfte Liebkosung ihn immer dazu gebracht hatte, sie in die Arme zu nehmen und leidenschaftlich zu küssen …

Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken! Sie empfand doch nichts mehr für ihn. Das durfte sie niemals vergessen.

Leider dachte Rico nicht daran, sie allein zu lassen. Er stand da, offensichtlich bereit, niedrigen Decken und feindseligen Worten die Stirn zu bieten.

„Chiara ist bisher erst ein einziges Mal kurz aus der Bewusstlosigkeit aufgewacht, und das eine Wort, das sie gesagt hat, war dein Name“, erklärte er kühl. „Auch wenn du das Gegenteil behauptest, hat meine Schwester dich sehr gern. Der behandelnde Arzt meinte, es könnte helfen, wenn du sie besuchst.“

Anastasia fragte sich, warum ein so intelligenter Mann wie Rico derartig blind sein konnte, wenn es um seine Familie ging.

Chiara hasste sie.

Vom ersten Moment an war ihr das bereits klar gewesen. Rico hatte allerdings nichts gemerkt, denn er war selten zu Hause, weil er ja sein riesiges Imperium leiten musste. Seine Schwester hatte sogar eine entscheidende Rolle bei der endgültigen Zerstörung seiner Ehe gespielt, aber das würde sie, Anastasia, ihm niemals verraten. Sie wollte keinen Bruch zwischen den Geschwistern verantworten und damit das Familiengefüge ins Wanken bringen, an dem ihm als Sizilianer so viel lag.

Nun fragte sie sich, warum Chiara ausgerechnet sie sehen wollte. Hatte das Mädchen ein schlechtes Gewissen? Wollte es sich entschuldigen? Hatte es eingesehen, wie falsch es sich verhalten hatte?

An der offenen Tür räusperte sich jemand diskret, und Rico sah sich ungeduldig um.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung, Signor Crisanti“, begann der eine Leibwächter, „aber Enzo hat gerade angerufen. Der Jet ist zum Abflug bereit.“

Rico wandte sich nun ihr zu. „Wir müssen los. Ich habe schon zu viel Zeit damit vergeudet, hierherzukommen.“

Man sah ihm an, wie sehr er es bedauerte, sie aufgesucht zu haben. Er hatte jedoch gewusst, dass sie sich nicht sofort bereit erklären würde, nach Italien zu fliegen. Ansonsten hätte er bestimmt jemand anderen zu ihr geschickt. Aber er hielt nur sich für fähig, sie zum Mitkommen zu bewegen.

Und er glaubte tatsächlich, sie würde ihn begleiten. Trotz allem, was geschehen war!

Plötzlich bedauerte sie, dass Rico sie nicht hatte anrufen und ihr seinen Besuch ankündigen können. In dem Fall hätte sie die Flucht ergriffen und sich irgendwo versteckt.

Oder doch nicht?

Und was Chiara betraf – wenn diese wirklich so schwer verletzt war und sie unbedingt sehen wollte, dann durfte sie ihr den Wunsch nicht abschlagen. Sie konnte ihr doch nicht die Möglichkeit verweigern, sich zu entschuldigen!

Anastasia strich sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Sie würde es sich nie verzeihen, sich geweigert zu haben, Chiara zu besuchen – wenn diese womöglich starb. Obwohl das Mädchen sich ihr gegenüber unglaublich herzlos verhalten hatte, war sie bereit zu verzeihen. Sie hatte auch immer gehofft, dass Chiara eines Tages den Mut finden würde, die Wahrheit zu gestehen.

Aber würde sie es ertragen, dorthin zurückzukehren, wo ihre Ehe in die Brüche gegangen war? Ricos Angehörige wiederzusehen, die sie hassten und sie für ungeeignet hielten, seine Frau zu sein?

Kurz schloss Anastasia die Augen und akzeptierte das Unvermeidliche: Sie würde Rico begleiten. Es war weniger schlimm, sich mit ihren Gegnern auseinandersetzen zu müssen als mit einem schlechten Gewissen … falls Chiara das Undenkbare zustieß.

„Gib mir noch fünf Minuten, damit ich eine Tasche packen kann, Rico.“

Er atmete hörbar auf und entspannte sich. Anscheinend war er darauf eingestellt gewesen zu kämpfen. Dass sie jede Lust auf Auseinandersetzungen verloren hatte, war ihm offensichtlich entgangen.

„Du brauchst nichts zu packen. Du hast doch nichts mitgenommen, als du mich verlassen hast, Anastasia.“

„Weil ich nichts brauchte!“ Weil ich nie an deinem Geld interessiert war, was du eigentlich wissen müsstest, fügte sie im Stillen hinzu.

Sie hatte nur ihn gebraucht, und das hatte er nicht verstanden. Er war an Frauen gewöhnt, die sein Geld mit vollen Händen ausgaben, und war deshalb verblüfft gewesen, dass ihr sein immenses Vermögen völlig gleichgültig geblieben war.

Ja, für einen Mann, der von Geld und Machtgier getrieben wurde, war etwas Einfaches wie wahre Liebe so schwer zu verstehen wie eine Fremdsprache. Je mehr Schmuck und extravagante Dinge er ihr geschenkt hatte, desto weniger hatte sie sich als seine Frau gefühlt, vielmehr wie eine Geliebte, die man für ihre Dienste im Bett belohnte.

Aber das ist nun alles Vergangenheit, sagte Anastasia sich und musterte ihre alte Jeans. Ihr war mittlerweile zwar egal, was die Crisantis von ihr hielten, aber sogar sie scheute sich, mit einer Hose im Krankenhaus zu erscheinen, auf der mittlerweile mehr Farbe war als auf ihrer Malpalette.

„Gib mir wenigstens kurz Zeit, damit ich mich umziehen kann“, bat sie.

„Du kannst dich im Flugzeug umziehen“, erwiderte Rico und ging zur Haustür, nun wieder völlig beherrscht. Und beherrschend.

Wieso spiele ich da mit? fragte Anastasia sich bestürzt. Wirklich nur Chiara zuliebe? Gereizt schüttelte sie über sich den Kopf. Sie war in jeder Hinsicht unabhängig, aber Rico brauchte nur mit den Fingern zu schnippen, und sie tat alles für ihn. Jedes Mal. Vor allem im Bett …

Nein, diesmal würde sie ihn auf Abstand halten! Sie würde nie mehr mit ihm schlafen.

Plötzlich wurde ihr überdeutlich klar, was für einen ungeheuerlichen und möglicherweise folgenschweren Entschluss sie gefasst hatte: als würde ein Alkoholiker beschließen, in einer Brauerei zu arbeiten, oder ein Drogensüchtiger auf einer Mohnplantage. Rico war der einzige Mann der Welt, der sie vergessen ließ, dass sie eine selbstständige Frau mit eigenem Willen und Vorstellungen war – und trotzdem hatte sie sich bereit erklärt, ihn zu begleiten.

Sie musste verrückt sein.

„Einverstanden. Ich komme sofort mit. Es wird allerdings ein kurzer Aufenthalt“, informierte sie Rico. „Ich besuche Chiara, rede mit ihr, und dann bin ich auch schon wieder weg! Dein Privatjet wird mit laufenden Triebwerken bereitstehen, um mich nach Hause zu bringen.“

Normalerweise wäre sie eher barfuß von Italien nach England gewandert, als eins seiner Luxusgefährte zu benutzen. Doch die Umstände waren nicht normal, und sie wollte so wenig Zeit wie möglich mit seinen Angehörigen verbringen.

Rico lächelte spöttisch. „Keine Sorge, ich will dich auch nicht länger sehen als unbedingt nötig!“

Natürlich nicht, sagte Anastasia sich zugleich wütend und traurig. Für ihn war die Situation genauso schwierig wie für sie. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er es für einen schweren Fehler hielt, sie geheiratet zu haben. Dass er sie nicht für immer an seiner Seite haben wollte. Nur im Bett … oder sonst wo in der Horizontalen.

Sie versuchte, den schmerzlichen Gedanken zu verdrängen, und nahm Schlüssel und Handtasche. Kurz betrachtete sie Ricos breite Schultern in dem perfekt geschnittenen Jackett des teuren Designeranzugs. Ja, er sah umwerfend aus, und sie war ihm vom ersten Augenblick an verfallen gewesen. Angezogen war er unglaublich attraktiv, und wenn er gar nichts anhatte …

Ungebeten trat sein Bild vor ihr inneres Auge: die sonnengebräunte, glatte Haut. Die festen Muskeln der Brust mit dem Dreieck aus dunklem Haar. Oben und unten …

Sie schüttelte den Kopf, wie um das aufreizende Bild zu vertreiben. In dem Moment wandte Rico sich um und schaute sie an, als ahnte er, woran sie gerade dachte. Ein Funken schien überzuspringen, und unwillkürlich machte sie einen Schritt auf ihn zu, wie von einer unwiderstehlichen Kraft angezogen.

Ein unergründlicher Ausdruck zeigte sich kurz in seinen dunklen Augen, dann wirkte er wieder eisig beherrscht.

Der geringschätzige Blick ließ sie erstarren. Zu spät erinnerte sie sich an die beiden Lektionen, die sie als Rico Crisantis Ehefrau gelernt hatte.

Körperliche Anziehung – und sei sie noch so stark – war ein unsicheres, brüchiges Fundament für eine Beziehung.

Und jemand von ganzem Herzen zu lieben bedeutete nicht automatisch, für immer glücklich mit ihm zu sein.

2. KAPITEL

„Von mir aus kannst du jetzt ins Bad gehen, Anastasia. Du weißt ja, wo es ist.“

Rico saß entspannt in dem mit cremeweißem Leder bezogenen Sitz, den Laptop vor sich. Wie üblich hatte er zu telefonieren begonnen, sobald der Privatjet abgehoben hatte, und sie kaum eines Blickes gewürdigt.

Nichts hatte sich geändert!

Anastasia war gekränkt, weil er sie nicht beachtete, und wütend auf sich, weil es ihr etwas ausmachte. Nein, eigentlich ist es mir egal, redete sie sich ein. Sie war nur verstört wegen des Schocks, ihn so unvermutet wiederzusehen.

Natürlich wusste sie, wo das Bad war: gleich neben dem Schlafzimmer, in das er sie zu Beginn ihrer Ehe einmal getragen und während eines gesamten Flugs geliebt hatte …

Zwölf Monate lang hatte sie versucht, die Erinnerungen zu verdrängen. Sich von der heißen Sehnsucht nach Rico freizumachen, dem überwältigenden Verlangen, das sie oft unerwartet überfiel. Würde das bisschen Erfolg, das sie zu verzeichnen hatte, zunichte, wenn sie in das Schlafzimmer ging?

Ach was, es ist nur ein Raum, sagte Anastasia sich vernünftig und stand auf. Unter den Füßen spürte sie den dicken, weichen Teppich, während sie zum Heck des Jets ging. Außerdem musste sie das Schlafzimmer nicht betreten, wenn sie nicht wollte. Der Kleiderschrank befand sich in dem kleinen Vorraum, von dem Bad und Zimmer abgingen. Sie brauchte sich nur die Farbe abzuwaschen und nett herzurichten, um seiner Familie gegenübertreten zu können.

An der Tür zum Vorraum blieb sie stehen und hörte Rico zu, der bereits wieder telefonierte. Früher hatte sie es geliebt, ihn italienisch sprechen zu hören, auch wenn sie nur wenig verstand. Er hätte ihr die Wirtschaftsseiten einer Zeitung vorlesen und damit bei ihr Verlangen wecken können. Deswegen hatte er sie öfter geneckt, was ihr egal gewesen war. Seine Stimme war nun mal ungeheuer verführerisch.

Nein, daran denke ich jetzt nicht, ermahnte Anastasia sich. Seufzend ging sie ins Bad und musterte sich im Spiegel. Als sie den Farbklecks über der einen Braue entdeckte, lächelte sie schief. Sie sah wirklich nicht aus wie die Frau von einem der erfolgreichsten Geschäftsmänner der Welt.

Rasch wusch sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser, nicht nur, um die Farbe zu entfernen, sondern auch, um ihre glühenden Wangen zu kühlen.

Ich bin einfach nicht die Richtige für Rico, gestand sie sich ein.

Genau das hatte ihn anfangs fasziniert. Sie war völlig anders als die Models und Schauspielerinnen, mit denen er sich sonst abgegeben hatte. Aber schließlich hatte es ihn nur noch irritiert, dass sie mehr von ihm wollte als seine früheren Mätressen. Und damit meinte sie nicht Geld!

Während sie sich mit einem flauschig weichen Handtuch das Gesicht abtrocknete, fragte sie sich, was Rico an jenem Tag in Rom in ihr gesehen haben mochte. Was hatte ihn dazu gebracht, mit ihr zu sprechen? Unwillkürlich erinnerte sie sich nun lebhaft an die erste Begegnung …

Sie balancierte auf einem Gerüst, hingebungsvoll mit ihrer Malerei beschäftigt. Der Crisanti-Konzern hatte sie beauftragt, das Foyer des Hauptsitzes mit einem Fresko zu schmücken. Wie üblich hatte sie beim Arbeiten für nichts anderes Augen, und erst als sie eine besonders schwierige Stelle zufriedenstellend gemeistert hatte, merkte sie, dass sie beobachtet wurde.

Sie schaute nach unten und verlor beinah das Gleichgewicht. Dort stand der attraktivste Mann, den sie jemals gesehen hatte, und Italien war nicht gerade arm an gut aussehenden Männern! Dieser ließ den Blick anerkennend über sie gleiten, seine dunklen Augen glitzerten.

„Was ist?“, rief sie ungehalten.

Seit sie ihre Arbeit begonnen hatte, waren natürlich schon oft Leute stehen geblieben und hatten ihr zugesehen, doch sie war dabei nie so nervös gewesen. Meistens waren ihr die Zuschauer gar nicht richtig aufgefallen, aber diesen Mann hätte keine Frau übersehen. Es juckte sie förmlich in den Fingerspitzen, die regelmäßigen, markanten Gesichtszüge zu skizzieren. Zugleich sagte sie sich träumerisch, dass kein zweidimensionales Werk die Kraft und Ausstrahlung dieses Manns wiedergeben könne.

Er hatte die Statur Apollos – und wirkte auch so selbstbewusst und mächtig wie ein antiker Gott.

Plötzlich fiel ihr auf, dass sich ungewöhnlich viele Menschen im Foyer versammelt hatten, und sie betrachtete die Begleiter des Mannes genauer. Alle waren auffallend kräftig, hielten einen respektvollen Abstand zu ihm ein – und jetzt wurde ihr klar, wer sie da so eingehend musterte.

Rasch kletterte Anastasia vom Gerüst und wischte sich die Hände an der Jeans ab, bevor sie die Hand ausstreckte.

„Guten Tag. Ich bin Anastasia Silver, die Malerin, die beauftragt wurde, Ihr Wandgemälde anzufertigen.“

Als sie sich das sagen hörte, zuckte sie zusammen. Ihr Wandgemälde! Einen Mann wie Rico Crisanti interessierte bestimmt nicht, wer die Eingangshalle seines Firmensitzes mit Fresken schmückte! Solche Entscheidungen überließ er seinen Untergebenen und konzentrierte sich stattdessen darauf, seinem geradezu legendären Vermögen noch einige Millionen hinzuzufügen.

Höflich schüttelte er ihr immerhin die Hand, und sie war von dem festen Griff überrascht. Nun betrachtete Rico Crisanti den Fries, und als sie diesen sozusagen mit seinen Augen sah, wurde sie befangen.

„Sie finden wahrscheinlich, dass es schrecklich aussieht“, begann sie hektisch, „aber das ist in dieser Phase immer so. Man kann sich noch nicht richtig vorstellen, wie das fertige Werk ausfallen wird. Die Vorbereitung ist allerdings beinah genauso wichtig wie das Endprodukt und … Ihr Architekt hat jedenfalls die Entwürfe gutgeheißen“, endete sie verlegen, während er den Blick nun wieder auf ihr Gesicht richtete.

„Sind Sie immer so unruhig, Miss Silver? Dann wundert mich, wie Sie überhaupt einen Pinsel schwingen können“, bemerkte Rico und lächelte unerwartet. „Entspannen Sie sich! Was Sie mit meiner Wand anstellen, gefällt mir sehr gut.“

So, wie er es sagte, klang es äußerst intim. Persönlich. Als wäre die Wand ein Teil von ihm …

Bei seinem charmanten Lächeln wurden Anastasia die Knie weich, und sie errötete. Plötzlich wurde ihr überdeutlich bewusst, wie chaotisch sie in ihrer Arbeitskleidung aussehen musste.

„Ich bin ebenso mit Farbe bedeckt wie die Wand und muss schlimm aussehen“, meinte sie und presste die Hände an die glühenden Wangen. Warum nur war sie ausgerechnet jetzt so linkisch, wo sie doch so gern kühl und weltgewandt gewirkt hätte?

„Nein, Sie sehen ganz und gar nicht schlimm aus“, versicherte Rico Crisanti höflich. „Mir gefällt vor allem Ihr Haar: so viele Schattierungen von Rotgold und Kupfer. Es erinnert mich an Herbstlaub. Wenn ich die weißen Farbspritzer außer Acht lasse“, fügte er hinzu.

Hitze durchflutete Anastasia, während sie sich durch die üppigen Locken fuhr. „Die Farbe lässt sich zum Glück leicht auswaschen.“

Er zog die dunklen Brauen hoch. „Das Herbstgold? Ich hoffe doch nicht!“

„Die weißen Spritzer“, sagte sie und fragte sich, was sein Gefolge von diesem albernen Gespräch halten mochte. „Abends wasche ich immer als Erstes meine Haare.“

Rico Crisanti nickte anerkennend. „Ich würde Sie gern ohne die Farbe sehen, Miss Silver. Sie werden heute mit mir zu Abend essen.“

Dass er annahm, sie würde sofort zusagen, empörte sie. „Und wenn ich schon anderes vorhabe?“, fragte sie herausfordernd.

Sein arrogantes Lächeln verriet, dass er sich – und sein Angebot – für unwiderstehlich hielt. „Um acht Uhr. Etwas anderes können Sie vielleicht vorhaben, etwas Besseres nicht.“

Anastasia atmete tief durch. „Sie sind ganz schön selbstsicher“, erwiderte sie spöttisch. „Ist das ein Erbe Ihrer römischen Vorfahren? Möchten Sie wie sie die ganze Welt erobern?“

„Das kommt auf die Eroberung an.“ Fasziniert blickte er ihr auf die schön geschwungenen Lippen. „Außerdem, ich bin kein Römer, sondern Sizilianer. Wir haben völlig unterschiedliche Vorgehensweisen.“

Ohne ihre Erwiderung abzuwarten, ging er weiter in Richtung Lift, gefolgt von seinen Untergebenen, die weiterhin respektvoll Abstand hielten.

Verblüfft sah Anastasia ihm nach. Rico Crisanti, einer der reichsten Männer der Welt, wollte mit ihr zu Abend essen.

Ihr Herz schien vor Begeisterung einen Schlag lang auszusetzen, ihre Fantasie schlug Kapriolen.

Dann fiel ihr ein, dass er nicht einmal gefragt hatte, in welchem Hotel sie wohnte. Vermutlich hatte er sich nur einen Scherz mit ihr erlaubt und würde sie um acht Uhr nicht abholen. Falls doch …

Sie kletterte wieder aufs Gerüst und versuchte, mit der Arbeit weiterzumachen, obwohl sie sich nun nicht mehr richtig konzentrieren konnte und ihre Hände leicht zitterten.

Und wenn Rico Crisanti doch in ihrem Hotel erscheinen sollte, konnte sie ihm immer noch sagen, dass sie prinzipiell nicht mit Fremden zu Abend aß.

Anastasia zwang sich, nicht länger an früher zu denken.

Sie duschte kurz und flocht anschließend die dichten kupferroten Haare zu einem Zopf im Nacken. Dann ging sie zum Schrank, in dem noch immer ein Teil ihrer Garderobe hing – elegante Designerstücke, die sie nie gern getragen hatte. Ganz hinten fand sie jedoch ein schlichtes apricotfarbenes Leinenkleid und zog es an. Anschließend musterte sie sich kritisch im Spiegel.

Ja, sie sah gut aus. Mondän und elegant.

Wie eine Frau, die nur auf das Vermögen eines Mannes aus war?

Nein, es brachte nichts, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was Ricos Familie inzwischen von ihr dachte. Ob sie noch immer in Ungnade war, würde sie bald genug merken.

Tief durchatmend verließ Anastasia das Bad und setzte sich wieder neben Rico, der noch immer telefonierte. Wie oft hatte sie ihm früher gedroht, sie würde sein Handy aus dem Fenster werfen? Nun ...

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