Schöne Erbin auf der Flucht

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Durchnässt vom Regen, rettet sich Amelia auf ein verlassenes Anwesen. Doch als sie sich vor dem Kaminfeuer entkleidet, wird sie von dem attraktiven Baron Gray überrascht. Instinktiv wirft sie sich in seine starken Arme. Doch ihr Glück wird sie dort nicht finden – der Baron darf nie von ihrer Vergangenheit erfahren …


  • Erscheinungstag 21.08.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512855
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Amelia lief keuchend zwischen den Bäumen hindurch und achtete nicht auf die Zweige, die ihr ins Gesicht schlugen, oder auf das Gestrüpp, das sich in ihrem Rock verfing. Sie war erschöpft, ihre Lungen brannten, jeder Schritt war eine Qual, doch sie lief weiter. Als sie einen Blick über die Schulter wagte, stolperte sie, ihr Fuß knickte zur Seite, aber sie fing sich im letzten Moment und blieb auf den Beinen.

Ein lauter Donnerschlag grollte scheinbar genau über ihr, und kurz darauf zuckte ein blendend weißer Blitz über den Himmel. Amelia fühlte sich allen Blicken ausgeliefert, obwohl die Bäume sie verbargen, und war glücklich, als sich die Dunkelheit wieder über alles legte. Der Regen wurde stärker, große Tropfen klatschten Amelia auf die Haut, und nach nur wenigen Minuten war sie vollkommen durchnässt. Das Kleid hing schwer an ihr herab und fühlte sich bei jeder Bewegung an wie Sandpapier. Ganz gegen ihre Art wünschte Amelia sich diesmal, sie würde etwas Praktischeres, weniger Hübsches tragen, das sie aber in diesem fürchterlichen Klima wenigstens etwas gewärmt hätte.

Einen Augenblick lang hielt sie inne, um zu Atem zu kommen, und lauschte aufmerksam. Seit zwei Tagen irrte sie durch dieses gottverlassene Hügelland, ohne zu wissen, wo sie sicher sein und Unterschlupf finden könnte. Es war schon übel genug gewesen, als sie es lediglich mit Kälte und Wind zu tun gehabt hatte, doch inzwischen fürchtete Amelia, sie könnte hier in den Hügeln sterben.

Wenigstens lag das Dorf weit hinter ihr – das Dorf, von dem sie gehofft hatte, es würde ihr in dieser kalten Nacht Schutz bieten. Doch es war kein guter Einfall gewesen. Die erste Frau, die ihr blutbeflecktes Kleid und das wirre Haar gesehen hatte, hatte ihr zugerufen, sie solle sich fernhalten, und gleich darauf fast das ganze Dorf alarmiert. Amelia war nach einem letzten sehnsüchtigen Blick auf das gastfreundlich wirkende Wirtshaus hastig zu den verregneten Hügeln weitergeflohen.

Sie befürchtete, dass die Dorfbewohner ihr jemanden nachgeschickt hatten. Wahrscheinlich hatte man überall eine Zeichnung von ihrem Gesicht verteilt und ihr Verbrechen war inzwischen weit über die Grenzen des Kurorts Brighton hinaus bekannt, wo es verübt worden war. Ihr entfuhr ein Schluchzen, und sie fragte sich, wann alles angefangen hatte, so fürchterlich schiefzugehen. Einen Moment lang erlaubte sie sich, in Selbstmitleid zu schwelgen. So hatte ihr Leben nicht verlaufen sollen. Vor nur vier Tagen hatte sie viel gehabt, auf das sie sich freuen konnte – eine neues Leben in England, die Wiedervereinigung mit dem Mann, den sie liebte, und eine Saison in London, wirbelnde Tänze durch die Ballsäle in ihren hübschen neuen Kleidern. Sie hatte sich vorgestellt, wie man ihr Komplimente machen und sie umwerben würde. Nie wäre ihr der Gedanke gekommen, man könnte sie jemals verurteilen und verfolgen wie einen Verbrecher.

In diesem Moment bemerkte Amelia eine Mauer zu ihrer Linken und etwas weiter eine schmiedeeiserne Pforte, die man leicht übersehen konnte, weil sie fast völlig von Efeu und sonstigen Schlingpflanzen verdeckt wurde. Sofort wusste Amelia, was sie tun würde. Die Füße schmerzten ihr, sie zitterte am ganzen Leib und hatte seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen. Die Pforte sah aus, als gehörte sie zu einem verlassenen Gut. Mit ein wenig Glück würde sie vielleicht eine Scheune oder ein anderes Gebäude finden, das noch nicht zusammengefallen war und wo sie vor den Elementen Zuflucht suchen und sich ausruhen konnte.

Vorsichtig stieß Amelia die Pforte auf und schlüpfte hindurch. Während sie die Auffahrt hinaufging, erfasste eine seltsame Unruhe sie. Den Ort umgab eine gespensterhafte Atmosphäre, und hätte Amelia nicht so verzweifelt einen Platz zum Verschnaufen gebraucht, wäre sie vielleicht doch noch umgekehrt.

Das Haus war auf eine finstere, schauerliche Art überwältigend. Gruselige Wasserspeier hingen drohend von den Mauervorsprüngen, und die Fenster liefen wie in der gotischen Architektur oben spitz zu. Statuen und Steinreliefs schmückten die Fläche zwischen Fenstern und Türen, und im hinteren Teil des Hauses ragten zwei imposante Türme in den Himmel.

Das Gut war verlassen, das erkannte Amelia sofort. Das Haus wirkte verwahrlost, und die Ostseite war rußgeschwärzt wie von einem Brand. Amelia fragte sich, wann es verlassen worden war und ob sie wohl noch ein weiches Bett darin vorfinden mochte. Zaghaft näherte sie sich der Vordertür und öffnete sie. Zu ihrer Überraschung schwang sie ohne Knarren auf und gab den Blick auf eine leere Halle frei.

„Hallo?“, rief Amelia, bevor sie über die Schwelle trat. „Ist jemand hier?“

Sie wartete einen Moment, und als sie nur das Heulen des Windes vor dem Haus vernahm, schalt sie sich für ihr Unbehagen, das dafür verantwortlich war, dass sie die Haustür hinter sich noch nicht geschlossen hatte.

Noch eine Minute verstrich, ohne dass Amelia etwas hörte, also schloss sie die Tür und machte einen Schritt weiter in die Halle hinein. Nachdem sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, nahm sie allen Mut zusammen, setzte ihren Weg fort, wählte eine der Türen, die von der Halle abgingen, und öffnete sie.

Dieses Zimmer musste früher einmal ein Salon gewesen sein. Ein gemütlich aussehender Sessel verlockte sie dazu, einzutreten und sich den Rest anzusehen. Die meisten Möbel waren mit weißen Tüchern verdeckt, um den Staub von ihnen fernzuhalten. Auf dem Boden lag ein schwerer, kostbarer Teppich auf den Holzdielen.

Amelias Blick huschte weiter, bis er auf dem großen Kamin haften blieb. Leise Hoffnung erwachte in ihr, als sie den Korb voller Holzscheite gleich daneben entdeckte. Die Vorstellung eines prasselnden Feuers, das ihre halb erfrorenen Glieder wärmen würde, war in diesem Moment das höchste Glück. Sie weinte fast vor Erleichterung, als sie auf dem Kaminsims eine Zunderbüchse sah. Endlich schien ihr Schicksal sich zu wenden.

Doch wie man ein Feuer anzündete, erwies sich als ein Problem. Amelia hatte oft dabei zugesehen – selbst in Indien hatte man in der Küche Feuer machen müssen, und während der Monsunzeit entzündete man welche, um die Kleidung trocknen zu können. Aber Amelia hatte nie wirklich darauf geachtet, was die Diener getan hatten. Zögernd stapelte sie einige Holzscheite auf den Kaminrost, wobei sie die kleineren Stücke oben auflegte, und nahm schließlich die Zunderbüchse zur Hand.

Fünfzehn Minuten später war sie kurz davor, die verflixte kleine Büchse durch den Raum zu schleudern. Die Finger taten ihr weh von ihren erfolglosen Versuchen, einen Funken zu schlagen, und sie hatte angefangen, am ganzen Leib zu zittern vor Kälte. Was ihr auch nicht gerade half bei ihrem heiklen Unterfangen. Mit einem verzweifelten Stöhnen schlug sie ein letztes Mal gegen den Zündstein und hätte fast geweint vor Erleichterung, als einige wenige Funken aufflogen und den Zunder entfachten. Vorsichtig fächelte sie den kleinen Flammen Luft zu, blies leicht, entzündete das Streichholz am Feuer und hielt es schließlich an das Anmachholz. Langsam sank sie vor dem Kamin in die Knie und machte sich daran, das Holz richtig zum Brennen zu bringen. Nie gekannte Zufriedenheit erfüllte sie, als das Holz allmählich schwarz wurde und die Flammen größer und heller.

Amelia wäre fast auf den Boden gesunken vor Erschöpfung. Die letzten Tage hatten ihr nicht nur körperlich viel abgefordert, sondern vor allem emotional. Sie wollte nichts weiter, als sich irgendwo zusammenzukauern und zu schlafen, doch sie wusste, dass sie ein Fieber riskieren würde, wenn sie nicht vorher die nassen Sachen auszog. Mit müden Fingern kämpfte sie mit den Verschlüssen ihres Kleides und wand und streckte sich, um die Knöpfe auf dem Rücken zu erreichen. Endlich spürte sie, wie der schwere Stoff zu Boden glitt, und sie in langer Chemise, Unterrock und den schlammverkrusteten Strümpfen an den Beinen dastand.

Erschrocken keuchend sah sie an sich herab. Das Blut, das ihr Kleid beschmutzt hatte, war bis zu ihrer Unterwäsche durchgedrungen. Abscheuliche rostrote Flecken bedeckten ihre Chemise und Unterröcke. Einen Moment lang wurde ihr übel, und sie musste sich am Kaminsims festhalten, um sich zu stützen. In diesem Moment war sie wieder in Captain McNairs Arbeitszimmer und griff nach dem Brieföffner, der so leicht in sein weiches Fleisch gedrungen war. Amelia hörte sich schluchzen bei dem Gedanken daran, was sie getan hatte, bei der Erinnerung an das grellrote Blut, das durch sein Hemd gesickert war, und der Erkenntnis, dass sie die schlimmste aller Sünden begangen hatte. Tagelang war sie gelaufen in einem verzweifelten Versuch, aus diesem verfluchten Zimmer zu fliehen, und sie hatte keinen Moment innegehalten, um zu überlegen. Bis jetzt. Hier, während das Kaminfeuer ihre Haut langsam erwärmte, machte Amelia sich zum ersten Mal klar, dass ihr Leben nie wieder so sein würde wie vorher.

Edward erwachte alarmiert. Er hatte schon immer einen leichten Schlaf gehabt. Jedes Geräusch, selbst der Ruf eines Tieres eine halbe Meile entfernt, genügte, um ihn aus seinen Träumen zu reißen. Einen Moment lang blieb er reglos liegen, rührte keinen Muskel, doch dann wusste er: Es war jemand im Haus. Er konnte die Person unten sich bewegen hören – ihre leisen Schritte, das Rascheln von Stoff. Augenblicklich war er auf den Beinen und knurrte gereizt bei dem Gedanken, dass es einen Eindringling in seinem Haus gab. Die kühle Nachtluft ließ ihn schaudern, und er fühlte Zorn in sich aufwallen.

Schnell durchquerte er den Raum, warf sich den Morgenmantel über und packte den Feuerhaken vom Kamin statt einer konventionelleren Waffe. Trotz all der Jahre, da Edward allein lebte, zweifelte er nicht an seiner Fähigkeit, jeden Einbrecher besiegen zu können, selbst wenn es mehrere waren und bewaffnet. Zwar war er kein gewalttätiger Mensch und zog bei Weitem seine Bücher und Zeichnungen vor, doch mit seiner Größe von über einem Meter achtzig verfügte er über das nötige eindrucksvolle Auftreten.

Er ging auf Zehenspitzen, um zu überraschen, wer immer in sein Haus eingebrochen war. So erreichte er den Fuß der großen Treppe und hielt vor dem Salon inne.

Der Anblick, der sich ihm bot, als er die Tür aufstieß, war völlig unerwartet. Vor dem Kamin stand eine junge Frau, die gerade dabei war, sich auszuziehen. Edward musste schlucken. Sie hatte bereits Kleid und Unterrock abgelegt und trug nur noch ihre Chemise und Strümpfe am Leib. Beides war vom Regen völlig durchnässt, schmiegte sich auf entschieden skandalöse Art an ihren Körper und enthüllte sehr viel mehr, als sonst der Fall gewesen wäre.

Während er sie noch anstarrte, rutschte ihr die Chemise von der Schulter und entblößte die cremeweiße Haut darunter. Die junge Frau bückte sich und begann, ihre Strümpfe herunterzurollen. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr, während sie sich den nassen Stoff von den Beinen schälen.

Edward war sich bewusst, dass er schon viel zu lange still zusah, was einem Gentleman nicht zur Ehre gereichte, aber später rechtfertigte er sich damit, dass er sich in einem Ausnahmezustand befunden hatte, weil er eine halbnackte Frau in seinem Salon vorgefunden hatte. Lange vergessene Gefühle erwachten in ihm, während er beobachtete, wie die geheimnisvolle Frau sich reckte und den Kopf in den Nacken sinken ließ. Am liebsten hätte er sie in die Arme gerissen, ihr die restliche nasse Kleidung ausgezogen und sie vor dem Feuer auf den Boden gelegt.

Augenblicklich bekam er ein schlechtes Gewissen. Er liebte seine Frau, und sie fehlte ihm jeden Tag, aber es war sehr lange her, seit er Kontakt mit einem Menschen gehabt hatte.

Gerade als er sich räuspern wollte, hielt er inne und runzelte die Stirn. Bisher hatte er nicht auf den Zustand ihrer Kleidung geachtet, weil die Tatsache, dass die fremde Frau fast nackt war, ihn abgelenkt hatte. Doch jetzt bemerkte er die rostroten Flecken auf der Chemise und dem Kleid, das sie über einen Sessel gelegt hatte. Wenn er sich nicht irrte, waren sie mit Blut bedeckt, und es sah nicht so aus, als wäre es ihr eigenes.

Edward räusperte sich. Die junge Frau wirbelte herum, machte große Augen und schrie entsetzt auf. Es war ein so durchdringendes Geräusch, dass es Edwards Schädel zu durchbohren schien und ihn unerträglich reizte.

„Wollen Sie gefälligst still sein?“, brüllte er.

Sofort presste die junge Frau die Lippen zusammen. Sie wich verängstigt vor ihm zurück, und Edward seufzte. Er wünschte, er läge wieder oben in seinem Bett, statt dieses Melodrama mitzumachen.

Er wollte diese junge Person aus seinem Haus weisen, sie und ihre Probleme sozusagen aus der Tür hinausschieben und vergessen, dass sie je hier gewesen war.

„Was machen Sie hier?“, fragte er und verzog leicht das Gesicht, als seine Worte eher wie ein Knurren klangen als wie eine Frage.

„B…bitte tun Sie mir nichts“, stammelte sie.

„Ich werde Ihnen nichts tun“, erwiderte er mit der freundlichsten Stimme, die er aufbringen konnte. Er versuchte sogar zu lächeln, doch das Entblößen seiner Zähne veranlasste die Fremde nur dazu, noch weiter vor ihm zurückzuweichen und voller Angst zu wimmern.

Er ging einige Schritte auf sie zu. Sie musste bei Bewusstsein bleiben, wenn er seine geliebte Einsamkeit so bald wie möglich wiedergewinnen wollte. Während er sich ihr näherte, sah Edward sie kurz schwanken. Einen schrecklichen Moment lang fürchtete er, sie könnte in Ohnmacht fallen und ihm damit ein noch größeres Problem aufbürden. Doch sie schaffte es, sich zu fangen.

„Was tun Sie hier?“, wiederholte er, diesmal etwas sanfter. Er versuchte, sich zu erinnern, wie er sich früher mit den Menschen verständigt hatte, als er noch ein erfolgreiches, florierendes Gut geführt hatte, öffnete langsam die Hände, um ihr zu zeigen, dass er keine Bedrohung darstellte, und sah der bebenden jungen Frau in die Augen.

Sie schien sich ein wenig zu entspannen, und Edward wurde neugierig. Jetzt war er näher gekommen und sah den Zustand, in dem sie sich befand – ihre Chemise war blutbedeckt, aber auch ihr ganzer Körper war schmutz- und schlammverkrustet. Unzählige Kratzer und blaue Flecken verunzierten ihre Beine, und unwillkürlich fragte Edward sich, vor welchen Schwierigkeiten sie davonlief.

„Ich musste irgendwo die Nacht verbringen und Schutz vor dem Gewitter suchen“, antwortete sie leise.

Edward spürte, dass es mehr sein musste als das. Eine vornehme junge Dame wanderte nicht mutterseelenallein durch die Hügel von Sussex, mit Blut bedeckt und bis auf die Knochen durchnässt. Er öffnete den Mund, um sie weiter zu bedrängen, änderte aber seine Meinung. Worin sie auch verwickelt sein mochte, wovor sie auch davonlief – er wollte es gar nicht wissen. Er wollte sein Haus wieder für sich allein haben, und er wollte, dass sie von hier verschwand.

Einen Moment später fuhr sie stockend fort: „I…ich dachte, das Haus ist verlassen.“ Während sie sprach, schlugen ihre Zähne aufeinander.

„Das sieht nur so aus“, meinte er etwas schroff. „Sie gehen besser nach Hause.“

Hastig sah sie zu ihm auf, und er las Verzweiflung in ihren Augen. „Ich kann nicht nach Hause gehen.“

„Dann zu einem Freund, einem Verwandten. Irgendjemanden muss es doch geben, der Sie aufnehmen wird.“

Doch sie schüttelte den Kopf. Edwards erster Impuls war, sich einzureden, dass sie nicht sein Problem war und er sie in die Nacht hinausschicken und vergessen sollte, dass sie jemals hier gewesen war.

„Sie könnten im Wirtshaus im Dorf übernachten.“

„Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf.

„Wie heißen Sie?“, fragte er.

„Amelia.“

„Nun, Amelia, hier können Sie jedenfalls nicht bleiben.“ Er gab sich Mühe, die Worte freundlich auszusprechen, aber sie klangen dennoch barsch, fast wie ein Befehl. Also war es nicht verwunderlich, dass sie zusammenzuckte, als hätte er sie geschlagen, und Edward bekam sofort wieder ein schlechtes Gewissen.

Schweigen breitete sich aus, während er auf ihre Antwort wartete, und dabei fiel ihm auf, dass Amelia am ganzen Körper zitterte. Sie war sehr blass geworden, und plötzlich sah er, dass ihr Blick ein wenig gläsern geworden war. Offenbar war sein Eindringling kurz davor zusammenzubrechen.

Mit schnellen, entschlossenen Schritten war Edward bei ihr, packte sie bei den Schultern und zwang sie sanft, aber entschieden, sich in einen Sessel zu setzen. Er redete sich ein, dass er nichts davon hatte, wenn sie sich jetzt zu allem Überfluss auch noch den Kopf verletzte. Aber in Wirklichkeit konnte er das Mitgefühl nicht verleugnen, das sich tief in ihm regte und in solchen Momenten dafür sorgte, dass er sich wie ein anständiger Mensch verhielt. Als er ihre nackten Arme berührte, war er erstaunt darüber, wie kalt sie sich anfühlten. Zwar war er kein Arzt, doch Edward zweifelte nicht daran, dass sie sich eine Erkältung zuziehen würde oder gar Schlimmeres, wenn er ihr nicht bald half, trocken und warm zu werden. Er erinnerte sich an einen Tag, als er und seine Frau von einem Gewitter überrascht worden waren. Bevor sie das Haus erreicht hatten, waren sie bis auf die Haut durchnässt. Edward hatte die Kälte schnell abgeschüttelt, doch Jane hatte eine Woche lang mit Fieber im Bett gelegen.

„Sie können nicht hierbleiben“, wiederholte Edward leise, wie zu sich selbst. In Wirklichkeit wusste er, dass Amelia wahrscheinlich sterben würde, wenn er sie in diesem Zustand in das Unwetter hinausschickte.

Mit einem gereizten Laut warf er ein Kissen vom Sofa vor das Kaminfeuer. Es landete mit einem dumpfen Laut auf dem Boden. Edward wollte nicht in eine solche Lage gezwungen werden, eine Geisel seines eigenen Gewissens. Er wollte sich wieder in sein Bett legen in einem Haus, das er allein bewohnte, ohne sich deswegen schuldig zu fühlen.

Amelia sah ihn mit ihren großen dunklen Augen an, und er kapitulierte. „Eine Nacht“, sagte er schließlich. „Sie können eine Nacht hierbleiben. Aber morgen ganz früh gehen Sie.“

Die Erleichterung in ihrem Gesicht hätte ihn erfreuen sollen – vor Jahren hätte es das getan. Edward erinnerte sich noch, dass er ein Mann gewesen war, der sich um andere Menschen sorgte, der keine Mühen gescheut hätte, um jemandem in Not zu helfen. Doch dieser Teil seiner Persönlichkeit schien mit so vielen anderen seiner Eigenschaften verdorrt und gestorben zu sein. Einst war er freundlich und fürsorglich gewesen, aber jetzt konnte er nur daran denken, dass er diese junge Frau einfach nicht in seinem Haus haben wollte.

„Wie heißen Sie?“, fragte Amelia mit kaum hörbarer, heiserer Stimme.

„Edward. Ich bin Sir Edward Gray.“

„Ich danke Ihnen, Edward.“

Amelia erschauderte heftig, sodass er sich zusammenriss, seine eigenen Sorgen kurz beiseiteschob und sich auf die die junge Frau konzentrierte. Ein warmes Bett und eine lange, geruhsame Nacht waren alles, was sie brauchte, um sich zu erholen. Wenn er jetzt ein wenig von seiner kostbaren Zurückgezogenheit opferte, würde er sie morgen mit gutem Gewissen ihres Weges schicken können.

„Wir müssen Sie warm bekommen.“

Sie blickte zum dürftigen Feuer und kam unsicher ein wenig näher.

„Richtig warm“, meinte er bedeutungsvoll.

Er zögerte kurz. Die letzte Frau, die er berührt hatte, war seine Frau gewesen, und die war seit drei langen Jahren tot. Er entsann sich nicht einmal, wann er das letzte Mal jemandem die Hand gegeben, wann er jemandem die Hand auf die Schulter gelegt hatte.

Schnell, um die Gedanken zu verscheuchen, trat er zu ihr und hob Amelia hoch. Sie protestierte schwach, doch sie war nicht mit dem Herzen dabei. Die Kälte begann bereits, ihre Willenskraft zu schwächen. Sie wurde träge.

Kurz entschlossen trug Edward sie durch das Haus, die Treppe hinauf und in den Westflügel, wo sich seine Räume befanden. Nach dem Feuer vor drei Jahren hatte er den größten Teil des Hauses verschließen lassen und sich entschieden, in den bequemen Zimmern des Westflügels zu wohnen statt in den luxuriöseren Familienräumen. Der Westflügel war warm und gemütlich. Früher am Abend hatte Edward ein Feuer in seinem Kamin entzündet, und die Asche würde noch immer glühen.

„Mir ist so kalt“, flüsterte Amelia bebend.

„Ihnen wird schon bald wieder warm werden“, erwiderte er, und zum ersten Mal seit Jahren folgte er einem bestimmten Ziel. Er würde diese junge Frau nicht sterben lassen. Obwohl er sie nicht kannte und auch nicht wusste, was sie getan hatte, das sie zur Flucht gezwungen hatte, würde er ihr ein warmes Bett und einen sicheren Ort zum Schlafen anbieten.

Mit einem Tritt stieß er die Tür zu seinem Schlafzimmer auf, setzte Amelia in seinem Sessel ab und zerrte den dicht vor das Kaminfeuer. Einen Moment überlegte er. Er könnte Amelia sich selbst überlassen und sich wieder zu Bett begeben, oder sich vergewissern, dass sie in dieser Nacht wirklich nicht vor Kälte starb.

Jetzt da sie in seinem Schlafzimmer war, musste er eine seltsame Beklommenheit unterdrücken, die ihn plötzlich erfasste. Er hatte sich von der Welt zurückgezogen, gerade um den Umgang mit Menschen zu vermeiden. Nach dem Feuer hatte er nicht gewollt, dass irgendjemand sich in sein Haus wagte, das er mit seiner Familie geteilt hatte. Hier war ihr ganz persönlicher Bereich, und Edward hatte versucht, die Erinnerungen am Leben zu erhalten, indem er niemand anderen hier zuließ.

Heute – mit der zitternden Amelia in dem Sessel, in dem seine verstorbene Frau immer gesessen hatte – hatte Edward das Gefühl, bereits irgendwie jene Erinnerungen entweiht zu haben.

„Sie müssen die nassen Sachen ausziehen“, fuhr er sie an. Er wusste, dass er seinen Kummer an Amelia ausließ, konnte aber seinen schroffen Ton nicht mäßigen. Während er sprach, sahen sie beide auf die fast durchsichtige Chemise hinunter. Amelia versuchte verlegen, sich zu bedecken.

„Ich gebe Ihnen ein Nachthemd, das Sie anziehen können. Es wird Ihnen viel zu groß sein, aber wenigstens ist es trocken und warm.“

Edward ging zu seiner Kommode und wählte ein Nachthemd, das er entfaltete, während er an Amelias Seite trat. Da er allein lebte und es auch keine Dienerschaft gab, die er überraschen könnte, schlief Edward für gewöhnlich nackt. Aber er besaß Nachthemden aus der Zeit, da das Haus noch voller Leben gewesen war.

Im Sessel hatte Amelia sich nicht bewegt, und Edward hielt kurz inne, bis er sich vergewissert hatte, dass ihre Brust sich leicht hob und senkte.

„Werden Sie sich allein ausziehen können?“, fragte er.

Die Vorstellung, wie er ihr die nasse Chemise vom Körper schälte, sie Zoll für Zoll abstreifte, bis die seidenweiche Haut darunter sichtbar wurde, beherrschte einen Moment Edwards Gedanken. Er schluckte, schloss die Augen und fing sich wieder. Gewiss, er hatte sehr lange ohne die Berührung einer Frau gelebt, aber das rechtfertigte diesen völlig unangebrachten Gedanken nicht.

Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern warf das Nachthemd auf den leeren Sessel neben dem Kamin und verließ das Zimmer.

Vor der Tür lehnte Edward die Stirn an die kühle Steinwand und kämpfte gegen das Gefühl tiefer Selbstverachtung an. Drei Jahre lang hatte er sich damit getröstet, dass er geschworen hatte, seiner verstorbenen Frau für immer treu zu bleiben. Und bereits bei der ersten Versuchung, kaum dass eine hübsche junge Frau in seine Welt getreten war, erlaubte er seiner Fantasie, mit ihm durchzugehen.

Nach einigen Minuten klopfte er schließlich an die Tür. Als er keine Antwort bekam, zögerte er kurz, öffnete aber die Tür und trat ein.

Amelia war es gelungen, sich die restlichen nassen Sachen auszuziehen und Edwards Nachthemd überzustreifen. Die blutverschmierte Chemise lag über einem Sessel. Jetzt, da sie ihr nicht mehr am Körper klebte, konnte Edward sehen, um wie viel Blut es sich tatsächlich handelte.

„Was ist passiert?“, fragte er scharf und wies auf die Blutflecken.

Amelia sah ihn mit ausdruckslosen Augen an und schüttelte nur den Kopf.

Einerseits hätte Edward das Thema am liebsten ruhen lassen. Was machte es ihm schon aus, wie es dazu gekommen war, dass sie ganz allein und mit Blut überzogen durch ein Unwetter gelaufen war? Morgen würde sie wieder fort sein und nie wiederkommen.

„Sagen Sie es mir, sonst können Sie gehen“, fuhr er streng fort. Die Angst in ihren Augen reichte fast aus, um ihn seine Drohung bedauern zu lassen.

„Ich wurde angegriffen“, sagte sie.

„Sind Sie verletzt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe mich gewehrt.“

Fürs Erste würde es reichen müssen. Edward kannte sich gut genug mit der menschlichen Natur aus, um sicher zu sein, dass Amelia keine Gefahr für ihn darstellte. Aber er wollte nicht hineingezogen werden in die Schwierigkeiten, in denen sie steckte, also ließ er das Thema fallen.

„Legen Sie sich ins Bett“, sagte er sanfter.

Sie nickte, eine winzige Bewegung, das Einzige, wozu sie fähig zu sein schien. Edward wartete ein wenig, um zu sehen, ob sie sich rühren würde, doch dann wurde ihm klar, dass sie zu erschöpft war, um selbst die wenigen Schritte bis zum Bett zu tun. Leise fluchend kehrte er zu ihr zurück, und ohne um ihre Erlaubnis zu bitten, hob er sie abermals einfach hoch und trug sie zum Bett, wo er sie unter die Decke legte. Es dürfte nicht länger als zehn Sekunden gedauert haben, und die ganze Zeit über hatte Edward die Zähne zusammengebissen und sich ermahnt, nicht auf die verführerischen Rundungen des Körpers in seinen Armen zu achten.

Er zog Laken und Decke bis zu ihrem Kinn hinauf, machte einen Schritt zurück und nickte zufrieden. Für einen Mann, der seit drei Jahren kaum mit jemandem gesprochen hatte, hatte er erstaunlich viel Gastfreundschaft gezeigt.

Amelia begann mit den Zähnen zu klappern, und er sah, wie sie unter der Decke zitterte. Behutsam beugte er sich über sie und berührte ihre Wange. Ihre Haut fühlte sich noch immer eiskalt an und kam ihm jetzt sogar klamm vor, was sehr beunruhigend war. Edward zögerte. Er wollte gehen, sich in sein Bett verkriechen und die Nacht vorbeiziehen lassen, bis er Amelia endlich wegschicken konnte. Stirnrunzelnd sah er sie wieder an. Ihre Lippen hatten einen ungesunden bläulichen Ton angenommen, und dunkle Schatten lagen unter ihren Augen.

Edward wollte sie weder in seinem Bett, noch in seinem Haus haben, aber da sie nun schon einmal da war, würde er sie nicht sterben lassen. Er durfte nicht noch ein Leben auf dem Gewissen haben. Es gab einen Weg, einen durchfrorenen Körper zu wärmen, aber der schien ihm nicht richtig zu sein. Amelia stieß ein schmerzhaftes Stöhnen aus, ihr Körper krümmte sich, und Edward hörte sie weinen.

„Es wird alles wieder gut“, sagte er, schlüpfte neben ihr ins Bett und schlang den Arm um sie.

Zuerst spürte er, wie sie zusammenzuckte, als ihre Körper sich berührten. Er fragte sich, ob sie ihn von sich stoßen und verlangen würde, dass er sie trotz ihres verzweifelten Wunsches nach Wärme in Frieden ließ. Doch gleich darauf entspannte sie sich in seiner Umarmung und schmiegte sich sogar ein wenig dichter an ihn.

Es war ein ungewohntes Gefühl, eine junge Frau in den Armen zu halten. Edward musste sich ständig daran erinnern, warum er tat, was er hier tat. Er wollte kein Vergnügen aus dieser Situation ziehen, doch trotz seiner Entschlossenheit ertappte er sich dabei, wie er Amelia fester an sich drückte. Jahrelang hatte er sich jeden menschlichen Kontakt verboten. Und erst jetzt, da er mit einer fremden Frau im Bett lag, erkannte er, wie sehr ihm die Berührung eines anderen Menschen gefehlt hatte.

2. KAPITEL

Amelia erwachte ganz allmählich. Sie schwelgte richtiggehend in der Wärme und der tröstlichen Nähe gleich neben ihr. Einige Momente lang war ihr, als wäre sie wieder in Indien und würde neben ihrer Cousine Lizzie liegen und ihr leichtes, verzärteltes Leben führen. Ihre Lider flogen auf, und sie schaute zur Decke hinauf. Mit grausamer Wucht fielen ihr die Ereignisse der vergangenen Tage wieder ein.

Argwöhnisch wandte Amelia den Kopf und wäre fast vor Entsetzen aus dem Bett gesprungen. Neben ihr lag, einen Arm wie selbstverständlich über ihre Taille gelegt, der Mann, der sie vor der kalten, nassen Nacht gerettet und ihr Unterschlupf gewährt hatte. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, und versuchte angestrengt, sich zu erinnern, was in der vorigen Nacht geschehen war. Sie entsann sich noch, dass sie nach einer Zuflucht vor dem Unwetter gesucht hatte und fast vor Angst gestorben wäre, als Edward sie halb nackt vor dem Kaminfeuer seines Salons entdeckt hatte. Danach war ihre Erinnerung mehr als vage. Irgendwie glaubte sie noch zu wissen, dass er sie durch das Haus getragen hatte, aber wie sie aus ihren nassen Kleidern gekommen oder was danach passiert war, konnte sie beim besten Willen nicht sagen. Sie hatte keine Ahnung, was dazu geführt hatte, dass sie hier gemeinsam in diesem Bett lagen.

Sie wagte noch einen Blick über die Schulter und musterte sein Gesicht. Er sah jugendlich und unschuldig aus, während er schlief, das Stirnrunzeln von gestern Nacht war verschwunden. Sein dichtes dunkles Haar war zu lang, um modisch genannt zu werden, und seine Züge waren stark, männlich. Edward war das genaue Gegenteil von McNair, der geschmeidige, schlanke, schöne McNair.

Mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen, als sie an die Ereignisse von vor drei Tagen denken musste, und sie schloss die Augen, weil ihr plötzlich schwindlig wurde. Sie hatte einen Menschen getötet. Nie wieder würde sie morgens aufwachen und keine Mörderin mehr sein. Sie mochte ja vielleicht auf der Flucht vor dem Gesetz sein, aber McNair, der schöne, lebenssprühende McNair war tot, und es war alles ihre Schuld. Amelias Hände begannen zu zittern, als sie an sein erstauntes Keuchen dachte, während sie ihm den Brieföffner ins Fleisch gestoßen hatte. Danach war sie erstarrt gewesen, unfähig zu fliehen, unfähig sich von ihm zu lösen.

Neben ihr rührte Edward sich, und Amelia riss sich zusammen und zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch.

Es war nicht meine Schuld. Sie wiederholte den Satz wieder und wieder und zwang sich, die aufwühlenden Bilder aus ihrem Gedächtnis zu verbannen.

Der Mann neben ihr erwachte langsam. Noch nie war Amelia mit einem Mann neben sich im Bett aufgewacht, und es war faszinierend zu sehen, wie er sich streckte, bevor er die Augen öffnete.

Er erstarrte, und seine Augen wurden groß, als er Amelia sah.

„Gut“, sagte er rau. „Sie sind noch am Leben.“

Amelia atmete verärgert ein. Sie wusste zwar nicht, was sich in einer Situation wie dieser gehörte, dennoch fand sie, er könnte sie auf eine etwas poetischere, tröstlichere Weise begrüßen.

Doch ohne weitere Worte schwang Edward die Beine aus dem Bett und stand auf, wobei er sich den Morgenmantel, in dem er geschlafen hatte, um den Körper schlang. Amelia erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf muskulöse Beine und kräftige Oberarme, und schon hatte er den Raum halb durchquert.

„Was ist gestern Nacht geschehen?“

Er drehte sich langsam zu ihr um.

„Ich erinnere mich, dass Sie mich im Salon gefunden haben, aber sehr viel mehr nicht.“

Seine Antwort war ein knappes Schulterzucken. „Ihnen war kalt. Ich habe Sie ins Bett gesteckt.“

Ein Mann weniger Worte, wie es schien. „Und wie sind Sie im selben Bett mit mir gelandet?“, fragte sie eisig. Sie konnte genauso unhöflich knapp antworten.

Edward besaß die Liebenswürdigkeit, leicht zu erröten, blieb aber ansonsten eher unbeeindruckt. „Sie zitterten trotz des Feuers und der Decken am ganzen Leib. Ich wollte nicht, dass Sie mir sterben, also habe ich Ihnen meine Körperwärme gegeben.“

Es klang so unbeteiligt, so gefühlskalt aus seinem Mund. Daraufhin ging er bis zur Tür und öffnete sie.

„Danke“, sagte Amelia leise.

Wieder wandte Edward sich um, nickte kurz und verließ das Zimmer. Amelia konnte ihm nur mit offenem Mund nachsehen. Trotz ihrer Vorliebe fürs Flirten, war sie in Wirklichkeit eine Unschuld, aber dennoch wusste sie, dass ein Gentleman nicht einfach so eine Frau stehen ließ, mit der er die Nacht im selben Bett verbracht hatte. Der Ärger darüber, so leicht abgetan zu werden, wuchs immer mehr in ihr – eine willkommene Abwechslung von den Schuldgefühlen und der Verzweiflung, denen sie in den vergangenen zwei Tagen ausgesetzt gewesen war.

Mit einem beleidigten Schnauben erhob sie sich, zog das viel zu weite Nachthemd um sich zusammen, und versank mit den Füßen im tiefen, weichen Teppich. Langsam machte sie sich daran, das Zimmer zu erkunden, fuhr mit den Fingerspitzen über die zwar meisterlich gefertigten, aber leicht abgenutzten Möbel und betrachtete die Gemälde an der Wand. Als sie den Schreibtisch an einem Ende des Zimmers erreichte, hielt sie inne, den Blick auf die vielen Papiere geheftet, die darauf verstreut waren. Es waren wundervolle Zeichnungen von Menschen, wie sie wirklich waren, und nicht gestelzt und künstlich wie bei so vielen professionellen Porträts heutzutage.

„Ich habe Ihnen etwas zum Anziehen gebracht“, erklang Edwards Stimme plötzlich von der Tür her. Für einen so hochgewachsenen, kraftvollen Mann bewegte er sich erstaunlich leise.

Amelia wich schuldbewusst vom Schreibtisch zurück. Sie hatte nichts Falsches getan, schließlich lagen die Zeichnungen offen da und waren nicht in einer Schublade verstaut, aber trotzdem spürte sie, dass sie einen Blick auf etwas sehr Privates, sehr Persönliches geworfen hatte.

„Danke.“ Sie ging auf Edward zu und nahm ihm die Sachen ab.

„Ich bin unten in der Küche. Sobald Sie sich angekleidet haben, gesellen Sie sich zu mir. Sie befindet sich im hinteren Teil des Hauses.“

„Es tut mir leid …“, begann Amelia, doch Edward war schon gegangen und schloss die Tür mit einem lauten Knall hinter sich.

Also legte Amelia die Sachen auf das Bett und stellte erstaunt fest, dass sie sogar modern waren und in gutem Zustand. Sie fragte sich, warum dieser seltsame, einsiedlerische Mann Frauenkleidung im Haus hatte. Irgendwie konnte sie sich ihn nicht mit einer Geliebten vorstellen. Aber vielleicht hatte er eine Frau – eine unauffällige, stille sehr wahrscheinlich –, die allerdings offensichtlich nicht mehr hier war.

Alles war Amelia mit ihrer zierlichen Figur zu groß, aber wenigstens waren die Sachen sauber und trocken, und vor allem nicht blutverschmiert. Wie sehr sehnte sie sich nach einem langen, warmen Bad, um sich allen Schmutz vom Leib zu waschen und ihre schmerzenden Muskeln zu entspannen. Leider ahnte sie, dass es ebenso wahrscheinlich war, diesen Wunsch erfüllt zu bekommen, wie die Vorstellung, der Mensch könnte je auf dem Mond spazieren gehen. Also musterte sie sich stattdessen in dem kleinen Spiegel, der an der Wand hing, und säuberte sich, so gut sie konnte.

Sie schnitt eine klägliche Grimasse, als sie die leichte Schwellung auf der einen Seite ihres Gesichts sah. Sanft berührte sie ihre Wange. Noch immer fühlte sie McNairs Faust, die mit Wucht auf ihre zarten Knochen hieb, und kniff heftig die Augen zusammen, um sich nicht daran erinnern zu müssen, was danach geschehen war.

Nur mühsam rang sie sich dazu durch, die Augen wieder zu öffnen, und versuchte, fröhlich zu lächeln. Irgendwie musste sie Edward davon überzeugen, dass sie in diesem halb zerfallenen Haus bleiben durfte, wenn auch nur für wenige Tage. McNairs Tod würde inzwischen entdeckt worden sein, und gewiss war man auf der Suche nach ihr. Obwohl Amelia wusste, dass sie ein fürchterliches Verbrechen begangen hatte, wollte sie nicht dafür hängen. Sie war voller Reue und Gewissensbisse, aber sie hatte sich wirklich nur verteidigen wollen. Allerdings war sie vom Tatort geflohen, und als junge Frau ohne Mann und mit einem Vater, der leider Tausende von Meilen entfernt in Indien lebte, wusste Amelia sehr gut, dass man sie nicht glimpflich davonkommen lassen würde. Nein, die beste Lösung war, sich eine Weile zu verstecken, bis sie sicher sein konnte, dass man sie nicht finden würde, und dann einen Weg zu suchen, Geldmittel für ihre Reise nach Indien aufzubringen. Ihr Vater würde zornig auf sie sein, aber er liebte sie und würde dafür sorgen, dass ihr nichts Böses geschah.

Niemand würde daran denken, sie in diesem Haus zu suchen, das nur von einem zurückgezogen lebenden Junggesellen bewohnt wurde. Sie brauchte also nur Edward dazu zu überreden, sie einige Tage hierbleiben zu lassen, vielleicht eine Woche. Sie wünschte nur, sie hätte etwas, das sie ihm anbieten könnte, irgendeine praktische Fertigkeit, durch die sie sich für ihn unentbehrlich machen könnte. Doch ihre Erziehung hatte nur darin bestanden, Aquarelle zu malen, das Pianoforte zu spielen und von einem aufregenderen Leben zu träumen.

Amelia straffte die Schultern, reckte entschlossen das Kinn und atmete tief durch. Immerhin war sie Amelia Eastway. Noch nie hatte sie Schwierigkeiten gehabt, einen Mann dazu zu bringen, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Nur hatte sie die leise Ahnung, dass sie noch nie einem Mann wie Edward begegnet war.

Edward machte unnötigen Lärm in der Küche. Seine Stimmung wurde immer düsterer mit jedem Moment der verging, ohne dass er das Brot finden konnte, das seine alte Haushälterin Mrs. Henshaw ihm gestern dagelassen hatte. Drei Jahre lang hatte er ungestört gelebt. Nur Mrs. Henshaw, die in einem kleinen Häuschen im Dorf wohnte, kam ihn noch besuchen, brachte ihm alle paar Tage frische Lebensmittel und sorgte dafür, dass das Haus nicht vollkommen verwahrloste.

Doch jetzt war diese geheimnisvolle, lebhafte junge Frau einfach in seine Zuflucht eingedrungen und bereits dazu übergegangen, seine persönlichsten Besitztümer zu durchforsten. Zugegeben, die Zeichnungen hatten offen auf seinem Schreibtisch gelegen, aber als er in der Nacht aufgestanden war, hatte er gewiss nicht damit gerechnet, den Morgen mit einer Fremden in seinem Schlafzimmer zu beginnen.

Sie muss gehen, beschloss Edward, als er endlich das Brot fand und zwei dicke Scheiben abschnitt. Seine Reaktion auf sie war ihm unbehaglich, und er wusste, dass nicht nur sein Wunsch nach Ungestörtheit diese Reaktion verursachte. Als er heute Morgen neben einem warmen, weichen Körper aufgewacht war, hatte sich zum ersten Mal wieder heftiges Verlangen in ihm geregt. Es war einfach absurd. Er war entschlossen, Amelias Abreise zu beschleunigen.

„Leben Sie vollkommen allein?“, fragte Amelia, als sie mit schwingenden Röcken die Küche betrat.

Für eine so zierliche, kleine Person gelang es ihr wirklich ausgezeichnet, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ein gezwungen fröhliches Lächeln auf den Lippen, wartete sie auf seine Antwort, und Edward fragte sich unwillkürlich, welchen Schmerz sie zu verbergen suchte.

„Vollkommen. Meine alte Haushälterin kommt ein-, zweimal in der Woche vorbei und bringt mir etwas zu essen und was sonst noch nötig ist.“

„Sie gehen niemals ins Dorf hinunter?“

Er schüttelte den Kopf und versuchte, ihre ungläubige Miene zu ignorieren. In den schmerzerfüllten Monaten nach dem Brand hatte er sich hinausgewagt, doch die mitleidigen, sorgenvollen Gesichter, denen er begegnet war, hatten seinen Besuchen im Dorf schon bald ein Ende bereitet.

„Ich habe alles, was ich brauche, hier“, sagte er schroff, damit sie ihm keine weiteren Fragen stellte.

Amelia rümpfte die Nase und sah sich um. „Fühlen Sie sich nicht einsam? Oder ist Ihnen niemals langweilig?“

„Nein. Nicht jedem gefällt es, ständiges Geplapper in den Ohren zu haben.“

Sie sah ihn an, als wartete sie darauf, dass er seine Worte erklärte.

Edward hatte seine Zeichnungen und seine Bücher und noch immer ein Auge auf die Führung des Guts, obwohl sein vertrauenswürdiger Verwalter sich um den größten Teil der Arbeit kümmerte. Was seine Einsamkeit anging, so war sie eine willkommene Buße für die Schuldgefühle, die ihn quälten, weil er das Feuer überlebt hatte.

„Vielleicht wäre Ihnen ein wenig Gesellschaft lieb?“, fragte Amelia zögernd.

Edwards erster Impuls war, Amelia am Arm zu packen und aus dem Haus zu werfen, doch dann hielt er inne. Sie hatte die Nacht überlebt und stand wieder auf eigenen Füßen. Nichts würde sie hindern, noch heute von hier zu verschwinden. Also konnte er es sich leisten, ein wenig höflicher zu sein.

„Ich könnte Ihnen Gesellschaft leisten“, fuhr sie fort.

Sie mochte sich ja für eine Frau von Welt halten, die kleine Hexe, aber Edward konnte gut sehen, dass sie in vielerlei Hinsicht noch eine Unschuld war. „Gesellschaft?“, fragte er und hob eine Augenbraue.

Sofort errötete sie heftig und sog scharf den Atem ein. „Womit ich nicht sagen will … ich meine …“

„Ich weiß, wir haben gestern im selben Bett geschlafen, aber ich gehöre nicht zu dieser Art Gentlemen“, sagte Edward spöttisch.

„Ich behaupte auch nicht …“

„Ich hänsle Sie doch nur“, unterbrach er sie, wenn er auch wusste, dass seine ernste Miene nicht ganz zu seinen Worten passte. Vielleicht sollte er lieber bei seiner etwas finsteren Haltung bleiben.

Autor

Laura Martin
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