Stets zu Diensten - auch bei Herzensangelegenheiten - 6-teilige Serie

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Die Agentur "Stets zu Diensten" kümmert sich um Herzensangelegenheiten aller Art. Doch dass es dabei auch manchmal ordentlich knistert, damit hätte niemand gerechnet …

SAG MIR DOCH: ICH LIEBE DICH
Beinahe hätte David Falcon den größten Fehler seines Lebens gemacht und die hübsche Valerie wieder nach Hause geschickt. Bei der Jobagentur hatte er ausdrücklich eine ältere Dame angefordert. Trotzdem gibt er der jungen Mutter eine Chance - und ist begeistert: Während Valerie für perfekte Ordnung in Büro und Haushalt sorgt, bringt ihre kleine Tochter Sonnenschein in das stressige Leben des Unternehmers. Fast eine Familienidylle, aber davor schreckt David zurück. Zu groß ist seine Angst, wieder enttäuscht zu werden. Nach einem romantischen Abend mit Valerie geht er auf Distanz …

NANNY GESUCHT, LIEBE GEFUNDEN
Alles versucht die hübsche Nanny Tricia, um ihren vier kleinen, viel zu vernünftigen Schützlingen wieder Spaß am Abenteuer Leben zu geben - und verliebt sich höchst unvernünftig in deren attraktiven Vater Noah. Denn noch hält der Millionär sein Herz verschlossen …

EIN VERWEGENES SPIEL IN WEIß
Ist das sein Ernst? Einen so verwegenen Kunden wie Gideon Falcon hatte Denise in ihrer Jobagentur noch nie. Der aufregend attraktive Manager will sie zu Weihnachten als Ehefrau buchen. Und zwar so lange, bis er den Vertrag für ein Berghotel in Nevada in der Tasche hat! Erst will Denise ablehnen. Nur weil der Auftrag unwiderstehlich lukrativ ist, sagt sie Ja - und geht das wohl größte Wagnis ihres Lebens ein. Denn sie ahnt nicht, dass sich das Hotel als kuschelig verschneites Idyll entpuppt, in dem sie mit Gideon das glückliche Paar mimen muss - zärtliche Küsse inklusive …

BLEIB DOCH FÜR IMMER!
Von starken Händen behütet sein, das wäre das Richtige für Becca. Das finden zumindest ihre großen Brüder und arrangieren - sehr zu ihrem Unmut! - pausenlos Dates mit Heiratskandidaten. Allmählich sieht die hübsche Geschäftsfrau nur noch eine kleine Lüge als Ausweg: Sie mietet sich einfach einen Ehemann. Eine super Idee - theoretisch. Sagenhaft attraktiv und charmant, passt Gavin Callahan perfekt in die Rolle des Ehemanns. Doch so perfekt, dass Becca bald den Tag fürchtet, an dem Gavin so plötzlich wieder aus ihrem Leben verschwindet, wie er darin aufgetaucht ist …

EINE SÜßE VERSUCHUNG FÜR MARCY
Ich soll auf ein komplett leeres Haus aufpassen? Einen solchen Auftrag hatte Marcy noch nie. Aber da es momentan ihr einziges Jobangebot ist, sagt sie zu. Selbst wenn ihr das Haus nicht ganz geheuer ist … Eric Sheridan, der Besitzer des Anwesens, soll ein knochentrockener Mathematikprofessor sein. Was kann hier also großartig passieren? Marcy wähnt sich in Sicherheit. Doch eines Nachts steht er plötzlich vor ihr - Eric Sheridan. So hatte sie ihn sich nicht vorgestellt: Stark und groß wie ein Footballspieler - und die Versuchung in Person …

EIN BOSS ZUM TRÄUMEN
Weihnachten steht vor der Tür, doch der alleinerziehenden Shana ist nicht nach Feiern zumute. Wie soll sie ihrem Kind mit ihren bescheidenen Mitteln bloß ein schönes Fest bereiten? Da erweist sich der attraktive Landon Kincaid als Retter. Dankbar nimmt Shana den Job als seine Haushälterin an. Doch sie wohnt noch nicht auf seinem Anwesen, da tauchen schon erste Gerüchte über ihre vermeintliche Affäre mit dem unwiderstehlichen Kincaid auf. Shana ist empört! Schlimmer als diese Lügen ist nur eins: das heimliche und völlig überwältigende Verlangen, das ihr neuer Boss in ihr weckt!


  • Erscheinungstag 30.03.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733776985
  • Seitenanzahl 864
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Susan Crosby

Stets zu Diensten - auch bei Herzensangelegenheiten - 6-teilige Serie

Susan Crosby

Sag mir doch: Ich liebe dich

IMPRESSUM

BIANCA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2008 by Susan Bova-Crosby
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1728 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Kerstin Kern

Fotos: gettyimages

Veröffentlicht im ePub Format im 02/2011 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86295-298-4

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

1. KAPITEL

David Falcon lehnte sich seufzend zurück, als eine Frau auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz nahm.

„Nun?“, fragte sie.

„Was soll ich dazu sagen? Gerade eben habe ich das zwölfte Vorstellungsgespräch innerhalb von zwei Tagen geführt. Ich habe gehofft, jemanden zu finden, der meinen Anforderungen entspricht, aber da habe ich mich wohl getäuscht.“ Stirnrunzelnd betrachtete er Denise Watson, die Leiterin von „At Your Service“, einer namhaften Agentur für Haushalts- und Bürokräfte, welche von vielen Kunden „unsere Hausfeen“ genannt wurden. Sie saßen im Konferenzzimmer.

„Worauf könnten Sie denn zur Not verzichten?“, fragte Denise.

In der letzten Zeit – genau genommen in den letzten drei Jahren – hatte er auf so manches verzichten müssen. Er hatte genug davon. „Sie haben doch weitere Bewerberinnen, oder?“, fragte er.

„Eine noch.“

„Das waren alle?“

„Alle aus meiner Kartei. Sie haben ja darauf hingewiesen, dass Sie ganz bestimmte Anforderungen stellen. Ich würde gern eine Anzeige für Sie schalten und eine Vorauswahl treffen.“

„Was halten Sie von der verbleibenden Bewerberin?“

Denise legte einen Ordner auf den Tisch hin und lächelte. „Ich habe gelernt, für Kunden keine Voraussagen zu treffen.“

David erwiderte ihr Lächeln. „Bitte schicken Sie sie herein.“ Er überflog den Lebenslauf der Bewerberin: Zehn Jahre Erfahrung als Hausangestellte und sieben im Bürobereich. Wie alt war sie wohl? Vielleicht zwischen Mitte dreißig bis vierzig? Ihm waren die Hände gebunden, da es zu viele Fragen gab, die er von Gesetzes wegen nicht stellen durfte, und so konnte er sich nur auf seine Intuition verlassen. Er selbst war neunundzwanzig. Sie musste älter sein, das war überaus wichtig.

„Valerie Sinclair, guten Tag.“ Er vernahm eine Stimme, leise und dennoch gelassen, und blickte auf. Entweder hatte sie sich über die Jahre erstaunlich gut gehalten, oder sie hatte ihre Berufserfahrung sehr großzügig bemessen, denn sie sah keinen Tag älter aus als fünfundzwanzig.

Sie trug ein Kleid und eine Kostümjacke, die für diesen Anlass viel zu formell und für einen heißen Augusttag in Sacramento unpassend waren, so als ob sie versuchte, älter auszusehen. Ihr Haar war von einem glänzenden, satten Kastanienbraun und zu einer Art Dutt hochgesteckt, wodurch sie aber ihr junges Alter nicht verbergen konnte. Ihr Blick aus haselnussbraunen Augen war offen und ehrlich. Sie trug keine Ringe an ihren schlanken Fingern. Ihre Fingernägel waren kurz, sauber und unlackiert.

„David Falcon. Nehmen Sie doch bitte Platz“, begrüßte er sie und überlegte, weshalb die Prüfung ihrer Angaben durch „At Your Service“ ohne Beanstandungen verlaufen war. Sie musste gelogen haben …

Zum Teufel mit dem Gesetz. Wenn sie mit Lügen über ihre Berufserfahrung durchgekommen war, dann konnte er auch die Fragen stellen, die er stellen wollte. „Wie alt sind Sie, Miss Sinclair?“

Sie erstarrte. „Sechsundzwanzig.“

„Wie kommt es, dass Sie über siebzehn Jahre Berufserfahrung verfügen? Haben Sie mit neun angefangen zu arbeiten?“

„Eigentlich mit acht. Natürlich war das nicht legal, aber meine Mutter arbeitete seit meinem fünften Lebensjahr als Haushälterin für eine Familie in Palm Springs. Mir wurden schon früh Arbeiten übertragen.“

„Zum Beispiel?“

„Anfangs Staub wischen und fegen. Neue Aufgaben kamen in dem Maße hinzu, wie ich sie bewältigen konnte.“

„Ihre Mutter hat zugelassen, dass Sie so ausgenutzt wurden?“

„Ausgenutzt?“ Valerie lächelte. „Hatten Sie denn als Kind keine Arbeiten zu erledigen? Wir wohnten auf dem Grundstück. Es war mein Zuhause.“

David wusste nicht, was er davon halten sollte. Einerseits war hier offenbar das Gesetz gegen Kinderarbeit missachtet worden. Andererseits konnte er ihren Standpunkt gut nachvollziehen – bis zu einem gewissen Punkt. „Wurden Sie bezahlt?“

„Meine Mutter hat mir ein Taschengeld gegeben. So wie ich verstanden habe, suchen Sie eine Assistentin, die auch Ihren Haushalt führt. Ich habe mich als Hausangestellte ausgegeben, damit Sie wissen, dass ich in diesem Bereich über Erfahrung verfüge.“

David beobachtete sie. Sie strahlte Ruhe aus. Anscheinend war sie nicht leicht aus der Fassung zu bringen.

„Darf ich fragen, was Sie geschäftlich machen?“, fragte sie.

„Meinem Bruder und mir gehört Falcon Motorcars.“

„Von der Firma habe ich noch nie gehört.“

„Wir stellen Sonderanfertigungen her. Weil die meisten Kunden aus Europa kommen, habe ich in den letzten Jahren mehr Zeit unterwegs als zu Hause verbracht. Deshalb suche ich jemanden, der hier meine häuslichen und beruflichen Angelegenheiten übernimmt.“

„Denise meinte, Sie wollen, dass man bei Ihnen wohnt.“

Was er wollte, war eine Partnerschaft für den häuslichen und beruflichen Alltag – und nicht mehr. Mit einer tüchtigen und erfahrenen Frau, die in einem gewissen Alter war. „Das ist eine der Voraussetzungen. Wäre das ein Problem für Sie?“

„Überhaupt nicht.“

„In Anbetracht des Zeitunterschieds zwischen Kalifornien und Europa könnten Sie mitten in der Nacht geweckt werden, um für mich geschäftliche Dinge zu erledigen. Oder Sie würden bis Mitternacht arbeiten oder um vier Uhr morgens aufstehen müssen.“

„Kein Problem.“

„Wie gut sind Ihre Computerkenntnisse?“

„Denise hat meine Kenntnisse über fünf verschiedene Programme getestet. Die Ergebnisse sind wohl im Ordner abgelegt.“

Um ihre Geduld auf die Probe zu stellen, ließ er sie warten, bis er die Auswertung gelesen hatte. Sie blieb ruhig. „Warum haben Sie Ihren letzten Job gekündigt?“

„Wegen sexueller Belästigung.“ Die Worte kamen Valerie so leicht über die Lippen, als ob sie über einen Einkauf im Laden an der Ecke sprechen würde.

„Haben Sie Anzeige erstattet?“

Wieder huschte ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht. „Ich wurde der sexuellen Belästigung beschuldigt.“

David musterte sie aufmerksam. Warum dieser hochgeschlossene Aufzug? Unter ihrer Kleidung konnte er eine schlanke, attraktive Figur erkennen. Und mit aufgelöstem Haar und etwas Make-up würde sie richtig sexy aussehen. Wollte sie diesen Eindruck vermeiden? „Wurden Sie zu Recht beschuldigt?“

„Ganz im Gegenteil.“

David ließ die Informationen auf sich wirken. „Er hat Sie belästigt?“

Sie nickte heftig. Es war das einzige Mal, dass sie sich anmerken ließ, wie sehr ihr die Angelegenheit zu schaffen machte.

„Warum haben Sie ihn nicht angezeigt?“

„Das habe ich ja getan, aber da drehte er den Spieß um. Hören Sie, das ist für mich längst vergessen.“

„Wirklich? Ich könnte mir vorstellen, dass es Sie begleitet und Ihnen die Jobsuche erschwert hat“, sagte David.

Sie lächelte gequält.

Er verstand sie nur allzu gut. „Ich erzähle Ihnen mal, was mir in letzter Zeit passiert ist“, begann er. „Meine letzte Haushälterin hat mich bestohlen. Meine letzten vier Assistentinnen haben wegen ihrer Schwangerschaft oder Problemen mit der Kinderbetreuung aufgehört, und zwar immer genau dann, wenn sie voll eingearbeitet waren. Daher steht mein Entschluss so gut wie fest, dass ich dieses Mal eine Frau einstelle, die nicht mehr im gebärfähigen Alter ist. Sie erfüllen diese Voraussetzung nicht.“

Sie wirkte sichtlich enttäuscht, aber David durfte sich davon bei seiner Entscheidung nicht beeinflussen lassen. „So gern ich Sie auch einstellen möchte …“

Sein Handy klingelte. Er hätte es klingeln lassen, wenn sein Bruder Noah nicht dran gewesen wäre – der Einzige, bei dem David das nicht tun konnte. „Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment“, sagte er und verließ den Raum.

Valerie wartete, bis die Tür hinter David Falcon zufiel, bevor sie die Augen schloss. So gern ich Sie auch einstellen möchte. Sein Entschluss stand offenbar fest. Ihre Hände zitterten, und ihr Mund wurde trocken. Sie war mit ihrem Latein am Ende. Wenn sie diesen Job nicht bekam, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Jeden Penny ihrer mageren Ersparnisse hatte sie verbraucht, und ihr Kreditkartenlimit war ausgereizt. Wie konnte sie ihn nur dazu bringen, sie einzustellen?

Sie stand kurz davor, ihr Dach über dem Kopf zu verlieren, obwohl ein Platz unter der Brücke besser als ihr bisheriges Zuhause wäre, eine Wohnanlage in einem Stadtteil, in dem Schüsse auf offener Straße keine Seltenheit waren. Durch diesen Job hätte sie ein geregeltes Einkommen und ein sicheres Heim. Für sich und …

„Entschuldigen Sie bitte“, sagte David, als er zurückkehrte. „Was ich sagen wollte: So gern ich Sie auch angesichts Ihrer Fähigkeiten einstellen möchte, es bleiben bei mir Zweifel. Sie müssen mir versichern, dass Sie nicht vorhaben, demnächst zu heiraten. Ich muss wissen, dass Sie nicht schwanger sind oder nicht vorhaben, es in naher Zukunft zu werden. Ich stelle Sie ein, damit Sie sich um mich kümmern, also um mein Haus und meine geschäftlichen Angelegenheiten.“

Valerie ballte die Fäuste. Noch war nicht alles verloren. Sag jetzt bloß nichts Falsches. Sag das Richtige. „Ich habe nicht einmal einen Freund. Heiraten ist für mich also kein Thema, und somit rechne ich auch nicht damit, schwanger zu werden. Aber ich habe eine Tochter. Sie heißt Hannah und ist acht Jahre alt.“ Valerie sah, wie Enttäuschung seinen Blick trübte. „Ich versichere Ihnen, dass sie ein ruhiges und braves Kind ist. Sie braucht nicht die Zuwendung, auf die ein Baby angewiesen ist. Sie werden ihre Anwesenheit nicht einmal bemerken.“

Valerie hatte ohnehin ihre eigenen Gründe, Hannah von ihm fernzuhalten. „Geben Sie mir doch die Chance, mich zu bewähren“, sagte sie und versuchte, nicht wie eine Bittstellerin zu wirken.

Er lehnte sich zurück, wobei er sie nie aus den Augen ließ.

Auch sie brach den Blickkontakt nicht ab. Bitte stellen Sie mich ein. Bitte.

„Versuchen wir’s für einen Monat“, sagte er schließlich.

Die Gefühle, die sie überschwemmten, waren unbeschreiblich. Es war wie ein Lichtstrahl, der ihr bisher tristes Leben erhellte. Sie brachte kein Wort heraus.

„Ich werde die Miete für Ihre derzeitige Wohnung zahlen, sodass Sie eine Bleibe haben, falls es mit uns nicht klappt.“

Keine zehn Pferde würden Valerie in diese Bruchbude zurückbringen. Sie kämpfte gegen ihre immer noch aufgewühlten Gefühle. „Das ist nicht nötig. Ich wollte mich ohnehin nach etwas Neuem umsehen.“

„Na gut. Sie werden im Cottage hinter dem Haupthaus wohnen. Es ist voll möbliert, auch die Küche ist komplett ausgestattet. Ich organisiere ein paar Umzugshelfer und Transportkisten für Ihre Sachen.“

Ein Haus für uns allein? „Meine Wohnung war beim Einzug möbliert. Ich habe nur sehr wenig zum Mitnehmen.“ Sie und Hannah waren schon so oft umgezogen, dass sie den Umzug spielend allein bewältigen würden.

„Sie machen es mir sehr leicht, Miss Sinclair.“

„Nennen Sie mich Valerie. Es ist mein Job, Ihnen das Leben zu erleichtern.“

„Wenn Sie das schaffen, dann vollbringen Sie wahre Wunder.“ Er stand zuerst auf. „Wie schnell könnten Sie anfangen?“

„Ich kann heute Abend dort sein. Wo befindet sich Ihr Haus?“

„In Chance City nahe Grass Valley. Kennen Sie die Gegend?“

„Nicht gut. Mir ist bekannt, dass sie in der Nähe der Hauptader aus der Zeit des Goldrauschs liegt.“

„Genau. Eine schöne Gegend, aber das Haus selbst ist etwas abgelegen.“

„Es macht mir nichts aus, in der Abgeschiedenheit zu leben.“ Sie würden etwa eine Stunde nördlich von Sacramento entfernt wohnen. Klare Luft, Bäume und nachts ein Sternenhimmel. Unser eigenes Heim.

„Ich schicke jemanden, der Ihnen beim Umzug hilft.“

„Ich komme zurecht, danke.“ Valerie lächelte und hoffte, dass er mit seinen Hilfsangeboten aufhörte. Sie wollte wirklich nicht, dass jemand aus seinem Umfeld sah, wo sie wohnte.

Der müde Ausdruck verschwand aus seinem ausgesprochen attraktiven Gesicht. Fasziniert betrachtete sie seinen hochgewachsenen, durchtrainierten Körper.

„Was auch immer der Umzug kostet, ich bezahle. Teilen Sie mir nur die Kosten mit.“

„Danke.“

„Und falls es mit uns klappt, zahle ich die Übernahmekosten an ‚At Your Service‘. Falcon Motorcars wäre dann Ihr Arbeitgeber. Auf diese Weise würden Sie Zusatzleistungen erhalten.“

Zusatzleistungen. Valerie wünschte, er würde den Raum verlassen, damit sie sich hinsetzen konnte. Ein wie von Erdbebenwellen ausgelöstes Zittern erfasste sie. Komisch, dass er nichts davon merkte.

Seit sie ohne feste Arbeit war, war sie nicht krankenversichert. „Setzen Sie den Vertrag für den neuen Job ruhig schon auf“, sagte sie.

„Sie sind sich wohl sehr sicher, dass es klappen wird.“

„Mr. Falcon, Sie werden meine Kompetenz, Zuverlässigkeit und Loyalität kennenlernen. Mir ist auch bewusst, dass ich vor einer Bewährungsprobe stehe.“

„Nennen Sie mich David.“ Er holte einen großen Umschlag aus seinem Aktenkoffer und reichte ihn ihr. „Darin befinden sich eine Anfahrtsskizze zum Haus, einige allgemeine Anweisungen, ein paar Vordrucke, die Sie ausfüllen müssen, und der Schlüssel zum Cottage, falls ich bei Ihrer Ankunft nicht da sein sollte.“ Er deutete auf die Tür. „Ich bringe Sie hinaus.“

„Ich glaube, wir müssen beide wohl mit Denise sprechen.“

„Stimmt. Ich gehe zuerst.“ Er gab ihr die Hand. „Bis später.“

„Ich danke Ihnen für die Chance“, sagte sie. Gehen Sie jetzt.

David verließ den Raum.

Valeries Knie gaben nach, und sie sank auf den Stuhl zurück.

Er steckte den Kopf zur Tür herein. „Mögen Sie Hunde?“

Sie versuchte aufzustehen. „Ja.“

„Bleiben Sie sitzen“, sagte er. Er sah sie aufmerksam an. „Geht’s Ihnen gut?“

„Ja, bestens. Mein Fuß ist an einem Stuhlbein hängen geblieben.“

„Kommt Ihre Tochter mit Hunden zurecht?“

„Sie vergöttert sie, aber einen eigenen Hund hatte sie noch nie.“

„Ich habe eine ganz liebe, betagte Hundedame, um die ich mich zusammen mit meinem Bruder und seinen vier Kindern kümmere, da ich oft nicht da bin. Jedes Mal, wenn ich ohne sie weggehe, straft sie mich mit einem vorwurfsvollen Blick. Wäre es möglich, sie bei mir wohnen zu lassen?“

„Selbstverständlich.“

„Danke.“

„Keine Ursache.“

Er ging, aber sie bewahrte Haltung, falls er noch mal wiederkam.

„Noch etwas“, sagte er. „Kann Ihre Tochter schwimmen?“

„Ja.“

„Gut. Ich habe einen Pool und wollte mir deswegen keine Sorgen um Ihre Tochter machen.“

„Sie wird sich an die Regeln halten.“

„In Ordnung.“ Dann war er wieder weg.

Valerie starrte ins Leere. Er hatte keine Ahnung, was es für sie bedeutete, diesen Job bekommen zu haben. Ihr war es egal, ob sie sieben Tage die Woche rund um die Uhr arbeiten musste, nicht genügend Schlaf bekam, einige Kilos oder ihren Verstand verlor. Na ja, ihr Verstand war ihr dann doch nicht völlig egal.

Es war ein guter Job außerhalb der Stadt. Sie würde für einen – so versicherte ihr Denise – erfolgreichen und in jeder Hinsicht korrekten Mann arbeiten. Er und Valerie müssten einen Vertrag unterzeichnen, in dem ihre Stellenbeschreibung genau dargelegt wurde. Darin stand auch, dass es zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer keine Intimitäten geben durfte. Damit konnte sie leben.

Sie wollte lediglich für ihre Tochter sorgen.

Endlich konnte sie das tun.

2. KAPITEL

„Da drüben, Mom. Siehst du den Briefkasten? Die Adresse stimmt, aber wo ist denn das Haus?“

Valerie hielt neben dem Briefkasten an. In dem Dickicht aus Ästen und Sträuchern machte sie eine Lücke aus – vermutlich war hier die Zufahrt zum Haus. Sie fuhr den Schotterweg hinauf, vorbei an wilden Eichen, duftenden Pinien und stattlichen Zedern, bis sie auf einer Lichtung ein Haus aus Glas, Holz und Stein entdeckte, das in den Himmel aufragte und in dessen Fenstern sich die Baumwipfel spiegelten.

„Toll“, bemerkte Hannah anerkennend. „Und hier wohnen wir dann?“

Valerie war nicht weniger beeindruckt. Sie hatte sich auf einiges eingestellt, aber nicht auf ein Musterhaus für die Zeitschrift „Schöner Wohnen“. „Denk dran, wir wohnen in einem Cottage auf dem Grundstück, nicht im Haupthaus.“

Da niemand aus dem Haus kam, um sie zu begrüßen, fuhr Valerie weiter und entdeckte eine Garage für vier Fahrzeuge, ein Gebäude, das wie ein Stall aussah, und das Cottage.

Das Cottage war eine kleinere Version des Haupthauses mit den gleichen großen Fenstern, aber mit Zedernholzverkleidung an den Seiten. Es verfügte über mehr Platz, als sie und Hannah jemals zuvor zur Verfügung hatten.

„Da, der Pool!“, rief Hannah. „Mom, und ein Whirlpool. Den dürfen wir auch bald benutzen, oder?“

Hannah stieg aus dem Wagen und rannte auf ein Becken zu, das sich scheinbar nahtlos in die Landschaft einfügte. Wasser sprudelte aus einem Wasserfall sowohl in das Becken als auch in den Whirlpool.

Valerie stellte ihren Wagen ab und folgte Hannah zum Pool durch einen Garten, der mangels Pflege offensichtlich verwildert war. War das Absicht, oder hatte David nur wenig Sinn für Gartenarbeit? Er konnte doch bestimmt einen Gärtner bezahlen.

Hannah kniete sich am Beckenrand hin und bespritzte Valerie mit ein paar kühlen Wassertropfen. „Gehen wir schwimmen? Mir ist sooo heiß.“

Sie hatten den Nachmittag damit verbracht, bei gefühlten fünfzig Grad im Schatten ihre Sachen zu packen, sie in ihr kleines Auto zu quetschen und die Wohnung zu reinigen. Sie brauchten ein Bad im kühlen Nass, bevor sie sich ans Auspacken machten. Außerdem schien der Herr des Hauses nicht anwesend zu sein.

„Bitte“, flehte Hannah und zog Valerie an der Hand.

„Brauchst du lange, um deinen Badeanzug rauszusuchen?“

„Ich habe ihn in die Tasche getan, die als Letztes ins Auto kam. Deinen auch, gleich als du gesagt hast, dass es einen Pool gibt.“

„Weißt du, dass du ziemlich clever bist?“ Valerie legte einen Arm um ihre Tochter, als sie zum Auto zurückkehrten.

„Klar weiß ich das.“

Sie holten die Tasche aus dem Auto und gingen dann zum Haus, um sich umzuziehen. An der Haustür klebte eine Notiz: „Willkommen. Um halb acht werde ich zu Hause sein. Das Abendessen bringe ich mit. Danach gehen wir Ihre Aufgaben im Einzelnen durch. D. F.“

Da es erst sechs Uhr war, hatten sie noch jede Menge Zeit, vorausgesetzt, sie konnte Hannah später vom Pool loseisen.

„Voll cool!“, rief Hannah, als sie das Cottage betraten.

Valerie hatte noch nie in einem solchen Haus gewohnt: Es gab einen steinernen Kamin und im hinteren Teil zwei durch ein Bad verbundene Schlafzimmer. Die modernen Möbel sahen ladenneu aus.

„Welches Schlafzimmer willst du haben?“, fragte sie ihre Tochter, aber Hannah rannte schon in eines der beiden Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

„Beeil dich, Mom!“, rief sie durch die Tür.

Valerie nahm sich kurz Zeit, um ihr neues Schlafzimmer auf sich wirken zu lassen. Insgesamt war es von einem schlichten, maskulinen Stil geprägt, was Valerie nicht sonderlich überraschte, denn David Falcon war sehr männlich.

„Fertig!“

„Fast fertig!“, rief Valerie, als sie sich ihren schwarzen, einteiligen Badeanzug, der so alt wie Hannah war, überstreifte. Der Badeanzug saß etwas locker, weil sie im letzten Jahr an Gewicht verloren hatte und ihrer Mutter zufolge nur noch aus Haut und Knochen bestand. Valerie war da anderer Meinung, hoffte aber, dass sie ihre weiblichen Rundungen zurückgewann, wenn sie sich jetzt keine Sorgen um ihre Lebenssituation mehr machen musste.

Sie spürte, dass sie hier glücklich werden und diesen Ort ihr Zuhause nennen konnten. Sie würden ihre Haustür nicht dreifach verriegeln müssen und nachts bei offenem Fenster schlafen können.

„Mo-ooom!“

Valerie rannte aus dem Bad, griff nach Hannahs Hand und sprang, ohne zu zögern, in den Pool. Als sie auftauchten, hielten sie sich immer noch an den Händen und lachten.

Heiße Tränen stiegen Valerie unbemerkt in die Augen. Nichts, aber auch gar nichts sollte diesen wunderbaren Zustand zerstören. Sie würde ihrer Tochter ihre Grenzen aufzeigen und sich bei David Falcon unentbehrlich machen. Weder in ihrer Arbeit noch in ihrem Verhalten sollte er einen Makel feststellen. Sie würde sich professionell verhalten und sich rein gar nichts zuschulden kommen lassen …

Eine halbe Stunde lang spielte und tobte Valerie mit Hannah im Wasser. Dann wollte sie aus dem Pool steigen und stützte sich mit ihren Handflächen am Beckenrand ab, doch Hannah griff nach ihren Knöcheln, um sie in den Pool zurückzuziehen. Sie lachten und scherzten miteinander.

Die lockeren Träger von Valeries Badeanzug verrutschten ein wenig. Sie entzog sich Hannahs Griff, stemmte sich keuchend am Beckenrand hoch – und blickte in die Augen eines Golden Retrievers. Und direkt hinter dem Hund stand ihr neuer Chef.

Die zugeknöpfte Valerie Sinclair hat also doch eine – sehr gute – Figur unter all der Kleidung zu bieten, dachte David und vermied den direkten Blickkontakt, als sie die Träger ihres Badeanzugs zurechtrückte, sich mit einem Handtuch bedeckte und sich ununterbrochen entschuldigte.

„Hallo, ich heiße David Falcon“, sagte er zu Hannah, die besorgt aussah.

„Ich bin Hannah. Wie heißt Ihr Hund?“

„Belle. Sie kann übrigens schwimmen.“

„Echt?“

„Von allein geht sie nicht ins Wasser, nur wenn du sie rufst und deine Hand im Wasser hin und her bewegst. Lass sie aber nicht zu dicht an dich herankommen, weil sie groß und stark ist und ziemlich scharfe Krallen hat. Wenn sie genug hat, wird sie wieder bei den Treppen aussteigen.“

„Cool!“ Hannah tauchte mit der Hand ins Wasser. „Komm her, Belle. Komm!“ Belle sah David voller Freude an und sprang ins Wasser.

Valerie stellte sich neben David und beobachtete Hannah und Belle, die im Pool im Kreis schwammen. „Es tut mir leid“, sagte sie schon wieder.

„Was tut Ihnen leid?“

„Dass ich für die Arbeit noch nicht fertig war, als Sie gekommen sind. Ich dachte, wir hätten mehr Zeit.“

„Das habe ich heute Abend auch gar nicht von Ihnen erwartet.“ Endlich sah David sie direkt an. Ein Handtuch, haselnussbraun wie ihre Augenfarbe, war um ihren Körper geschlungen, und das nasse Haar klebte an ihrem Rücken. Er hatte recht behalten: Mit offenem Haar sah Valerie tatsächlich jünger aus. „Ihre Tochter ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.“

„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh sie ist, hier zu sein. Das Haus ist wunderschön.“

„Sind Sie denn schon eingezogen?“

„Wir haben unsere Sachen noch nicht einmal aus dem Wagen geholt.“

Er dachte daran, selbst eine Runde zu schwimmen, wollte aber bis später warten. Valerie würde sicherlich dafür sorgen, dass ihre Tochter ihm nicht die Quere kam, damit Berufliches und Privates strikt getrennt blieben.

Das war David recht. Er hatte nichts gegen Kinder, aber er wusste nicht genau, wie er mit ihnen umgehen sollte, selbst mit seinen Nichten und Neffen nicht.

Da er insbesondere keinen Umgang mit dem Kind einer Angestellten wollte, musste Valerie ihre Tochter aus beruflichen Angelegenheiten so weit wie möglich heraushalten.

„Ich habe eine Pizza geholt. Kommen Sie doch einfach zu meinem Haus hoch, wenn Sie fertig sind, und wir wärmen sie auf. Über die Arbeit sprechen wir danach.“

„Wir sollen beide hochkommen?“

„Ihre Tochter muss doch auch etwas essen, oder?“

„Ich kann einen Teller für sie mitnehmen.“

„Heute machen wir mal eine Ausnahme.“

Valerie nickte. Als er sich entfernte, merkte er, wie die Anspannung von ihr abfiel.

Aufgrund des erfundenen Vorwurfs der sexuellen Belästigung war sie vorsichtiger und achtete viel mehr auf ein korrektes Verhalten als die meisten anderen Menschen.

David hatte dafür Verständnis und wünschte sich ein Arbeitsverhältnis, das von Dauer war. Er würde genauso vorsichtig sein wie sie. Als er die Hälfte des Weges gegangen war, kam Belle angelaufen und schüttelte direkt neben ihm ihr nasses Fell aus.

Hannah kreischte vor Lachen, hielt sich aber dann eine Hand vor den Mund. Valerie stand wie versteinert da und wartete Davids Reaktion ab.

Er beugte sich zu Belle hinunter und umarmte sie, ohne Rücksicht auf ihr nasses Fell zu nehmen. Offensichtlich war er froh, seine Hündin zu Hause zu haben.

So viel zum Thema angemessenes Verhalten, dachte Valerie seufzend, als sie zum Haus zurückkehrten. Er hatte sie im Badeanzug erwischt, als sie kindisch herumblödelte – wie peinlich. Der Beginn ihrer beruflichen Beziehung war alles andere als vielversprechend.

„Belle ist ein toller Hund“, sagte Hannah. „Ich wusste gar nicht, dass Hunde gern schwimmen.“

„Freunde dich lieber nicht zu sehr mit ihr an. Sie gehört dir nicht.“

„Aber du hast gesagt, dass er oft nicht da ist. Belle wird bei uns wohnen, oder? Sie kann doch nicht allein in dem großen alten Haus bleiben. Dann wäre sie doch einsam.“

Valerie musste sich bei Hannahs flehendem Blick beherrschen, um nicht zu lachen.

Die beiden holten ihre Sachen aus dem Wagen, duschten und zogen sich für das erste Abendessen mit dem neuen Chef um. Sie gingen die Treppen zum Hintereingang des Hauses hoch. Durch ein Fenster konnte Valerie in die Küche sehen und freute sich, einen Arbeitsplatz mit einer so eindrucksvollen Aussicht sowohl auf den Pool als auch auf die dicht bewaldeten Hügel zu haben. Als niemand auf ihr mehrmaliges Klopfen öffnete, drehte sie schließlich den Türknauf herum und steckte den Kopf zur Tür herein. „Hallo?“

„Bin gleich da. Fühlen Sie sich wie zu Hause!“, rief David.

„Toll! Unsere alte Wohnung würde hier reinpassen“, sagte Hannah.

Die Edelstahlgeräte verliehen der Küche ein modernes Aussehen. Durch die Schränke aus Kiefernholz wirkte sie gleichzeitig rustikal. Es gab hier nichts, was das schmucklose Aussehen der Küche wohnlicher gestaltet hätte – wie Vorhänge oder Pflanzen. Hier wohnte niemand so richtig, sondern schaute nur ab und zu vorbei.

David eilte ins Zimmer, barfuß und mit Belle im Schlepptau. Er hatte Anzug und Krawatte gegen Jeans und T-Shirt getauscht. Wie alt war er wohl? Dreißig?

„Und, alles verstaut?“

„Fast. Die Sachen sind im Haus, aber noch nicht alle an ihrem Platz“, erwiderte Valerie.

„Der Herd ist vorgeheizt. Es wird also nicht allzu lange dauern. Ich hoffe, Sie mögen Peperoni.“ David schob eine große Pizza in den Ofen. „Was halten Sie vor dem Essen von einem Rundgang durchs Haus?“

„Das wäre prima.“

Das Haus war von einem maskulinen und gleichzeitig eleganten Stil geprägt.

Zweifellos war der Besitzer jemand mit einem Faible für Kunst und Farben.

Im Erdgeschoss befanden sich ein Wohnzimmer mit Kamin, ein großes Esszimmer mit einem Tisch, an dem zwölf Gäste Platz hatten, sowie ein Büro und ein Badezimmer. Im ersten Stock gab es vier Schlafzimmer, zwei Badezimmer und ein größeres Zimmer mit einem riesigen Bett und einer eindrucksvollen Aussicht. Schwere grüne Vorhänge waren an den Seiten der Fenster angebracht. Valerie fragte sich, wie oft er die Vorhänge wohl zuzog.

Wie häufig mochte er hier Frauenbesuch empfangen? Schließlich war er ein attraktiver und erfolgreicher Mann. Ob er eine feste Freundin hatte? „Ein wunderbares Zuhause. Sie haben recht viel Platz für sich“, sagte Valerie.

„Ich verbringe viel Zeit in Flugzeugen und Hotels und muss mich auch mal ausbreiten können.“

„Wie lange wohnen Sie schon in dem Haus?“

„Ich habe es vor fünf Jahren gebaut.“

„Und wie lange sind Sie immer so auf Reisen?“

„Mindestens den halben Monat. Mein älterer Bruder Noah und ich sind seit elf Jahren Eigentümer der Firma. Früher haben wir uns die Aufgaben für die Überseegebiete geteilt, aber Noahs Frau starb vor drei Jahren. Er muss sich jetzt um seine vier Kinder kümmern.“

Sie waren am Fuße der Treppe angekommen. Dort deutete David auf eines der Fotos an der Wand, auf dem ein Paar mit vier Kindern zu sehen war. „Ich kann verstehen, dass er für seine Kinder da sein muss, aber ich hoffe, dass wir uns die Arbeit eines Tages wieder teilen können. Ich suche auch nach einem Weg, um häufiger in den Staaten zu arbeiten.“

In seiner Stimme schwang Frustration – oder vielleicht Müdigkeit? – mit.

„Wie alt sind die Kinder?“, fragte Valerie.

„Er und seine Frau haben zweimal Zwillinge bekommen. Ashley und Zoe sind zwölf, Adam und Zachary neun Jahre alt. Es sind … brave Kinder.“

Valerie wunderte sich, dass er das erwähnte. Als ob es etwas Schlechtes wäre.

„Sie sagten, Noah sei Ihr ältester Bruder. Haben Sie denn weitere Brüder?“

„Einen noch, Gideon. Er ist der mittlere von uns. Wir haben verschiedene Mütter. Das da ist meine Mutter.“ Nach der Frisur der jungen Frau zu urteilen, war das Foto vermutlich vor zwanzig Jahren aufgenommen worden.

„Ihre Eltern mögen wohl Namen aus der Bibel“, sagte Valerie lächelnd.

„Mein Vater mochte sie.“

Der Mann auf dem Foto, auf das er zeigte, sah Noah am ähnlichsten, glich aber auch David ein wenig.

David wechselte das Thema: „Möchten Sie in der Küche oder auf der Terrasse essen?“

„Auf der Terrasse“, sagte Hannah schnell. „Bitte“, fügte sie hinzu, als sie Valeries durchdringenden Blick bemerkte.

„Alles klar, dann schneide ich die Pizza in Stücke. Im Kühlschrank steht ein Salat. Papierteller und Servietten befinden sich in der Schublade neben der Spüle.“

Sie setzten sich an einen Tisch auf der Terrasse mit Blick auf den gesamten Garten hinter dem Haus.

Valerie sprach David auf den Stall an und erfuhr, dass er nicht die Absicht hatte, sich demnächst ein Pferd anzuschaffen. Wegen seiner häufigen Abwesenheit würde das wohl eher ein unerfüllter Traum von ihm bleiben.

So langsam begann sie ihn zu verstehen. Er brauchte Freiraum, fühlte sich aber durch seine Arbeit eingeengt, ja, fast eingesperrt.

Als sich David nach Hannahs Schule erkundigte, fragte Valerie sich, wie wohl seine Kindheit verlaufen war und ob er mit seinen Brüdern aufgewachsen war. Als Einzelkind hatte sie sich immer Geschwister gewünscht, doch ihr Vater ließ sich von ihrer Mutter scheiden, als sie noch klein war. Seitdem hatte sie kaum Kontakt zu ihm. Soweit sie wusste, hatte sie keine Halbgeschwister.

Nach dem Essen räumte Valerie die Teller zusammen.

„Ich kümmere mich später darum“, sagte David. Er deutete auf Hannah, die unter dem Tisch an Belle gelehnt schlief. „Wir könnten noch Ihre Aufgaben durchgehen. Ich habe sie aufgeschrieben, bin gleich zurück.“

„Du bist ein guter Hund“, sagte Valerie und streichelte Belle.

David kam zurück, setzte sich neben Valerie und legte ein Blatt Papier so auf den Tisch, dass sie es beide lesen konnten. Ihre Arme berührten sich fast. Zu keiner Zeit hatte er irgendwelche Annäherungsversuche unternommen. Hatte er kein Interesse an ihr? Sie wusste, dass es so besser war, aber trotzdem spürte sie eine unerklärliche Faszination, die sie mit Gewalt unterdrückte.

Er ging die einzelnen Punkte in seiner Liste durch und erklärte ihr jede ihrer Aufgaben: Er würde sein Frühstück selbst zubereiten, aber das Abendessen sollte sie kochen. Mittags sei er selten zu Hause, und wenn er dort blieb, müssten sie sich von Fall zu Fall absprechen. Valerie und Hannah könnten den Pool und die Terrasse jederzeit nutzen, außer wenn er Gäste hatte. Dann wollte er ungestört sein, es sei denn, er hatte einen besonderen Wunsch.

Damit er und seine Frauenbesuche ungestört sein können?, fragte sich Valerie. Laut sagte sie: „Mit Haushaltsführung kenne ich mich aus. Und Hannah weiß, dass sie im Cottage bleiben muss.“

„Sie soll auf keinen Fall mitarbeiten“, sagte David bestimmt. „Auch wenn Ihre Mutter bei Ihnen anderer Meinung war – ich finde, man sollte seine Kindheit genießen. Hannah und ihre Freunde können gern den Pool benutzen, solange sie die ganze Zeit beaufsichtigt werden.“

Valerie blieb die Luft weg. „Das ist sehr großzügig von Ihnen.“

„In meiner Kindheit habe ich schwierige Zeiten durchgemacht. Das wünsche ich keinem Kind.“ Er sah sie fragend an. „Was ist mit Hannahs Vater?“

„Er gehört nicht mehr zu unserer Familie.“

Es folgte eine lange Pause. David wartete wohl darauf, dass Valerie ihm mehr erzählte, aber das hatte sie auf keinen Fall vor. Dann sagte er: „Okay, da ich noch nie mit einer Angestellten unter einem Dach gewohnt habe, müssen wir uns allmählich an die neue Situation herantasten. Geben Sie mir bitte Bescheid, wenn in Ihren Augen etwas anders laufen sollte.“

„Das werde ich tun. Sie doch auch, oder?“

„Selbstverständlich. Sicher werden wir viel persönlich und am Telefon besprechen. Es gibt keinen Grund, ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Wir wollen ehrlich und offen zueinander sein.“

„Wie in einer Ehe“, bemerkte Valerie. Wie in einer Ehe ohne jeglichen körperlichen Kontakt, ohne Anspielungen und Witze.

„Ich nehme Sie da beim Wort“, antwortete David und lächelte kurz. „Wie in einer guten Ehe vielleicht. Aber da ich noch nie verheiratet war, habe ich auf diesem Gebiet keine Erfahrungen gesammelt.“

„Ich auch nicht.“ Valerie ließ diese Information im Raum stehen.

Er blickte auf Hannah und Belle. „Da ich ja nicht mit einem Kind gerechnet habe, müssen wir auch dafür eine Lösung finden, mit der wir alle zufrieden sind.“

„Ihre Bedürfnisse und Wünsche kommen an erster Stelle. Teilen Sie mir mit, wenn Hannah Sie stört.“

Er nickte. „Wir sprechen morgen früh weiter. Bitte kommen Sie zum Frühstück rüber; Sie hatten ja noch keine Zeit einzukaufen. Ich werde dann auf dem Weg ins Büro sein.“

„Wann möchten Sie frühstücken?“

„Um acht.“

„Gut.“ Valerie sah nach draußen. Im Garten erhellte die Beleuchtung den Pool und die Wege. „Bin ich für den Garten zuständig?“

„Ich beschäftige einen Gärtner, der sich darum kümmert.“

„Ach, tatsächlich?“ Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. Es war ihr peinlich, dass sie das laut ausgesprochen hatte.

David grinste.

„Sie mögen wahrscheinlich verwilderte Gärten“, sagte Valerie verlegen.

„Ich habe ihm ziemlich freie Hand gelassen. Wahrscheinlich könnte der Garten viel mehr hermachen.“

„Er könnte zu einer Augenweide werden, wenn das Ihr Wunsch ist. Wäre es in Ordnung, wenn ich mit Ihrem Gärtner an einer Neugestaltung arbeite?“

„Ja, warum nicht? Ich rufe ihn an und sage ihm, dass Sie jetzt dafür zuständig sind.“

„Das wäre wundervoll, vielen Dank.“ Valerie hatte noch nie andere Menschen angeleitet. Sie weckte Hannah auf. „Zeit zum Schlafengehen, Schatz. Sag Gute Nacht zu Mr. Falcon.“

„Nacht“, murmelte Hannah müde.

„Danke für alles“, fügte Valerie hinzu, die ihr Glück immer noch nicht fassen konnte.

„Es ist erst mal nur für einen Monat, Valerie“, bemerkte er.

Sie war sich bereits so sicher, ihn zufriedenstellen zu können, dass sie die Probezeit schon vergessen hatte.

Sie nickte. „Gute Nacht.“

„Schlafen Sie beide gut. Belle, bleib hier.“

Valerie wusste, dass David sie beobachtete, als sie vorsichtig die Treppen hinuntergingen und durch den Garten zum Haus gelangten. Sie drehte sich erst am Cottage um und konnte nur seine Silhouette ausmachen. Er hatte sich nicht bewegt.

Ihr Herz begann angesichts seines fürsorglichen Verhaltens zu klopfen. Sie war es gewohnt, auf sich selbst und Hannah achtzugeben, ohne Hilfe in Anspruch zu nehmen. Obwohl David ihr Vorgesetzter war, hatte sie das Gefühl, dass er auch auf sie beide aufpasste.

Ein äußerst angenehmes Gefühl.

3. KAPITEL

Hannah schlief noch, als Valerie zum Haupthaus gehen wollte, um für David das Frühstück zuzubereiten.

Sie betrat das Zimmer ihrer Tochter und setzte sich auf ihr Bett. „Guten Morgen“, sagte sie zärtlich und strich ihrer Tochter das lange Haar aus dem Gesicht.

„Hmm.“

„Bist du wach? Ich muss dir etwas sagen.“

Hannah drehte sich auf den Rücken und linste unter halb geschlossenen Lidern hervor. „Bin wach.“

„Ich gehe nach oben, um Mr. Falcons Frühstück zu machen. Sobald er weg ist, essen wir. Bis dahin kannst du fernsehen.“

Hannah schlug die Augen nun ganz auf. „Das darf ich morgens doch nie.“

„Ab jetzt wird hier einiges anders für uns laufen. Es gibt eine Gegensprechanlage an der Haustür. Wenn du mich brauchst, drückst du die Sprechtaste und sprichst rein, ja?“ Jedenfalls nahm sie an, dass die Anlage so funktionierte.

Sie gab ihrer Tochter einen Kuss, und nachdem Hannah es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht hatte, öffnete Valerie die Haustür. Dort wurde sie von Belle freudig begrüßt. „Guten Morgen, Belle. Du suchst wohl Hannah?“

Hannah hüpfte vom Sofa herunter und umarmte Belle. „Mom, sie ist meinetwegen gekommen. Darf sie hierbleiben?“

„Bis ich im Haupthaus herausgefunden habe, ob sie das darf, bleibt sie erst mal hier. Lass sie aber nicht zu dir aufs Sofa.“

„Okay. Komm, Belle.“ Die beiden setzten sich auf den Fußboden vor das Sofa.

Valerie verließ das Cottage und ging den Weg zum Haupthaus hinauf. Die Küchentür war unverschlossen. David musste schon wach sein, da er ja Belle nach draußen gelassen hatte. Als sie gestern Abend den Salat aus dem Kühlschrank geholt hatte, war ihr aufgefallen, dass dort außer Würzmitteln und Eiern kaum etwas vorrätig war.

David kam in die Küche. „Guten Morgen. Wie haben Sie geschlafen?“, fragte er. In der Kakihose und dem grünen Polohemd sah er umwerfend aus. Der Grünton des Hemdes war eine Nuance heller als seine Augenfarbe. Er kam frisch aus der Dusche, und sein dunkles Haar war noch feucht. Ein leichter Duft von Aftershave umgab ihn.

„Ich habe hervorragend geschlafen. Soll ich Ihnen ein Omelett machen?“, fragte Valerie.

„Danke, ich esse nur ein paar Frühstücksflocken.“

„Ist das Ihr letztes Wort? Es sind ja Eier und Käse und …“

„Na schön, Sie haben mich überredet.“ Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. „Wenn Sie auch eine Tasse möchten, ich habe gerade eine Kanne gekocht. Ich wusste nicht, ob Sie Kaffee trinken.“

Valerie trank keinen Kaffee mehr, weil sie ihn sich nicht leisten konnte. „Ja, danke. Was essen Sie denn gern?“

„Ich mag Fleisch, Kartoffeln und die meisten Gemüsesorten. Ich bin kein großer Dessertliebhaber. Apfelkuchen und Schokokekse gehören zu den Ausnahmen. Und Eis.“ David lehnte sich gegen die Theke, trank einen Schluck Kaffee, während er ihr beim Zubereiten des Omeletts zusah. „Wenn Sie heute Zeit haben, dann würde ich Sie bitten, sich die Akten auf meinem Schreibtisch durchzulesen. Wir besprechen sie heute Abend. Morgen früh bin ich länger im Haus und zeige Ihnen, wo die Dateien in meinem Computer abgelegt sind.“

„Wann werden Sie wieder abreisen?“

„Am Sonntag.“

Heute war Mittwoch. David nahm also an, dass sie sich bis Sonntag mit allem vertraut gemacht haben würde. Sie würden viel Zeit miteinander verbringen – nur zu zweit …

Als Valerie bemerkte, dass er sie beim Zubereiten des Omeletts beobachtete, liefen ihre Wangen rot an.

David ging von der Küchenzeile weg und sah aus dem Fenster.

„Es ist so ruhig hier“, sagte sie zögerlich, als ob sie die Stille durchbrechen müsste. „Ich fühle mich wie im Urlaub.“

„Ich weiß, was Sie meinen. An manchen Tagen kann ich es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Und jetzt, da Belle auch hier ist, werde ich noch ungeduldiger sein.“

„Oh, fast hätte ich es vergessen! Belle ist bei Hannah im Haus. Ich hoffe, das geht in Ordnung?“

„Ja. Heute Morgen lief sie nach unten und setzte sich vor Ihre Haustür“, sagte David.

„Soll sie bei uns im Haus bleiben, wenn Sie nicht da sind?“

„Wenn Sie es nicht stört?“

„Ich glaube, meine Tochter würde einen ziemlichen Aufstand machen, wenn Belle nicht bei uns bleiben dürfte.“

„Das dachte ich mir schon“, lächelte David und trank einen weiteren Schluck Kaffee. Er hatte sich so sehr an die Stille im Haus gewöhnt, dass er nicht wusste, ob er es gut finden sollte, dass er jetzt morgens jemandem zum Reden hatte.

„Ist das genug, oder soll ich eine größere Portion machen?“, fragte Valerie.

„Ich esse das, was mir vorgesetzt wird.“ Vielleicht hätte er ihr doch nicht sagen sollen, dass er sein Frühstück meistens selbst machte. Es wäre schön, wenn Valerie ihm morgens eine warme, sättigende Mahlzeit zubereiten würde.

„Sie sehen aus, als würden Sie ins Fitnessstudio gehen …“, bemerkte Valerie plötzlich. „Ich meine … Sie sehen nicht so aus, als würden Sie zu viel essen.“ Sie brach ab und schloss die Augen. „Ich meine … ach, egal.“

David kam ihr zur Hilfe. „Dasselbe könnte ich auch über Sie sagen.“

„Ich habe eben gute Gene.“ Ihr Tonfall signalisierte, dass sie das Thema beenden wollte. Sie legte das Omelett neben den mit Butter bestrichenen Toast auf den Teller.

David nahm den Teller an sich. „Ich esse vor dem Computer, während ich ein paar E-Mails beantworte. Anschließend fahre ich weg. Wir sehen uns dann um ungefähr sechs Uhr.“

„Wann möchten Sie zu Abend essen?“

„Um sieben. Machen Sie heute nicht zu viel. Gewöhnen Sie sich erst einmal ein. Ich weiß, das Haus muss geputzt werden, aber das kann noch bis morgen warten.“

„In Ordnung.“

David glaubte ihren Worten nicht. Seinem ersten Eindruck nach zu urteilen, war ihre Arbeitsmoral vermutlich überdurchschnittlich hoch. „Ich hoffe, dass es mit uns klappt, Valerie.“

„Ich auch.“

David hatte seinen Computer zwar eingeschaltet, aber er stand am Fenster, aß sein Frühstück und beobachtete Valerie, die auf dem Weg ins Cottage war.

Sie ließ sich Zeit und sah sich um. Vielleicht dachte sie darüber nach, was mit dem Garten geschehen sollte.

Wahrscheinlich hätte er ihr in der Probezeit kein so großes Projekt anvertrauen sollen, aber was sollte schon schiefgehen, außer dass zu viel weggeschnitten werden würde?

Außerdem hätte er ihr sagen sollen, dass er keine Blumen im Garten haben wollte. Er mochte es naturbelassen, was man an seinem Pool erkennen konnte, der in den Fels integriert zu sein schien. Allerdings hatten Frauen immer ihre eigenen Ansichten über solche Dinge. Seine Mutter hatte gern im Garten gearbeitet …

Eine Stunde später fuhr David auf den Parkplatz im Industriegebiet von Roseville. In einer riesigen Metallhalle wurden Fahrzeuge montiert. Ganz rechts befanden sich sein Büro und das von Noah. David war seit seinem achtzehnten Lebensjahr Teilhaber von Falcon Motorcars, also seit dem Tod seines Vaters, der die Firma seinen drei Söhnen zu gleichen Teilen vererbt hatte. Die ersten acht Jahre hatte ihm die Arbeit Spaß gemacht. Jeder Auftrag war anders, und es gab jeden Tag eine neue Herausforderung. Seit dem Tod von Noahs Frau war sie jedoch nur noch anstrengend.

„Willkommen daheim“, begrüßte ihn Noah.

David folgte seinem älteren Bruder, der größer und muskulöser war, in dessen Büro und setzte sich auf das Ledersofa.

„Du hast also eine Haushälterin gefunden“, sagte Noah.

„Genau, und das ist auch der Grund, weshalb ich Belle nach Hause geholt habe. Valerie hat gestern angefangen.“

„Falls sie sich gut macht, kann sie doch bei mir anheuern, wenn sie die Nase voll von dir hat.“

„Behalte deine überaus großzügigen Jobangebote für dich. Ich denke, sie ist die Richtige.“

Noah hob die Augenbrauen. „Die Richtige?“

„Nicht die Richtige in dem Sinn, sondern die ideale Angestellte. Der einzige Wermutstropfen dabei ist ihre achtjährige Tochter. Wir haben eine einmonatige Probezeit vereinbart.“

„Du wirkst ziemlich locker“, bemerkte Noah.

David war überrascht. „Tatsächlich?“

Vielleicht, so überlegte er, hatte ihn allein die Vorstellung entspannt, wie sein Leben in geregelten und ruhigen Bahnen verlaufen könnte. Valerie konnte er dafür nicht verantwortlich machen, nicht nach weniger als einem Tag.

David ging in die Werkstatt. Die Mitarbeiter arbeiteten konzentriert und winkten oder nickten ihm nur kurz zu.

Die Firma stellte drei Basismodelle her: Sportcabriolets, größere viersitzige Luxuswagen und Limousinen, die genau den Wünschen der Kunden angepasst wurden. Seit die Brüder die Leitung übernommen hatten, war die Firma expandiert. Durch den neuen Auftrag des Sultans hatten sie die finanzielle Stabilität der Firma auf Jahre hin abgesichert. David könnte sich jetzt endlich zurücklehnen … wenn Noah ihn lassen würde.

In diesem Sinne war Noah ganz wie ihr Vater: Er konnte niemals einen Gang zurückschalten und sich ein potenzielles Geschäft entgehen lassen. Urlaub hatte er seit Jahren nicht mehr genommen, was vielleicht auch der Grund dafür war, dass er nicht so viel Zeit mit seinen Kindern verbringen konnte.

Dies brachte David auf die Frage, warum Hannahs Vater nicht mehr da war. Hatte er überhaupt jemals richtig zu ihnen gehört? Hatte er sie verlassen? Oder war die Beziehung zu Valerie schon vor Hannahs Geburt zu Ende gewesen?

David wollte lieber nicht an Eltern erinnert werden, die ihre Kinder verließen.

Um halb sieben hörte Valerie durch die geöffneten Küchenfenster, wie ein Auto die Zufahrt zum Haus hochfuhr.

Sie erblickte ein schnittiges, silberfarbenes Sportcabriolet. Das Sonnenlicht wurde von einer Kühlerfigur in Form eines Falken reflektiert. Eines der Garagentore öffnete sich automatisch, und David fuhr hinein. Als er ein paar Sekunden später aus der Garage kam, klopfte Valeries Herz vor Vorfreude schneller. Sie hatte heute fleißig gearbeitet und sich fast keine Pause gegönnt. Würde er mit allem, was sie erledigt hatte, einverstanden sein? Würde er es überhaupt bemerken?

Obwohl ihr der Kopf vor lauter Einzelheiten über ein völlig neues Betätigungsfeld schwirrte und das Putzen eine Knochenarbeit war, hatte sie sich heute mehrmals dabei ertappt, wie sie vor sich hin summte. Die Arbeit hatte ihr noch nie zuvor so viel Spaß gemacht.

Die Küchentür flog auf, und David kam herein. Mit den durch den Fahrtwind zerzausten Haaren wirkte er jünger – oder einfach nur sorglos.

„Wie war Ihr Tag?“, fragte Valerie.

„Produktiv. Und Ihrer?“

„Meiner auch.“

„Haben Sie Ihre Tochter für die Schule angemeldet?“

„Ja, sie fängt Montag in einer Woche an. Sie wird mit dem Bus fahren, der hier vor dem Eingang hält.“

Er sah die Post durch. „Schön.“

Valerie stand neben ihm und wusste nicht recht, was sie tun sollte. Sie merkte, dass David doch nicht so locker war, wie er auf den ersten Blick gewirkt hatte. In Wirklichkeit war er höchst angespannt. „Möchten Sie einen Drink?“, fragte sie.

„Ja, gern, aber ich hole ihn mir selbst“, erwiderte er und nahm einen großen Umschlag. Dann sah er zu ihr auf. „Lassen Sie sich durch mich nicht von der Arbeit abhalten.“

Valerie lächelte. „Aber ich bin doch für Sie da.“

Er entspannte sich und legte die Post beiseite. „Wonach riecht es hier so fantastisch?“

„Nach Rippchen. Es gibt auch Kartoffelsalat, Maiskolben und Apfelkuchen.“

„Wo waren Sie mein ganzes Leben lang?“

Ich war auf der Suche nach dir. Valerie wurde von diesem Gedanken eiskalt erwischt, denn niemals würde sie zulassen, sich etwas Unerreichbares zu wünschen. Eine kluge Frau lernte aus ihren Fehlern. „Ich war irgendwo und habe genug Erfahrungen gesammelt, um Ihnen eine wertvolle Mitarbeiterin zu sein“, antwortete sie.

„Ob Sie die Akten durchgelesen haben, brauche ich wohl nicht zu fragen. Eingekauft haben Sie auch, Abendessen gemacht und das Haus geputzt, richtig?“

„Ich habe mein Pensum heute wohl übererfüllt.“

„Das können Sie laut sagen.“ David lächelte. „Wo ist Belle?“

„Oh, Entschuldigung. Sie ist bei Hannah in unserem Haus. Ich hole sie.“

Er legte die Hand auf ihren Arm, als sie an ihm vorbeiging, ließ sie aber schnell wieder los.

Ihr Herz hüpfte bei der kurzen Berührung. Solche Gefühle konnte sie überhaupt nicht gebrauchen.

„Belle kann dort bleiben, aber ich war schon erstaunt, dass sie mein Auto nicht gehört hat und angelaufen ist. Sind Sie irgendwie nervös, Valerie?“

„Ich habe Ihnen versprochen, dass Sie Hannahs Anwesenheit nicht bemerken werden, und was passiert? Sie weicht Belle nicht mehr von der Seite.“

„Ich glaube, Belle geht es genauso. Machen Sie sich keine Gedanken, das ist schon in Ordnung. Ich werde beim Schwimmen ein bisschen abschalten. Wäre es schlimm, wenn wir in einer Stunde essen?“

„Überhaupt nicht.“ Nachdem Valerie die Temperatur des Ofens heruntergedreht hatte, ging sie zum Cottage und öffnete die Haustür. Ihre Tochter saß mit Belle auf dem Sofa und sah sich einen Film an.

„Ups“, sagte Hannah, als Belle vom Sofa sprang. Beide hatten offensichtlich ein schlechtes Gewissen.

„Mr. Falcon ist zu Hause. Belle muss zu ihm, damit sie ihn begrüßen kann. Er hat sie in den letzten Jahren kaum gesehen und vermisst sie. Belle, geh zu David.“

„Kriege ich jetzt Ärger?“

„Nein. Du hast das doch nicht gewusst. Aber jetzt weißt du es.“ Valerie setzte sich neben sie. „Es ist schwer für dich, ich weiß. Du hast noch keine neuen Freunde gefunden, und ich bin so beschäftigt, dass ich mich die meiste Zeit nicht um dich kümmern kann.“

„Ist schon okay, Mom.“

Valerie strich ihrer Tochter das Haar aus dem Gesicht, schloss die Haustür hinter sich und ging zum Haupthaus. Sie warf einen Blick auf den Pool, in dem David in gleichmäßigen Zügen seine Runden schwamm, immer in dem gleichen Tempo. Sie sah wieder weg, um ihm die gewünschte Privatsphäre zu gewähren, so wie er sie ihr gestern gewährt hatte.

Dann setzte sie einen großen Topf mit Wasser für die Maiskolben auf und heizte den Grill auf der Terrasse an. Sie deckte den Tisch auf der Terrasse für eine Person und sah, wie David aus dem Becken stieg.

Valerie hielt inne. Er war hochgewachsen und schlank. Er hatte nicht zu viele, aber auch nicht zu wenige Muskeln. Er strahlte genug Kraft aus, um eine Frau zu tragen und sie festzuhalten …

Als er sich die Haare abtrocknete, bemerkte er ihre Blicke. Sie hätte in die Küche zurückgehen und so tun sollen, als ob sie ihn nicht beobachtet hätte, aber sie blieb wie angewurzelt stehen.

Er brach den Blickkontakt zuerst ab, schlang das Handtuch um seine Hüften und ging zu den Treppen, die zur Küche führten.

Valerie wurde rot. Dachte David jetzt, dass der Idiot recht hatte, für den sie tätig gewesen war und der sie der sexuellen Belästigung beschuldigt hatte? Dass sie gelogen hatte?

Sie nahm eine Reinigungsbürste und schrubbte damit den bereits sauberen Grillrost, bis David durch die Küche gegangen und die Luft rein war.

Würde er die Sache ansprechen? Hatte sie ihre Zukunft mit ihm bereits verspielt?

Das Warten auf Antworten begann.

David stand unter der Dusche und musste daran denken, wie Valerie ihn beobachtet hatte. Wäre sie nicht seine Angestellte gewesen, hätte ihm das geschmeichelt. Sie war eine attraktive Frau, ruhig und sexy zugleich – eine seltene Kombination. Aber sie arbeitete für ihn, also was tun? Über den Vorfall hinwegsehen oder sie darauf ansprechen, bevor die Situation für sie beide unangenehm oder sogar untragbar wurde?

Aber vielleicht hatte sie ihn gar nicht beobachtet, denn schließlich stand sie gute sieben Meter von ihm entfernt. Es war doch immerhin denkbar, dass sein Ego überreagiert hatte – sein Körper hatte es auf jeden Fall: David hatte sich das Handtuch um die Hüften geschlungen und war schnell ins Schlafzimmer verschwunden, damit Valerie nicht sah, welche Wirkung ihre Blicke auf ihn gehabt hatten.

Er brauchte dringend eine Verabredung mit einer Frau, wenn es genügt hatte, dass Valerie ihn nur ein paar Sekunden lang anstarrte …

Als er aus der Dusche kam, hatte er immer noch keine Antwort auf seine Frage. Was sollte er tun?

Das Telefon klingelte.

„David? Hier ist Denise Watson. Ich wollte nur mal hören, wie Valerie sich bei Ihnen macht.“

Als er die Stimme der Inhaberin von „At Your Service“ hörte, hatte er eine Entscheidung getroffen: Er wollte keine weiteren Bewerberinnen kennenlernen, sondern sein Leben in geregelte Bahnen bringen. Und möglicherweise hatte er die Situation am Pool falsch eingeschätzt. „Sie hat sich bestens eingefügt und arbeitet sehr fleißig.“

„Und wie geht es ihrer Tochter?“

„Es geht ihr soweit gut.“

„Das freut mich zu hören. Sagen Sie mir bitte Bescheid, falls etwas vorfallen sollte.“

Ihm blieb fast die Luft weg. „Das mache ich.“

Kurz darauf ging er mit Belle die Treppe hinab und betrat die Küche.

Valerie nahm keine Notiz von ihm.

„Das riecht köstlich.“

„Es ist alles fertig.“ Sie sah ihn immer noch nicht an und legte Rippchen auf einen Teller. „Ich habe den Tisch auf der Terrasse für Sie gedeckt. Wenn Sie lieber drinnen essen möchten, kann ich das Gedeck neu auflegen.“

„Danke, aber das ist gut so.“ Er nahm ihr den Teller ab. „Sie müssen mich nicht von vorn bis hinten bedienen, Valerie.“

„Okay.“ Sie streifte die Hände an der Schürze ab.

Woher hatte sie die wohl? David dachte nach, wann er das letzte Mal eine Frau gesehen hatte, die zu Hause eine Schürze trug. Sie mutete so altmodisch an. Vielleicht wollte sie ihn ja auch auf diese Weise an ihre berufliche Beziehung erinnern.

„Ist es in Ordnung, wenn ich später zurückkomme, um die Küche aufzuräumen?“

„Ja, kein Problem.“ Was sollte er sonst sagen?

Valerie hatte nicht bedacht, dass sie in jeder Hand einen Teller trug. Nun stand sie verwirrt vor der geschlossenen Tür.

„Warten Sie, ich mache Ihnen auf“, sagte David. Ihre Wangen liefen rosa an.

„Das Essen sieht lecker aus, und das Haus war seit Monaten nicht so sauber. Ich werde Ihren Arbeitstag nicht unnötig verlängern, um mit Ihnen die Akten zu besprechen. Da ich morgen nicht ins Büro muss, bitte ich Sie, morgen den ganzen Vormittag dafür einzuplanen.“

„Okay.“

Sie schlüpfte an ihm vorbei. Sein Aftershave duftete leicht nach Hickoryholz.

David schloss die Tür und ging mit seinem Teller und seinem Bier auf die Terrasse. Die Sonne war noch nicht untergegangen, hatte aber schon die Hügel am Horizont berührt.

Er nahm ein Rippchen vom Teller. Das Fleisch war so zart, dass es sich beinahe vom Knochen löste. Er war daran gewöhnt, seine Mahlzeiten allein einzunehmen, obwohl die meisten nicht so gut wie diese hier waren und er sicherlich nie Platzdeckchen und Stoffservietten verwendete. Dadurch wirkte er noch einsamer.

Er nahm seinen Teller, ging zum Geländer hinüber und aß vom Kartoffelsalat. Aus dem Cottage drang Gelächter. Lachten sie über etwas im Fernsehen, oder brachten sie sich gegenseitig zum Lachen? Belle spitzte die Ohren. Sie lachten oft zusammen.

In seinem Elternhaus wurde früher nicht viel gelacht: Seine Mutter hatte die Familie verlassen, als David elf war. Zuvor hatte sie mit seinem Vater ununterbrochen gestritten. Aus diesem Grund ging David jedem Streit aus dem Weg.

Hannah brach wieder in Gelächter aus. Vermisste sie ihren Vater, so wie David seine Mutter vermisste? Hannah schien sich gut daran gewöhnt zu haben.

Belle stand auf und wedelte mit dem Schwanz, als sie bettelnd zu ihm hochsah.

David seufzte. „Na gut, du darfst zu Hannah.“

Die Hündin jagte davon. Nicht einmal Belle blieb bei ihm …

Damit war jetzt Schluss. Es wurde höchste Zeit, dass er wieder am Leben teilnahm. Er würde viel ausgehen, auch dann, wenn ihm der Jetlag zu schaffen machte. In seinem Leben gab es zu viel Routine und zu eng gesteckte Grenzen, zu viel Arbeit und zu wenig Zerstreuung.

David wollte sein Leben in Schwung bringen.

Valerie nahm ihren Notizblock und fuhr mit dem Stift die Notizen entlang, die sie sich gemacht hatte. „Wohin fliegen Sie am Sonntag?“

„Zuerst nach London, dann nach Rom.“

Für sie klangen die Orte exotisch, da sie nie Reisen außerhalb von Kalifornien unternommen hatte, während sie für ihn wahrscheinlich nichts Besonderes mehr waren. „Haben Sie einen Lieblingsort?“

„Tumari seit Neuestem.“

„Wo liegt das?“

„In Malaysia. Normalerweise ist es völlig egal, wohin ich reise, da ich kaum etwas anderes mache außer zu arbeiten, und dazu gehören in erster Linie Geschäftsessen.“

„Das heißt, Sie würden keinen Urlaub an den Orten machen, an denen Sie schon gewesen sind?“

„Mein Zuhause ist mein Urlaubsort. Dieses Haus ist mein ultimatives Fünf-Sterne-Hotel. Wo würden Sie denn gern Ihren Urlaub verbringen?“

Valerie erzählte ihm, dass sie gern nach Hawaii reisen würde, was er als einfach zu erreichendes Ziel einstufte. Sie konnte ihm da kaum widersprechen, ohne ihm zu erzählen, wie nah sie vor zwei Tagen an der Obdachlosigkeit vorbeigeschrammt war und wie lange es dauern würde, bis sie ihre Schulden abbezahlt hatte. David war vermutlich niemals arm gewesen. „Ich spare mein Geld. Vielleicht zu Hannahs High-School-Abschluss.“

David schien noch etwas erwidern zu wollen, blickte dann aber auf seinen Monitor. „Hier haben wir eine Aufschlüsselung nach potenziellen und bestehenden Kunden. Wie gut können Sie mit Tabellenkalkulationsprogrammen umgehen?“

„Ich habe nur Kurse dazu besucht, aber noch keine praktische Erfahrung.“

„Die Informationen liegen in unterschiedlicher Form vor. Die Daten müssen extrahiert und in separate Tabellen importiert werden. Ich möchte wissen, ob irgendwo die Zahl der potenziellen Kunden so groß ist, dass sich die Einstellung eines Außendienstvertreters für dieses Gebiet rentieren würde.“

David zeigte ihr, wie sie die Daten übertragen musste.

Valerie machte sich Notizen. Vielleicht war es gar nicht so schwer, wie sie dachte. Das Internet würde ihr eine Hilfe sein. „Möchten Sie, dass ich das jetzt erledige?“

„Es ist fast Mittag. Machen Sie doch eine Stunde Pause, und verbringen Sie die Zeit mit Ihrer Tochter. Ich fahre für ein paar Stunden weg und esse unterwegs etwas.“

„In Ordnung.“

„Gute Arbeit, Valerie. Sie haben eine schnelle Auffassungsgabe.“

„Und Sie sind ein geduldiger Lehrer.“

„Tatsächlich? Ich bin nicht gerade für meine Geduld bekannt. Bis später dann.“

David bog um die Ecke … und kehrte kurz darauf wieder zurück.

„Wir müssen uns mal über Ihre Arbeitszeit unterhalten. Sie haben ja ein Anrecht auf freie Tage. In diesem Job arbeitet man in einer Woche sechzig und in der nächsten zwanzig Stunden.“

„Machen Sie sich im Moment darüber keine Sorgen. Ich werde erst mal Buch über meine Stunden führen. Irgendwann würde ich gern an einem Wochenende meine Mutter in Palm Springs besuchen.“

„Das ist kein Problem.“ Dieses Mal kam er nicht zurück.

Freie Tage? Valerie lächelte und legte ihren Notizblock auf den Tisch. Ihr Gehalt war bereits großzügig bemessen; Unterkunft und Verpflegung wurden gestellt. Selbst bei einer Achtzigstundenwoche könnte sie sich nicht beklagen.

David entschied sich für das Cabriolet, um den Wind in seinen Haaren zu spüren. Er war zu lange mit Valerie im Büro eingesperrt gewesen.

Vor der Kurve schaltete er den Gang abrupt herunter. Ein Bild von Valerie hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt: Sie trug eine Hose aus Baumwolle und eine bis zum Hals zugeknöpfte Bluse. Ihre Haare waren zu einer Art Knoten geschlungen und wurden von einer Plastikspange zusammengehalten. Dadurch lag ihr langer, schlanker Hals frei, ihr Duft … duftete sie nach Pfirsichen?

Er nahm eine weitere Kurve und testete seine Grenzen und die des Cabriolets aus, während er die Gedanken an Valerie abschüttelte. Als er Minuten später einparkte, fragte er sich nicht einmal mehr, warum er hierhergekommen war, sondern nur noch, wie Laura ihn wohl empfangen würde.

David fuhr sich durch sein Haar und ging zu einem Büro im 1. Stock. „Laura Bannister, Rechtsanwältin“ stand dort in goldenen Lettern an der Tür. Laura, eine ehemalige Miss Universum-Kandidatin, hatte sich vor drei Jahren in ihrer Heimatstadt niedergelassen. Mittlerweile besaß sie neben diesem Büro ein zweites in Sacramento.

Sie war schön, sexy und klug. Da für sie die Karriere an erster Stelle kam und sie noch keine Familie gründen wollte, war sie in Davids Augen die ideale Frau für eine unverbindliche Beziehung. Vor drei Monaten hatte sie mit ihm per E-Mail Schluss gemacht.

Er wusste zwar nicht, was er sich von ihr erhoffen sollte. Ihm war nur klar, dass er etwas an seinem Privatleben ändern musste. Valerie stand bei ihm schon zu sehr im Mittelpunkt.

Er öffnete die Tür und ging hinein.

„Hallo, Fremder!“, begrüßte ihn Lauras Assistentin.

„Wie geht’s dir, Dolly?“

„Ich bekomme zu viel Gehalt und zu wenig Arbeit.“

Er lachte. „Du warst schon immer anders als die anderen.“

„Hallo, David.“

Laura stand in der Tür zu ihrem Büro. Selbst die dezente Kleidung und die Hochsteckfrisur taten ihrer Schönheit keinen Abbruch. Sie dachte wohl, dass sie so professioneller rüberkam, aber in Wirklichkeit sah sie heiß aus.

An den verschränkten Armen war erkennbar, dass sie von seinem Besuch nicht gerade begeistert war.

„Hast du eine Minute Zeit?“

„Eigentlich nicht.“

„Ach, jetzt geben Sie ihm doch eine Chance, und sprechen Sie mit ihm. Ich hole uns etwas zum Mittagessen“, ermutigte Dolly sie.

Laura seufzte. „Na schön. Komm rein.“

An den Wänden hingen Fotos von ihren Siegen bei vergangenen Schönheitswettbewerben. In einem Glaskasten waren mehrere Trophäen ausgestellt.

Ihm fiel ein Foto von Laura in ihrem Miss Universum-Bikini auf. Er hatte ihre Wahnsinnsfigur nicht vergessen. Plötzlich sah er Valerie vor sich: schlank, mit schönen Rundungen. Sie trug ihren locker sitzenden, schwarzen Einteiler.

„Was willst du, David?“

Er betrachtete den Besucherstuhl, setzte sich aber nicht hin. „Mir hat es nicht gefallen, wie wir uns getrennt hatten. Ich hätte wenigstens deine E-Mail beantworten sollen.“

„Ja, das finde ich auch; es hätte aber nichts geändert.“

„Ich weiß.“ Das hatte er auch gar nicht vor. „Außerdem möchte ich mich bei dir bedanken, dass du es so lange mit mir ausgehalten hast. Ich wollte vermeiden, dass es für uns unangenehm ist, wenn wir uns mal in der Stadt über den Weg laufen sollten.“

„Und du wartest drei Monate, um mir das zu sagen?“

„Ja. Entschuldige bitte.“

Laura entspannte sich sichtlich und runzelte nicht mehr die Stirn. „Okay.“

Er nickte und ging in Richtung Tür. „Bis dann.“ Damit war die Sache für ihn abgeschlossen.

„Ist das eine Art Spiel, David?“

Er drehte sich ihr zu, als sie auf ihn zukam. Er hatte ihren katzenhaften Gang vergessen. Sie berührte seine Brust leicht mit den Fingerspitzen. Ihr Parfum drang durch seine Poren.

„Hast du Interesse an einem letzten Abschiedstreffen?“ Ihr Tonfall und ihre Mimik ließen keinen Zweifel daran, wie das zu verstehen war. „Unsere Beziehung hat kein schönes Ende genommen.“

Ihr Angebot erschien ihm mehr als nur ein bisschen verführerisch. Er nahm ihre Hand in seine. „Ich glaube, das wäre nicht besonders klug.“

„Vielleicht nicht. Aber es wäre eine Gelegenheit, sich auszutoben. Oder tobst du dich woanders aus?“

Auch ihre freche Art hatte er vergessen. Dieser Wesenszug hatte ihm von Anfang an gefallen. Aber mittlerweile mochte er Zurückhaltung und den Duft von Pfirsichseife anstelle von Parfum lieber. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Auf Wiedersehen, Laura.“

Eine große Last fiel von seinen Schultern. Er hatte keine Ahnung gehabt, wie gut sich ein Happy End anfühlte.

Bei wem hatte er noch etwas wiedergutzumachen?

Valerie saß vor Davids Computer und erstellte aus einem Datensatz verschiedene Tabellen, als sein Geschäftstelefon klingelte. Da sie nie besprochen hatten, ob sie auch Gespräche von diesem Telefon entgegennehmen sollte, wurde der Anrufer an den Anrufbeantworter weitergeleitet.

„Hi“, sagte eine tiefe und ziemlich sexy klingende Frauenstimme. „Ich weiß, du bist gerade eben zur Tür raus, aber ich wollte dir sagen, wie viel mir dein Besuch bedeutet hat. Es war genau das, was ich gebraucht habe. Und meine Einladung gilt immer noch, David. Tschüss.“

Valerie erstarrte.

Hatte sie denn ernsthaft geglaubt, ein gut aussehender und vermögender Mann wie er hätte keine Freundin? Oder zwei oder drei? Sie war seinem Charme schon erlegen, ohne dass er etwas dafür tun musste. Was würde wohl passieren, wenn David seinen Charme gezielt einsetzte?

Valerie schenkte sich ein Glas Wasser ein und starrte ausdruckslos auf die Küchenschränke. Kaffee wäre in dieser Situation wohl angebrachter gewesen, denn sie war gerade aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt worden. Sie hatte versucht, David nur als ihren Vorgesetzten anzusehen, doch letztendlich war er für sie der Ritter in glänzender Rüstung, der sie und Hannah gerettet hatte.

Gut, dass die Anruferin Valerie auf den Boden der Tatsachen zurückholte. David brauchte Valerie nur im Haus und im Büro – und für nichts anderes.

Valerie hörte Davids Wagen, ging zurück zum Fenster und sah, wie er neben dem Lastwagen des Gärtners Joseph anhielt. Die beiden Männer begrüßten sich und sprachen miteinander.

Hannah winkte ihnen vom Cottage aus zu.

Valerie nahm sich Hannah zum Vorbild und besann sich auf die Aufgabe, die für sie bestimmt war.

4. KAPITEL

„Und, zufrieden?“ Joseph wartete auf eine Antwort.

Valerie sah von der Terrasse aus in den Garten. „Sehr zufrieden. Du hast großartige Arbeit in den neun Tagen geleistet. Bist du denn zufrieden?“

„Jepp.“

„Und du gibst zu, dass ich recht hatte?“

„So weit würde ich nicht gehen.“ Er grinste. „Na gut, du hattest recht. Das soll aber nicht heißen, dass David einen Unterschied feststellen wird, wenn er wieder da ist. Wann kommt er zurück?“

„Morgen. Wie läuft’s mit Dixie? Ist sie zu dir zurückgekehrt?“

„Sie spielt die Unnahbare. Aber heute ist Samstag, und ich weiß, wo sie heute Abend hingeht.“

„Wohin denn?“

„Ins Stompin’ Grounds. Bis auf letzte Woche sind wir da jeden Samstag zum Tanzen hingegangen. Das wird sie sich kein zweites Mal in Folge entgehen lassen.“

Valerie hatte Joseph während der Neugestaltung des Gartens lieb gewonnen. Er arbeitete fleißig und war kreativer, als sie ihm zugetraut hatte. Er hatte es zuerst ruhiger angehen lassen und nur das Nötigste im Garten erledigt, aber jetzt arbeitete er mit Feuereifer an dem Projekt.

Was würde er wohl zu dem Purpursalbei sagen, den sie einpflanzen wollte, sobald er weggefahren war?

Valerie würde nicht viel am Garten verändern, nur hier und da ein paar Farbtupfer hinzufügen, den Kräutergarten von der Terrasse in den Garten umpflanzen und das Aussehen an die Jahreszeiten anpassen.

„Hey, komm doch heute auch dorthin“, schlug Joseph vor.

„Ins Stompin’ Grounds? Ist das eine Bar?“

„Mehr als das, denn dort geht richtig die Post ab. Du wirst es mögen. Und du brauchst so etwas.“

Damit will er wohl andeuten, dass ich langweilig bin, vermutete sie. Oft wurde Valeries ruhige Art fälschlicherweise mit einem Mangel an Unternehmungslust gleichgesetzt. Das traf nur zu, weil sie eine Tochter zu versorgen hatte – jedenfalls dachte sie das. „Ich habe keinen Babysitter, aber danke.“

Er holte sein Handy hervor und wählte. „Ma? Hast du heute schon etwas vor? Kennst du noch Valerie und ihre Tochter? Willst du auf die Kleine aufpassen?“

Da eine Verabredung mit Joseph nun immer wahrscheinlicher wurde, schüttelte sie den Kopf.

„Ich hole dich um acht ab. Danke.“ Er legte auf.

„Joseph, ich kann mit dir nicht ausgehen.“

„Kannst du oder willst du nicht?“

„Beides.“ Entsprach ihre Antwort der Wahrheit? Sie wollte etwas unternehmen und ausgehen – aber in eine Bar? Valerie war sich nicht sicher …

Plötzlich wurde ihr etwas klar. „Du willst Dixie eifersüchtig machen.“

„Vielleicht.“

„Aha. Ich bin aber nicht auf Krawall gebürstet.“

Joseph lachte. „Ich verspreche dir, dass es keine Streitereien geben wird.“

„Das kannst du nicht versprechen. Deine Dixie erscheint mir viel zu unberechenbar. Ich dagegen bin ein friedliebender Mensch.“

Er stieß sie an der Schulter an. „Du weißt doch, was du willst. In dir gibt es eine wilde Valerie, die darauf brennt, rausgelassen zu werden.“

Vielleicht keine wilde, aber eine neugierige Valerie, die wusste, dass sie nicht an David denken durfte. Sollte sie die Gelegenheit nutzen, die sich ihr aufgrund der Abwesenheit von David bot?

„Na gut. Aber du darfst mich nicht anfassen, um Dixie auf uns aufmerksam zu machen. So etwas mache ich nicht mit.“

„Alles klar.“

Hannah kam mit Belle aus dem Cottage. Sie trug ihren Badeanzug. „Ich bin fertig!“

„Ich muss runter zum Pool.“ Joseph folgte Valerie bis zu der Stelle, wo der Weg in verschiedene Richtungen abzweigte. „Bis um viertel nach acht. Tschüss, Hannah!“, rief er und winkte.

Valerie winkte zurück. Sie ging zu ihrer Tochter … und war gespannt auf das, was noch passieren würde.

Josephs Mutter Aggie erinnerte Valerie – bis auf die pechschwarzen Haare – an Mrs. Doubtfire. Sie umarmte Hannah so fest, wie es Valeries Mutter nie getan hatte.

Hannah umarmte sie ebenfalls, lächelte Valerie zu und zuckte mit den Achseln.

Aggie scheuchte Valerie und Joseph zur Tür hinaus: „Ich habe acht Kinder und sechzehn Enkelkinder. Ich weiß, wie man mit Kindern umgeht. Und jetzt verschwindet endlich.“

Als sie vom Haus wegfuhren, fühlte sich Valerie plötzlich entspannt. Seit mehr als einem Jahr war sie nicht mehr ohne Hannah weggegangen – seit sie ihre Arbeitsstelle und damit ihre Kollegen, die ihre Freunde geworden waren, verloren hatte.

Valerie hoffte, dass sie sich einfügen konnte. Ihr Outfit – Stiefel, Jeans und ein Hemd im Westernstil – hatte ein ziemlich großes Loch in ihren Geldbeutel gerissen. Sie musste jeden Penny sparen, bis sie wusste, ob David sie nach der Probezeit einstellen würde, aber es war so schön, etwas Neues zu tragen.

„Gehen wir an die Bar?“, fragte Joseph und versuchte, den Lärm zu übertönen.

„Ja.“

„Was willst du trinken?“

Wenn ich dazugehören will, dann wäre ein Erdbeer-Margarita die falsche Wahl, dachte Valerie. „Ich nehme ein Bier.“

Joseph gab dem Barkeeper Bescheid und drehte sich dann um.

„Welche der Frauen dort in der Ecke durchbohrt mich gerade mit ihren Blicken?“, fragte Valerie.

„Wahrscheinlich alle, aber Dixie hat ein rotes Hemd an.“

Valerie nahm das Glas, das ihr der Barkeeper serviert hatte, und stellte sich so hin, dass sie einen kurzen Blick auf Dixie werfen konnte. Sie schluckte schwer: Dixie hatte trotz ihres blonden Lockenkopfes keine Ähnlichkeit mit einem zierlichen, hilflosen Weibchen. „Das war keine gute Idee“, sagte sie.

„Warum nicht?“

„Kennst du den Ausdruck ‚Wenn Blicke töten könnten‘? Ich habe bereits das Zeitliche gesegnet.“ Sie beschloss, nicht zu viel zu trinken, um nicht die Toilette aufsuchen zu müssen und dort womöglich auf Dixie und ihre Freundinnen zu treffen.

„Ignorier sie einfach. Lass uns tanzen.“

Das Interesse der anderen Gäste an ihnen ließ nicht wirklich nach. Joseph wurde fast gar nicht beachtet, was Valerie stutzig machte. Es sah aus, als ob die meisten Gäste sich auf Dixies Seite geschlagen hatten. Was war wohl der Grund für ihren Streit?

Nach dem Tanz beugte sich Valerie zu Joseph, um den Lärm zu übertönen. „Ich möchte gern nach Hause. Du kannst danach ja zurückkommen und sie um eine zweite Chance bitten. Ich jedenfalls will mich aus der Geschichte raushalten.“

„Aber es ist noch früh …“

„Wer soll ihm eine zweite Chance geben?“

Valerie wusste, dass dies nur Dixie sein konnte, obwohl sie ihre Stimme noch nie gehört hatte. Sie lehnte sich schnell zurück und begrüßte Dixie, bevor Joseph überhaupt etwas sagen konnte.

„Hallo, ich bin Valerie und nur eine Freundin.“

Dixie bedachte Valerie kurz mit einem eisigen Blick und wandte sich dann an Joseph. „Stimmt das, Joey? Eine Freundin wie die eine vor ein paar Jahren?“

„Wir hatten eine Beziehungspause. Du hast sogar …“

„Entschuldige meine Verspätung, Schatz.“ Valerie erstarrte. Ihr Chef, den sie erst für morgen erwartet hatte, schlang einen Arm um ihre Taille.

Sie brachte kein Wort heraus.

David gab Joseph die Hand. „Danke, dass du auf meine Freundin aufgepasst hast. Ich bin dir einen Gefallen schuldig.“

Dixie sah misstrauisch aus. „Seit wann vertraust du Joey deine Freundinnen an?“

„Joe gehört zu meinen langjährigen Freunden. Wir verstehen uns ohne Worte. Und Valerie hat sowieso nur Augen für mich, stimmt’s?“

Valerie war beeindruckt, wie weit David ging, um seinen Freund zu schützen. Dann kann ich ja auch in das Spiel einsteigen, beschloss sie. Mit beiden Händen umfasste sie sein Gesicht und zog es näher zu sich heran. „Willkommen daheim, Schatz.“

David verstummte. „Entschuldige meine Verspätung.“

„Wichtig ist doch nur, dass du jetzt hier bist.“

„Jetzt küss sie schon, du Idiot“, sagte Dixie und schob David fast zu nah an Valerie heran. „Frauen mögen es nicht, wenn man sie warten lässt.“

Er betrachtete ihren Mund …

„Aber Frauen mögen es auch, wenn sie sich auf etwas freuen können“, sagte Valerie. Sie legte ihre Hände auf seine breite Brust und hielt ihn auf Abstand. „Und sie mögen Privatsphäre.“

David schenkte ihr ein langes, verführerisches Lächeln. „Dann sollten wir uns auf den Heimweg machen.“

Sie lehnte sich bei David an und streckte die Hand aus. „Wie schon gesagt, ich bin Valerie.“

„Dixie.“

„Ich weiß, wegen dir bläst Joseph schon die ganze Woche Trübsal.“

„Woher weißt du denn das?“ Dixie sprach zwar mit Valerie, doch ihr Blick – eine Mischung aus Wut und Schmerz – lag auf Joseph.

„Er war mit der Neugestaltung von Davids Garten beschäftigt. Sogar meine Tochter hat bemerkt, wie traurig er war, obwohl sie erst acht ist.“

Dixies und Davids Blicke trafen sich. „Du hast etwas mit einer Frau, die ein Kind hat?“

„Gehen wir?“, fragte er Valerie, die nur zu gern gewusst hätte, was Dixie gemeint hatte und warum sie so überrascht war.

Dixie entschuldigte sich bei Valerie. „Meine Güte, ich und mein vorlautes Mundwerk.“

„Schon gut“, sagte Valerie. Natürlich war es nicht gut, aber zumindest hätte David einen guten Grund, um sich von ihr zu trennen.

Dixie legte jeweils eine Hand auf eine Schulter der beiden. „Tanz zuerst mit deiner Freundin, David. Es ist ein prima Vorspiel.“ Sie lächelte Valerie an, als ob sie sich nochmals entschuldigen wollte.

Es wurde laute und schnelle Musik gespielt. „Sollen wir es riskieren?“, fragte David.

„Ja. Aber nur für einen Tanz.“

„Ich weiß.“ Er grinste. „Mir ist auch nicht ganz wohl dabei.“

Valerie hatte einen Kloß im Hals, als David sie auf die Tanzfläche führte und den anderen Gästen vorstellte. Gerade wollten sie zu tanzen anfangen, als ein langsames Stück gespielt wurde.

„Jetzt sitzen wir in der Falle“, sagte David und nahm Valerie in seine Arme.

Sie versuchte, Abstand zu halten.

„Jeder denkt, wir sind ein Liebespaar.“ Er legte seine Arme um sie und zog sie an sich.

Es war ein einmaliger Moment und nur ein Tanz, warum sollte sie ihn nicht einfach genießen? Weil du dich schon zu sehr hineinsteigerst, wo doch vor allem du es besser wissen solltest. Normalerweise lernt man aus seinen Fehlern.

Valerie schenkte den mahnenden Worten mehr Beachtung als ihrer körperlichen Reaktion auf Davids Nähe. „Schatz“, sagte sie. „Das ist mir einfach so rausgerutscht.“

Er lachte leise.

„Sie müssen ein sehr guter Freund von Joseph sein, wenn Sie ihm mit solchem Einsatz zur Hilfe kommen.“

„Joseph? Der kommt allein zurecht. Ich wollte Ihnen helfen, Miss Sinclair. Dixie ist eine Frau, die man nicht unterschätzen sollte.“

„Und Sie sind der Meinung, ich wäre nicht mit ihr fertig geworden?“

Er warf den Kopf zurück und lachte. Als seine Brust gegen ihre drückte, war alle Vorsicht vergessen – vor allem, als sich ihre Unterkörper und dann ihre Hüften berührten.

Sie zitterte, als er ihr ins Ohr flüsterte: „Gucken Sie mal.“

Sie sahen, wie Joseph und Dixie sich leidenschaftlich küssten. Anscheinend hatten sie ihren Streit begraben.

„Was läuft da eigentlich zwischen den beiden?“

„Sie sind seit ihrem vierzehnten Lebensjahr zusammen. Von Zeit zu Zeit verlässt sie ihn, weil er nicht um ihre Hand anhält. Es könnte sein, dass sie eines Tages nicht mehr zu ihm zurückkommt. Wenn Joe sie gehen lässt, ist ihm nicht mehr zu helfen. Es gibt keine andere Frau für ihn.“

„Glauben Sie an Seelenverwandtschaft?“

„Ich bin überzeugt, dass die beiden Seelenverwandte sind.“

Er glaubte also, dass Seelenverwandtschaft bei anderen Menschen vorkommt und bei ihm nicht? Das gab Valerie zu denken. „Warum sind Sie schon so früh zu Hause, und was machen Sie hier?“

„Ich hatte alles erledigt und konnte einen früheren Flug erwischen. Dann habe ich Joes Lastwagen auf dem Parkplatz gesehen und wollte den Feierabend mit ihm verbringen. Ihr Wagen stand in der Garage, und es brannte kein Licht im Haus. Ich dachte, Sie schlafen.“

„Er hatte mich im Auto mitgenommen. Seine Mutter passt auf Hannah auf.“

„Ich wundere mich, dass Sie seine Einladung angenommen haben. Sie schienen nicht der Typ zu sein, der andere Frauen so eifersüchtig macht.“

„Ich habe ihm gesagt, dass er mich nicht anfassen darf. Er tat mir leid. Wenn ich gewusst hätte, dass Streitereien bei den beiden nichts Besonderes sind, hätte ich mir keine Gedanken gemacht. Abgesehen davon war es schön, mal rauszukommen. Wahrscheinlich habe ich vor allem deswegen zugesagt.“

„Waren Sie einsam?“

Es waren nicht so sehr die Worte an sich, sondern die Art, wie er es sagte, die Valerie fast zu Tränen rührte. „Ein bisschen.“

„Ich hatte Sie ja gewarnt, dass es eine einsame Gegend ist.“

„David, ich beschwere mich doch gar nicht. Mir gefällt es hier. Es ging nur darum, dass auch gute Mütter manchmal eine Pause brauchen.“

Die Musik war zu Ende. David schien Valerie nur widerwillig loszulassen; daher trat sie zurück. Ihr Körper bebte. Tanzen war tatsächlich ein wundervolles Vorspiel.

Als sie sich auf den Weg zu Davids Wagen machten, waren wegen des Vollmonds kaum Sterne zu erkennen. Die Musik wurde immer leiser. Die kalte Nachtluft strich über Valeries Haut.

„Übrigens, Sie sehen toll aus.“

„Danke.“

„Im Ernst, der Cowgirl-Look steht Ihnen.“ Sie bemerkte erst jetzt, dass auch er Kleidung im Westernstil trug.

Erst vor der Garage sprachen sie wieder miteinander. „Ich danke Ihnen, dass Sie diese Woche so fleißig waren. Sie haben bereits viel bewirkt.“

Da sie von David als kompetente Mitarbeiterin gesehen werden wollte, erzählte sie ihm lieber nichts von den vielen Überstunden, die wegen der Projekte angefallen waren, die er ihr telefonisch übergeben hatte. Obwohl sie als Aushilfe in verschiedenen Bereichen gearbeitet hatte, war ihr Davids Branche völlig unbekannt. „Sie sind ein sehr umgänglicher Chef.“

„Das hat vorher noch niemand gesagt.“

„Tatsächlich?“

„Ja. Wir liegen irgendwie auf der gleichenWellenlänge. Anscheinend wissen Sie, was ich will, bevor ich es ausgesprochen habe.“

„Ich habe ja keine Kollegen und kann mich ganz auf Sie konzentrieren, David. Das macht es leichter, etwas vorauszusehen.“ Sie ließ den Türöffner los, da David anscheinend reden wollte.

„Bekommen Sie genug Schlaf?“

„Ja, und Sie?“

„Die permanenten Zeitverschiebungen machen mir zu schaffen.“

Ihr gefiel David zu sehr, als dass sie länger bei ihm im Wagen bleiben konnte. „Sagen Sie mir Bescheid, wenn ich Ihr Frühstück machen soll. Ich werde Aggie rüberschicken, Belle auch?“

„Tun Sie das. Ich nehme sie im Auto mit.“

„Gut.“ Sie stieg aus dem Auto, drehte sich dann aber zu ihm um. „Danke für Ihre Hilfe heute.“

„Es war gut, dass ich zur rechten Zeit da war.“

Valerie wollte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass David immer zur Stelle war, wenn sie ihn brauchte. Dennoch war es ein bemerkenswerter Zufall, dass er einen früheren Flug erwischt hatte und sie zu einer Zeit einstellte, in der sie verzweifelt gewesen war. „Aggie vergöttert Sie“, sagte sie stattdessen.

„Ich sie auch. Sie wurde meine Ersatzmutter, als meine leibliche Mutter wegging.“

Valerie wusste nichts Genaues darüber, nur dass Davids Vater ihn großgezogen hatte. „Mein Vater hat mich auch verlassen“, sagte sie.

Er schwieg kurz. „Und Hannahs Vater?“

„Das ist eine lange Geschichte.“

Sie wusste nicht, warum er daraufhin nickte, wollte aber nicht darauf eingehen. „Bis morgen.“

„Gute Nacht, Valerie.“

Sie winkte David kurz zu und ging dann zum Cottage.

Aggie lehnte eine Bezahlung ab, nahm jedoch eine Einladung zum Abendessen als Entschädigung an.

Valerie zog ihr Nachthemd an und dachte im Bett an die Erlebnisse des Tages. Als sie Davids Wagen hörte, stieg sie aus dem Bett und konnte einen Blick auf ihn und Belle erhaschen. Das Licht in der Küche brannte kurz. Wenig später ging in seinem Schlafzimmer die Nachttischlampe an. David erschien am Fenster, zog sein Hemd aus und warf es zur Seite. Er beugte sich nach vorn, um die Schuhe auszuziehen, und öffnete dann den Gürtel, bevor er vom Fenster zurücktrat.

Valerie wollte sich gerade wieder hinlegen, als David die Treppen herunterkam. Er stand mit dem Rücken zu ihr neben dem Pool, warf das Handtuch, das um seine Hüften geschlungen war, beiseite und sprang hinein. Er war nackt – und sah unverschämt attraktiv aus. Er entsprach dem Ebenbild eines griechischen Gottes: muskulöse und verführerische Figur, glatte Haut.

Ihr Gewissen nagte an ihr. Sie sollte nicht in seine Privatsphäre eindringen, sondern endlich vom Fenster weggehen. Dennoch blieb sie dort stehen und sagte sich, dass niemand allein ins Wasser gehen sollte. Zumindest musste jemand aufpassen – nur für alle Fälle.

Nach etwa zwanzig Minuten stieg er aus dem Pool und strich sich im Mondschein über die nasse Haut, um sich abzutrocknen.

Das hätte Valerie gern für ihn übernommen …

Er griff nach dem Handtuch. Sie atmete schwer. Dann schien er sie direkt anzusehen. Sie war ziemlich sicher, dass er sie nicht sehen konnte. Dennoch klopfte ihr Herz aus einer Mischung von Angst, erwischt zu werden, und der Hoffnung, dass er es mochte, von ihr beobachtet zu werden – ein völlig abwegiger Gedanke, wenn sie bedachte, wie weit sie in seine Privatsphäre eingedrungen war.

Er wickelte sich das Handtuch um die Hüften und ging zurück zum Haus. Als er die Tür erreicht hatte, sah er ein letztes Mal zum Cottage zurück.

Valerie legte sich wieder ins Bett und zog die Decke über den Kopf, um die Bilder von David zu verscheuchen.

Was sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte, war eine weitere aussichtslose Leidenschaft.

5. KAPITEL

Am nächsten Morgen bewunderte David den neuen Garten. Der Unterschied war bemerkenswert: Irgendwie hatte Valerie es geschafft, den Garten weder zu gepflegt noch zu verwildert aussehen zu lassen.

Valerie kam aus dem Cottage. Heute trug sie ihr Haar offen, nur von einem türkisfarbenen Band zurückgehalten.

Gestern im Auto hatte nicht viel gefehlt, und David hätte ihr liebevoll das Haar zerzaust. Er war von ihrem Duft hingerissen gewesen.

Trotz seiner Bemühungen, auf Distanz zu gehen, verbrachte er mittlerweile nicht nur seine Freizeit mit ihr, sondern tanzte auch noch mit ihr. Sie passte perfekt in seine Arme – und zu seinem Körper. Er wollte, dass sie den Kopf gegen seine Schulter lehnte – ein verrückter, dummer Wunsch. Gut, dass wenigstens sie auf Distanz bedacht war.

„Guten Morgen, David. Was kann ich für Sie tun?“, fragte Valerie.

Er schwieg lieber, denn eine ehrliche Antwort hätte ihr wohl kaum gefallen. Sie hatte die Hände gefaltet und wirkte ernst. David hatte sie per Gegensprechanlage gebeten, so bald wie möglich zu ihm ins Haus zu kommen. „Sie hätten sich nicht so beeilen müssen.“

„Ich war sowieso schon auf und fertig für die Arbeit. Möchten Sie frühstücken?“

„Das habe ich schon. Ich möchte eine Party geben.“

Ihr Gesicht erhellte sich. „Oh, wie schön!“

„Das habe ich schon lange nicht mehr gemacht. Der Garten sieht dank Ihrer Hilfe so prachtvoll aus, dass ich damit angeben möchte.“

„Mir steht das Lob nicht allein zu, nicht einmal zur Hälfte. Joseph hat meinen Entwurf abgeändert und die meiste Arbeit erledigt.“

„Aber ohne Sie wäre überhaupt nichts passiert. Sie hatten die Idee, etwas zu verändern. Vielen Dank dafür. Ich dachte als Termin an den 1. Mai, aber dann hätten Sie nur eine Woche Vorbereitungszeit. Sie können gern einen Cateringservice beauftragen.“

„O nein, ich würde gern alles allein vorbereiten. Unter welchem Motto soll die Party stattfinden?“

„Muss ich ein Motto oder ein Thema haben? Gut, dann eine Grillparty am Pool.“

„Sollen nur Erwachsene oder auch Kinder teilnehmen?“

„Auch Kinder. Bitte laden Sie meinen Bruder Noah und seine Kinder ein, meinen Bruder Gideon und eine Begleitperson. Ich weiß nicht, mit wem er gerade ausgeht. Joe und Dixie, Aggie, Mae aus meinem Büro und ihren Mann. Und Joes Geschwister. Wenn ich mehr Zeit zum Nachdenken habe, kommen vielleicht noch einige Gäste hinzu.“

„Werden Sie in Begleitung erscheinen?“

Valeries Tonfall war ein bisschen höher als sonst. David dachte an Lauras Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Sie würde seine Einladung zur Party wahrscheinlich annehmen. Dann fiel ihm ein, dass dies nicht möglich war, selbst wenn er es wollte. „Das ist nicht so einfach, da einige Leute uns jetzt für ein Paar halten.“

Valerie lehnte sich zurück. „Daran hatte ich nicht gedacht. Wir sollten Ihren Freunden reinen Wein einschenken, bevor Gerüchte entstehen.“

„Sie kennen sich mit Kleinstädtern nicht so aus, oder?“

„Was soll das heißen?“

„Dass alle meine Freunde und Bekannten uns längst für ein Paar halten.“

Sie blickte ausdruckslos auf den Tisch. Als sie nach einer Weile wieder hochsah, wirkte sie noch ernster. „Sie müssen das klarstellen.“

„Wie denn?“

„Indem Sie den Leuten die Wahrheit sagen. Es war schon ein Fehler, dass wir im Stompin’ Grounds eine Show abgezogen haben, um Dixie und Joseph wieder zu versöhnen. Ich muss an meinen Ruf und meine Tochter denken, David. Sie müssen unbedingt eine Begleitung mitbringen – sonst wird uns niemand glauben.“

David nickte. Sie hatte recht. „Ich werde mal herumtelefonieren.“

„Danke.“ Sie kehrte – für David erstaunlich schnell – zum eigentlichen Thema zurück. „Möchten Sie selbst am Grill stehen?“

„Gern, aber Gideon ist der Koch in unserer Familie und wird wahrscheinlich meinen Part übernehmen. Zum Essen bitte nur etwas Einfaches wie Hotdogs und Hamburger. Beim Rest lasse ich Ihnen gern freie Hand.“

„Wie viel Geld steht mir zur Verfügung?“

„Keine Ahnung. Wären tausend Dollar ausreichend?“

Valerie bekam fast einen Hustenanfall. „Ich denke, ich komme auch mit weniger Geld aus.“

„Meinetwegen. Und könnten Sie am Abend etwas für die Kinder organisieren, sodass die Erwachsenen ein bisschen Zeit ohne sie verbringen können?“

„Kann ich gern machen. Kennen Sie denn ein Mädchen im Teenageralter, das mir helfen könnte? Das wäre für mich sonst ziemlich anstrengend.“

„Rufen Sie Aggie an. Wahrscheinlich kann sie Ihnen ein paar Namen nennen.“

„Sie haben nicht erwähnt, ob Noah in Begleitung kommt.“

„Er geht noch nicht wieder aus.“ Soweit David wusste, hatte Noah sich seit dem Tod seiner Frau vor drei Jahren nicht mehr verabredet, nicht einmal auf eine Tasse Kaffee.

„Soll ich Einladungen verschicken, oder rufen Sie die Leute an?“

„Ich rufe sie an, dann weiß ich gleich, ob sie die Einladung annehmen oder nicht.“

Valerie drückte den Notizblock an sich. „Das wird ein Riesenspaß.“

„Schön, dass Sie so denken. Ich möchte, dass Sie sich heute freinehmen.“

Sie runzelte die Stirn. „Warum?“

„Hannah geht ja ab morgen wieder in die Schule, und Sie sollten den heutigen Tag zusammen verbringen. Sie können den Pool benutzen, sooft Sie möchten.“

„Gut, vielen Dank.“

Als sie den Raum verließ, sah David auf seine Armbanduhr. Mit Joe und Dixie würde er persönlich sprechen, auch wenn das vielleicht bedeutete, schlafende Hunde zu wecken.

Valerie nahm die Partygesellschaft unter die Lupe, als sie Knabberzeug auf den Tisch neben dem Pool abstellte.

Davids Begleitung, Gideon sowie Joseph und Dixie ließen auf sich warten. Im Pool waren acht Kinder und einer von Josephs Brüdern. Mindy und Jessica passten auf sie auf und waren für das Unterhaltungsprogramm im Cottage zuständig. Hannah saß mit ihrer neuen Freundin Gabby in einer Ecke des Pools, wo die beiden tuschelten und kicherten.

Als Valerie die Treppen zur Küche hinaufstieg, hielt sie vergeblich Ausschau nach David. Ärgerte er sich über die Verspätung seiner Verabredung? Vielleicht hatte sie ihn auf seinem Handy angerufen, dass sie später käme – oder gar nicht.

„Jetzt kann die Party losgehen!“, rief Joseph übermütig, der mit Dixie gerade die Zufahrt zum Haus hochkam.

Valerie freute sich, dass die beiden wieder Händchen hielten. Sie hatte sich gefürchtet, Dixie wiederzusehen. Würde sie Valerie die kalte Schulter zeigen, weil sie ihr letzte Woche etwas vorgespielt hatte? Valerie wollte sich wie Hannah einen Freundeskreis aufbauen und vor allem neue Freundinnen gewinnen.

Hannah könnte aber auch von männlichen Vorbildern profitieren. Das war etwas, was Valerie in ihrer Kindheit verwehrt geblieben und vielleicht die Ursache ihrer Probleme war. Da David für Hannah keine Vaterfigur sein konnte, musste Valerie einen geeigneten Partner finden. Über Freundinnen könnte sie jemanden kennenlernen. Sie wäre dazu gezwungen, auszugehen und Kontakte zu knüpfen.

Plötzlich zuckte sie zusammen, als David fragte: „Geht’s nach oben oder unten?“ Er war mit einem Nachschub an Limonade auf dem Weg zum Pool.

„Nach oben in die Küche. Joseph und Dixie sind gerade eingetroffen.“

„War nicht zu überhören“, sagte er. „Die Party läuft gut.“

„Ja, weil jeder jeden kennt.“

„Sieh mal einer an, wen sie dabeihat!“, verkündete Dixie, als ein Mann und eine Frau die Zufahrt heraufkamen. „Großer Gott, Laura, hast du denn nichts Besseres aufgabeln können?“

Da Dixie grinste, nahm Valerie an, dass Dixie und der Mann sich gut genug für solche Sticheleien kannten. Sie erkannte Gideon von Davids Fotos wieder. Und mit „Laura“ war bestimmt Laura Bannister gemeint, Davids Begleitung.

Mit ihren langen blonden Haaren und dem eng anliegenden T-Shirt sah sie atemberaubend aus, von ihrer aufregenden Figur ganz zu schweigen.

David rauschte an Valerie vorbei, um die neuen Gäste zu begrüßen. Würde er Laura mit einem Kuss begrüßen? Nein. Er umarmte sie schnell und schüttelte dann die Hand von Gideon, der ohne Begleitung gekommen war.

Valerie traf in der Küche weitere Partyvorbereitungen. Nach kurzer Zeit gab sie es auf, David und seine Begleitung zu ignorieren, und suchte nach ihnen. Die beiden standen bei mehreren Gästen. Laura legte öfter die Hand auf Davids Arm und lächelte ihn an. An ihrer Körpersprache konnten alle ablesen, wie wohl sie sich in der Gegenwart des anderen fühlten.

Die Stiche ins Herz trafen Valerie nicht unvorbereitet. Sie hatte in der vergangenen Woche sehr viel Zeit mit David verbracht, als sie zusammen an Projekten gearbeitet hatten. Sie hatte darauf geachtet, sogar unverfängliche Berührungen zu vermeiden.

Andererseits lobte David ihr Können und brachte sie zum Lachen, wenn sie zu ernst wurde. Mehr und mehr genoss sie seine Nähe. Daher war es für sie schwer, ihn mit diesem Männertraum Laura zu sehen.

Dixie kam zu ihr in die Küche gerauscht, verschränkte die Arme vor der Brust und wippte mit dem Fuß auf und ab. „Wen haben wir denn da? Wenn das nicht Davids … Mädchen ist. So hat er dich doch genannt, oder?“

„Er hat dir die ganze Sache erklärt, nehme ich an?“, fragte Valerie und hielt beinahe den Atem an. Sie hatte Angst, dass es Streit geben könnte.

„Ich mag keine Lügner“, erklärte Dixie.

„Ich auch nicht. Es tut mir im Nachhinein leid, dass ich deinem Freund einen Gefallen getan habe, damit ihr beide wieder zusammenkommt. Mir war nicht klar, wie es in Kleinstädten zugeht. Ich wollte nur Freundschaften schließen, und jetzt denkt jeder schlecht von mir.“

Dixie durchbohrte sie mit Blicken. „Ist das eine Entschuldigung?“

„Ja.“ Bitte lass mich nicht um Vergebung betteln. Nach all dem, was während der Schwangerschaft mit Hannah passiert war, hatte sie sich geschworen, nie wieder um etwas zu betteln.

„Entschuldigung angenommen“, antwortete Dixie schließlich. „Ich fand es eigentlich ganz süß, was Joseph sich da ausgedacht hat. Kann ich dir bei irgendetwas helfen? Soll ich David holen?“

„Ich möchte ihn nicht von seiner Begleitung loseisen.“ Valerie hätte gern etwas zu tun gehabt, um nicht an Laura zu denken.

„Das ist schon ein Knaller, oder? Ich dachte, sie hätten sich vor Monaten getrennt“, sagte Dixie und biss von einer Karotte ab. „Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass sie wieder zusammen sind.“

Valerie dachte daran, dass das ihre Schuld war, denn schließlich hatte sie David überredet, sich zu verabreden.

„Also ich habe kein Problem damit, David Bescheid zu geben, dass alles fertig ist.“

Sie öffnete die Tür und blieb dann stehen. „Sollen wir uns mal zum Mittagessen oder so treffen?“

„Ja, sehr gern.“

„Wir machen einen Termin aus, bevor die Party vorüber ist. Soll ich auch Miss Universum einladen, damit ihr euch besser kennenlernt?“

Valerie lächelte, als sie den Spitznamen hörte, der voll und ganz auf Laura passte. „Nennst du sie in ihrer Gegenwart auch so?“

„Nein, denn dann würde sie sich daran erinnern, dass sie nur Zweite geworden ist. So gehässig bin ich nicht.“ Dixie grinste und verließ den Raum.

Valerie starrte die Platten mit dem vorbereiteten Essen an. Laura hatte bei der Miss Universum-Wahl den zweiten Platz erreicht? Das bedeutete, dass sie zuvor Miss USA geworden war, Miss Kalifornien, Miss … was auch immer.

Wie sollte sie mit so jemandem …

Valerie kniff die Augen zusammen. Sie konkurrierte nicht mit Laura und konnte es auch nicht. Eigentlich waren das die besten Nachrichten überhaupt, denn wenn David Miss Universum hatte, würde er sich wohl kaum für Valerie interessieren.

Sie sollte erleichtert sein …

„Bis du wieder mit Laura zusammen?“, fragte Gideon. Er und David beobachteten Laura beim Ballspielen im Pool.

David zuckte mit den Achseln. „Bin mir noch nicht sicher.“

„Mir scheint es so, als ob sie gern wieder mit dir zusammen sein würde. Aber du hältst sie auf Distanz, wenn ich das überhaupt beurteilen kann.“

Zu Gideons Stärken gehörte seine überdurchschnittliche Menschenkenntnis, was ihn zu einem Gewinn für die Marketingabteilung von Falcon Motorcars machte. Leider war sein Geschäftssinn nicht ganz so ausgeprägt.

„Ich will nicht noch einmal den gleichen Fehler begehen“, erklärte David.

„Welchen Fehler?“

„Den Fehler, eine Beziehung mit einer Frau anzufangen, für die ich zu viel Geduld und Verständnis aufbringen muss.“

„Sehr vernünftig. Übrigens, deine neue Haushälterin sieht toll aus.“

„Finger weg! Sie ist das Beste, was mir seit Jahren passiert ist.“

„Ich werde sie dir schon nicht wegnehmen.“

David beobachtete Valerie beim Abräumen der Tische. Sie hatte sich kurz mit Dixie und Joseph und natürlich mit Aggie unterhalten, aber ansonsten mischte sie sich nicht unter die Partygäste, obwohl er sie dazu ermutigt hatte.

Er bekam mit, wie Valerie Laura beobachtete, die sich gerade lautstark darüber freute, ein Tor geschossen zu haben. Was dachte Valerie wohl über die konkurrenzbewusste, attraktive Laura? Soweit er das beurteilen konnte, hatten sie nicht miteinander gesprochen.

Davids und Lauras Blicke trafen sich. Ihr Lächeln war mehr als herausfordernd – mehr als nur ein harmloser Flirt. Warum tat sie das? Warum hatte sie noch Interesse an ihm? Es hatte sich doch nichts geändert.

Laura stemmte sich am Beckenrand hoch, anstatt den Pool über die Treppen zu verlassen, sodass David einiges von ihrem Dekolleté zu sehen bekam. Sogar Gideon vergaß bei dem Anblick, von seinem Bier zu trinken.

Laura bespritzte David mit ein paar Wassertropfen. „Warum kommst du nicht rein? Es ist herrlich.“ Sie trat so nah an ihn heran, dass er die Wassertropfen von ihrer glatten, straffen Haut hätte ablecken können.

Aber er wollte nicht. Er hatte Laura nur eingeladen, um Valeries Ruf zu schützen, und nun bekam er die Quittung dafür.

David sah in die Richtung, in der Valerie gestanden hatte, aber sie war nicht mehr da. Sie huschte so lautlos wie ein Schatten durch die Gegend. Er entdeckte sie im Gespräch mit Aggie. Diese sagte etwas, was Valerie so erheiterte, dass sie vor Lachen nach Luft rang und sich nach vorn beugte.

Er hätte gern gewusst, was sie so zum Lachen gebracht hatte.

Valerie erhielt von Aggie und Dixie ungefragt Hilfe beim Aufräumen und Abspülen. Sie hätte von sich aus nie um Hilfe gebeten und freute sich, dass sie Gesellschaft hatte.

Auf dem Weg zum Cottage ging sie an David und Gideon vorbei, die am Pool saßen.

„Die Party war wundervoll!“, rief David ihr zu. „Danke.“

„Gern geschehen.“

Hannah schlief bereits. Valerie schlich sich auf Zehenspitzen in ihr Zimmer, strich ihr die Haare aus dem Gesicht und küsste sie auf die Wange.

Nach dem Duschen trocknete Valerie sich ab und trat in ihrem dunklen Schlafzimmer ans Fenster. David saß jetzt allein in einem Liegestuhl, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und betrachtete den Nachthimmel.

Sie wollte nach ihrem Nachthemd greifen, beobachtete aber dann doch lieber still und ruhig den Mann, der für sie schnell zu wichtig geworden war – und zu aufregend. Ja, sie hatte Sehnsucht nach David.

Schließlich stand David auf und schaltete das Licht aus, sodass nur Mondlicht auf den Pool fiel.

Valerie konnte ihn kaum in der Dunkelheit ausmachen, als er sich auszog und in den Pool sprang. Sie wünschte sich, ganz nahe bei ihm zu sein, um seinen vollkommenen Körper zu bewundern. Seit sie bei ihm arbeitete, hatte sie erfreulicherweise ein paar Pfunde zugelegt und fühlte sich nun weiblicher und begehrenswerter. Sie wollte, dass er das bemerkte … und dann doch wieder nicht.

Valerie war hin und her gerissen. Sie zwang sich, ihr Nachthemd anzuziehen und ins Bett zu gehen, bevor David aus dem Pool stieg.

Wer hätte gedacht, dass in ihr ein Voyeur steckte?

6. KAPITEL

Nachdem Hannah am nächsten Morgen in den Schulbus gestiegen war, begann Valerie, den Pool mit einem Schlauch zu reinigen. David musste wieder weg, ohne diesmal sagen zu können, wann er zurückkehren würde.

Das Bild von David und Laura ließ sie nicht mehr los. Jeder Mann auf der Party hatte Laura beobachtet, als sie in ihrem knappen Bikini aus dem Pool stieg. Und da war dann noch die Umarmung zwischen Laura und David am Ende des Abends.

Valerie hatte Lauras Nähe die ganze Zeit gemieden. Bis auf die Begrüßung und die Verabschiedung hatten sie nicht miteinander geredet.

Und dann hatte sie ein Gespräch zwischen David und Gideon zufällig mitgehört. David bezeichnete darin die Ehe als eine Falle, in die er nicht tappen würde. Aber was bedeutete das für Laura? Wusste sie Bescheid, wie er darüber dachte? Warum war er der Ehe so abgeneigt?

Sie spürte eine Berührung auf der Schulter und fuhr herum.

David konnte gerade noch verhindern, mit Wasser bespritzt zu werden, indem er den Strahl in eine andere Richtung lenkte.

„Oh, es tut mir leid.“ Sie stellte das Wasser ab.

„Nein, ich sollte mich entschuldigen. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Sie waren wohl in Träume versunken.“

„Ich habe nur darüber nachgedacht, wie sehr ich die Arbeit hier mag und wie abwechslungsreich sie ist.“

„Wo wir gerade von Ihrer Arbeit sprechen: Ich habe vorhin mit Denise Watson telefoniert, weil ich Sie nun offiziell bei Falcon Motorcars einstellen möchte. Mae Carruthers, die ja gestern auf der Party war, wird Ihnen die Unterlagen zusenden, die alle neuen Angestellten ausfüllen müssen. Zwar kann ich die Unterlagen erst nach meiner Rückkehr unterschreiben, aber von meiner Seite aus sind Sie eingestellt.“

„Vielen Dank“, brachte sie hervor. Er wollte sie – noch vor Ablauf des Probemonats …

„Valerie, ich habe noch nie mit jemandem wie Ihnen zusammengearbeitet. Sie wissen, was ich will, bevor ich es selbst weiß. Alles, was Sie anpacken, meistern Sie mit Bravour.“

„Bitte überschütten Sie mich nicht mit Lob, David. Ich bin nicht perfekt.“

„Für mich sind Sie es. Dann sind Sie also einverstanden?“

Sie war für ihn perfekt – die perfekte Mitarbeiterin. „Womit einverstanden?“

„Dass Sie weiterhin für mich arbeiten. Möchten Sie das?“

Mehr als alles andere. „Ja.“

Einen Moment lang sah es so aus, als ob David sie gleich umarmen würde.

Valerie blickte ihn erwartungsvoll an.

Plötzlich trat er entschlossen einen Schritt zurück. „Ich rufe Sie an, wenn ich in Hamburg angekommen bin.“

„Ja. Dann wünsche ich Ihnen einen guten Flug.“

Als er aus der Garage fuhr, hielt er noch einmal an und ließ das Beifahrerfenster herunter.

Sie ging hinüber und beugte sich zu ihm hinunter.

„Haben Sie noch etwas auf dem Herzen?“, fragte er.

Bevor sie etwas darauf erwidern konnte, bemerkte sie, wie sein Blick auf den Ausschnitt ihrer Bluse fiel. Stell dich gerade hin, befahl sie sich selbst. Aber sie rührte sich nicht.

David sah wieder zu ihr auf und umklammerte das Lenkrad. „Wollten Sie noch etwas von mir?“ Seine Stimme klang angespannt.

„Ich wollte Ihnen nur zum Abschied winken.“

Er winkte ihr zu und fuhr ein Stück rückwärts. Dann war er weg.

War das nur Einbildung, oder fühlte er sich … zu ihr hingezogen?

Valerie wandte sich wieder ihrer Arbeit am Pool zu und drehte den Schlauch voll auf.

Kurz darauf bog ein roter Sportwagen auf die Auffahrt, und Laura Bannister stieg aus.

Valerie lief es eiskalt den Rücken hinunter. Wie hatte sie nur Davids Freundin vergessen können?

„Hi“, begrüßte Laura sie beschwingt und schob ihre Sonnenbrille nach oben.

„Sie sind Valerie, richtig?“

„Ja, Miss Bannister. Es tut mir leid, aber Sie haben David gerade verpasst. Er ist auf dem Weg zum Flughafen.“

„Eigentlich bin ich Ihretwegen hier.“

Valerie ließ sich ihre Neugier nicht anmerken. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich habe gehört, dass Sie das Essen auf der Party gestern selbst gemacht haben. Deswegen wollte ich nachfragen, ob Sie mir das Rezept für den Kartoffelsalat geben könnten.“ Sie schenkte Valerie ein einnehmendes Lächeln.

Valerie konnte sehen, weshalb sie Schönheitswettbewerbe gewonnen hatte. Da sie sich wahrscheinlich häufig sehen würden, musste sie versuchen, Laura zu mögen. Es wäre kein kluger Schachzug, die Freundin des Chefs zu verstimmen. „Gern. Kommen Sie mit.“

Sie gingen in die Küche, wo Valerie das Rezept aus einer Schublade hervorholte.

„Ich mache Ihnen davon eine Kopie.“

„Sie sind meine Rettung. Dann kann ich während meiner Mittagspause auf den Markt gehen.“

Valerie hielt inne. „Wollen Sie den Kartoffelsalat heute Abend essen?“

„Ja. Gibt es da ein Problem?“

„Die Zubereitung dauert eine Weile. Sie müssen die Kartoffeln kochen und schälen, alles klein hacken und mit dem Dressing vermengen. Dann muss man ihn eine Weile ziehen lassen, damit sich das Aroma auf den Salat überträgt.“

„Oh. Nun, dann kaufe ich dieses Mal welchen. Aber das Rezept hätte ich trotzdem gern.“

Was ging hier vor sich? Valerie kannte Laura nicht gut, hatte aber festgestellt, dass sie sich gut unter Kontrolle hatte. Jetzt schien sie jedoch nervös zu sein. Ohne großes Selbstvertrauen könnte eine Frau weder Schönheitswettbewerbe gewinnen noch als Anwältin bestehen. Außerdem war es merkwürdig, dass sie kurz nach Davids Abfahrt hier auftauchte. Laura war aus einem ganz anderen Grund hier.

„Bitte sehr“, sagte Valerie und gab Laura das Rezept. „Es ist noch Kartoffelsalat übrig, den ich Ihnen mitgeben könnte. Wie viele Gäste werden Sie bewirten?“

„Oh, Sie sind ein Schatz! Vielen Dank. Haben Sie genug für vier Personen übrig?“

„Ich glaube schon.“ Valerie entschied sich dann, Laura den gesamten Rest des Salats mitzugeben. Er gehörte sowieso nicht zu Hannahs Lieblingsessen.

Laura bedankte sich erneut, ging in Richtung Tür und blieb dort stehen. „Ich habe vergessen, wie lange David dieses Mal weg sein wird.“

Valerie wunderte sich nur. Wenn es ihr Freund wäre, wüsste sie über jeden Termin in seinem Kalender Bescheid. „Das kann er noch nicht genau sagen.“

„Oh, ja, richtig. Er hatte so etwas angedeutet. Also, vielen Dank noch mal.“

Laura eilte zur Tür hinaus und warf diese beinahe ins Schloss.

Valerie fragte sich, was Laura tatsächlich gewollt hatte. Sie war auf jeden Fall zum Spionieren hier gewesen. Aber warum? Valerie bezweifelte, dass Laura oft selbst am Herd stand, denn sonst hätte sie gewusst, dass Kartoffelsalat nicht mal eben schnell zubereitet werden konnte, zumindest nicht die klassische Variante.

Ihr Handy klingelte, und sie sah auf dem Display, dass ihre Mutter anrief. Sie setzte sich in einen Liegestuhl und atmete tief durch. „Hallo, Mom.“

„Hallo, Fremde.“

Schuldzuweisungen waren genau das, was sie jetzt nicht gebrauchen konnte. Sie liebte ihre Mutter, aber … „Ja, ich weiß, es tut mir leid. Ich bin umgezogen und habe einen neuen Job, aber ich wollte nichts beschreien, indem ich dir zu früh davon erzähle.“

„Du lässt mich im Ungewissen und meldest dich nicht, weil du nichts beschreien willst?“

Sie erzählte ihr von David und ihrem neuen Job.

„Du schaffst es immer wieder, auf den Füßen zu landen.“

„Ich habe viel gearbeitet, Mom.“

„Wagner Rawling ist tot.“

Valerie schoss in ihrem Sessel kerzengerade in die Höhe und umklammerte das Handy. „Wann? Was ist passiert?“

„Gestern. Ein Bootsunfall vor der Amalfiküste.“

„Das ist ja schlimm. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Jetzt wird Hannah ihren Großvater nie kennenlernen.“

„Nein, sein Sohn ist gestorben.“

Valeries Beine versagten fast. Sie drückte ein Kissen im Sessel an sich. „Hannah wird niemals ihren Vater kennenlernen.“

„Diese Suppe hat er sich selbst eingebrockt.“

Valerie strich sich über ihre geschlossenen Augenlider. „Und wir durften sie auslöffeln. Es war seine Entscheidung, seine Tochter nicht kennenzulernen und nicht zu sehen, was für ein hübsches kleines Mädchen sie ist. Du erwartest doch nicht, dass ich zur Beerdigung erscheine?“

„Ich habe meine Zweifel, dass sie dich mit offenen Armen empfangen werden. Man müsste dich den anderen Trauergästen vorstellen. Und glaub ja nicht, dass du etwas von seinem Erbe abbekommst. Du hast ja auf alles verzichtet.“

Valerie presste die Zähne zusammen. „Ich weiß, was ich getan und nicht getan habe, Mom. Ich erwarte gar nichts. Er hatte acht Jahre lang Zeit, sich zu melden. Ich habe nicht vor, alte Wunden aufzureißen.“

„Ist ja gut, ich wollte dir nur Bescheid sagen, damit du es nicht aus den Nachrichten erfährst und erschrickst. Die Beerdigung findet in Los Angeles statt. Die Rawlings werden für ein paar Wochen hierherkommen und wohl auch die junge Witwe mitbringen.“

Wagner hatte noch vor Hannahs Geburt eine andere Frau geheiratet.

Valerie ignorierte bewusst den letzten Teil des Satzes. „Dann hast du ja zu tun.“

„Dafür werde ich auch bezahlt.“

„Ja, natürlich.“

„War es nicht gut, dass ich dir gezeigt habe, wie man für eine Familie sorgt? Sonst hättest du diesen angenehmen Job vielleicht nicht bekommen.“

„Ja, ich danke dir.“ Und schon wieder wies ihre Mutter sie darauf hin, wie viel sie für ihre Tochter aufgegeben hatte und wie klug sie war. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter wollte Valerie ihre Tochter liebevoller erziehen.

Die mangelnde zärtliche Zuwendung in ihrer Kindheit war mit ein Grund dafür gewesen, dass sie auf Wagners Zuneigung so angewiesen war. Sie hatte es geliebt, von ihm in den Arm genommen zu werden.

Sie glaubte ihm auch alles, was sich schon bald als Riesenfehler entpuppte. Ein Fehler, für den sie bitter büßen musste.

„Gut, ich habe viel zu erledigen“, sagte ihre Mutter. „Wir hören voneinander.“

Valerie legte auf und lehnte sich zurück. Was sollte sie ihrer Tochter sagen? Auch wenn Hanna seit einiger Zeit nicht mehr nach ihrem Vater gefragt hatte, könnte sie es irgendwann wieder tun. Wie würde sie diese Nachricht verkraften?

Da David den ganzen Tag unterwegs sein würde, hatte Valerie Dixies Einladung zum Mittagessen angenommen. Sie fuhr zum Restaurant „Take a Lode Off“.

Dixie war noch nicht da. Deshalb setzte Valerie sich an einen freien Tisch in der Nähe des Fensters und wartete. Nach kurzer Zeit sah sie ihre neue Freundin den Bürgersteig heraufkommen. Dixie trug ein ärmelloses Hemd, Jeans und Stiefel, also das, was sie anhatte, wenn sie ihrer Arbeit in der örtlichen Eisenwarenhandlung ihrer Familie nachging. Ihre blonden Locken wippten beim Gehen.

Valerie warf einen Blick auf ihr Spiegelbild im Fenster: Ihr kastanienbraunes Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Nicht zu sehen waren ihre schlichte blaue Caprihose, die Bluse und Sandalen. Sie hatte keine Rundungen vorzuweisen, die diesen Namen verdient hätten, und ganz bestimmt kein Dekolleté, das die Blicke auf sich zog wie das von Dixie … oder von Laura.

Dixie winkte ihr zu, als sie das Restaurant betrat. Sie grüßte die anderen Kunden und die Angestellten. Das war es, was sich Valerie für Hannah wünschte: ein Leben in einer Kleinstadt, in der sich die Leute kannten und sich umeinander kümmerten.

„Du hast eine tolle Party gegeben“, bemerkte Dixie und fischte eine Speisekarte aus dem Halter neben der Tischjukebox.

„Danke. Ich mache so etwas gern.“

„Du hast dich aber nie hingesetzt und dich einfach nur amüsiert. Du bist wohl ein Arbeitstier, was?“ Sie winkte der Bedienung hinter dem Tresen zu. „Schätzchen, kannst du uns Eistee bringen?“

„Na klar, Dixie.“

„Bist du mit Eistee einverstanden?“

Valerie nickte.

„Du bist so still.“

Sie hätte Dixie gern anvertraut, dass Hannahs Vater tödlich verunglückt war. Weil sich hier aber Gerüchte in rasendem Tempo verbreiteten und Hannah von dessen Existenz nichts wusste, behielt Valerie die Nachricht lieber für sich. „Tut mir leid, ich bin ein bisschen müde, glaube ich.“

Zwei Gläser mit Eistee wurden an ihren Tisch gebracht.

„Was hältst du von den Leuten hier?“

„Sie sind alle sehr nett.“

Dixie grinste. „Das ist alles? Ich habe gesehen, dass du alle beobachtet hast. Ruhige Menschen wie du denken nach, bevor sie handeln.“

„Das stimmt.“

„Also, was hältst du von Noah und seinen Kindern?“

„Er ist ein attraktiver, ernster Mann, der sich viele Sorgen um seine Kinder macht, aber nicht gut über Kindererziehung Bescheid weiß.“ Valerie erschrak und kniff den Mund zusammen. So offen sollte sie nicht über die Familie ihres Vorgesetzten sprechen.

„Wir haben uns alle Sorgen um Noah gemacht“, erzählte Dixie. „Er hat seine Frau so sehr geliebt und schien nach ihrem Tod nicht mehr ins Leben zurückzufinden. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viele Kindermädchen und Haushälterinnen bei ihm gearbeitet haben. Die armen Kinder. Und was hältst du von Gideon?“

„Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.“

„Und von Miss Universum?“

Valerie lächelte, denn das wurde von ihr erwartet. „Sie ist eine schöne Frau. Sie und David ergänzen sich sehr gut.“

„Wenn man vom Teufel spricht.“

Valerie saß mit dem Rücken zur Tür und fragte: „Laura?“

„Sie kommt auf uns zu“, flüsterte Dixie.

„Was für eine nette Überraschung“, sagte Laura, als sie am Tisch der beiden stehen blieb. „Meine Bestellung ist gleich fertig. Kann ich solange hier warten?“

Dixie hob die Augenbrauen und sah Valerie an, die daraufhin mit den Schultern zuckte.

„Hol dir einen Stuhl“, sagte Dixie. „Ich dachte, du arbeitest dienstags in Sacramento?“

„Während der Urlaubszeiten kann der Terminplan nicht so strikt eingehalten werden. Wie ist der restliche Vormittag verlaufen?“, fragte sie Valerie.

„Der restliche?“, wiederholte Dixie. „Ihr habt heute schon miteinander gesprochen?“

„Sie kam heute Morgen vorbei.“

„Ach ja?“ Dixies Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Laura.

„Ich wollte ihr Rezept für den Kartoffelsalat haben.“

Valerie bemerkte die Überraschung in Dixies Gesicht. Bevor sie etwas erwidern konnte, sagte Laura: „Sie war so freundlich und überließ mir nicht nur das Rezept, sondern auch die Reste von der Party. Da werde ich heute Abend viel Zeit beim Kochen sparen.“

Laura sah Dixie herausfordernd an.

Valerie wurde noch neugieriger, als sie feststellte, dass Dixie daraufhin nur an ihrem Eistee nippte und nicht wie sonst ihre Meinung dazu äußerte.

Nachdem sie sich über dieses und jenes unterhalten hatten, zum Beispiel über das, was Hannah in dieser Gegend unternehmen könnte, war Lauras Bestellung fertig.

Laura stand auf. „Ich habe in zehn Minuten einen Termin mit einem Klienten“, sagte sie, und es hatte ganz den Anschein, als ob sie die beiden Frauen nicht allein lassen wollte. „Vielleicht können wir uns mal wiedertreffen.“

„Okay“, antwortete Dixie.

Valerie nickte nur.

Kaum war Laura zur Tür hinausgegangen, beugte sich Dixie zu Valerie hinüber. „Du hast mir gar nicht erzählt, dass dich Miss Universum heute Morgen besucht hat und dein Kartoffelsalat-Rezept haben wollte.“

„Ist das so schlimm?“

Dixie fing an zu lachen und konnte nicht mehr aufhören. Schließlich setzte sie sich zurück und grinste. „Bei der Frau würde sogar Wasser anbrennen. Sie könnte nicht mal dann nach Rezept kochen, wenn ihr Leben davon abhängen würde.“

Valerie fand diese Äußerung nicht sonderlich überraschend, da sie ja schon festgestellt hatte, dass Laura nicht oft kochte.

„Was glaubst du denn, warum sie da war? Jedenfalls nicht des Rezepts wegen.“

„Ich habe keine Ahnung. Und du?“

„Ich glaube, sie war da, um ihre Rivalin zu begutachten.“

„Welche Rivalin?“

„Na, dich natürlich.“

„Aber … David hat doch allen erzählt, dass wir nur etwas vorgespielt hatten, damit Joseph dich zurückgewinnen konnte.“

„Das habe ich euch auch geglaubt, Val. Ihr passt zueinander, weißt du? Jeder hat sich auch darüber gewundert, dass ihr euch gestern die meiste Zeit aus dem Weg gegangen seid.“

„Ist das dein Ernst?“ Valerie spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann. „Meine Aufgabe war gestern, die Party zu veranstalten. Warum sollte ich mit meinem Chef feiern?“

„Wir haben euch alle gestern Abend tanzen sehen. Egal ob das aufgesetzt war oder nicht, da läuft etwas zwischen euch.“

„Da ist nichts. Nichts. Da darf nichts sein.“ Valerie bekam plötzlich Angst. Sie durfte den neuen Job nicht aufs Spiel setzen, nicht durch Gerüchte und Klatsch. Ihren alten war sie durch Intrigen losgeworden. „Dixie, ich möchte nicht, dass die Leute so über mich denken. Ich brauche dazu deine Hilfe.“

„Wenn ich zu vehement widerspreche, macht das alle noch neugieriger. Du willst ihnen doch nicht mehr Stoff für ihren Klatsch liefern.“

„Was sollen wir dann tun?“ Nach der Nachricht von Wagners Tod war das mehr, als Valerie ertragen konnte – ganz zu schweigen davon, dass sie sich zu David hingezogen fühlte. Sie wollte ihn … aber den Job nicht verlieren. Außerdem hatte Hannah ein schönes Zuhause verdient, in dem sie sich sicher fühlte.

Tränen stiegen ihr in die Augen.

„O nein! Ich habe dich zum Weinen gebracht. Ich wollte doch nur Spaß machen. Die Leute denken nicht, dass du und David eine Affäre habt – oder irgendwas in der Art.“

„Du hast Spaß gemacht?“

„Ich schwöre. Sei nicht traurig.“

Dixie wusste nichts davon, dass Valeries Verhalten immer noch von dem Vorwurf der sexuellen Belästigung überschattet und beeinflusst wurde.

Auch das konnte Valerie ihr nicht erzählen. Sie sah auf den Boden ihres leeren Glases. Sie wünschte, sie hätte eine beste Freundin, der sie sich anvertrauen konnte. Sie hatte es satt, alles für sich zu behalten. Das musste sie jedoch weiterhin tun, solange sie sich nicht sicher sein konnte, dass sich ihre Äußerungen nicht wie ein Lauffeuer verbreiten würden – auch wenn Geheimnisse ihr in der Vergangenheit großen Schaden zugefügt hatten.

„Ich muss zurück zum Haus“, sagte sie und holte ihre Brieftasche hervor. „Hannah wird bald aus der Schule zurück sein.“

„Verzeihst du mir?“, fragte Dixie.

Valerie rang sich zu einem Lächeln durch. „Natürlich.“

„Gut. Wir können das hier ohne Laura mal wiederholen.“

Valerie lachte. „Deiner Mimik nach zu urteilen, seid ihr beide keine Freundinnen.“

„Wir sind keine Feinde, aber sie liegt als Ex-Schönheitskönigin und Anwältin auf einer anderen Wellenlänge als wir. Sie verkehrt jetzt mit vielen wichtigen Leuten. Als sie und David zusammen waren, haben wir ihn nie zu Gesicht bekommen. Sie geht nicht ins Stompin’ Grounds.“

Valerie runzelte die Stirn. „Du hast gesagt, dass sie sich vor Monaten getrennt haben. Warum war sie dann gestern da?“

„Das ist die große Preisfrage. Alle haben gestern darüber getuschelt.“

Valerie konnte Davids Liebesleben nicht weiter erörtern. Sie wechselte das Thema, verabschiedete sich und ging nach Hause. Als der Schulbus ankam, stand sie wie immer da und wartete auf ihre Tochter.

Hannah winkte jemandem zu, bevor sie aus dem Bus hüpfte. „Hi!“ Sie grinste.

Valerie umarmte sie. „War dein Tag schön?“

„Toll. Mom, ich möchte nie mehr von hier wegziehen.“

Valerie legte einen Arm um ihre Tochter, als sie im Haus angekommen waren. „Ich muss dir etwas sagen. Komm, wir setzen uns hin.“

Valerie hielt Hannahs Hände. „Du hast schon lange nicht mehr nach deinem Vater gefragt.“

„Das hat dich immer traurig gemacht, also habe ich aufgehört.“

„Ich habe heute erfahren, dass er gestorben ist.“

Hannah erbleichte.

„Es tut mir so leid, dass du ihn nie kennenlernen wirst.“

„Warum tut dir das leid? Er war doch nicht nett, oder? Du hast immer gesagt, dass er nichts von mir wissen wollte.“

„Er wollte dich nicht kennenlernen, das stimmt, aber das hatte nichts mit dir als Person zu tun und war allein sein Problem. Er konnte die Vaterrolle nicht übernehmen.“

„Darf ich traurig sein?“ Hannahs Augen glänzten. „Ich bin nämlich traurig. Und dabei will ich wütend auf ihn sein.“

Valerie nahm sie in die Arme. „Natürlich darfst du das, wie du willst.“

„Ich kenne viele Kinder, die einen neuen Vater bekommen haben. Vielleicht können wir auch einen neuen finden, Mom. Es wäre toll, einen kleinen Bruder zu haben.“

Valerie küsste Hannah auf die Stirn und lächelte. Sie hätte auch nichts gegen weitere Kinder, aber dann wollte sie einen Ehemann an ihrer Seite haben.

7. KAPITEL

David war nach dreieinhalb anstrengenden Wochen und mit neuen Aufträgen im Gepäck wieder zu Hause. Er fuhr die Zufahrt zu seinem Haus hoch.

Valeries Auto stand auf seinem Garagenplatz. Er merkte, wie seine Anspannung weiter nachließ. Eine friedliche Umgebung, in der er sich zu Hause fühlte – genau das brauchte er. Heute war Samstag, also würde er das restliche Wochenende zur Erholung nutzen. Er hatte Noah Bescheid gegeben, dass er darüber hinaus ein paar Tage freinehmen würde. David wollte am Pool liegen, Freunde besuchen und mit seinen Kumpels etwas unternehmen.

Valerie war weder in der Küche noch im Wohnzimmer anzutreffen. Als er sich dem Arbeitszimmer näherte, um dort seinen Aktenkoffer abzustellen, hörte er jemanden singen.

Hannah tanzte durchs Arbeitszimmer, trällerte vor sich hin und wischte mit einem Tuch Staub von den Oberflächen. Als sie David sah, blieb sie abrupt stehen. Belle eilte bellend auf ihn zu.

„Was machst du denn da?“, fragte David und kraulte seine Hündin hinter den Ohren.

„Bitte sagen Sie nichts zu meiner Mom. Bitte! Sie weiß, dass ich hier im großen Haus bin, aber eigentlich muss ich Hausaufgaben im Esszimmer machen. Das Kabel vom Fernseher ist kaputt, und Mom ist jetzt mit dem Mann in unserem Haus, während er das repariert.“

David hatte zwar den Lieferwagen vor dem Haus bemerkt, sich aber nichts weiter dabei gedacht. „Hannah, deine Mom will doch nicht, dass du arbeitest. Warum tust du es dann trotzdem?“

„Ich habe doch nicht gearbeitet, sondern Staub gewischt. Staub wischen macht Spaß.“

„Warum?“

„Man kann Staub in die Luft wirbeln oder seinen Namen in den Staub schreiben. Meine Mom lässt aber meist nicht genug Staub liegen.“

„Anscheinend tanzt du auch gern.“

Ihre Augen leuchteten auf. „Das mag ich am allerliebsten.“

„Nimmst du Tanzunterricht?“

„Irgendwann einmal. Das hat Mom mir versprochen.“

„Nun gut. Vermutlich hat deine Mom mein Auto gehört, also geh ins Esszimmer zurück, wo du eigentlich sein solltest, bevor sie dich erwischt. Geh schon.“

David wollte das Problem mit dem Fernseher selbst überprüfen. Als er durch die offene Haustür trat, hörte er Valeries Lachen. Flirtete sie etwa? Da war eindeutig ein flirtender Unterton in ihrer Stimme zu hören.

Er runzelte die Stirn. Schließlich bezahlte er sie nicht dafür, dass sie während der Arbeitszeit herumturtelte. Was … Er brach ab. Sie hatte ein Recht auf Freunde und soziale Kontakte, obwohl sie in ihren täglichen Gesprächen nie etwas in der Richtung erwähnt hatte. Außerdem war sie immer zu Hause, wenn er anrief.

Ein großer und korpulenter Mann über sechzig trat aus der Tür. David kannte den bärtigen Kabeltechniker schon sein ganzes Leben lang, denn er war jahrelang der Baseballtrainer für die Teams von Little League gewesen.

„Hey, Dave.“

„Rodney! Du arbeitest jetzt samstags?“ Sie gaben sich die Hand.

„Wir wechseln uns ab. Ich kümmere mich nur um die Notfälle. Bei euch habe ich alles in Ordnung gebracht.“

Valerie trat neben ihn und lächelte David freudestrahlend an.

Er hatte sich noch nie so willkommen gefühlt. Lächelnd ging er einen Schritt auf sie zu und hätte sie beinahe umarmt.

„Sie sind ja zu Hause“, sagte sie erfreut.

Das letzte bisschen Anspannung war verflogen.

Als Rodney gegangen war, wurde Valerie wieder ernst und „dienstlich“. „Wie war Ihre Rückreise?“

„So wie immer. Der Garten sieht gut aus. Ich glaube, ich habe ein paar Blumen gesehen, die vorher nicht da waren. Ruhen Sie sich eigentlich jemals aus?“

Valerie zuckte überrascht mit den Augen. „Das ist nur Purpursalbei. Die Gartenarbeit entspannt mich.“

„Wenn Sie meinen. Hilft Hannah Ihnen dabei?“

Sie legte vor Schreck eine Hand auf ihren Mund. „Hannah. Sie ist in Ihrem Esszimmer und macht Hausaufgaben. Ich hole sie.“

Valerie wollte an ihm vorbeigehen, aber David hielt sie am Arm fest. Ihre Haut war warm und weich.

„Sie kann so lange dort bleiben, bis sie fertig ist. Warum sollten wir sie bei den Hausaufgaben stören?“ Da sich ihr Arm anspannte, ließ er sie wieder los.

„Sind Sie sicher?“ Valeries Tonfall war etwas höher als sonst. „Normalerweise darf sie nur in die Küche. Ich achte darauf, dass sie Ihre Privatsphäre nicht stört.“

Wenn Sie wüssten. „Ich verlasse mich da auf Sie.“ Bei Hannah war er sich da nicht so sicher.

Sie legte den Kopf schief und sah David forschend an. „Sie müssen erschöpft sein. Soll ich Ihnen etwas zu Mittag kochen?“

Sie wird dafür bezahlt, dass sie sich um dich kümmert. Lass sie machen. „Ja, bitte.“

Sie gingen schweigend zum Haus zurück. Dennoch hatte er nur Augen für sie. Was eine längere Abwesenheit so ausmachen kann …

David wusste, dass er sofort auf Distanz gehen musste. „Ich gehe schwimmen“, sagte er.

„Soll ich das Essen zum Pool bringen?“

„Ja, danke.“ Er ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen, als das Telefon klingelte.

„Du bist zu Hause.“

„Hi, Laura.“

Valerie blickte auf die Rufnummernanzeige des Telefons in der Küche. Es war Laura Bannister. Sie verschwendete keine Zeit. Vielleicht hatte aber auch David sie angerufen.

Valerie rümpfte die Nase. Wenn David ihr sagen würde, dass sie sich nicht in der Nähe des Hauses aufhalten sollte und er seine Ruhe haben wollte …

Es ist sein gutes Recht. Leider, dachte Valerie eifersüchtig. Das Problem bestand darin, dass sie mehr und mehr begann, das Haus, den Garten und sogar David als ihr Eigentum zu betrachten. Sie maß der Zeit, die sie und David jeden Tag am Telefon verbracht hatten, zu viel Bedeutung bei. Andererseits sprachen sie jedoch – wenn auch nur kurz – über Privates, sobald das Geschäftliche abgehakt war. David rief meist an, bevor er zu Bett ging und Hannah in der Schule war.

Von Tag zu Tag hörte sich seine Stimme erschöpfter an. Valerie wünschte, sie könnte mit ihm reisen, um ihm einen Teil seiner vielen Arbeit abzunehmen.

Die Wahrheit war jedoch, dass Valerie seine Nähe genoss. Die Zeit ohne ihn war nicht einfach, aber sie tat ihr Bestes, um ihren Freundeskreis zu erweitern: Sie hatte Dixie und Joseph zweimal ins Stompin’ Grounds begleitet und tanzte viel, aber niemand verabredete sich mit ihr. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass die Leute immer noch nicht glaubten, dass sie und David an jenem Abend eine Beziehung nur vorgespielt hatten. Die Männer waren zwar freundlich zu ihr, hatten aber höflich Distanz gewahrt.

Das sollte nicht heißen, dass sie mit einem dieser Männer ausgegangen wäre, aber es hätte doch ihrem Selbstbewusstsein geschmeichelt, wenn sie um ein Date gebeten worden wäre.

Das Display zeigte an, dass das Telefongespräch zu Ende war. Es hatte nicht lange gedauert – weil Laura womöglich schon auf dem Weg zu David war?

Hannah kam herein und holte sich einen Keks aus der Dose. Im Arm trug sie ihre Hausaufgaben. „Kann ich jetzt schwimmen gehen?“, fragte sie.

„Später vielleicht. Mr. Falcon wird den Pool benutzen.“

Valerie hörte, wie David die Treppen hinunterging Als er in die Küche kam, drehten sie sich beide zu ihm um. Er schien Hannah mit seinen Blicken zu etwas aufzufordern.

Diese sah daraufhin auf den Boden und scharrte mit den Füßen.

Valerie runzelte die Stirn. Was war hier los? „Gibt es etwas, was ich wissen sollte, Hannah?“, fragte sie.

„Nein“, erwiderte Hannah nachdrücklich. Die Antwort kam zu schnell.

Valerie wusste, wenn ihre Tochter log. Wenn sie allein waren, würde sie nachhaken. Wenn da wirklich etwas dran war, würde sie David zur Rede stellen. „Geh jetzt, Hannah.“

David nahm den Teller und ein Bier aus dem Kühlschrank. Dann ging er kommentarlos aus der Küche.

„Werden Sie zum Abendessen zu Hause sein?“, fragte sie.

Er blieb bei der Küchentür stehen. „Nein, Sie müssen für mich nichts vorbereiten.“

Als sich die Tür hinter ihm schloss, starrte Valerie auf die Arbeitsplatte. Hatte er sich mit Laura verabredet? Würde er die ganze Nacht wegbleiben?

Unangenehme Gefühle beschlichen Valerie beim Gedanken an die beiden. Während Davids Abwesenheit war sie zweimal Laura begegnet: einmal, als sie ihr Kekse als Dank für das Rezept vorbeibrachte, und als sie mit Dixie im Restaurant saß – was für ein Zufall. Laura war beide Male freundlich zu ihr, aber auch neugierig. Gelegentlich stellte Laura Fragen über David, deren Antworten sie schon längst hätte kennen müssen. Oder wollte Laura sich tatsächlich nur mit ihr unterhalten?

Valerie ließ David genug Zeit zum Essen und ging dann hinunter, um das Geschirr abzuräumen. Er hatte den Pool nicht benutzt, aber gegessen, und war dann eingeschlafen. Er lag auf einem Liegestuhl und sah in seiner Badehose traumhaft aus, wenn man davon absah, dass sogar im Schlaf sein Gesicht von Erschöpfung gezeichnet war. Sie stand da und beobachtete ihn. Wie könnte sie ihm sein Leben erleichtern?

David schlug die Augen auf. Er schlief also doch nicht.

Valerie rührte sich nicht, um sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgeregt sie war, dass er sie ertappt hatte.

David sah sie eindringlich an. „Sie stehen mir in der Sonne“, sagte er schließlich.

Sie nahm seinen Teller und die leere Bierflasche. „Soll ich Ihnen noch eins bringen?“

„Nein danke.“

„Ich bin im Cottage, wenn Sie mich brauchen.“

„Valerie?“

„Ja?“ Sie wartete, aber er sagte nichts mehr. „Wenn das dann alles ist …“

„Ich wollte Ihnen für Ihre hervorragende Arbeit danken. Sie nehmen mir unendlich viel ab und machen mir das Leben wesentlich einfacher.“

Das war Musik in ihren Ohren. „Vielen Dank, das freut mich sehr. Sie sind der beste Chef, den ich jemals hatte.“ Valerie eilte davon, bevor er sah, wie sehr sie von seinen Worten gerührt war. Das ganze letzte Jahr hatte sie ohne Lob auskommen müssen, ohne Würdigung ihrer beruflichen Fähigkeiten und ihrer Arbeitsmoral. Sogar ihre Mutter machte sie ständig auf ihre Schwächen aufmerksam, anstatt sie zu unterstützen.

Kurz darauf ging Valerie in Hannahs Zimmer, die gerade mit dem Bettlaken kämpfte. „Was ist los?“, fragte sie und ging ans andere Ende des Bettes, um ihrer Tochter zu helfen.

„Was meinst du?“ Hannah sah sie nicht an.

„Du weißt, was ich meine. Wir haben schon mal darüber gesprochen. Wenn ein Erwachsener dir …“

„Nein, Mom! Er ist in Ordnung.“ Hannah sah ihrer Mutter jetzt in die Augen, was sie für Valerie glaubwürdig machte.

„Denk daran, du kannst mir alles sagen, okay? Alles.“

„Das weiß ich doch.“

Später am Abend sah Valerie Hannah und ihrer Freundin Gabby beim Schwimmen zu. Die Abendstunden, wenn überall Familien zusammen am Tisch saßen, waren besonders schwer für sie. Vielleicht war ihre Vorstellung etwas zu unrealistisch, denn die Zeiten hatten sich geändert: Eltern fuhren ihre Kinder zum Fußball, Baseball oder Turnen. Gegessen wurde zwischen Tür und Angel. Die Kinder waren rechtzeitig zu Hause, um vor dem Schlafengehen Hausaufgaben zu erledigen und zu baden. Das Familienleben hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem aus den alten Fernsehserien, in denen die Familie beim Abendbrot an einem Tisch saß, um miteinander zu reden und zu lachen.

Valerie sehnte sich aber nach so einem Leben. Achtzehn Jahre lang hatte ihre Familie aus ihr und ihrer Mutter bestanden, und jetzt aus ihr und Hannah. Wenigstens nahmen sie ihre Mahlzeiten zusammen ein. Dennoch wünschte sich Valerie, mit einer kompletten Familie am Tisch zu sitzen. Mit einem Ehemann.

Die Sehnsucht nach diesem Ideal verfolgte sie bis in ihre Träume. Nachts wachte sie deswegen mit klopfendem Herzen auf. Vermutlich hatte Wagners Tod alles verschlimmert. Auch wenn sie niemals geheiratet hätten, war er immerhin Hannahs Vater gewesen. Vorbei …

David war jetzt in ihr Leben getreten, hatte sie aus einem tiefen Schlaf geweckt und brachte sie in Versuchung. Trotzdem wollte Valerie ihr Versprechen, nicht zu kündigen, zu heiraten oder schwanger zu werden, wenn er sie einstellen würde, nicht brechen.

Als sie bemerkte, dass Hannahs und Gabbys Lippen schon blau vor Kälte waren, ließ sie die beiden in den Whirlpool, servierte ihnen danach Spaghetti mit Fleischbällchen und später Popcorn, als sie einen Film anschauten. Noch Stunden danach war leises Kichern und Flüstern aus Hannahs Zimmer zu hören.

Valerie ließ die beiden in Ruhe, bis sie dann um Mitternacht eingeschlafen waren. Sie ging in den Garten und genoss die kühle Nachtluft. Seit Davids Rückkehr war sie ruhelos, frustriert, aufgeregt, angespannt … und glücklich.

Valerie hörte Davids Auto in der Zufahrt. Das Licht der Scheinwerfer fiel auf sie, bevor er in die Garage fuhr.

Es war ausgesprochen dunkel und still, als er auf sie zukam.

„Hatten Sie einen schönen Abend?“, fragte Valerie.

„War okay. Ich wollte nur so lange wach bleiben, bis ich mich wieder auf die kalifornische Zeit eingestellt habe. Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich mir auch Montag und Dienstag freigenommen habe?“

„Nein, das ist aber kein Problem. Ich richte mich ganz nach Ihnen.“

„Ich werde nicht arbeiten. Noch habe ich keine Ahnung, was ich machen werde, aber bei Falcon Motorcars kann man auch ein paar Tage ohne mich auskommen.“

Sie rieb sich die Arme, ohne sich dessen bewusst zu sein.

David berührte sie leicht am Unterarm. „Sie fühlen sich kalt an. Gehen Sie doch ins Haus.“

„Gleich.“ Es war einfacher für sie, im Dunkeln mit ihm zu sprechen. „Ich weiß, dass zwischen Ihnen und Hannah etwas vorgefallen ist.“

Kurzes Schweigen. „Was hat sie gesagt?“

„Nichts, außer dass ich mir keine Sorgen machen soll.“

„Das ist richtig, aber ich hatte ihr gesagt, dass sie es Ihnen erzählen soll. Warten wir einfach ab. Es ist überhaupt nichts Schlimmes passiert, Valerie.“

„Ich habe Ihnen versprochen, dass sie Ihre Privatsphäre nicht stören wird.“

„Das hat sie auch nicht. Machen Sie sich keine Sorgen.“

Das war leicht gesagt und schwer umzusetzen, denn Valerie wusste nicht, was genau vorgefallen war. Und gerade diese Ungewissheit belastete sie.

„Falls es zu einem Problem wird und sie nicht mit der Sprache rausrückt, erzähle ich es Ihnen“, sagte David.

„In Ordnung.“

Es folgte ein unangenehmer Moment der Stille. „Bis morgen“, sagte er. „Ich kümmere mich selbst um das Frühstück. Joe und ich wollen eine Radtour machen.“

„Möchten Sie, dass ich Ihnen etwas zu essen einpacke?“

„Wir halten unterwegs irgendwo. Gute Nacht.“

„Gute Nacht. Ich bin froh, dass Sie zu Hause sind.“ Valerie ging weg, obwohl sie gern für eine Weile am Pool gesessen hätte. Sie wusste, dass er erst zu Bett gehen würde, wenn sie sicher im Cottage angekommen war.

Ich bin froh, dass Sie zu Hause sind. Ein einfacher Satz, dachte David. Seit Jahren war er noch nie so lange weg gewesen und hatte sein Zuhause mehr denn je vermisst. Da Valerie sich um vieles kümmerte, könnte er noch länger auf Reisen gehen, aber es machte ihm keinen Spaß mehr, ständig für den Kunden erreichbar zu sein und aus dem Koffer zu leben.

Gideon hatte recht: David war an der Grenze seiner Belastbarkeit angekommen. Er war jetzt fast dreißig Jahre alt und brauchte neben seiner Arbeit ein Privatleben. Ihm fehlte nur eine Lösung, bei der weder ihm noch Noah zahlreiche Geschäftsreisen abverlangt wurden. Die Firma könnte aufgrund der neuen Aufträge einen Außendienstvertreter für den europäischen Markt einstellen, auch wenn sich dadurch Davids Rolle in der Firma ändern würde. Aber würde Noah einwilligen, dass sich ein Fremder um ihre Geschäfte in Europa kümmerte? Noch nie hatte jemand außerhalb der Familie eine wichtige Position in der Firma übernommen. David musste sich das alles mal durch den Kopf gehen lassen.

Es wurde für ihn eine kurze Nacht.

8. KAPITEL

„Ich soll auf eine Dinnerparty gehen? Mit Ihnen?“ Valerie setzte sich langsam hin, nachdem David ihr das mitgeteilt – und nicht angeboten – hatte.

„Es gibt keinen Grund, so geschockt zu gucken.“

„Ich bin nur überrascht.“

„Wie ich schon erwähnt habe, handelt es sich dabei um ein Geschäftsessen.“

Warum nimmt er Laura nicht mit? Sie sprach die Frage nicht laut aus. „Warum ich?“, fragte sie stattdessen.

„Ich möchte eine zweite Meinung einholen. Sie sind neutral und würden Dinge zur Sprache bringen, an die ich nicht gedacht hätte.“

„Welche Kleiderordnung wird bei diesem Anlass verlangt?“

„Ich habe gehört, dass die meisten Frauen das kleine Schwarze anziehen. Irgendetwas in der Richtung.“

Valerie wollte nicht zugeben, dass sie so ein Kleid nicht besaß. Neulich hatte sie ohnehin schon genug Geld für Hannah und sogar für sich selbst verschwendet und wollte nicht noch mehr ausgeben.

„Wenn Sie möchten, übernehme ich die Kosten. Sie brauchen das Kleid ja für den Job.“

Sie reckte das Kinn vor. „Das wird nicht nötig sein.“

„Wie Sie meinen. Also, morgen Abend werden wir hier um halb sechs nach Sacramento abfahren. Sie brauchen einen Babysitter.“

„Ich kümmere mich darum.“ Sie musste einkaufen gehen. Würde sie in Chance City etwas Passendes finden? Wie sehr konnte sie ihre Kreditkarte belasten? Waren die Geschäfte am Sonntag offen?

„Sie sehen unglücklich aus, Valerie.“

Ihm entging nicht viel. „Ich bin nur überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass das zu meinem Job gehört.“ Warum nimmt er Laura nicht mit?

„Daran hatte ich auch nicht gedacht. Ich werde dafür sorgen, dass es in die Stellenbeschreibung aufgenommen wird. Geht es denn trotzdem für Sie in Ordnung?“

Als ob sie eine Wahl hätte. „Ja, natürlich. Ist das alles?“

„Sind Sie sicher, dass Sie mitkommen wollen?“

„Ich habe kein Problem damit.“

Valerie rief Dixie an und fragte nach, wo sie ein schwarzes Kleid herbekommen könnte.

„Einer Freundin von mir gehört ein Secondhandladen. Ruf sie doch an und frag nach, was sie auf Lager hat. Du hast wohl ein heißes Date?“

„Ich soll David bei einem geschäftlichen Treffen begleiten, das ist alles.“

Valerie fragte sich immer noch, wieso er sie dabeihaben wollte. Laura war eine außergewöhnliche Frau – sowohl intelligent als auch attraktiv. Valerie dagegen war … nur Durchschnitt.

Plötzlich wurde ihr klar, dass Laura zu sehr von David und vom Geschäftlichen ablenken könnte. Sie war viel zu schön und von Natur aus zu sexy. Aber niemand würde Valerie eines zweiten Blickes würdigen. Sie war harmlos.

Nachdem ihr das klar geworden war, beruhigte sie sich.

Dixie rief sie zurück. „Surie sagt, sie hat ein paar Teile da, die dir vielleicht passen könnten. Soll ich auch hinkommen und meinen Senf dazugeben?“

„O ja – bitte! Ich muss Hannah aber um sechs abholen.“

„Um die Zeit wird der Laden sowieso schon geschlossen haben.“ Sie gab Valerie eine Wegbeschreibung durch. „Wir sehen uns dort.“

Nach ihrer Rückkehr starrte Valerie das Kleid an, das sie erstanden hatte. Hatte sie einen Fehler gemacht? Hätte sie ein hochgeschlossenes Kleid mit langen Ärmeln nehmen sollen anstelle eines Kleides ohne Ärmel mit rundem Ausschnitt, das nicht zu viel Haut zeigte?

Valerie seufzte. Wenn es das falsche Kleid war, würde sie es morgen Abend an Davids Gesichtsausdruck erkennen können. Zur Sicherheit hatte sie ein zweites, weniger aufregendes Kleid zum Wechseln ausgesucht.

Sie setzte sich mit ihrem Taschenrechner und dem Ordner mit ihren Finanzunterlagen in ihre Küche. Zwei Rechnungen mussten noch bezahlt werden, dann würde sie schuldenfrei sein. Danach würde sie die Kreditkartenrechnung in Angriff nehmen. Sie rechnete aus, dass es ein Jahr dauern würde, bis sie die Rechnung abbezahlt hätte, selbst wenn sie sich auf das Notwendigste beschränken würde.

Obwohl sie ihre Rechnungen begleichen sollte, hatte sie Geld angespart, da sie die Sicherheit eines Notgroschens auf der Bank brauchte. Niemals würde sie zulassen, wieder ins Minus zu geraten.

Dies bedeutete, dass sie David sowohl in körperlicher als auch in emotionaler Hinsicht noch stärker auf Distanz halten musste, besonders jetzt, wenn sie eine …

Nein. Sie hatten keine Verabredung. Das musste sie sich immer wieder in Erinnerung rufen.

Als David Valerie abholte, verhielt er sich höflich, und trotzdem ruhte sein Blick auf ihr, in dem sie zuerst Überraschung, dann Bewunderung lesen konnte. Sie selbst konnte nicht aufhören, ihm während der Fahrt von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke zuzuwerfen. Valerie mochte seinen Fahrstil und freute sich, wie locker er heute war.

Er informierte sie über die beiden Männer und deren Ehefrauen, mit denen sie zum Dinner verabredet waren. Er sprach auch über eine Idee, die er Noah erst mitteilen würde, wenn das Projekt in trockenen Tüchern war. David verließ sich darauf, dass sie seinen Plan bis dahin geheim hielt.

In erster Linie war das Dinner dazu da, um sich gegenseitig kennenzulernen. David würde sich unter der Woche mit den beiden Männern zusammensetzen, um das Geschäftliche zu besprechen.

Valerie dachte später auf der Rückfahrt daran, wie David sie im Laufe des Abends berührt hatte, zum Beispiel, als er beim Gang ins Restaurant die Hand auf ihren Rücken legte, während des Dinners ihren Arm streifte und sogar ihr Haar zurückstrich, als es vom Wind durcheinandergewirbelt wurde. Mit jeder dieser Handlungen nahm Valeries Verwirrung über den Grund ihrer Einladung zum Dinner zu. David hatte bei den anderen Leuten den Eindruck erweckt, dass sie ein Liebespaar waren.

„Ich würde gern Ihre Meinung hören“, sagte er.

Sie riss sich zusammen. „Mr. Peterson scheint ein direkter Mensch zu sein, der seine Frau vergöttert. Ein Mann mit Charakter. Das kann ich von Mr. Koning nicht behaupten. Es ist kaum zu glauben, dass sie Geschäftspartner sind.“

„Peterson kümmert sich um die finanzielle Seite. Koning ist wohl eher für die Projektdetails zuständig.“

Valerie runzelte die Stirn. „Er kommt mir streng vor. Außerdem hält er seine Frau an der kurzen Leine.“

„Was heißt das? Ich habe gemerkt, dass seine Frau viel getrunken hat.“

„Den Petersons gefiel das auch nicht. Hält Mr. Koning seine Frau nun an der kurzen Leine, weil sie zu viel trinkt, oder andersherum? Sie haben erwähnt, dass er viele Erfolge mit dieser Art von Projekt gefeiert hat, aber ich würde nicht so einfach jemanden zu einem Projekt hinzuziehen, dem ich nicht voll und ganz vertraue.“

„Danke, ich weiß Ihre Sicht der Dinge zu schätzen.“

Sie sah, wie Davids Blick kurz auf ihren Ausschnitt fiel. Wie so oft an diesem Abend war sie sofort wie elektrisiert. Es brauchte nicht viel, um ihre Begierde zu entfachen …

„Sie haben mir heute Abend sehr geholfen, Valerie.“

„Ich war nervös.“

„Das hat man gar nicht gemerkt.“

Seine sanfte, fast verführerische Stimme verwirrte Valerie noch mehr. „Ich muss Sie etwas fragen.“

„Schießen Sie los.“

„Warum haben Sie mich nicht als Ihre Assistentin vorgestellt? Jeder dachte, ich sei Ihre Freundin.“

„Das Dinner war – zumindest auf den ersten Blick – ein geselliges Beisammensein. Es sollten keine Einzelheiten des Projekts besprochen werden, bevor ich nicht entschieden habe, dass sie für den Job geeignet sind.“

„Warum haben Sie Laura nicht mitgenommen?“

David runzelte die Stirn. „Warum sollte ich?“

„Na ja, weil sie doch Ihre Freundin ist. Und sie wäre auf jeden Fall eine Hilfe gewesen.“

„Warum denken Sie, dass sie meine Freundin ist?“

„Ist sie das nicht? Sie hatten Sie doch zur Party mitgebracht.“

„Ich habe sie nur eingeladen, um bei den Leuten den Eindruck zu zerstreuen, dass wir ein Paar sind.“

„Moment mal, ich bin echt verwirrt. Sie gehen doch mit ihr aus?“

„Früher war das so. Übrigens hat Laura die Beziehung beendet. Sie war damit einverstanden, mir einen Gefallen zu tun, das ist alles.“

Aber sie verhält sich so, als ob sie zusammen wären. „Das war nicht der einzige Grund“, behauptete Valerie und schloss die Augen. Warum habe ich nicht den Mund gehalten?, fragte sie sich ärgerlich. Sie hatte kein Recht, ihm das zu sagen.

„Ja, das stimmt. Sie wollte wieder etwas mit mir anfangen, aber ich war dagegen.“

Er war dagegen? Sie war wirklich nicht seine Freundin? „Wann war das?“

„Kurz bevor sie die Party verließ.“ Also hatte er Laura damals zum Abschied umarmt? Er bog in die Auffahrt ein, hielt vor der Garage an und schaltete den Motor aus. „Das habe ich Ihnen gar nicht erzählt, oder? Dachten Sie, wir sind noch zusammen?“

Sie wurden von der dunklen Nacht eingehüllt. Da es sein könnte, dass sie nie wieder solche persönlichen Dinge besprechen würden, wollte Valerie das Gespräch fortsetzen, um die Wahrheit zu erfahren. Sie konnte David nicht erzählen, dass Laura versucht hatte, von ihr Informationen zu erhalten, denn sie wollte deswegen keine Streitereien. „Ich hatte das nur vermutet. Sie ist bestimmt Ihr Typ.“

„Was wäre denn mein Typ?“

„Eine schöne und kluge Frau.“ Die wahrscheinlich gut im Bett ist, dachte Valerie bei sich. Sie hatte nicht genügend Erfahrungen gesammelt, um sagen zu können, ob das auch auf sie zutraf.

„Sie sind eher mein Typ.“ David berührte sie ganz leicht mit den Fingerspitzen an der Schulter. Plötzlich lehnte er sich von ihr weg, umfasste das Lenkrad und sah geradeaus. „Entschuldigen Sie bitte. Ich bin zu weit gegangen.“

Vielleicht war er zu weit gegangen, aber es fühlte sich gut an – und ein bisschen sündhaft und verboten. „Es passt zu diesem unberechenbaren Abend“, sagte Valerie.

„Mein Verhalten war … unangemessen.“

Valerie war beruhigt zu sehen, dass er auch Schwierigkeiten hatte, der Anziehungskraft zu widerstehen. Lag es an allein an der Nähe? An der Tatsache, dass er zurzeit keine Freundin hatte, oder lag es an ihr?

Sie spürte Davids Blicke auf sich und die knisternde Spannung, die in der Luft lag. Den ganzen Abend hatten sie sich wie ein Paar verhalten. Wenn sie das anmachte, dann ihn vielleicht auch. Nach seiner unruhigen Atmung zu urteilen, war das anscheinend tatsächlich so. Sie hatte seine Berührungen nicht erwidert, weil sein Verhalten sie verwirrte und sie nicht genau wusste, welche Rolle sie zu spielen hatte.

Jetzt wollte – musste – sie ihn berühren, wenn auch nur für einen Moment. Er hatte vor der Rückfahrt die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt. Sie legte eine Hand auf seinen sehnigen Unterarm.

Sofort beugte David sich zu ihr, legte eine Hand hinter ihren Hals und zog sie zu sich heran. Dann hielt er nur ein paar Millimeter vor ihren Lippen inne. „Das ist keine gute Idee“, sagte er leise.

„Ja.“ Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust.

Er bewegte sich nicht. „Du siehst heute wunderschön und sehr sexy aus. Es war schwer für mich, meine Augen von dir zu lassen.“

Valeries Puls raste. Was würde David als Nächstes machen? Sie sollte ihn laut und deutlich abblitzen lassen, aber sie brachte kein Wort heraus.

„Das ist keine gute Idee“, wiederholte er. Dieses Mal jedoch wartete er ihre Reaktion nicht ab, sondern küsste sie, erforschte mit seiner Zunge ihren Mund.

Valerie seufzte, erwiderte seine Zärtlichkeiten leidenschaftlich und ließ den Gefühlen, die sie für ihn seit ihrer ersten Begegnung entwickelt hatte, freien Lauf. Er hatte ihr Leben in jeder Hinsicht verändert.

Und jetzt durfte sie ihn berühren, spüren, halten, schmecken …

David wich zurück. Seine Hand lag immer noch auf ihrem Hals. „Verdammt.“

Valerie bekam Angst. Er bereute es jetzt schon. Und sie war drauf und dran, ein weiteres Mal ihre Stelle zu verlieren. Ich habe es vermasselt …

„Das wollte ich schon lange tun“, erklärte er mit belegter Stimme.

„Tatsächlich?“

„Ja.“

„David, ich möchte nicht, dass unsere berufliche Beziehung darunter leidet.“

Er fuhr mit dem Daumen ihr Kinn entlang. „Ich weiß.“

„Bitte wirf mich nicht raus.“

Er ließ sie los. „Das habe ich auch nicht vor.“

„Wir dürfen es nicht noch einmal so weit kommen lassen. Ich will diesen Job nicht verlieren, David.“

„Kannst du vergessen, was hier passiert ist?“

„Ich muss es vergessen, okay? Und du auch.“ Es war ein großer Fehler gewesen, ihren Gefühlen und Bedürfnissen nachzugeben. „Ich schicke Aggie zu dir.“

David hielt sie nicht auf. Sie eilte zum Cottage, wartete dann vor der Haustür, bis sie sich wieder beruhigt hatte, und trat dann ein.

Aggie sah vom Fernseher auf und erhob sich vom Sofa. „Hast du dich gut amüsiert?“

Valerie nickte. „Wie hat sich Hannah benommen?“

„Sie war wie immer ein Engel.“ Aggie blieb stehen und sah Valerie prüfend an, die bei diesem direkten und eindringlichen Blick erschauderte. „Gute Nacht.“

Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, hörte sich Valerie die Nachricht auf der Mailbox ihres Handys ab.

„Valerie, hier ist Wagner Rawling Senior. Ich muss dich sprechen, egal wann.“

Das letzte Mal hatte sie den Mann vor mehr als sechs Jahren gesehen, als sie ihren Abschluss gemacht hatte. Er wollte sich vergewissern, dass sie die von ihm bezahlten Kurse auch besucht hatte. Seitdem herrschte Funkstille.

Da er sich mit seinem vollen Namen auf der Mailbox gemeldet hatte, dachte er wohl, dass Valerie nichts von dem Tod seines Sohnes wusste. Er hörte sich genauso arrogant an wie früher.

Ja, Senior – so nannte man ihn in der Familie – war arrogant, aber als sein Sohn mit der Tochter seiner Haushälterin geschlafen hatte und ein Kind unterwegs war, entwickelte er sich zu einem Despoten.

Valerie, achtzehn Jahre alt und zutiefst eingeschüchtert, kam gegen Senior nicht an. Mittlerweile war sie älter und klüger und ließ sich nicht so einfach herumschubsen.

Sie schloss die Augen. Da nur ihre Mutter ihre Telefonnummer kannte, musste er sie bestimmt danach gefragt haben.

Sie machte das Licht aus und ging zu Bett. Schlafen konnte sie jetzt nicht, aber sie wollte Senior zeigen, dass sie nicht sprang, wenn er mit den Fingern schnippte – und dass sie es nie wieder tun würde. Sie hatte ihn heute Abend nicht zurückgerufen. Vielleicht würde sie es niemals tun.

Ihre Gedanken kehrten zu David zurück, was auch nicht sonderlich beruhigend war, denn sie hatte gründlich versagt. Der Kuss würde ihre Beziehung für immer verändern – wahrscheinlich nicht zum Guten.

Gerade, als alles so gut lief …

9. KAPITEL

Am nächsten Morgen machte David es sich mit der Zeitung und einem Becher Kaffee auf einem Liegestuhl bequem. Er winkte Hannah zu, die auf dem Weg zur Haltestelle des Schulbusses die Zufahrt hinuntertanzte – anders konnte man das nicht nennen. Valerie folgte ihr ein paar Sekunden später. Sie sah nicht in seine Richtung.

Kein gutes Zeichen.

Vielleicht sollte er den Kuss bereuen, aber bei neuen Erfahrungen tat er das selten. Für ihn bedeuteten Erfahrungen, etwas auszuprobieren und es dann als Erfolg oder Misserfolg zu verbuchen.

Trotzdem nagte das schlechte Gewissen an ihm, nicht wegen des Kusses selbst – der hatte ihm verdammt gutgetan –, sondern wegen ihrer Reaktion danach und der Spannungen, die es in ihrer Beziehungen ganz bestimmt geben würde.

Im Gegensatz zu Laura, die immer Sexappeal ausstrahlte, entsprach Valerie eher dem netten Mädchen von nebenan. Sogar in der dezenten Kleidung, die sie normalerweise trug, fand er sie aufregender als Laura. Gerade deswegen war es so interessant, dass sie gestern Abend eine Ausnahme gemacht hatte. Sie hatte auf jeden Fall mehr Haut gezeigt als je zuvor.

In nur sechs Wochen war sie in jedem Bereich seines Lebens wichtig geworden, und das war problematisch.

„Guten Morgen“, begrüßte sie ihn zurückhaltend.

„Hey.“

„Hast du schon gefrühstückt?“

„Nein, und du?“ Ihr ruhiger Gesichtsausdruck verriet nichts darüber, was in ihr vorging, aber dann sah er auf ihre Hände. Es kam selten vor, dass sie nervös war.

„Ja. Möchtest du ein Omelett?“

David wollte sie in seiner Nähe haben, damit er vielleicht die Gelegenheit bekommen würde, etwaige Missverständnisse und Probleme aus der Welt zu schaffen. „Ja, gern. Danke.“

Er schlug die Zeitung auf und überflog die Schlagzeilen.

Kurz darauf kam Valerie mit einem schnurlosen Telefon in der Hand zurück. „Noah möchte dich sprechen.“

„Sag ihm, ich bin noch einen Tag im Urlaub.“

„Er sagt, es sei dringend.“

„Für Noah ist alles dringend.“ Er las weiter in seiner Zeitung.

„Ist jemand verletzt?“, fragte Valerie am Telefon. „Es ist niemand im Krankenhaus und auch nicht im Gefängnis? Dann ist er nicht zu sprechen, Noah.“

David hob die Augenbrauen und lächelte. Sie erwiderte sein Lächeln. „Danke.“

„Er hat dir eine E-Mail geschickt.“

„Na, so ein Pech. Heute kann ich den ganzen Tag meine E-Mails nicht abrufen.“

Ihr Lächeln wurde breiter. „Was hast du denn an deinem freien Tag vor?“

„Ich dachte daran, ins Kino zu gehen. Willst du mich begleiten? Wir gehen in eine Matinee und sind rechtzeitig zurück, wenn Hannah aus der Schule kommt.“

„Dann hätten wir eine Verabredung, David. Du weißt, dass wir das nicht dürfen.“

„Und wenn ich es zu einer Aufgabe erklären würde, die du für deinen Job erledigen müsstest?“

„Dann würde ich mit meinem Stenoblock und meinem PDA mitkommen und Aufträge entgegennehmen.“

Ihre Stimme klang unbeschwert, aber er konnte ihre Frustration heraushören.

„Valerie, ich bin gern bei dir.“

„Ich bin deine Angestellte.“

David stand auf.

Valerie trat einen Schritt zurück. „Ich muss dein Frühstück zubereiten.“ Sie schlug ihm fast die Tür vor der Nase zu.

Bis vor einer Minute hätte er sie nicht für nervös gehalten, und jetzt war er schuld daran, dass sie es doch war.

Nach kurzer Zeit teilte sie ihm mit, dass das Frühstück fertig sei. Er drehte sich nicht um.

„Ich hatte extra gesagt, dass ich keine Blumen haben will, und jetzt sind da lilafarbene und gelbe.“

„Der Garten sieht schön aus, oder? Wegen der farbigen Blumen schaut man länger hin. Dein Frühstück wird kalt.“

Er drehte sich um und bemerkte ihren besorgten Gesichtsausdruck. War das wegen der Blumen? Oder hatte sie sich wirklich Sorgen gemacht, dass sie ihren Job verlieren könnte?

Valeries Handy klingelte. Sie erbleichte.

„Gehst du nicht ran?“

„Später.“ Ihre Stimme klang angespannt.

„Und wenn es um Hannah geht?“

Sie holte ihr Handy hervor und sah auf das Display. „Nein, tut es nicht. Ich komme später zurück, um aufzuräumen.“

Wochenlang war ihr Verhalten berechenbar gewesen, und jetzt auf einmal nicht mehr. Was war passiert? Sie sah mehr als besorgt aus – eher verängstigt.

Das konnte nicht nur etwas mit dem Kuss zu tun haben. Was war also passiert?

Und wie könnte David das herausfinden?

„Mom, warum ruft mich Mr. Rawling an?“ Valerie saß mit angezogenen Beinen in einem Stuhl und machte sich klein.

„Weiß ich nicht.“

„Er muss meine Nummer von dir bekommen haben.“

„Das stimmt. Er hat danach gefragt, und ich habe sie ihm gegeben, aber ich weiß nicht, was er will. Er ist mein Chef, Valerie. Ich stelle ihm keine Fragen.“

„Du hättest mir Bescheid geben sollen, damit ich ihn anrufen kann. Es gefällt mir nicht, dass er meine Telefonnummer hat.“

„Jemand wie er bekommt jede Nummer, die er haben möchte.“ Da hatte sie vermutlich recht. „Bitte ruf ihn zurück“, flehte Valeries Mutter. „Er ist deswegen schon wütend auf mich.“

„Warum sollte er auf dich wütend sein? Wie sollst du mich kontrollieren können, ich bin doch ein erwachsener Mensch.“

„In seiner Vorstellung haben Eltern immer die Kontrolle über ihre Kinder. Ich muss jetzt gehen“, flüsterte sie hastig.

Valerie legte auf. Ihre Mutter sollte keine Schwierigkeiten bekommen, andererseits wollte sie auch nicht mit Senior sprechen. Bestimmt hatte er keine guten Nachrichten für sie.

Sie hielt die Hände seufzend vors Gesicht. Ihr Leben verlief gerade in geordneten Bahnen. Das sollte auch so bleiben, vor allem jetzt, da Hannah aufgehört hatte, über ihren Vater zu sprechen.

Valerie wusste jedoch, dass Senior einen Weg finden würde, um sie aufzuspüren. Das musste sie verhindern.

Sie atmete zitternd aus und wählte seine Nummer. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in ihrer Magengrube breit.

„Hallo, Valerie“, begrüßte Senior sie freundlich.

„Mr. Rawling.“

„Es ist lange her.“

Noch nicht lange genug. „Ja, Sir.“

„Hat deine Mutter dir erzählt, was meinem Sohn zugestoßen ist?“

„Ja, Sir. Mein herzliches Beileid.“ Tränen standen ihr plötzlich in den Augen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht gewagt, um den Vater ihres Kindes und ihre erste Liebe zu trauern. Sie war dankbar, dass das Schicksal sie und Wagner zusammengeführt hatte, denn von ihm hatte sie eine Tochter, die sie liebte und ohne die sie sich ihr Leben nicht mehr vorstellen konnte.

„Ich wollte deine Mutter da nicht hineinziehen, aber ich habe Nachforschungen anstellen lassen mit dem Ergebnis, dass du unbekannt verzogen warst.“

„Verstehe.“ Sie schloss die Augen und wartete ab, was als Nächstes kam.

„Ich habe eine Kreditauskunft eingeholt und weiß, wie hoch du verschuldet bist. Ich habe Fotos von der Wohnanlage gesehen, Valerie. Also, ich kann nicht glauben, dass du dort gewohnt hast.“

Sie konnte kaum etwas erwidern, so entsetzt war sie darüber, wie er hier in ihre Privatsphäre eingedrungen war. „Wir wohnen dort nicht mehr. Ich habe jetzt einen guten Job, bei dem ich Zusatzleistungen erhalte. Ich war kurze Zeit nur nicht vom Glück verwöhnt.“

„Das ging über ein Jahr so. Hinzu kommt, dass du wegen sexueller Belästigung gefeuert wurdest. Anscheinend hast du dich nicht verändert und bist immer noch hinter dem her, was du nicht haben kannst.“

Valerie war wie versteinert. „Was wollen Sie?“

„Ich möchte dich besuchen.“

„Warum?“

„Das erkläre ich dann persönlich.“

„Daran habe ich überhaupt kein Interesse. Leben Sie wohl.“ Sie legte auf und ignorierte seinen erneuten Anruf. Eine unbekannte Wut schoss in ihr hoch. Sie wusste, was er wollte: Jetzt, da Wagner nicht mehr am Leben war, wollte sein Vater dafür Sorge tragen, dass sie keinen Anspruch auf den Nachlass erhob und nicht publik machte, dass Wagner Vater eines unehelichen Kindes gewesen war. Valerie hatte lange Zeit vorher versprochen, dies nicht zu tun. Wie konnte er ihre Redlichkeit derartig infrage stellen?

Es könnte auch sein, dass er ihr Geld anbieten wollte, damit sie weiterhin Stillschweigen bewahrte, aber das würde sie ausschlagen.

Valerie feuerte das Handy in ihr Kissen – voller Wut darüber, dass Senior sich wieder in ihr Leben eingemischt hatte. Sie hätte seinen Einfluss und seine Macht nicht vergessen sollen. Ihr war schon wieder übel.

„Valerie?“ Es war David.

Sie zwang sich, zur Gegensprechanlage zu gehen. „Ja?“

„Ist alles in Ordnung?“

„Ja.“

„Gut. Bitte komm her, ich brauche dich hier.“

Sie wollte vermeiden, dass er sie in ihrem Zustand sah. Sie brauchte ein paar Minuten, um sich zu beruhigen. „In zehn Minuten, in Ordnung?“

„Natürlich.“

„Danke.“

Valerie wusste, dass sie zu fröhlich geklungen hatte, aber etwas anderes brachte sie nicht zustande. Sie kämpfte gegen ihre Tränen, aber vor allem gegen ihre Angst an. Wagner Rawling Senior war ein mächtiger Mann, der ihr jede Menge Probleme bereiten konnte.

„Valerie?“, rief David.

„Was ist?“

„Mach auf.“

„Ich habe gesagt, dass ich in zehn Minuten da bin. Kannst du nicht so lange warten?“

„Mach die Tür auf, Valerie.“

Da sie befürchtete, dass er die Tür eintreten würde, rang sie sich zu einem Lächeln durch und öffnete ihm.

„Was ist los?“ David kam herein und hielt sie an den Armen.

„Ich … es ist nichts.“

„Doch, da ist etwas. Das konnte ich ganz klar aus deiner Stimme heraushören, mal ganz abgesehen von deinem Gesichtsausdruck, als dein Handy vorhin klingelte.“ Sein Griff wurde fester. „Wie kann ich dir helfen?“

Autor

Susan Crosby
Susan Crosby fing mit dem Schreiben zeitgenössischer Liebesromane an, um sich selbst und ihre damals noch kleinen Kinder zu unterhalten. Als die Kinder alt genug für die Schule waren ging sie zurück ans College um ihren Bachelor in Englisch zu machen. Anschließend feilte sie an ihrer Karriere als Autorin, ein...
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