Sündige Stunden mit dem Wikinger

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Verzweifelt zieht die schöne Elena den verwundeten Krieger, der sie vor irischen Entführern gerettet hat, an sich und presst ihre Lippen auf seine. Als sein Kuss leidenschaftlicher wird, schiebt sie ihn von sich. Er ist der Freund ihres Mannes, und sie fühlt sich an ihre arrangierte Ehe gebunden. Doch während sie Ragnar pflegt, wird die Versuchung, dem Verlangen nachzugeben, immer stärker …


  • Erscheinungstag 07.08.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749491
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Irland, im Jahr 875

Nichts ist schlimmer, als die Ehefrau deines besten Freundes zu lieben, dachte Ragnar.

Er packte die Ruder fester und zog sie kraftvoll durch die Wellen. Er hätte nicht mit den beiden nach Éire kommen dürfen. Aber als Styr ihn gefragt hatte, musste er wohl einen schwachen Moment gehabt haben und hatte zugesagt. Obwohl er seine Besessenheit von Elena so tief wie möglich in sich vergrub, war doch der Gedanke daran, für immer durch viele Hundert Meilen von ihr getrennt zu sein, schlimmer als der, sie tagtäglich mit ihrem Ehemann zu sehen.

Nie hatte er einem von ihnen seine Gefühle gestanden. Darum wusste niemand, welche Qualen er empfand, wenn er Styr zusammen mit der Frau, die er liebte, in dessen Hütte verschwinden sah.

Dennoch konnte er sich einfach nicht dazu durchringen, sich von ihr fernzuhalten.

Während Ragnar ruderte, behielt er Elena stets im Blick. Ihr blondes Haar war von roten Strähnen durchzogen, wie Flammen auf goldenem Grund. Sie war schön wie eine Göttin – die er von ferne verehrte.

Sie betrachtete ihn als einen Freund, aber mehr nicht. Das war nicht überraschend. Eine Frau wie Elena verdiente einen starken Ehemann, einen hochgeborenen Krieger. Schon vor vielen Jahren war ihre Ehe mit Styr beschlossen worden, und Ragnar gehörte nicht zu den Männern, die einem Freund die Frau stehlen. Schon gar nicht dem besten Freund.

Elena hatte ihre Wahl getroffen, und Styr schien alles zu tun, um sie glücklich zu machen. Deshalb hatte Ragnar sich nie eingemischt.

Im Laufe der Jahre hatte er versucht, eine andere Frau für sich zu finden. Er war ein starker Krieger, und so manche junge Schönheit hatte schon ein Auge auf ihn geworfen. Aber keine von ihnen hätte sich je mit Elena messen können. Vielleicht würde das auch nie einer gelingen.

Nachdenklich betrachtete er sie, wie sie auf die grauen Wellen hinausstarrte. Etwas hatte sich in letzter Zeit verändert. Sie und Styr sprachen kaum noch miteinander. Ihre Kinderlosigkeit nagte an ihr, ließ sie in Kummer versinken. Ihr Gesicht war ungewöhnlich blass. Doch nichts, was er ihr hätte sagen können, würde ihr gebrochenes Herz heilen.

Das Drachenboot näherte sich dem Ufer. Hier war das Wasser flacher, als sie erwartet hatten.

„Wir gehen hier an Land“, bestimmte Styr. Er warf den anderen einen Blick zu und kam dann zu Ragnar. Einen Moment lang stand er nur da und sah auf die Küste hinaus. „Bleibst du hier bei Elena?“, fragte er dann. „Ich will nicht, dass sie in einen Kampf gerät, sollte es Ärger geben.“

„Ich werde auf sie achtgeben“, versprach Ragnar. Sein Schwert würde er im Blut eines jeden Feindes baden, der es wagte, Elena zu nahe zu kommen. Obwohl sie nicht zu ihm gehörte, stand sie unter seinem Schutz, und er würde sein Leben für sie geben.

Styr legte ihm eine Hand auf die Schulter und seufzte schwer. „Ich bin froh, dass du bei uns bist“, gab er zu. „Eine solche Reise kann man nur mit der Hilfe guter Freunde überstehen.“

„Keiner der Männer hat in den letzten drei Tagen ein Auge zugetan“, stimmte Ragnar zu. „Wir können alle eine gute Mahlzeit und etwas Ruhe gebrauchen.“ Ihr Schiff war in einen Sturm geraten und von den Wellen hin und her geworfen worden, als wollten die Götter ein Opfer fordern. Sie alle hatten gegen die harten Winde gekämpft und dem Unwetter getrotzt. Der Sieg über die Elemente hatte sie ihren Schlaf gekostet. Sein Körper und Geist waren so erschöpft, dass Ragnar kaum einen anderen Gedanken fassen konnte als den, an Land zu gehen und auf dem Sand zusammenzubrechen.

„Zu schade, dass du keine Frau hast, die dir das Bett wärmt“, stellte Styr achselzuckend fest.

Ragnar bedachte ihn mit einem spöttischen Blick. „Ich habe gehört, es soll in Éire hübsche Mädchen geben. Wer weiß, vielleicht finde ich ja eins.“

In den letzten Jahren hatte er ein paar Frauen gehabt, aber keine hatte einem Vergleich mit Elena standhalten können. So sehr er es auch versuchte, Elena aus seinen Gedanken zu verbannen, war er doch so manche Nacht schweißgebadet aufgewacht, hart und erregt von den Bildern, die er im Traum gesehen hatte, von der Frau, die er liebte.

Bei Thor, er musste aufhören, daran zu denken. Elena gehört zu Styr, und ich brauche mir nicht die geringste Hoffnung zu machen, dass sich das je ändern wird, rief Ragnar sich zur Ordnung. Wenn sie erst einmal das Kind ihres Ehemanns trug, würde sie mit ihm glücklich werden.

Er packte sein Schwert und griff nach dem Schild.

Styr nahm seinen eigenen Schild zur Hand. „Wirklich, ich bin froh, dass du da bist. Wir können gute Kämpfer gebrauchen.“ Er unterstrich die Worte, indem er ihm leicht in den Oberarm boxte.

Zur Antwort ergriff Ragnar seinen Freund am Handgelenk und hielt es fest. „Ich habe dich ein oder zwei Mal besiegt.“

„Nur weil ich es zugelassen habe.“ Aber das Lächeln, das Styr ihm schenkte, war finster. Ragnar empfand für ihn wie für einen Bruder. Damals hatte er ihm das Kämpfen beigebracht, da sein eigener Vater sich nicht die Zeit dafür genommen hatte. Heimlich hatten sie zusammen geübt, bis Ragnar das Schwert ebenso gut schwingen konnte wie Styr. Tatsächlich sogar etwas besser, auch wenn Styr das niemals zugeben würde.

Leise sagte Ragnar: „Ich werde dir immer den Rücken freihalten.“

Und das würde er auch. Trotz seiner verräterischen Gefühle würde er seinen besten Freund niemals hintergehen.

Nachdem sie vor Anker gegangen waren, wateten die Männer durch das hüfthohe Wasser. Elena blieb auf dem Boot, wirkte unsicher, ob sie ihnen folgen sollte.

„Am besten bleibst du noch ein wenig an Bord“, sagte Ragnar, der bei ihr geblieben war. „Wir sehen nach, ob es sicher ist.“

Sie schien besorgt, schüttelte aber den Kopf. „Nein, ich möchte mitkommen. Wenn die Bewohner des nächsten Dorfes mich sehen, denken sie vielleicht nicht, dass wir sie angreifen wollen.“

Das war ein gutes Argument, denn Angreifer hätten wohl kaum eine Frau bei sich. Trotzdem war Ragnar entschlossen, sie hinter den anderen zu halten.

Er half ihr vom Schiff, wobei er darauf achtete, ihren schlanken Leib nicht zu lange zu berühren. Sie trug ein cremefarbenes Gewand unter einem rosafarbenen Oberkleid, das an den Schultern von goldenen Broschen zusammengehalten wurde. Ihr Haar wehte im Wind. Als sie den Fuß in das eiskalte Wasser setzte, zuckte sie zusammen.

„Wir werden so schnell wie möglich ein Feuer entfachen“, versprach Ragnar, als sie den Strand erreichten. „Warte hier, bis wir uns umgesehen haben. Wenn Gefahr droht, geh aufs Schiff.“

Elena nickte widerwillig.

Er begab sich zu Styr und den anderen Männern, die sich dem Dorf genähert hatten, sie alle betrachteten die strohgedeckten Hütten. Aufgrund der unnatürlichen Stille erschauerte Ragnar unwillkürlich. Die Härchen in seinem Nacken richteten sich auf. Nur der Geruch von Feuern lag noch in der Luft, und als sie das Dorf betraten, entdeckten sie Anzeichen dafür, dass die Anwohner hastig die Flucht ergriffen hatte. Suppe brodelte in einem Topf über dem Feuer. Dampf stieg in die kalte Luft auf – aber niemand stand davor und rührte um. Ein Umhang lag auf dem Boden, als hätte derjenige, der es verloren hatte, nicht einmal stehen bleiben wollen, um ihn aufzusammeln.

Plötzlich verschwamm ihm alles vor den Augen, und Ragnar taumelte. Der Schlafmangel und die Anstrengung während des Sturms forderten nun ihren Tribut. So gut er konnte, kämpfte er gegen den Schwindel an.

Irgendetwas stimmte mit dieser Siedlung nicht. Nirgends waren Menschen oder Tiere zu sehen. Mit jedem Schritt verdichtete sich der Nebel in seinem Kopf. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, der Boden unter ihm schien zu schwanken. Ragnar blieb für einen Moment stehen, um sich zu sammeln und tief durchzuatmen. Er durfte sich nicht von der Erschöpfung überwältigen lassen.

Als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung sah, drehte er sich um und erblickte Elena, die ihm gefolgt war. „Du solltest zurück auf das Schiff gehen. Bleib dort, bis wir wissen, was los ist.“ Falls die Iren ihre Absichten falsch deuteten und angriffen, wollte er sie in Sicherheit wissen.

Doch Elena schüttelte den Kopf. „Wenn ich dort allein bleibe, bin ich ungeschützt.“ Ragnar wollte widersprechen, aber sie beharrte: „Ich gehe nicht aufs Boot. Ich brauche festen Boden unter den Füßen.“

Ragnar gab nach. „Dann halte dich hinter mir.“ Bevor sie einen weiteren Schritt machten, betrachtete er sie. Ihre meergrünen Augen hielten ihn gefangen, ihre zarte milchweiße Haut lockte ihn, sie zu berühren. So viele Nächte hatte er davon geträumt, mit den Fingern durch ihr flammendes Haar zu fahren, ihre weichen Lippen mit einem Kuss in Besitz zu nehmen.

„Stimmt etwas nicht?“ Sie errötete unter seinem Blick, als könnte sie seine Gedanken erraten.

Er zwang sich, nach vorn zu schauen. „Nein, alles in Ordnung.“ Aufmerksam suchte Ragnar die Umgebung nach Bewegungen ab. In einiger Entfernung sah er zwischen den Hütten einen Schatten huschen. Die Stille zerrte an ihm; ihm war, als ob ein noch unbekannter Angreifer auf sie lauerte.

Das Schwert in der einen Hand, den Schild in der anderen, ging Ragnar ein paar Schritte in Richtung der Schatten, die er gesehen hatte. Mehr denn je war er davon überzeugt, dass Elena besser auf dem Schiff geblieben wäre. Stattdessen stand sie hinter ihm, die Hände gefaltet.

„Geh zurück zum Strand“, ermahnte er sie. „Sieh dich um, und ruf uns, sobald dir etwas auffällt.“ Sie nickte, doch Ragnar zögerte. Sein Gefühl warnte ihn davor, sie alleinzulassen – und dennoch musste er dem unsichtbaren Angreifer zuvorkommen, wenn er sie beschützen wollte. „Kommst du zurecht?“

„Ja.“ Aber ihre Stimme klang verunsichert. Sie griff nach dem Heft des Dolches an ihrem Gürtel, als sie sich zum Gehen wandte.

Behutsam näherte sich Ragnar der Stelle, wo er die Schatten gesehen hatte, während die anderen Styr folgten. Dabei ließen sie die Schultern hängen, als würden sie von der Last der vorangegangenen Tage niedergedrückt. Sie alle würden kämpfen, wenn es notwendig war, aber die Erschöpfung steckte ihnen in den Knochen.

Er ging weiter und konzentrierte sich nur auf die Bedrohung. Plötzlich durchschnitt Elenas Schrei die Stille. Ragnar fuhr herum, hob sein Schwert – und sah sie am Strand von vier Männern umringt.

Bei den Göttern, wo waren sie so plötzlich hergekommen?

Dunkler Zorn ergriff ihn, brachte sein Blut zum Kochen und vertrieb die Müdigkeit. Das Schwert erhoben, rannte er zu Elena zurück. Er griff einen der jungen Männer an, doch der blockte seinen Hieb mit seinem Schild ab. Ragnar spürte, wie die schiere Entschlossenheit ihm neue Kraft einflößte. Er wehrte einen Angriff von zweien der Männer gleichzeitig mit seiner Waffe ab.

Er ließ sich vom Kampfesrausch mitreißen. Schwerter schlugen gegen Schilde im altvertrauten Klang. Vor dem Bedürfnis, Elena zu schützen, trat alles andere in den Hintergrund.

Hinter ihm schlich sich ein weiterer Feind heran; er sah es an Elenas erschrockenem Blick. Die Überzahl machte ihm nichts aus. Solange er lebte, würde ihr niemand etwas tun. Mit einem kräftigen Schlag seines Schildes schickte er einen der Männer zu Boden, einen anderen erwischte er mit einem gewaltigen Schwerthieb.

Einer der Feinde packte Elena von hinten, verdrehte ihr das Handgelenk, bis sie den Dolch in den Sand fallen ließ, und zog sie mit sich. Ragnar kämpfte mit aller Kraft gegen die Iren an, um zu ihr zu gelangen.

Gebe Thor, dass es ihm rechtzeitig gelang.

Das Blut rauschte durch seine Adern. Ragnar stieß einen Schlachtruf aus, fegte die Feinde mit seinem Schwert zur Seite. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Styr ebenfalls loslief.

Zwei Männer versuchten, ihnen den Weg abzuschneiden, aber Styr und er kamen von unterschiedlichen Seiten auf sie zu. Als sein Angreifer sich nach vorne warf, ließ Ragnar sich in den Sand fallen und rollte sich zur Seite. Ein Schwert fuhr an genau der Stelle durch die Luft, wo er Augenblicke zuvor gestanden hatte.

Weitere Iren stießen vor. Während Ragnar weiterkämpfte, sah er, wie der junge Mann, der Elena im Griff hatte, ihr ein Messer an die Kehle hielt. In den Augen des Jungen lag Verzweiflung, er wirkte, als hätte er noch nie an einer Schlacht teilgenommen, geschweige denn jemanden getötet. Das machte ihn nur umso gefährlicher.

Mit neuer Wut kämpfte sich Ragnar vor, und auch Styr eilte auf seine Ehefrau zu. Bevor dieser jedoch Elenas Geiselnehmer niederstrecken konnte, änderte sich alles.

Eine Frau tauchte auf und schrie aus Leibeskräften. In den Händen hielt sie einen stabilen Holzstab.

Ragnar kümmerte sich nicht um sie, sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf Elena. Der junge Mann bei ihr ist abgelenkt, stellte Ragnar fest. Vielleicht gelang es ihm, sie zu befreien. Zoll für Zoll näherte er sich ihm und wartete auf den richtigen Augenblick.

Der Junge wirkte verunsichert. Vielleicht überlegte er, ob er Elena loslassen sollte. Doch ihm schien klar zu sein, dass Styr ihm, sobald er das tat, mit seiner Streitaxt den Schädel spalten würde.

Ich hingegen könnte ihn unbemerkt von der Seite angreifen, überlegte Ragnar. Wenn sein Schlag saß, hatte er Elena befreit, bevor irgendjemand auch nur bemerkte, was geschah.

Noch ein wenig näher …

Er hob das Schwert, bereit, zuzuschlagen. Ehe er sich rühren konnte, hieb die irische Frau Styr ihren Stab über den Kopf und traf ihn am Ohr. Sein Freund ging zu Boden.

Bei Thor. Ohne nachzudenken, stürmte Ragnar vor, gerade in dem Augenblick, als ein anderer Angreifer zum tödlichen Schlag ansetzte.

„Styr!“, rief Elena entsetzt. Ragnar konnte den Hieb gerade noch abwehren. Elena streckte die Hände nach ihrem Ehemann aus, während die andere Frau etwas in einer fremden Sprache rief, das wie eine Entschuldigung klang.

Der Junge zerrte Elena zum Meer. Immer tiefer watete er, sodass sie schließlich bis zur Hüfte im Wasser stand. Er könnte sie ertränken, wenn er wollte.

Endlich kamen ihnen die anderen Wikinger zu Hilfe. Jeder Kämpfer war nötig, um Elena und Styr zu beschützen. Seine Freunde eilten mit gezogenen Waffen und erhobenen Schilden heran. Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass die dunkelhaarige Frau Styr Arme und Beine mit Lederriemen fesselte. Ein alter Mann half ihr, ihn wegzuschaffen.

„Ragnar“, bat Elena, „rette ihn.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und in ihren meergrünen Augen lag Todesangst.

Er war hin- und hergerissen von dem Wunsch, seinem Freund zu helfen – und dem, Elena zu retten. Bei allen Göttern; warum war er gezwungen, eine solche Entscheidung zu treffen?

„Was sollen wir tun?“, fragte sein Freund Onund.

Letzten Endes gab es darauf nur eine Antwort. Ragnar musste der Frau beistehen, die er liebte, selbst wenn er deswegen den Mann aufgeben musste, der für ihn wie ein Bruder war.

„Falls ihr irgendetwas passiert, wird Styr uns alle verantwortlich machen.“ Ragnar hob das Schwert und lief aufs Meer zu.

2. KAPITEL

Fassungslos sah Elena, wie Ragnar Schwert und Schild in den Sand legte. Was tat er da? Er war stärker als all seine Gegner und könnte sie ohne Zweifel unschädlich machen. Warum ergab er sich?

Es sei denn, er hatte einen anderen Plan, den sie nicht kannte.

Ragnar kam näher, wobei das Wasser seine Stiefel umspülte. Er trug eine lederne Rüstung und einen Eisenhelm, unter dem sein braunes Haar ihm auf die Schultern herabfiel. Die dunkelgrünen Augen funkelten, und sein Gesicht zeigte den entschlossenen Ausdruck eines Kriegers, der vorhatte, seine Feinde zu erschlagen.

Und das würde er gewiss auch tun. Elena hatte ihn zusammen mit ihrem Ehemann trainieren sehen und dabei seine Fähigkeiten beobachtet. Sie kannte keinen stärkeren Kämpfer als Ragnar Olafsson, und er bewegte sich mit einer Geschwindigkeit, mit der kein anderer mithalten konnte.

„Lass sie los!“, rief Ragnar dem jungen Mann zu, der sie gefangen hielt. „Wir gehen auf unser Schiff zurück.“

Er sprach zu dem Iren in der Sprache der Nordmänner, als könnte dieser sie verstehen. Seine Stimme war ruhig, und er hielt die Hände erhoben als Zeichen, dass er sich ergab. Doch in seiner Körperhaltung lag eine stumme Drohung.

Ragnar würde niemals mit einem Feind verhandeln. Ihr Herz schlug schneller, als die übrigen Iren sie einzukreisen begannen.

Was hatte Ragnar vor? Wollte er sich für sie opfern? Nein, er war nicht der Typ, der zum Märtyrer wurde.

Wütend starrte Onund ihn an. „Vielleicht willst du ja aufgeben, Ragnar, aber wir sind nicht dazu bereit. Wir sind in der Überzahl!“, knurrte er und reckte drohend sein Schwert.

Ein Ausdruck der Verärgerung huschte über Ragnars Gesicht, und endlich verstand Elena, was sein Plan war. Die Iren hatten sie überrascht und dadurch in die Enge getrieben, und die gleiche Taktik wollte Ragnar nun gegen sie wenden. Wenn er sie überzeugen konnte, dass sie sich ergaben, gewannen die anderen Wikingerkrieger Zeit, sich für einen Gegenschlag zu sammeln. Verstand Onund das nicht?

„Wenn wir sie angreifen, schneiden sie ihr die Kehle durch. Und Styr werden sie auch töten.“ Ragnar fügte leise etwas hinzu, das Elena nicht mehr hören konnte, da der junge Ire sie noch tiefer ins Wasser zog. Inzwischen hatten sie das Schiff fast erreicht, und sie wusste nicht, was Ragnar als Nächstes tun würde.

Nicht ein einziges Mal hatte er sie aus den Augen gelassen. In seinem Blick erkannte sie seine Entschlossenheit, sie zu befreien. Ihr kam wieder in den Sinn, wie er sie vorhin angeschaut hatte. Es hatte sie verwirrt, war doch sein Blick voller Verlangen gewesen. Als wollte er sie … für sich.

Bei der Erinnerung pochte ihr Herz schneller, denn auf diese Weise hatte er sie noch nie angesehen. Sein Blick hatte sie durchdrungen und ihr Innerstes berührt. Sie begriff nicht, wieso ihr Körper so reagierte, wieso ihre Haut mehr prickelte als nur vom eiskalten Wasser.

Ein erschreckender Gedanke kam ihr. Ragnar wollte doch nicht etwa, dass Styr starb? Ihr Gemahl war nun ein Gefangener der Iren, und sie mussten ihn irgendwie retten. Aber was, wenn Ragnar das gar nicht vorhatte? Wenn er Styr einfach aufgeben wollte?

Niemals würde sie ihm einen solchen Verrat zutrauen, konnte aber auch diese unbestimmte Angst nicht einfach abschütteln.

Schließlich folgten die anderen zögernd seinem Beispiel, legten die Waffen nieder und wateten weiter ins Meer, einer nach dem anderen, während die Iren ihnen folgten.

„Einige von euch sollten bei Styr bleiben“, rief sie, doch sobald sie gesprochen hatte, drückte der Mann, der sie festhielt, ihren Kopf unter Wasser. Alle Luft entwich aus ihren Lungen. Er riss sie wieder hoch, und das triefnasse Haar fiel ihr ins Gesicht und nahm ihr die Sicht. Mit barscher Stimme bellte er Anweisungen, die sie nicht verstand. Und ehe sie begriff, wie ihr geschah, hatte er sie zurück auf das Drachenboot gehoben und war ihr an Bord gefolgt. Sie war nicht einmal in der Lage, sich zu wehren, so sehr hatte die Kälte sie durchdrungen und jeden Muskel betäubt.

Alles verschwamm ihr vor den Augen, und sie nahm kaum noch wahr, dass er ihr immer noch ein Messer an die Kehle hielt, ihre Handgelenke ergriff und mit einem Seil fesselte. Schließlich band er sie im Bug des Schiffes an.

Kurz darauf kletterten ihre Landsleute auf das Boot, gefolgt von vier Iren. Sie versuchten nicht einmal, sich zu wehren, sondern ließen sich einfach gefangen nehmen. Vermutlich warteten sie auf den richtigen Moment, um einen Überraschungsangriff zu starten.

Nun gab es niemanden, der Styr noch helfen konnte. Mutlos sah sie zur Küste hinüber. Ihren Ehemann hatte man bereits weggebracht, und sie wusste nicht, ob sie ihn jemals wiedersehen würde. In den letzten Monaten hatten sie sich auseinandergelebt, sicher, aber sie wusste, dass es ihre eigene Schuld war, da sie ihn häufig abgewiesen hatte. Ein guter Mann, ein Krieger wie er hatte etwas Besseres verdient als eine unfruchtbare Ehefrau wie sie.

Selbstmitleid nagte wieder einmal an ihr, und sie drängte es zurück. Solche Gedanken halfen ihr in dieser Lage auch nichts. Sie musste jetzt allen Mut zusammennehmen und tun, was immer nötig war, um zu überleben. Das war ihre einzige Hoffnung.

Nun stieg Ragnar an Bord. Während man ihn fesselte, hielt er den Blick unablässig auf sie gerichtet. Elena ahnte zwar nicht, was genau er vorhatte, aber die Botschaft war eindeutig. Er hatte in jedem Fall die Absicht, sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien.

Die Iren setzten sich an die Ruder. Da sie jedoch nur vier waren, kamen sie nicht besonders schnell voran. Ihr Geiselnehmer, der Brendan gerufen wurde, übernahm das Segel und ließ das Schiff vom Wind aufs offene Meer hinaustreiben.

Erst als Ragnar wenige Fuß von ihr entfernt aufs Deck gestoßen wurde, wagte Elena, ihm zuzuflüstern: „Was wird aus Styr? Du hast ihn allein zurückgelassen. Er könnte bereits tot sein.“ Bei diesen Worten überlief sie ein kalter Schauer, und heiße Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Wenn man seinen Tod gewollt hätte, hätte man ihn nie gefangen genommen“, erklärte Ragnar. „Sie werden versuchen, ihn als Geisel zu nutzen. Aber wir kehren zurück, bevor ihm etwas zustoßen kann.“

Elena wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Wer weiß, vielleicht folterten sie Styr oder töteten ihn aus Rache. „Was, wenn du unrecht hast?“

„Ich hab recht. Vertrau mir.“

Sie sah ihm in die Augen, flehte ihn stumm an, so schnell wie möglich die Iren an Bord unschädlich zu machen. „Du darfst ihn nicht im Stich lassen.“

Seine Miene verriet ihr, dass er ihr wegen ihrer Vorwürfe grollte. „Ich habe ihm geschworen, dich mit meinem Leben zu beschützen. Und das habe ich auch getan.“ Er lehnte sich näher zu ihr, seine dunkelgrünen Augen forderten ihre Aufmerksamkeit. „Heute Nacht werden wir das Schiff wieder übernehmen.“

„Dir sind die Hände gebunden.“

„Sind sie das?“ Er klang so gleichgültig, dass sie sich fragte, ob sie unrecht daran getan hatte, an ihm zu zweifeln. Sie musterte ihn. Sein langes braunes Haar durchzogen goldblonde Strähnen. Seine Miene war unnachgiebig wie die eines Eroberers. In seinem Blick lag wieder dieser eine Ausdruck, der ihr Herz schneller schlagen ließ. Er drang durch ihre Furcht, durchdrang sie bis ins Mark, nahm sie ganz gefangen.

Vertrau mir, hatte er verlangt. Sie wollte ihm glauben, denn er war ihre größte Hoffnung, zu der Siedlung der Iren und ihrem Ehemann zurückzukehren. Und wieder betrachtete er sie auf diese Weise, die ihr Herz schneller schlagen ließ und bewirkte, dass sie sich noch unbehaglicher fühlte.

Kurz darauf wurde er von einem der Iren grob gepackt und brutal zurück auf die Planken geschleudert. Elena konnte den Blick nicht von ihm nehmen; seine letzten Worte hallten noch in ihr nach. War es ihm tatsächlich gelungen, seine Fesseln zu lösen? Falls ja, hatte er das sehr gut verbergen können.

Der Wind nahm zu, der Himmel verdüsterte sich. Allmählich bekam sie Hunger, aber niemand reichte ihr etwas zu essen oder zu trinken. Als die Iren zuvor das Schiff erkundet hatten, waren sie schnell auf Styrs Vorräte gestoßen. Wie die Wilden verschlangen sie nun die Lebensmittel, jeden einzelnen Bissen Trockenfleisch und eingelegten Fisch, ohne ihren Gefangenen auch nur einen Krümel anzubieten. Lediglich der Sack Getreide blieb unangetastet. Elena betrachtete die Iren und merkte auf einmal, wie dürr sie waren. Ihre Gesichter waren eingefallen, als hätten sie hungern müssen.

Wieder einmal fragte sie sich, ob es klug gewesen war, sich zu ergeben. Diese abgemagerten Männer hätten mit der Kraft der nordischen Krieger kaum mithalten können. Aber in den Augen der Iren sah sie, dass es ihnen nur noch ums nackte Überleben ging, als hätten sie alle Menschlichkeit verloren. Wie Tiere stritten sie sich um die besten Stücke Fleisch.

Ihr Ärger über Ragnars Entscheidung ließ nach. Männern, für die nur noch ihr eigenes Leben zählte, war alles zuzutrauen. Sie würden ohne zu zögern töten.

Ihr Anführer Brendan hatte kaum das Mannesalter erreicht. Doch die Entschlossenheit war ihm ins Gesicht geschrieben. Was auch immer er mit ihnen vorhatte, er würde sich nicht davon abbringen lassen.

Obwohl man sie schon vor Stunden aufs Schiff gezogen hatte, wurde ihr einfach nicht wärmer. Ihr Körper fühlte sich eiskalt an, und das immer noch feuchte Haar lag klamm auf ihren Schultern. Dazu kam noch ihre Angst, und Durst quälte sie.

„Könnte ich etwas Wasser haben?“, fragte sie Brendan, wohl wissend, dass er sie nicht verstehen konnte. Sie nickte hinüber zu seinen Wein trinkenden Männern, um zu verdeutlichen, was sie meinte.

Er presste den Mund zu einem dünnen Strich zusammen, ignorierte die Frage und kümmerte sich stattdessen um das Hauptsegel. Elena betrachtete ihre Freunde und Landsleute, um herauszufinden, ob Ragnar recht hatte. War es ihnen gelungen, sich von den Fesseln zu befreien? Sie saßen reglos da, jeder mit den Armen hinter dem Rücken. Keiner von ihnen sah sie an.

Vielleicht …

Ragnar richtete das Wort an die Männer. „Wenn der Mond aufgeht.“ Seine ruhige Stimme verriet seine Selbstsicherheit.

Elena hielt den Atem an und schaute zu den Iren hinüber. Hatten sie es verstanden? Die meisten waren immer noch damit beschäftigt, das Essen hinunterzuschlingen, aber Brendan runzelte die Stirn. Wortlos zog er seinen Dolch, kam auf sie zu und setzte sich neben sie. Sie fühlte die scharfe Klinge an ihrer Kehle und sah, wie der junge Mann in einer stummen Herausforderung zu Ragnar hinüberblickte.

Noch bevor die Nacht vorüber war, werde ich den Iren aufschlitzen dafür, dass er es gewagt hatte, Elena zu berühren.

Mit seinem verborgenen Messer hatte Ragnar seine Fesseln zerschnitten und es dann, einem nach dem anderen, an seine Männer weitergereicht. Nun war die Klinge wieder in seiner Hand, und er wartete auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen.

Seit Stunden segelten sie nun schon, und die Iren waren eingeschlafen – alle bis auf den, der Elena gefangen hielt. Er schien zu spüren, dass in dem Moment, in dem er sie losließ, sein Leben verwirkt wäre.

Die Sonne war bereits unter den Horizont gesunken, und der Mond ging langsam auf. Ragnar ermahnte seine Männer mit einem stummen Blick, sich bereitzuhalten. Dann sah er wieder zu Elena, wartete auf den geeigneten Moment, sie zu ergreifen. Sie wirkte angespannt, und an ihrer Kehle entdeckte er einen winzigen Blutstropfen.

Die Faust um den Griff seines Messers geballt, schwor er innerlich Rache an dem Mann, der sie festhielt. Ihre Schultern waren gestrafft, ihr ganzer Körper schien wie erstarrt, als wage sie nicht, sich zu rühren.

Sie brauchten eine Ablenkung, eine Möglichkeit, Brendans Aufmerksamkeit zu zerstreuen. Vielleicht sollten sie ihrerseits eine Geisel nehmen oder einfach einen Überraschungsangriff starten. In Gedanken spielte Ragnar Dutzende Möglichkeiten durch. Jede wäre machbar, aber riskant.

Bei den Göttern, warum musste ausgerechnet Elena die Geisel sein? Jede andere Frau hätte er einfach an sich ziehen und dem Angreifer die Kehle aufschlitzen können. Aber bei Elena war ihm die Gefahr zu groß. Sie bedeutete ihm alles, und er durfte auf keinen Fall ihr Leben riskieren.

Ragnar sah, wie sie zum Mond hinaufblickte, der gerade hinter einer Wolke hervorkam, und bei dem Anblick bleich wurde. Er wollte etwas sagen, ihr versichern, dass alles gut werden würde.

Schließlich konnte er sich nicht mehr zurückhalten, trotz der Gefahr. „Elena.“ Hab keine Angst. Ich werde dich befreien.

Der Ire sagte etwas, das wie eine Warnung klang, aber am Ende brach seine Stimme, wodurch die Drohung wenig überzeugend wirkte. Ragnar fragte sich, warum die Iren einen bartlosen Jüngling zu ihrem Anführer gemacht hatten.

„Das Schiff nähert sich wieder der Küste“, sagte Ragnar.

„Ich … kann nicht besonders gut schwimmen.“ Er bemerkte die Angst in Elenas Stimme. Der Wind blies inzwischen sehr stark und drängte das Schiff Richtung Osten. In geringer Entfernung entdeckte Ragnar eine kleine Insel, kaum mehr als ein großer Fels. Die könnten sie erreichen, wenn sie es versuchten.

„Ich werde nicht zulassen, dass du ertrinkst“, versprach er.

Sie schien darüber nachzudenken, seinen Worten zu vertrauen. Auch wenn sie zu Styr gehörte, wünschte er sich in diesem Moment nichts mehr, als sie in den Arm zu nehmen, ihr den Trost zu spenden, den sie brauchte.

Und da, als wären die Götter ihm zu Hilfe geeilt, entdeckte er die perfekte Ablenkung.

Brendan Ó Brannon hatte in seinem ganzen Leben noch nie so viel Angst gehabt. Während er der Lochlannach-Frau das Messer an die Kehle hielt, wünschte er sich, er hätte nie die Küste seiner Heimat verlassen. Er hatte geglaubt, seine Schwester Caragh beschützen zu müssen. Sein Plan war gewesen, die Angreifer an Bord zu zwingen, ihr Schiff einige Meilen weit weg zu bringen und dann mit seinen Freunden in der Nacht, wenn die Feinde schliefen, das Boot zu verlassen und ans Ufer zu schwimmen.

Aber die Wikinger waren wachsam. Keinen Moment ließen sie ihn oder die Frau, die er gefangen hielt, aus den Augen. Er ahnte, dass sie etwas vorhatten. Würden sie sich von ihren Fesseln befreien können? Dann wäre es um sein Leben geschehen.

Düstere Leere ergriff ihn bei dem Gedanken, dass er weder seine Schwester noch seine jüngeren Brüder je wiedersehen würde. Nur weil er gedacht hatte, den Helden spielen zu müssen. Was verstand er denn davon, sich gegen die wilden Lochlannach zu verteidigen? Nicht das Geringste. Er zählte doch erst siebzehn Jahre, war gerade erst zum Mann geworden. Er hatte übereilt gehandelt, und schlimmer noch, er hatte Caragh allein gelassen. Nun kümmerte sich niemand mehr um sie, und er bezweifelte, dass sie ohne ihn überleben könnte.

Besonders ein Mann bereitete ihm Sorge. Er starrte ihn unentwegt an, als warte er nur auf eine Gelegenheit, ihm an die Gurgel zu gehen.

Stumm betete Brendan, dass er irgendwie heil aus dem Ganzen herauskommen würde. Er überlegte, ob er die Frau einfach loslassen und sich ins Meer stürzen sollte. So weit sie auch von der Küste entfernt waren, seine Aussichten, die Sache zu überleben, wäre größer.

Aber er hielt sie fest, denn das war das Einzige, was ihn und seine Freunde derzeit am Leben hielt. Schon bald würden sie die Südspitze der Ostküste von Éireann erreichen.

Der Mond verschwand heute Nacht immer wieder zwischen den Wolken, die Sicht war schlecht. Brendan war so erschöpft, dass er nur mit Mühe verhindern konnte, dass seine Hände zitterten.

Ein Ruf eines seiner Freunde kündigte ein anderes Schiff an. Ohne die Klinge vom Hals der Frau zu nehmen, wandte Brendan sich um. Tatsächlich, ein großes Drachenboot näherte sich ihrer Position.

Und es kam nicht aus Irland.

Sein Mund wurde trocken, ihm brach der kalte Schweiß aus. Es waren die Gallaibh, die Dänen, die ebenso unerschrocken wie die Norweger waren. Sein Großvater hatte ihm oft Geschichten von den blutdurstigen Kriegern erzählt, die alles umbrachten, was sich bewegte.

Gott steh ihnen allen bei. Es wäre ein Wunder, wenn sie diese Nacht überlebten.

„Schiff abdrehen!“, kommandierte Brendan. Vielleicht konnten sie entkommen, wenn sie näher zur Küste gelangten. Aber seine Freunde kannten sich mit dem Boot der Lochlannach nicht aus und wussten nicht, wie man es steuerte. Statt dass sie Richtung Küste fuhren, schien sie eine unsichtbare Macht immer weiter zu den Dänen hinüberzuziehen.

Angst durchfuhr ihn, als er sah, wie Bogenschützen auf sie zielten. Verzweifelt sah er wieder aufs Wasser hinaus und fragte sich, ob er den Mut aufbrachte, einfach hineinzuspringen. Zu ertrinken war besser, als von Dutzenden Pfeilen durchbohrt zu werden.

Er wandte den Blick zu seiner Geisel. Die Frau war kaum älter als seine Schwester. Brendan atmete tief durch und wünschte sich, er hätte sie nie als Gefangene genommen. Sie verdiente es nicht, den Dänen in die Hände zu fallen, die sie erst vergewaltigen und dann töten würden. Heute hatte er unzählige Fehler gemacht, aber noch blieben ihm einige wertvolle Augenblicke.

Schnell durchschnitt er erst die Stricke, mit denen sie im Bug festgebunden war, dann ihre Fesseln. Überrascht sah sie ihn an und rieb sich die Handgelenke. Dann stolperte sie wortlos näher zu ihren Landsleuten.

Seine Gefährten wies Brendan an: „Wir müssen springen. Wenn wir ihnen in die Hände fallen, töten sie uns alle.“

„Sobald wir das Schiff verlassen, ertrinken wir“, wandte einer seiner Männer ein.

Brendans Herz hämmerte, und Schweißtropfen rannen ihm den Nacken hinab. „Wenn wir es erst mal bis zur Küste geschafft haben, können wir zu Fuß nach Gall Tír zurückkehren.“

Falls sie es zur Küste schafften. Die Dänen waren bereits gefährlich nahe, und er konnte sie in ihrer unverständlichen Sprache rufen hören.

„Das ist zu weit!“, widersprach sein Freund.

„Wir haben keine Wahl. Wenn wir hierbleiben, sterben wir heute Nacht.“ Er konnte nur hoffen, dass die Lochlannach untätig bleiben und sie ungehindert ins Wasser springen lassen würden. Aber wenn Brendan den finsteren Blick des Anführers der Wikinger betrachtete, war er sich da alles andere als sicher. Sein Magen verkrampfte sich beim Gedanken an das, was ihnen blühte.

Ohne Vorwarnung standen die Lochlannach auf und kamen auf ihn zu. Offensichtlich war es ihnen schon vor einiger Zeit gelungen, sich von ihren Fesseln zu befreien, und sie hatten nur auf die Gelegenheit zum Angriff gewartet.

Die dänischen Schützen spannten ihre Bogen, und die erste Salve ihrer Pfeile traf das Schiff. Brendan ließ sich flach aufs Deck fallen hörte den Schmerzensschrei eines seiner Gefährten. Er sah seinen sterbenden Kameraden zu Boden sinken und presste sich noch fester gegen die Planken.

Die Norweger riefen etwas, und überall um sich herum hörte er, wie Männer über Bord sprangen. Und er hörte die Schreie derjenigen, die von Bogenschützen getroffen wurden, bevor sie im Meer versanken.

Die Frau lag, wie er, an die Deckplanken geschmiegt, während der Wikinger sie mit seinem Körper beschützte. Brendan sah, wie der Wikinger zusammenzuckte, als ein Pfeil sein Bein durchbohrte. Die Frau schrie auf, und einen Augenblick später verließ sie ihre Deckung und sprang ebenfalls vom Schiff. Der Mann folgte ihr, auch wenn Brendan bezweifelte, dass er mit seiner Verletzung das Ufer erreichen würde.

Angst stieg in ihm auf. Er schloss die Augen und bereitete sich auf den Tod vor. Um ihn herum kamen die Dänen immer näher.

Bitte, mach es kurz und schmerzlos, betete er. Und gib, dass meine Schwester in Sicherheit ist.

Elena hämmerte das Herz in der Brust. Die Luft blieb ihr weg, als das kalte Wasser sie wie ein Schlag traf. Blitzschnell hatte sich ihr Kleid vollgesogen und zog sie nach unten. Nur mit großer Anstrengung konnte sie Arme und Beine bewegen und sich gerade so eben oben halten.

Jetzt, da sie sich nicht mehr auf dem Schiff befand, schien ihr die Felseninsel unendlich weit entfernt. Schwer atmend kämpfte sie mit Händen und Füßen darum, nicht unterzugehen. Hinter sich hörte sie die Rufe der Männer und das Geräusch von klirrenden Schwertern.

Ihr Gesicht tauchte unter, und sie schluckte Salzwasser, prustete und versuchte erneut, Land zu erreichen. In der Dunkelheit konnte sie kaum etwas erkennen und bezweifelte, dass sie es bis zu der kleinen Insel schaffen würde.

Die Angst durchdrang sie bis ins Mark. Du bist nicht stark genug, um das Land zu erreichen. Du wirst ertrinken.

Ihre Entschlossenheit geriet ins Wanken, aber noch wedelte sie weiter mit den Armen. Plötzlich hörte sie hinter sich ein lautes Platschen. Ein starker Arm umfasste sie. Als sie aufsah, entdeckte sie Ragnar, der sie hielt und sie beide mit unglaublicher Kraft vorwärtszog. Dankbar, dass auch er entkommen war, schlang sie einen Arm um seinen Nacken.

„Schwimm!“, hörte sie ihn sagen. „Schau nicht zurück.“

Immer noch war sie wie gelähmt vor Angst, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ihr Gesicht sank erneut unter Wasser, aber Ragnar zog sie wieder nach oben. Er drängte sie weiterzuschwimmen, und nahm den Arm nicht von ihrer Hüfte. So schwammen sie nebeneinander her, während sie hinter sich die Rufe der Dänen hörten, die ihr Schiff übernahmen.

Freya, beschütze mich, betete Elena, als sie sich Richtung Land vorwärtskämpften. Der Mond kroch hinter einer Wolke hervor und spiegelte sich im Wasser. Der Anblick des Lichts verlieh ihr neuen Mut.

Sie musste überleben. Trotz ihrer Todesangst würde sie kämpfen.

3. KAPITEL

Ihre Arme fühlten sich an wie Blei, und ihr Körper im eisigen Wasser zitterte. Doch mit Ragnar an ihrer Seite schöpfte sie neue Kraft. Er sprach ihr Mut zu, obwohl auch seine Bewegungen langsamer wurden.

Als sie endlich Boden unter den Füßen spürte, seufzte Elena erleichtert auf. Sie war völlig erschöpft und zitterte am ganzen Leib, aber sie hatten die Insel erreicht.

Ragnar schwankte stark, während sie zum Ufer wateten. Zunächst verstand Elena nicht, warum ihm das Gehen solche Schwierigkeiten bereitete, bis das Mondlicht auf ihn fiel und sie den Pfeil sah, der in seinem rechten Oberschenkel steckte.

Sie keuchte auf. „Du bist verletzt!“ Sofort stützte sie ihn, und gemeinsam stolperten sie auf den Sand.

Er antwortete nicht, und Elena geriet beinahe in Panik. Wie schwer war er verwundet? In ihr stieg die Angst auf, dass sie ohne ihn nicht überleben konnte.

Gleich darauf schob sie diese Gedanken beiseite. Er war nicht tot, und wenn sie sich um seine Wunde kümmerte, würde er überleben.

Sie verbannte alle Gedanken, die ihr nicht helfen würden, aus ihrem Kopf. Jetzt musste sie den Pfeil herausziehen, sein Bein verbinden und für Schutz sorgen. Von ihrem Unterkleid konnte sie für den Verband einen Streifen abreißen.

„Ragnar, sieh mich an.“

Er tat es, aber in seinen Augen lag so viel Schmerz, dass sie schon das Schlimmste befürchtete. Seine Beinkleider und die Tunika waren mit Meerwasser getränkt, die Metallplättchen auf seinem ledernen Brustharnisch glitzerten feucht im Mondlicht. Zunächst musste sie die Verletzung untersuchen.

„Ich helfe dir zu den Felsen dort hinüber“, sagte sie. „Schaffst du es dahin?“

Er nickte nur, als koste es ihn zu große Anstrengung, zu sprechen. Aus der Pfeilwunde strömte Blut über sein Bein, aber zumindest spritzte es nicht heraus. Behutsam half sie ihm, sich zu setzen, den Brustharnisch aus dickem Leder und die Tunika darunter abzulegen. Dann schnitt sie mit seinem Messer lange Streifen von ihrem Unterkleid. Es wäre schmerzhaft für ihn, die Wunde mit Salzwasser zu reinigen, deshalb sah sie sich nach anderen Möglichkeiten um. Stellenweise wuchs Moos, und sie grub zwischen den Steinen, um genug zusammenzubekommen, dass sie daraus eine Bandage als Barriere zur feuchten Wolle fertigen konnte.

„Wir brauchen ein Feuer.“ Ragnar griff vor Kälte zitternd nach seiner nassen Tunika. „Vielleicht kannst du … eins entfachen.“

„Gleich“, versprach sie. „Erst werde ich den Pfeil herausziehen.“

„Dann könnte ich verbluten“, sagte er ruhig.

„Ich kann ihn ja schlecht stecken lassen.“ Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und kniete sich vor ihn. „Du hast mich beschützt. Darum werde ich jetzt tun, was ich kann, um dir zu helfen.“

Für einen winzigen Augenblick erhaschte sie einen Blick auf ein wildes Verlangen in seinen Augen, bevor er den Kopf abwandte. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Vielleicht hatte sie es sich ja auch nur eingebildet.

Sie atmete tief durch und griff nach dem Pfeil. Sicher würde es ihm noch mehr wehtun, wenn sie vorher ankündigte, wann sie ihn herausziehen würde. Zwar hatte sie noch nie einen Pfeil aus einem Mann herausziehen müssen, aber er schien nicht sonderlich tief eingedrungen. Sie konnte die Spitze mit den Widerhaken unter der Haut sehen und fragte sich, was besser war: ihn herauszureißen oder die Spitze auf der anderen Seite durch die Haut zu bohren. Beides wäre schmerzhaft, doch sie hielt es für leichter, ihn durchzustoßen.

„Ich will dir keine Schmerzen bereiten“, sagte sie ruhig. „Aber es muss …“, mit einem kräftigen Stoß bohrte sie den Pfeil quer durch die Haut, „… leider sein.“ Vorsichtig brach sie die Spitze ab und konnte nun den Schaft herausziehen. Ragnar stöhnte vor Schmerz auf. Schnell bedeckte sie die Wunden mit Moos und verband sie fest mit den Stoffstreifen.

„Ich dachte, du warnst mich vielleicht vorher.“ Er kämpfte sichtlich gegen die Qualen an.

„Wenn man Schmerzen erwartet und sich verkrampft, wird es nur schlimmer“, stellte sie fest.

„Ach? Hat sich dir vielleicht schon mal ein Pfeil ins Fleisch gebohrt?“ Er klang schroff.

„Er steckte nicht allzu tief. Es blutet nicht so stark, wie ich befürchtet hatte.“ Gott sei Dank. Wenn der Pfeil tiefer eingedrungen wäre, hätte sie sicher nicht die Kraft gehabt, ihn durch seine harten Muskeln zu stoßen.

Sobald sie Ragnar versorgt hatte, ließ sie ihn gegen den Felsen gelehnt sitzen. Er zitterte am ganzen Leib.

Er hatte recht, sie brauchten ein Feuer. Also musste sie unbedingt einen Feuerstein finden. Leider war es zu dunkel, um die Steine richtig erkennen zu können.

Wieder drohte die Angst sie zu überwältigen. Die eisige Luft und die Dunkelheit raubten ihr den letzten Mut. Sie brauchten heute Nacht einen Unterschlupf und Wärme; ihr Überleben hing davon ab.

Elena zwang sich, sich auf eine Sache nach der anderen zu konzentrieren. Ein Feuer war jetzt am allerwichtigsten. Sie hielt immer noch Ragnars Messer in der Hand. „Ich versuche, zwischen den Felsen einen Feuerstein zu finden“, erklärte sie ihm.

„Warte.“ Er zeigte auf den Stein, den er in einem Beutel aus Segeltuch an einem Lederriemen um den Hals trug. „Das hier ist einer.“

Als sie sich niederkniete, um den Knoten zu lösen, strichen ihre Finger über seinen Nacken.

„Du bist nicht verletzt, oder?“ Seine Stimme, kaum mehr als ein Flüstern, vibrierte zwischen ihnen, und eine unerklärliche Wärme durchströmte Elena. Ihr wurde bewusst, dass sie ihm die Arme um den Hals gelegt hatte, fast wie in einer Umarmung.

„Nein.“ Mehr um sich selbst zu beruhigen, fügte sie hinzu: „Sprich jetzt nicht. Ruh dich einfach aus, während ich mich um ein Feuer kümmere.“

Da der Knoten zu fest saß, zog sie ihm den Riemen einfach über den Kopf und nahm den Feuerstein und sein Messer mit, um sich auf die Suche nach Holz zu machen. Ragnars männlicher Duft war anders als der ihres Ehemanns, dennoch war er ihr als guter Freund vertraut. Wie oft hatte sie sich im Laufe der Jahre schon auf ihn verlassen können? Ihr ganzes Leben lang waren sie Freunde gewesen. Und wenn sie schon mit jemandem gestrandet sein musste, dann war sie dankbar, dass er derjenige war.

Mit neuem Mut widmete sie sich der gewohnten Aufgabe, Treibholz und trockenes Seegras als Zunder zu sammeln. Morgen früh, so viel war gewiss, mussten sie aufs Festland gelangen, um Nahrung zu beschaffen. Ohne Trinkwasser und einen Unterstand würden sie hier nicht überleben. Allerdings war es fraglich, ob Ragnar wieder genug Kraft haben würde, um schwimmen zu können.

Denk jetzt nicht daran, ermahnte sie sich selbst. Wenn die Nacht vorüber war, wäre es immer noch früh genug, sich darüber Sorgen zu machen.

Sie stapelte Holz und Zunder und schlug mit der Messerklinge so lange gegen den Feuerstein, bis ein Funke übersprang und das Seegras entzündete. Behutsam schürte sie die Flammen, bis sie eine angenehme Wärme verbreiteten.

Nass, wie ihre Kleidung war, tat ihr die Wärme gut, als sie sich so dicht wie möglich an das Feuer setzte. Auf dem Wasser entdeckte sie im Mondlicht nirgends Anzeichen eines Schiffs, nur die Wellen, die sich am Ufer ihrer kleinen Insel brachen. „Was glaubst du, was mit den anderen passiert ist? Ob sie noch am Leben sind?“

„Ich habe gehört, wie die Dänen davon gesprochen haben, sie als Sklaven zu verkaufen.“ Ragnar verzog das Gesicht und brachte sich in eine bequemere Position. „Vorausgesetzt, dass sie sie nicht alle umgebracht haben.“

Elena rieb sich die Oberarme und versuchte, die Vorstellung zu verdrängen. Der Gedanke, dass sie die einzigen Überlebenden der weiten, anstrengenden Reise nach Irland sein könnten, war unvorstellbar. Wieder stieg die Angst in ihr auf, bevor sie sie zurückdrängen konnte.

Autor

Michelle Willingham

Michelle schrieb ihren ersten historischen Liebesroman im Alter von zwölf Jahren und war stolz, acht Seiten füllen zu können. Und je mehr sie schrieb, desto mehr wuchs ihre Überzeugung, dass eines Tages ihr Traum von einer Autorenkarriere in Erfüllung gehen würde.
Sie besuchte die Universität von Notre Dame im Bundesstaat...

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