Tiffany Exklusiv Band 84

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  • Erscheinungstag 06.10.2020
  • Bandnummer 84
  • ISBN / Artikelnummer 9783733726997
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jill Shalvis, Alison Kent, Susanna Carr

TIFFANY EXKLUSIV BAND 84

PROLOG

Vor zehn Jahren

In rasantem Tempo fuhr ein Auto nach dem anderen vom Daisy Inn weg. Schließlich war heute Abschlussball, die Nacht der Nächte: voller Träume und Hoffnungen, verbotenem Alkohol und verlorener Unschuld. Der absolute Höhepunkt der ganzen High-School-Zeit.

Es sei denn, man gehörte zu den Tremaines.

Besonders schlimm war es, in Pleasantville, Ohio, ein weibliches Mitglied dieser Familie zu sein.

Cassie Tremaine Montgomery betrachtete Biff Walters, mit dem sie sich für heute verabredet hatte. Kaum zu glauben, dass eine Mutter ihren neugeborenen Sohn so wenig mochte, dass sie ihn Biff nannte. Cassie hatte nur aus einem Grund zugestimmt, mit dem gut aussehenden Footballstar – der leider nicht der Hellste war – zum Ball zu gehen. Es lag an dem Geschenk, das er von seinem Vater zum Schulabschluss bekommen hatte: ein kirschrotes Cabrio.

Da Cassie alle teuren und für sie unerschwinglichen Dinge liebte, hatte das Cabrio eine unwiderstehliche Wirkung auf sie ausgeübt.

„He, Baby.“ Biff suchte ihren Blick und legte eine große, schwitzende Hand auf ihren Oberschenkel. „Du siehst heute Abend wirklich scharf aus.“

Wie originell! Cassie war nun mal blond, groß und attraktiv wie ein Model aus dem Playboy. Deshalb waren die Männer seit vier Jahren hinter ihr her. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr. Außerdem hielt man alle Frauen der Tremaines für Flittchen. Ausnahmslos.

Sie hatte die Wahl, mit dem Makel zu leben oder aus Pleasantville zu verschwinden.

Leider hatte sie es sich als Kind nicht aussuchen können. Zusammen mit ihrer Cousine Kate war sie in Pleasantville aufgewachsen, und beide Mädchen hatten ihre Lektion gelernt. Schon vor langer Zeit hatte Flo, Cassies Mutter, das Schicksal ihrer Tochter besiegelt. Sie war als Vamp der Stadt verschrien und hatte ungeniert so viele Ehemänner wie nur möglich verführt.

Klar, dass Cassie ebenso unbeliebt wie ihre Mutter war – oder eben beliebt, wenn es nach den Männern ging.

„Willst du an den See?“, fragte Biff hoffnungsvoll.

Bloß nicht! Der See war der Platz außerhalb der Stadt, an dem wild herumgeknutscht wurde.

Nein danke! Das war nichts für sie. Cassie teilte nicht die Schwäche ihrer Mutter für Männer.

„Natürlich willst du. Du bist doch eine Tremaine.“ Biff lachte schallend. Er kniff ihr in den Oberschenkel, dann wanderten seine Finger nach oben und hinterließen eine feuchte Spur auf dem Seidenkleid, das sie heimlich im Billigkaufhaus erstanden hatte.

„Alle Tremaines stehen auf Sex.“ Biff war sich absolut sicher. „Je wilder, desto besser. Deshalb habe ich dich doch eingeladen. Komm schon. Zeig, was du hast, Baby.“ Er beugte sich über sie und presste den Mund auf ihren Hals. Seine Bierfahne verursachte ihr Übelkeit.

Trotzdem lächelte Cassie. Sie rutschte zur Seite und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Da zahlte sie ja einen happigen Preis für eine Fahrt in einem tollen Auto. Jetzt musste sie sich etwas ausdenken, um ungeschoren davonzukommen. „Warum so eilig?“

„Deshalb.“ Biff hing schon die Zunge zum Hals heraus. Er legte die Hand auf seine ausgebeulte Hose und rückte sie zurecht.

Mein Gott, waren die Männer lächerlich. Biff roch nach Bier und Schweiß. „Biff, die haben sich doch vorhin geweigert, uns Bier zu verkaufen.“

„Na und?“ Er schien mächtig stolz auf sich zu sein.

„Wieso riechst du dann nach Bier?“

Er setzte ein breites, dümmliches Grinsen auf. „Jeff hatte zwei Sixpacks im Badezimmer. Eins davon hat er mir gegeben.“

Ein Sixpack! Cassie war kein ängstlicher Mensch, aber sie hing sehr am Leben. „Hast du etwa alle sechs Flaschen getrunken?“

„Ja.“ Als Biff vom Parkplatz fuhr, ließ er angeberisch die Reifen quietschen. Der Wagen kam ins Schleudern.

Cassie hielt die Luft an und klammerte sich am Armaturenbrett fest.

„Keine Angst, Baby.“ Wieder grinste er sie dümmlich an. „Mit Alkohol im Blut fahre ich viel besser.“

Aha, dachte Cassie. Noch eine Woche, und sie würde aus diesem Kaff verschwunden sein, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Sie hatte vor, der Welt zu zeigen, dass sie jemand war. Etwas Besonderes.

Doch dafür musste sie am Leben bleiben. „Biff, fahr rechts ran!“

„Baby, jetzt …“

„Halt an“, stieß sie hervor. Wenn er sie noch ein Mal Baby nannte, würde sie schreien. Und dann würde er schreien.

„Pass auf!“ Er trat aufs Gas und wechselte blitzschnell auf die Überholspur. „Juchu!“ Beim Einscheren auf die rechte Spur verrenkte er sich beinahe den Hals und zeigte dem entgegenkommenden Fahrer den Mittelfinger. Eine Sekunde länger, und es hätte gekracht! „Mistkerl!“

„Biff!“ Cassie krallte sich mit den Fingernägeln, die sie so sorgfältig lackiert hatte, am Armaturenbrett fest. „Ich …“

„So ein Mist!“, stieß er hervor. Die Polizeisirene heulte. Blitzende Lichter erhellten Biffs Gesicht. Er begann fürchterlich zu fluchen.

Sie fuhren rechts heran. Gott sei Dank, dachte Cassie, als sie Sheriff Richard Taggart auf sich zukommen sah. Der Mann hatte sie wahrscheinlich vor einem Unfall bewahrt. Zumindest vor einem Ringkampf mit einem Idioten.

Biff fluchte immer noch, und Cassie konnte es ihm nicht verübeln. Der Sheriff gehörte nicht zu den Menschen, die fünf gerade sein ließen. Doch obwohl er ein scharfer Hund war, vertraute sie ihm. Sie vertraute ihm, weil er der einzige Mann war, der ihres Wissens nicht mit ihrer Mutter geschlafen hatte. Ein Grund für sie, ihm Respekt entgegenzubringen.

Er trat ans Fahrerfenster, schob seinen Hut in den Nacken und ließ den Kaugummi von einer Seite auf die andere wandern. Seinem scharfen Blick entging nichts. „Habt ihr ein bestimmtes Ziel, Kinderchen?“

„Machst du Witze? Guck doch mal, wen ich bei mir habe.“ Biff lehnte sich zurück, damit der Sheriff einen Blick auf Cassie werfen konnte. „Für heute Abend habe ich mir eine Tremaine besorgt.“

Der Sheriff sah auf Cassie. Um seine Augen zuckte es. „Also zum See unterwegs, oder?“, fragte er.

Biff grinste dümmlich.

Der Sheriff schüttelte den Kopf. „Steig aus, Biff.“

„Aber Onkel Rich…“

„Raus“, wiederholte der Sheriff. „Du wirst nicht mehr fahren. Ich kann deine Fahne von hier aus riechen.“

„Oh Mann!“ Biff fing an zu jammern, hörte jedoch sofort auf, als der Sheriff ihn ansah.

„Sieh zu, dass du nach Hause kommst, mein kleiner Neffe. Bevor ich dich wegen Trunkenheit am Steuer festnehme.“

Wie ein bockiges Kind knallte Biff die Autotür zu und ging los, ohne auch nur einen Blick auf Cassie zurückzuwerfen, der er gerade eben noch an die Wäsche gewollt hatte.

Na toll! Cassie warf das Haar zurück und tat ihr Bestes, um den Eindruck zu erwecken, dass sie das Ganze nichts anging. Aber ihr Herz hämmerte. Denn obwohl sie dankbar war, dass der Sheriff sie angehalten hatte, verspürte sie plötzlich … Nervosität.

Lächerlich. Der Sheriff war rau und streng und regierte die Stadt mit eiserner Faust, aber er war gerecht. Eine Stütze der Gesellschaft.

Es gab keinen Grund, sich zu ängstigen. Was würde er schon tun können? Wahrscheinlich ließ er sie auch nach Hause laufen. Ja, das wäre in Ordnung. Der ganze Abend war ohnehin ein Reinfall gewesen. Cassie hatte keine Ahnung, was sie sich eigentlich dabei gedacht hatte, sich schön zu machen und mit dem größten Blödmann – äh, Sportass der Stadt auszugehen.

„Cassie.“

„Sheriff.“

„Du hast dich aber hübsch gemacht.“

Starrte er etwa auf ihre Brüste? Cassie ließ sich ihre Bestürzung nicht anmerken. „Ich … ja.“

„Meinst du, dein Kleid macht aus dir einen anderen Menschen?“, fragte er leise. Er ließ den Blick über das schwarze Seidenkleid wandern. Als sie es im Kaufhaus entdeckt hatte, war ihre Freude groß gewesen, aber jetzt hätte sie sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen.

„Steig aus!“

Als sie sich nicht rührte, beugte er sich durchs Fenster. „Ich kann’s dir besorgen“, sagte er aalglatt. „Würde mir ziemlichen Spaß machen.“

Kein Mensch war in der Nähe. Aber selbst wenn jemand da gewesen wäre, hätte ihr niemand geholfen. Zweifellos würden die Vorbeifahrenden meinen, dass der Sheriff Grund hatte, sie anzuhalten. Mit hochgerecktem Kinn verließ Cassie den Wagen und lehnte sich lässig dagegen. „Was kann ich für Sie tun, Sheriff?“ Sie spielte die Kühle.

„Was du für mich tun kannst?“ Er trat so dicht an sie heran, dass sie die Lichter des Streifenwagens in seinen Augen blitzen sah. Sie roch seinen Atem. Als sie seine Hüften an ihrem Körper spürte, wollte sie zurückweichen. Am liebsten wäre sie in Panik ausgebrochen, aber das gönnte sie niemandem in dieser gottverdammten Stadt.

„Was du für mich tun kannst, Cassie, ist nicht ganz einfach. Aber da du Flos Tochter bist …“

„Sie … kennen Flo?“

„So gut, wie ein Mann sie nur kennen kann.“

Er war erregt. Und anscheinend war auch er mit ihrer Mutter im Bett gewesen. Seltsam, dass Cassie das jetzt wie ein Verrat vorkam. Aber sie hütete sich, auch nur eine Miene zu verziehen, denn es war ein großer Unterschied, ob man mit einem dummen achtzehnjährigen Punk in seinem nagelneuen Auto herumknutschte oder sich mit einem erregten Mann einließ, der einen Sheriffstern trug. Energisch warf sie ihr Haar zurück. „Da haben Sie mich wohl mit meiner Mutter verwechselt.“

„Ich verwechsle niemanden.“ Er hob die Hand.

Einen langen Augenblick schwebte die Hand zwischen ihnen. Cassie hielt die Luft an. Als sie langsam wieder ausatmete, tasteten seine Finger über ihre Brustspitzen. Sein Atem ging schnell, und ihr wurde klar, dass er keinen Deut besser als sein Neffe war. Die Erkenntnis, dass jeder Mann, auch dieser hier, ein Sklave seiner Triebe war, hatte etwas Beunruhigendes.

Als sie seine Hand wegschlug, überlief sie eine Gänsehaut. „Wenn Sie mich nicht einsperren wollen, weil ich so dumm war, mit diesem Idioten von Ihrem Neffen auszugehen, betrachte ich diese Angelegenheit für beendet“, sagte sie bemerkenswert ruhig. „Lassen Sie mich durch. Ich gehe zu Fuß nach Hause.“

„Ich kann dich mitnehmen. Vielleicht ist Flo zu Hause. Könnte interessant sein, euch beide …“

Cassie fröstelte.

Er wollte sie beide zusammen haben. Schließlich war und blieb eine Tremaine in seinen Augen ein Flittchen.

Wie hielt ihre Mutter das bloß aus? Einen Mann nur aus Freude am Vergnügen zu verführen? Cassie verstand, dass Flo es genoss, einen Mann schwach zu machen, weil ihn die Lust überwältigte, aber Cassie würde lieber einen Mann vor Schmerz in die Knie zwingen. Mit einem Tritt in seine edlen Teile.

Dieser Mann würde es sich nicht gefallen lassen. Immer noch lächelnd schob sie sich hinter ihm vorbei. „Tut mir leid, Sheriff, heute Abend bin ich nicht in Stimmung.“

Ihre Absätze klapperten auf dem Asphalt, als sie sich in Bewegung setzte. Komm mir bloß nicht hinterher! Bei jedem Schritt spürte sie seine Blicke. Sie bog um die Ecke.

Erst als sie wusste, dass sie wirklich allein war und er sie nicht mehr sehen konnte, begann sie zu laufen. Niemand hielt sie auf. Niemand interessierte sich für sie.

Sie rannte die Magnolia Avenue hinunter, immer weiter, bis sie in die Auffahrt des Doppelhauses einbog, in dem sie schon ihr Leben lang mit ihrer Mutter wohnte.

Ihre Tante und ihre Cousine wohnten in der anderen Hälfte. Kate mit ihrem gesunden Menschenverstand würde ihr ein echter Trost sein, aber sie war wohl noch mit ihrem Begleiter unterwegs.

Cassie ging nicht ins Haus. Sie wollte ihrer Mutter nicht begegnen, der bei ihrem Anblick wahrscheinlich wieder die Tränen kamen. Es war klar, dass Cassie so bald wie möglich ausziehen würde, um ihrer eigenen Wege zu gehen.

Doch eines Tages würde sie zurückkommen und es allen zeigen. In einem tollen Auto. Sie würde im größten Haus auf dem Lilac Hill wohnen, nur weil sie es sich leisten konnte. Und … ja, das würde ihr am besten gefallen … sie würde es dem Sheriff heimzahlen. Irgendwie.

Aber vor allem würde sie etwas aus sich machen, und zwar etwas ganz Besonderes.

Sie ging ums Haus herum in den Hinterhof. Im nächsten Augenblick schleuderte sie die Pumps weg, für die sie den ganzen letzten Monat gespart hatte. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und schätzte die Entfernung für den Sprung ab, den sie machen musste.

Sie sprang und streckte die Hände nach der Strickleiter aus. In ihrem knappen schwarzen Kleid hangelte sie sich am Baum hoch und schwang sich ins Baumhaus, in ihr und Kates Versteck, solange sie zurückdenken konnte.

Es war eng und roch modrig. Wahrscheinlich krabbelten überall Spinnen herum. Jetzt musste sie unbedingt allein sein.

Aus einem kleinen Holzkästchen holte sie eine Zigarette und zündete sie an. Das war ihr geheimes Laster und beruhigte die Nerven. In dem Kästchen lagen auch ihr und Kates Tagebuch. Sie nahm ihres heraus, lehnte sich gegen den Baumstamm, blickte zu den Sternen hinauf und ließ im Geist die Dinge Revue passieren, die sie im Leben erreichen wollte. Dann schrieb sie in ihr Tagebuch. Kate würde ausflippen, wenn sie das mit dem Auto erfuhr!

Als Cassie mit Schreiben fertig war, lehnte sie sich zurück und sah, wie eine Sternschnuppe vom Himmel fiel. Auch wenn sie es bis ans Ende ihrer Tage niemals zugeben würde, hatte sie einen großen Wunsch.

Sie wünschte sich, dass sich ihr Leben zum Guten wenden würde, sobald sie nur dieses verdammte Pleasantville hinter sich gelassen hatte.

1. KAPITEL

Zehn Jahre später

Sheriff Sean Taggart hatte gegessen, geduscht und lag nackt und fix und fertig auf seinem Bett, als das Telefon klingelte.

„Vergiss es“, murmelte er und machte sich nicht die Mühe, auch nur den Kopf zu heben. Er hatte einfach keine Kraft mehr und brauchte dringend Schlaf. Die ganze Nacht war er unterwegs gewesen, um dem Sheriff aus dem Nachbardistrikt bei der Verfolgung eines Bankräubers zu helfen.

Bevor er dann am Morgen auch nur an Schlaf denken konnte, musste er vier dumme Kühe retten, die sich mitten auf dem Highway herumtrieben. Außerdem hatte er einen betrunkenen Teenager aus einer Schlucht gezogen.

Jetzt – kurz vor Mittag – wollte er keinen Handschlag mehr tun. Er lebte allein auf einem Hügel über der Stadt. Nicht auf dem Lilac Hill wie die Reichen, sondern in einem gemütlichen, hübschen Viertel, wo die Häuser weit auseinander standen und alt genug waren, um Charakter auszustrahlen – das hieß im Klartext, dass sie ziemlich baufällig waren. Sein Haus hatte er sich nur leisten können, weil es noch verfallener als die anderen war.

Die Renovierung ging langsam voran und war ziemlich teuer. Deshalb hatte Sean bis jetzt nur Schlafzimmer und Küche auf Vordermann gebracht. Doch das Haus gehörte ihm, und er fühlte sich darin wohl. Sein Vater hatte nicht nur mit eiserner Faust über die Stadt, sondern auch über ihn geherrscht. Als er acht wurde, hatte seine Mutter die Familie verlassen, um woanders glücklich zu werden. Seitdem hatte Sean sich gewünscht, irgendwann ein gemütliches und harmonisches Zuhause zu haben.

Er und sein Vater hatten sich nie sonderlich nah gestanden. Sie hatten unterschiedliche Ideale und Wertvorstellungen. Der alte Taggart war von seinem Sohn enttäuscht. Er hatte sich mehr von ihm versprochen.

Sean sehnte sich nach einer Freundin oder einer Ehefrau, zumindest aber nach einer tieferen Liebesbeziehung. Er wünschte sich einen Menschen, auf den er sich verlassen konnte.

Aber jetzt wollte er acht Stunden durchschlafen.

Das Klingeln hörte nicht auf. Er wandte den Kopf, hielt mühsam ein Auge auf und blickte auf das Telefon. Wer konnte jetzt noch anrufen? Zum Beispiel sein Vater, der Exsheriff, der ihm vorschreiben wollte, wie er seinen Job machen sollte.

Es konnte aber auch ein Notfall sein.

„Verdammt noch mal!“ Er nahm den Hörer ab. „Was gibt’s denn?“

„Es ist dringend“, sagte Annie mit ihrer ständig fröhlich klingenden Stimme. Annie war seine Exverlobte und eine unglaubliche Nervensäge.

Er rieb sich die Augen und starrte an die Decke. „Warum rufst du an?“

Sie lachte. „Da rast jemand in einem coolen Flitzer durch die Stadt. Den ganzen Tag über haben wir Anrufe bekommen. Die Leute beschweren sich über die laute Musik und den rücksichtslosen Fahrer.“

Er rieb sich die müden, brennenden Augen und griff nach seiner Hose. „Diebstahl? Beleidigung?“

„Nein, nichts dergleichen. Nur die Musik und das Herumrasen.“

Sean verdrehte die Augen. „Wenn das alles ist, warum kann ich dann kein Auge zutun?“

„Weil wir alle dein liebenswertes Benehmen so sehr schätzen. Mach dich auf die Socken. Und sei da draußen vorsichtig, okay?“

„Ja, bin ich“, murmelte er und suchte nach weiteren Kleidungsstücken. Er zwängte sich in die Stiefel, zog sein Hemd an und griff nach seinem Sheriffstern.

Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf sein großes, zerwühltes, äußerst bequemes Bett verließ er das Zimmer.

Auf halber Strecke in die Stadt rauschte es in seinem Funkgerät. „Ich habe das Kennzeichen und das Modell“, sagte Annie und rasselte die Angaben herunter.

„Hellgelber Porsche.“ Bei dem Gedanken an einen idiotischen Touristen, der wahrscheinlich falsch abgebogen und in Pleasantville gelandet war, schüttelte Sean den Kopf. „Sollte nicht schwer zu finden sein. Name des Besitzers?“

„Moment … Cassie Tremaine Montgomery.“

Also kein Urlauber, kein Reisender, der sich zufällig verirrt hatte, sondern Cassie Tremaine Montgomery.

Früher hatte sie hier gelebt. Jetzt war sie Dessous-Model und lebte meilenweit von Pleasantville entfernt.

Wenn Sean sich richtig erinnerte – und das tat er –, war Cassie kühl, unerreichbar, eingebildet und … scharf gewesen. Sehr scharf.

Man hatte erzählt, dass sie die Stadt fluchtartig nach dem High-School-Abschluss verlassen hatte. Es gab verschiedene Gerüchte: Sie sei schwanger gewesen, auf Drogen, eine Diebin und was sonst noch alles. Sogar sein Cousin Biff, dieser Versager, hatte viele haarsträubende Geschichten erzählt, obwohl Sean sich nicht sicher war, wie viel davon stimmte. Biff neigte nämlich zu Übertreibungen, und Sean hatte keine Energie darauf verschwendet, das nachzuprüfen.

Doch inzwischen war er der Sheriff in der Stadt. Und Cassie war wieder da und stiftete Unruhe. Jetzt musste er über sie nachdenken.

Er sah sie sofort. In einem schnittigen Wagen raste sie die Magnolia Avenue entlang, das Outfit passend zu ihrem Auto. Ihr blondes Haar wehte im Wind, während die Finger am Lenkrad den Takt zu der dröhnenden Musik schlugen.

Sean wendete und jagte hinter ihr her. Das konnte ja heiter werden!

Nimm, was du kriegen kannst, Darling. Nimm, was du kriegen kannst, und such dann das Weite.

Cassie Tremaine Montgomery lächelte grimmig, als sie sich an die Lebensweisheit ihrer Mutter erinnerte. Etwas schneller als erlaubt fuhr sie die Magnolia Avenue hinunter. Als sie durch die Stadt gefahren war, um Besorgungen zu machen, blieben die Leute stehen, glotzten und zeigten mit dem Finger auf sie.

Natürlich wusste sie, dass es an dem Auto lag. Doch mit einem Schlag fühlte sie sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Man erkannte sie wieder und erinnerte sich an sie.

Hatte sie tatsächlich geglaubt, dass die Leute sie vergessen hätten? Hatte Kate sie nicht gewarnt, als sie vor kurzem in der Stadt gewesen war?

Gerade kam Mrs. McIntyre aus dem Teeladen. Die alte Klatschtante hatte sich nicht verändert. Noch immer trug sie ihr Haar in einem Knoten, der so straff gebunden war, dass die Augen zu Schlitzen wurden. Noch immer machte sie dieses finstere Gesicht. Es war kein Tag vergangen, an dem sie nicht über Cassie und Flo hergezogen hatte.

Cassie winkte. Mrs. McIntyre drohte mit dem Finger und wandte sich zu einer blauhaarigen alten Giftnudel neben ihr, die ebenfalls drohend den Zeigefinger hob.

Na schön. Willkommen zu Hause!

Sie war nicht hier, um sich zu erinnern und freundlich zu sein. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre sie niemals zurückgekehrt. Hier hatte sie überhaupt nichts verloren.

Kate wohnte auch nicht mehr hier. Mit ihrem Sex-Shop für Frauen war sie in Chicago ganz groß herausgekommen.

Einige Leute würden das auch von Cassie behaupten. Aber es bedeutete ihr wenig, dass sie sich die ganze blöde Stadt kaufen konnte, solange sie sich schon beim Herumfahren wieder jung, dumm und unerfahren vorkam. So hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt.

Alle Einwohner von Pleasantville waren sicher gewesen, dass sie genauso wie ihre Mutter werden würde, die ständig in Schwierigkeiten steckte. Schicksal, hatten die Leute gesagt.

Wenn man es als Schicksal ansah, dass Cassie nach New York gehen musste, um ein berühmtes Dessous-Model zu werden, dann war sie ihrem Schicksal nicht entkommen.

Jetzt war sie wieder da. Aber nicht freiwillig. Oh nein! Sie fuhr an der Bücherei vorbei. Da stand die Bibliothekarin und wechselte das Schild für den Lesezirkel aus. Mrs. Wilkens hatte sich keinen Deut verändert. Sie sah immer noch alt aus, trug ihre Brille an einer Kette um den Hals und blickte Cassie stirnrunzelnd an.

Cassie hatte Stunden in der Bibliothek verbracht. Auf der Flucht aus dem Alltag hatte sie jeden historischen Liebesroman verschlungen, der ihr in die Hände gefallen war.

Was war das? Überrascht reckte sie den Hals und sah im Rückspiegel die Lichter eines Streifenwagens. Der arme Kerl, der jetzt einen Strafzettel bekommen würde! Da sie selbst gern zu schnell fuhr, zuckte Cassie vor Mitgefühl zusammen und verlangsamte das Tempo, um den Streifenwagen vorbeifahren zu lassen.

Doch das tat er nicht.

Kein Problem. Sie fuhr rechts heran. Der Streifenwagen tat dasselbe.

Und da kam ihr die Erleuchtung. Sie war das arme Opfer, das den Strafzettel bekam.

„Verdammt. Verdammt noch mal!“, sagte sie leise zu sich, als sie den Motor abstellte und nach ihrer Brieftasche suchte. Sie war nicht mehr angehalten worden seit … dem Abschlussball.

Die unangenehmen Erinnerungen überrollten sie wie eine Welle. Schon lange hatte sie nicht mehr an jene Nacht gedacht. Die Erinnerung traf sie wie ein Schlag. Genauso wie die Erinnerung an das Gespräch mit dem Sheriff, von dem sie geglaubt hatte, dass er einer der wenigen Männer war, denen sie vertrauen konnte.

Sie hatte sich gründlich geirrt. Man konnte keinem Mann vertrauen. Hatte sie diese schmerzliche Erfahrung nicht gerade erst kürzlich wieder gemacht?

Doch nach all den Schrecken, die sie erlebt hatte und die sie zwangen, hierher zurückzukehren, würde sie jetzt nicht in Panik geraten. Sie würde ihre Brieftasche finden und erklären, warum sie in Eile war. Und wenn sie ihren Wimpernaufschlag gezielt einsetzte, ein sexy Lächeln auf die sinnlichen Lippen zauberte und ihr Haar aufreizend nach hinten warf, dann würde sie vielleicht sogar ohne Strafzettel davonkommen.

Bitte, bitte, lass einen neuen Sheriff hier sein, dachte sie, als sie schließlich ihre Brieftasche in der riesigen Handtasche gefunden hatte, in der sie alles mit sich herumschleppte, auch ihr noch immer gut gehütetes Laster – einen historischen Liebesroman.

„Verdammt noch mal.“

Kein Führerschein dabei. Selbst schuld. Vor einigen Tagen hatte sie mit ihren Freunden einen Club besucht, den Führerschein herausgenommen und in ihre Hosentasche gesteckt. Dort lag er gut!

„Verdammt!“

„Das sagten Sie bereits.“

Beim Hochkommen stieß Cassie an die Sonnenblende, wobei ihre Sonnenbrille verrutschte. Als sie das tiefe, männliche Lachen hörte, blinzelte sie und erblickte … Gott sei Dank … nicht Sheriff Richard Taggart.

Richard Taggart müsste jetzt Ende fünfzig sein. Wahrscheinlich grau, mit Bauch und einem bösen Zug um den Mund.

Der Mann trug eine spiegelnde Sonnenbrille und eine Uniform. Er war nicht ergraut und hatte keinen Bauch. Als ihre Augen an diesem äußerst attraktiven Körper nach oben wanderten, bezweifelte sie, dass an dem hoch gewachsenen, schlanken, sportlich aussehenden Mann auch nur ein Gramm Fett zu viel war.

Solche Männer waren nichts Neues für sie. Die ganze Zeit arbeitete sie mit ihnen zusammen. Mit Models, Fotografen, Regisseuren … und wenn sie auch gern hinsah und den einen oder anderen gern auch einmal anfasste … dieser Mann hier interessierte sie keine Spur.

Er trug eine Polizeiuniform und einen Sheriffstern. Seit dem Abschlussball hatte sie eine echte Abneigung gegen beides.

Ganz zu schweigen von ihrer Aversion gegenüber Behörden. „Ich habe meinen Führerschein nicht dabei“, sagte sie, ohne den Mann anzublicken. Das war unhöflich, aber nicht persönlich gemeint. Wenn es ihr wichtig gewesen wäre, was er über sie dachte, hätte sie es ihm sogar gesagt.

„Also keinen Führerschein“, wiederholte er.

Was für eine Stimme! Jedes Wort ließ ihre Nerven vibrieren. Mit dieser Stimme konnte er ein Vermögen machen. Der tiefe, leicht raue Tonfall beschwor wie aus dem Nichts erotische Fantasien herauf.

„Das mit dem Führerschein ist ein Problem“, sagte er. Er war sich wohl sicher, dass sie keine Gefahr darstellte, nahm die Sonnenbrille ab, steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes und stützte sich lässig auf ihren Wagen. Sein Körper kam ihr gefährlich nah.

Dieser Mann hatte nicht nur eine wahnsinnige Stimme, er sah auch wie ein Filmstar aus. Cassie musste sich gar nicht besonders anstrengen, um sich ihn als romantischen Helden vorzustellen.

Natürlich ohne Uniform.

Obwohl sie sich nicht dafür entschuldigte, dass sie keinen Führerschein dabeihatte, nickte er freundlich. Aber schon ein Blick auf den entschlossenen Mund, das kantige Kinn und die unnachgiebigen Augen sagte Cassie, dass dieser Mann nur dann zuvorkommend und freundlich war, wenn es ihm passte.

Betont freundlich legte er den Kopf schief. „Und Sie können sich nicht ausweisen, weil …?“

Weil sie New York überstürzt verlassen hatte. So war das, wenn drei unglaublich schockierende Dinge zur gleichen Zeit passierten.

Erstens war sie verfolgt worden. Von einem Mann, der einmal ihr Freund gewesen war. Bis sie es abgelehnt hatte, mit ihm zu schlafen … von da an wurde es hässlich. Wenn er sie nicht lebendig haben konnte, wollte er sie anscheinend tot.

Ihre Agentin, ihre Freunde und ihre über alle Maßen besorgte Cousine hatten darauf bestanden, dass sie die Stadt verließ. Und da Cassie am Leben hing, hatte sie zugestimmt. Ein besseres Versteck als diese Stadt konnte sie gar nicht finden.

Zweitens hatte ihre Mutter beschlossen, mit ihrem neuesten Freund um die Welt zu segeln. Auf unbestimmte Zeit würde sie nicht da sein. Sie hatte Cassie überraschend früh ihr Erbteil hinterlassen.

So musste Cassie einerseits nach Pleasantville zurückkehren und sich um das Erbe kümmern, und andererseits war es zu ihrer eigenen Sicherheit angebracht, New York für eine Zeit den Rücken zu kehren.

Die dritte Sache veränderte ihr Leben nicht so stark, aber es beschäftigte sie immerhin so sehr, dass sie in den vergangenen Nächten davon geträumt hatte. Kate hatte ihre Tagebücher gefunden und darin diese lächerlichen Listen, die sie beide in jener verhängnisvollen Nacht nach dem Ball im Baumhaus geschrieben hatten. Listen, auf denen der kindliche Wunsch nach Rache an einer Stadt festgehalten war, die sie immer verschmäht hatte. Cassies Wunsch hatte neue Nahrung bekommen. Sie betrachtete den Sheriff und erinnerte sich daran, was sie geschrieben hatte.

1. Ein tolles Auto haben. Am liebsten hellgelb, weil das meine Lieblingsfarbe ist.

2. Es dem Sheriff heimzahlen – irgendwie, aber es muss gut gemacht sein.

3. Im größten Haus auf dem Lilac Hill wohnen.

4. Einen Sex-Shop aufmachen. Kates Idee, aber sie ist gut.

5. Eine bedeutende Persönlichkeit werden. Anmerkung: Das sollte eigentlich an erster Stelle stehen.

Witzig. Irgendwie kindlich. Und doch ziemlich verlockend, wenn man bedachte, dass sie das erste Ziel bereits erreicht hatte. Vielleicht war das schon alles, was sie jemals im Leben schaffen würde, aber eines war ihr im Laufe ihrer interessanten Karriere bewusst geworden: Sie hatte Schwung und war voller Lebensfreude.

Sie wollte leben.

Aber wenn jemand glaubte, dass sie ihr Leben hier verbringen wollte, dann hatte er sich gewaltig geirrt. Lieber würde sie sich einen vereiterten Weisheitszahn ziehen lassen. Und zwar ohne Betäubung.

Sie nahm ihre Sonnenbrille ab und wünschte sich sofort, sie hätte es nicht getan.

Die grelle Sonne ließ sie blinzeln, und das konnte sie nicht ausstehen. Sie fühlte sich … ausgeliefert. Seit ihrem ersten Tag im Kindergarten hatte sie sich nicht mehr so gefühlt. Ihr strahlendes Lächeln war in dem Moment verschwunden, als alle Kinder und ihre hinterhältigen Mütter stehen geblieben waren und zu flüstern begannen.

Tremaine.

Abschaum der Gesellschaft.

Tochter eines Flittchens.

Unerzogenes Kind.

Im Alter von fünf Jahren hatte sie keine Ahnung, was diese Worte bedeuteten. Trotzdem hatte sie die Verurteilung gespürt. Mit hoch erhobenem Kopf hatte sie die verbalen Schläge eingesteckt. Jetzt machte sie es genauso. „Ich habe keinen Führerschein bei mir, weil er nicht in meiner Handtasche ist.“ Niemandem in dieser Stadt würde sie etwas erklären. Schon gar nicht einem Polizisten.

„Aha. Ich wusste gar nicht, dass Cassie Tremaine Montgomery so berühmt ist, dass sie keinen Ausweis braucht.“

„Sie kennen mich?“

Er kräuselte die Lippen. „Ich habe die Kataloge gesehen. Interessante Arbeit.“

„Die Kataloge sind für Frauen.“

„Mit Ihnen auf jeder Seite? In Seide und Spitze?“ Er schüttelte den Kopf. Das Lächeln passte gut zu seinen vollen Lippen. „Machen Sie keine Witze! Alle Männer im Land blättern die Kataloge von der ersten bis zur letzten Seite durch.“

„Haben Sie mich deshalb angehalten? Um mich persönlich kennen zu lernen?“ Es war kein Problem für sie, Amtspersonen mit Verachtung zu begegnen. „Oder weil ich einen auffälligen Sportwagen fahre?“

„Im Gegensatz zur landläufigen Meinung fühlen sich Polizisten nicht notwendigerweise von roten oder gelben Autos angezogen“, gab er wie beiläufig zurück. „Allerdings von Rasern.“

„Und das hat etwas mit mir zu tun, weil …“

„Weil Sie gerast sind“, sagte er geduldig. Er richtete sich auf und wedelte mit seinem Block. „Sind Sie so schnell gefahren, dass es schon rücksichtslos war?“

„Sie machen sich über mich lustig.“

Wieder beugte er sich vor, den muskulösen Arm auf das geöffnete Fenster gestützt.

Sie schenkte ihm keine besondere Beachtung. Wahrscheinlich war er genau so ein Blödmann wie Richard Taggart, voller Vorurteile gegen alles, was von der Kleinstadtnorm abwich. Vermutlich war er ein gehässiger Spießer – wie die meisten gut aussehenden Männer. Wieder überlegte sie, ob sie ihren verführerischen Augenaufschlag einsetzen sollte. Mit ihren Blicken hatte sie die Männer schon oft um den Finger wickeln können.

Sie setzte ihr betörendes Lächeln ein und blickte ihn an. Sein Blick aus den blau-grauen Augen wurde hart wie Stein. Darauf fiel er also nicht herein. „Sehen Sie, ich bin nicht rücksichtslos gefahren. Und Sie wissen bereits, wer ich bin. Da ist der Führerschein doch überflüssig.“

Schweigend sah er sie an.

„Ach, vergessen Sie es“, sagte sie mit einem Seufzer. „Tun Sie, was Sie tun müssen.“

„Und das wäre?“

„Sie könnten ein Auge zudrücken.“

Er lächelte breit, und ihr Herzschlag setzte einen Augenblick lang aus. „Sie sind aber zu schnell gefahren.“

„Vielleicht hatte ich es sehr eilig, von hier wegzukommen.“

„Das wäre nicht das erste Mal.“

Was wusste er über ihr überstürztes Verschwinden? Sie sah ihn lange an und kniff die Augen zusammen, um sein Namensschild zu lesen. Taggart. Auch das noch! „Sie sind …“

„Sheriff Sean Taggart. Sie können mich Sean nennen, wie es die meisten Leute hier tun.“

Plötzlich bekam sie kaum noch Luft. Um keinen Preis hätte sie lächeln können. Sie wich zurück und starrte durch die Windschutzscheibe. „Sie sind Richards Sohn.“

„Ganz recht.“

Offenbar reichte es nicht, dass sie aus ihrem gewohnten Leben ausgebrochen war, weil ein blöder Kerl beschlossen hatte, sie zu terrorisieren. Auch nicht, dass sie sich in Pleasantville aufhalten musste. Nein, zu allem Überfluss stieß sie auf ihre Albträume aus der Vergangenheit. Jetzt hätte sie am liebsten eine Zigarette.

Dabei hatte sie das Rauchen vor fünf Jahren aufgegeben. „Nun geben Sie mir schon meinen Strafzettel!“

Sean schwieg so lange, dass sie sich ihm wieder zuwandte.

Er sah sie neugierig an. „Sie kennen meinen Vater?“

Nein! Ihre Mutter hatte ihn gekannt. Cassie hatte ihn nur gehasst und gefürchtet. „Den Strafzettel!“

„Jetzt haben Sie es aber ziemlich eilig. Was ist los, Cassie?“

Ihren Vornamen von dieser so unglaublich sinnlichen Stimme zu hören hatte etwas … Intimes. „Wie ich schon sagte, ich habe es eilig, wieder von hier wegzukommen.“

„Sind Sie schon auf dem Weg zurück? So schnell?“

Sie wollte ihm gerade sagen, dass ihn das nichts anging, als ihr Handy klingelte. Es war Kate.

„Bist du schon angekommen?“, fragte sie besorgt. „Alles klar? Wie ist es? Hast du jemanden getroffen, den wir kennen? Nun sag schon!“

Cassie starrte den hoch gewachsenen, dunklen und äußerst attraktiven Sheriff an. „Du rufst wirklich zum richtigen Zeitpunkt an, Kate.“

„Oh, sag schon. Wer ist es? Die gemeine alte Schachtel Mrs. McIntyre? Mrs. Wilkens? Wenn es …“

„Es ist …“, sagte Cassie und lächelte langsam, als sich Seans und ihre Blicke trafen. „… Sheriff Taggart.“

„Ist dieser alte Idiot immer noch Sheriff?“

„Nein, Sean ist Richards Sohn.“ Aufmerksam wanderte ihr Blick über seine breiten Schultern, die muskulöse Brust, den flachen Bauch und weiter nach unten … Er blickte genauso prüfend zurück.

Super, dachte sie triumphierend. Schließlich war er auch nur ein Mann, der von seinen Trieben gesteuert wurde. Ein Mann, der möglicherweise den Strafzettel vergaß, wenn er das enge gelbe Kleid sah, das nicht nur zu ihrem Wagen passte, sondern auch ihre Figur äußerst reizvoll zur Geltung brachte.

„Cassie“, hörte sie Kate sagen. „Ich mache mir Sorgen, wenn du ganz allein dort bist.“

„Ich bin ans Alleinsein gewöhnt.“

„Mir geht dein Verfolger nicht aus dem Sinn.“

Cassies Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte Angst, was sie aber nicht zugeben wollte, und blickte Sean an, der ungeniert zuhörte. „Hier bin ich sicher.“ Sie hoffte es.

„Der Kerl hat sämtliche Reifen aufgeschlitzt, in der Hoffnung, dass du irgendwo liegen bleibst.“

„Ja.“

„Außerdem hat er dir zwei Fototermine vermasselt …“

„Ich habe nichts davon vergessen, Kate.“

„Natürlich, tut mir leid. Also Themenwechsel. Geht alles glatt mit Flos Erbe?“

Es war ein echter Schock gewesen. Auf einmal gehörte ihre Mutter zu den Gewinnern. Dabei hatte man jahrelang über sie hergezogen. Anscheinend hatten sich die Männerbekanntschaften doch gelohnt. Einer hatte ihr ein tolles Haus auf dem Lilac Hill hinterlassen. Es stammte aus der Zeit um die Jahrhundertwende und bot einen wunderschönen Blick über die ganze Stadt. Cassie konnte es immer noch nicht fassen.

„Cassie?“

„Es geht mir gut“, sagte sie. „Du fragst mich wie eine besorgte Mutter.“

Kate lachte.

„Ruf mich an!“

„Ja, das mache ich.“ Sie schaltete das Handy aus und warf es auf den Rücksitz. Dann sah sie Sean an. „Also …“

Sean erwiderte ihren Blick. „Was meinen Sie damit, dass Sie hier sicher sind?“

„Es ist unhöflich zu lauschen.“

„Sagen Sie es mir, Cassie.“

Von wegen! „Vergessen Sie den Strafzettel, wenn ich es Ihnen sage?“

Jetzt lachte er. Cassie hoffte nur, dass er diese Waffe nicht öfter einsetzte. Allein der Klang konnte eine Frau vor Entzücken erschauern lassen. Uniform hin oder her – das würde ihr auf keinen Fall passieren.

Er schlug seinen Block auf und begann zu schreiben.

2. KAPITEL

Sean schaffte es tatsächlich, eine ganze Nacht durchzuschlafen. Er stellte einfach das Telefon ab, was ihn ungemein beruhigte. Ganz im Gegensatz zu seinen heißen Träumen, in denen Cassie Tremaine Montgomery vorkam.

Das kam sicher nicht nur vom Betrachten des Dessous-Katalogs, der am Morgen mit der Post gekommen war. Sean hatte jedes Detail der Fotos, jeden Zentimeter ihrer atemberaubenden Figur genau unter die Lupe genommen.

Sie war einfach vollkommen! Langbeinig, gebräunt … sinnlich, sexy. Mit einer wilden blonden Mähne und einem einladenden Mund … Sie hatte wahrhaftig die Figur einer Göttin.

Einer äußerst verführerischen Göttin. Doch glücklicherweise war sie nicht sein Typ. Frauen wie Cassie machten nicht nur Schwierigkeiten, sondern brauchten auch viel Zuwendung.

Von solchen Frauen hatte Sean die Nase voll. Wenn er sich das nächste Mal auf eine Frau einließ, müsste es für immer sein. Im Geiste sah er eine ruhige, liebenswerte Frau vor sich, die für ihn sorgte.

Jawohl! Zur Abwechslung würde er einmal mehr bekommen als geben.

Doch beim Duschen war es nicht die ruhige, liebenswerte Frau, die ihm in den Sinn kam, sondern Cassie. Wie schon in seinem Traum funkelten ihre Augen vor Leidenschaft. Ihr Mund war feucht von den heißen Küssen, ihr sinnlicher Körper umhüllte ihn so weich und drängend, und sie erbebte vor Entzücken, als er in sie eindrang.

Sean drehte hastig den Kaltwasserhahn auf. Dann zog er sich an und verdrängte Cassie widerwillig aus seinen Gedanken. Noch widerwilliger nahm er seinen Pieper zur Hand.

Sein Vater hatte angerufen, um sich zu erkundigen, welche Rolle Sean bei der Festnahme eines Gangsters gespielt hatte. Wahrscheinlich wollte er ihm sagen, dass er es viel schneller geschafft hätte – und natürlich allein.

Zum Teufel, er war eben nicht wie sein Vater! Er glaubte auch nicht, die Stadt tyrannisieren zu müssen, damit sich jeder an das Gesetz hielt. Allerdings hätte er sich gefreut, wenn ihm sein Vater wenigstens ein Mal zu einem Erfolg gratuliert hätte.

Während Sean sein Müsli zubereitete, klingelte das Telefon. Wie üblich war es Annie.

„He, Chef, du musst sofort kommen. Tim liegt mit Grippe im Bett. Wir haben keine Leute.“

„Rasen wieder irgendwelche hellgelben Sportwagen durch die Stadt?“

„Nur einer.“

Na super. Er heftete sich den Sheriffstern an das Uniformhemd und verließ das Haus.

Wenig später sah er, wie Cassie an einer gefährlichen Stelle ein Stoppschild missachtete. Er ließ sie an den Straßenrand fahren und ging zur Fahrerseite. Als er ihre wütende Miene sah, musste er lachen.

„Lassen Sie mich raten“, presste Cassie zähneknirschend hervor. „Sie haben in dieser Woche noch nicht Ihr Strafzettelsoll erfüllt.“

„Seien Sie vorsichtig. Sonst glaube ich womöglich noch, dass Sie mich mögen.“ Er lächelte, während sie ihn wütend anfauchte. „Habe ich Ihnen gestern eigentlich schon gesagt, dass hier scharfe Verkehrskontrollen durchgeführt werden? Wer sich nicht an die Regeln hält, riskiert einen Strafzettel.“

Ungeduldig verdrehte sie die Augen und trommelte mit den rot lackierten Fingernägeln auf das Lenkrad. „Ich habe es eilig.“

„Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Mit etwas Freundlichkeit kämen Sie weiter.“ Er zog seinen Strafzettelblock heraus.

„Die Freundlichkeit spare ich mir für jemanden auf, der sie zu schätzen weiß.“

Mit ihrem verführerischen Augenaufschlag erreichte sie bei Sean nichts. Die Masche zog bei ihm nicht.

Vielleicht war er kein Mann von Welt. Er hatte nicht studiert und nur einen Job als Kleinstadtsheriff. Aber er war sein eigener Herr und wusste, was er wollte.

Na schön, er wollte sie. Sie machte ihn an. Schließlich war er nicht aus Holz. Aber eine kurze Affäre reichte ihm nicht mehr. Er wollte etwas für immer. Eine echte, tiefe Beziehung.

Dafür kam Cassie nicht infrage.

„Miau!“

Auf dem Beifahrersitz saß die größte und dickste Katze, die er jemals gesehen hatte. „Hallo!“, sagte er, und die Katze kletterte über Cassie hinweg.

Sean beugte sich vor und kraulte ihr das Fell.

Sofort begann die Katze laut zu schnurren.

Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete Cassie die Katze. „Sieh mal an! Die Tochter des Satans steht auf Männer. Was für eine Überraschung!“

„Tochter des Satans?“

Cassie seufzte. „Sheriff, darf ich Ihnen Miss Priss vorstellen …“ Sie sah die Katze scharf an, die finster zurückblickte. „Ach, egal. Du bist so leicht eingeschnappt, hochnäsig und hast so schlechte Manieren, dass du es gar nicht verdienst, vorgestellt zu werden.“

„Tatsächlich?“, gab Sean trocken zurück. „Dasselbe hätte ich auch über die Besitzerin gesagt.“

„Das ist gar nicht meine Katze, und eingeschnappt bin ich nie. Hochnäsig und unverschämt, ja. Aber niemals eingeschnappt.“

Diese Frau übertraf seine kühnsten Träume. Das gefiel ihm zwar nicht, aber er konnte nichts dagegen tun. Heute war sie ganz in Weiß: weißes Top, weißer Minirock, weiße Lederstiefel. Die jungfräuliche Farbe an ihrem Körper, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, erschien ihm beinahe frevlerisch. Nur die Ruhe, Junge! „Warum mag Ihre Katze Sie nicht?“

„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es nicht meine Katze ist, sondern die meiner Mutter. Aber warum erkläre ich Ihnen das eigentlich?“

„Weil ich unwiderstehlich bin?“

Für einen Augenblick vergaß sie ihre Zurückhaltung und lachte auf. Ihre Miene wurde weicher, und verwundert starrte Sean sie an. Diese Frau war atemberaubend schön! Wie würde sie erst aussehen, wenn sie wirklich glücklich war?

Doch dann schob er den Gedanken beiseite. Es wäre ihm lieber, wenn sie auf schnellstem Wege aus der Stadt verschwand. „Ich nehme an, Sie sind gerade dabei, die Stadt zu verlassen?“

Stirnrunzelnd sah sie ihn an. „Das würde ich gern.“ Mit einer aufreizenden Geste warf sie das Haar zurück. „Aber Sie müssen mich noch ein bisschen länger ertragen. Hoffentlich macht es Ihnen nicht allzu viel aus.“

„Mir nicht. Aber hoffentlich können Sie sich die vielen Strafzettel leisten.“ Er blätterte seinen Strafzettelblock auf. Cassie zischte wütend, was ihn zum Lachen brachte.

Als er ihr den zweiten Strafzettel aushändigte, warf sie ihn auf den Rücksitz und brauste mit der Katze davon.

Tu, was du tun musst, mein Kind! Kümmere dich nicht um die anderen Leute! Cassie hörte deutlich die Stimme ihrer Mutter, als sie wieder zu Hause war.

Sie fragte sich, ob sie langsam verrückt wurde. Jetzt hörte sie auch noch Stimmen. Oder war es diese Kleinstadt, die sie innerlich so aufwühlte? Wahrscheinlich beides.

Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie verfolgt wurde. Als sie an die aufgeschlitzten Reifen, ihr völlig verwüstetes Apartment und an die Drohbriefe dachte, bekam sie eine Gänsehaut.

Um sich zu trösten, nahm sie sich einen Keks aus der Dose. Den konnte sie sich jetzt erlauben, da sie für den ganzen Sommer keinen Auftrag als Model bekommen hatte.

Dann griff sie nach ihrem historischen Liebesroman. Vielleicht würde sie die Schilderung erotischer Abenteuer aus der Zeit der Französischen Revolution etwas aufheitern. Immerhin konnte sie sich jetzt ihre Bücher selbst kaufen, anstatt sich wie früher an der hochnäsigen Mrs. Wilkens vorbei in die Bücherei schleichen zu müssen.

Cassie ließ sich aufs Bett fallen, und zum ersten Mal seit langer Zeit entspannte sie sich. „Zwei Strafzettel in zwei Tagen und rasende Kopfschmerzen, das ist ja selbst für mich ein Rekord“, murmelte sie vor sich hin.

Ein lautes Motorengeräusch schreckte sie auf. Als sie ans Fenster trat, sah sie den Müllwagen. Der Mann, der hinten auf dem Wagen stand, sprang ab und zog die Mülltonnen heran. Er hatte einen latschigen Gang und einen Bauch … es war Biff. Instinktiv wich sie vom Fenster zurück.

Cassie lächelte. Es gab doch noch ausgleichende Gerechtigkeit auf der Welt. Sie, eine Tremaine, wohnte auf dem Lilac Hill, und Biff, der ehemalige Footballstar, war bei der Müllabfuhr gelandet.

Sie rief Kate an, die diese Ironie des Schicksals sicher zu schätzen wüsste.

„Biff ist bei der Müllabfuhr, Kate“, begann sie, gleich nachdem ihre Cousine den Hörer abgenommen hatte. „Aber er hat es nicht einmal bis zum Fahrer gebracht. Er sammelt nur die Mülltonnen ein.“

„Das ist genau der richtige Job für ihn.“

Oh ja, auf Kate konnte sie sich verlassen. „Und ich aale mich hier auf einem Seidenbett in einem luxuriös ausgestatteten Schlafzimmer in einer Villa. Kannst du dir das vorstellen? Nachdem ich von hier weggezogen bin, hat meine Mutter wie eine Königin gelebt.“

Um sich zu entspannen, legte Cassie den Kopf in den Nacken. „Mein Gott!“, sagte sie plötzlich erschrocken.

„Was ist denn los? Krabbelt eine Spinne auf dir herum?“

Cassie starrte in den Spiegel, der über dem Bett an der Decke hing. Sie hatte die Spiegel zwar schon einmal gesehen, aber sie erschrak jedes Mal wieder. Ganz sachlich studierte sie ihren Körper. Ihr bauchfreies, azurblaues Seidentop brachte ihre vollen Brüste zur Geltung. Ihr Bauch sah nicht ganz so flach aus, wie man es bei einem Dessous-Model erwartet hätte. „Nein, es sind nur … die Spiegel an der Schlafzimmerdecke.“

Kate lachte. „Wir haben doch schon immer gewusst, dass Flo nicht gerade prüde war.“

Irgendwie war es seltsam. Cassie wusste zwar ganz genau, dass Flo eine lebenslustige Frau war, die keinem Mann widerstehen konnte. Dennoch fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, wie ihre Mutter in diesem Bett Sex hatte und sich dabei in dem großen Spiegel betrachtete. „Ist dir eigentlich klar, dass ich hier auf dem Lilac Hill bin? Meine vornehmen Nachbarn würden einen Herzanfall bekommen, wenn sie wüssten, welche Geheimnisse dieses Schlafzimmer birgt.“

„Ich glaube, das hat Flo besonderen Spaß gemacht.“

Das war wieder typisch Kate. Sie war immer vernünftig. Trotz ihrer eigenen Probleme hatte sie Cassie immer geholfen, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Und was noch wichtiger war: Sie hatte Cassie zum Lachen gebracht.

„Flo liebte Skandale. Aber Lilac Hill, um Himmels willen!“ Das war das Viertel, das sie als Kinder neidisch beäugt und von dem sie geträumt hatten. „Ich fühle mich wie im Wunderland“, meinte Cassie.

„Das hast du auch verdient“, sagte Kate mit grimmiger Entschiedenheit in der Stimme. „Ihr habt es beide verdient, so hart wie ihr gearbeitet habt. Jetzt segelt Flo in der Ägäis, und du bist ein weltberühmtes Model.“

„Aber ich vermisse meine Arbeit“, seufzte Cassie. „In dieser Woche hätte ich eigentlich einen Fototermin auf den Bahamas gehabt.“

„Wo dein Verfolger dich erwartet hätte. Stand das nicht sogar in dem letzten Drohbrief?“

„Ja, deshalb bin ich ja hier. In einem Haus, für das meine Mutter keinen Cent bezahlt hat.“

„Natürlich hat sie das. Sie hatte doch eine Affäre mit Mr. Miller, diesem Banker. Er hatte sie so gern, dass er es ihr geschenkt hat. Genauso wie Mr. McIntyre, der ihr das Gebäude im Zentrum hinterlassen hat.“ Sie lachte. „Ich wette, dass sich Mrs. McIntyre grün darüber ärgert.“

„Allerdings. Wenn Blicke töten könnten, würde ich schon längst unter der Erde liegen. Übrigens …“ Cassie atmete tief ein. „Ich habe eine Idee.“ Sie setzte sich auf, denn sie musste bei ihrer Wortwahl sehr vorsichtig sein. Immerhin war Kate auch eine Tremaine und konnte sehr stolz sein, wenn es darum ging, Hilfe anzunehmen. „Du hast doch gesagt, dass du gern noch einen Laden eröffnen würdest.“

„So habe ich das nie gesagt“, widersprach Kate. „Hier in Chicago bin ich zwar sehr erfolgreich, aber für einen zweiten Laden fehlt mir das nötige Kleingeld.“

„Ich weiß. Das habe ich.“

„Von dir nehme ich nichts mehr an. Ich bin froh, dass ich dir gerade eben dein Anfangsdarlehen für ‚Bare Essentials‘ zurückzahlen konnte.“

„Ich rede nicht von Geld. Ich möchte, dass du das Gebäude in der Stadt übernimmst, das Flo von dem alten McIntyre geerbt hat.“

„Nein!“

„Kate.“

„Cassie?“

Kates Stimme klang gelangweilt, und Cassie musste lachen. „Hör auf damit. Ich habe bei der Sache einen Hintergedanken.“

„Wenn du ein neues Sex-Spielzeug haben willst, brauchst du nur zu fragen. Wir haben gerade unser Angebot vergrößert.“

„Ich habe noch immer Mr. Pink, den du mir zu Weihnachten geschenkt hast. Habe ihn gerade mit neuen Batterien versehen. Vielen Dank.“

Miss Priss sprang auf das Bett, ließ sich neben Cassies Kopf nieder und sah sie lange und durchdringend an.

„Komm mir nicht zu nah“, sagte Cassie zu der Katze, die sie immer noch hochnäsig musterte. „Und du, Kate, hör mir bitte genau zu.“

„Ich gebe dir eine Minute.“

„Ich möchte, dass du das Gebäude übernimmst, weil ich es nicht verkommen lassen will. Außerdem liegt es genau im Zentrum … verstehst du?“

„Mal sehen … ‚Bare Essentials‘ ist für dich ein Laden, der lasterhaften Frauen …“

„… ausgezeichnete Dildos verkauft“, ergänzte Cassie.

„Danke. Du bist also der Meinung, dass so ein Laden genau zwischen das Café Rose und das Billigkaufhaus passt.“

„Warum nicht? Diese Stadt könnte einen Kick gebrauchen.“

„Hat sie den nicht schon bekommen, seit die Wildkatze zurückgekehrt ist?“

„He, diese Kleinstädter haben mich zu dem gemacht, was ich bin. Komm, sag Ja. Es steht doch auch auf deiner Liste von Dingen, die du noch tun wolltest …“

„Cassie!“ Kate lachte. „Die Listen wurden von zwei wütenden Teenagern geschrieben.“

„Was soll das heißen?“

„Das soll heißen, dass es nicht so einfach ist. Ich möchte da nicht wieder leben müssen. Und ich glaube, dir geht es nicht viel anders.“

Cassie ließ sich auf das Bett zurückfallen und starrte sich im Deckenspiegel an. Ihre Agentin hatte alle Termine für den Sommer abgesagt, und jetzt war erst Juni. Die Polizei und ihre Freunde hatten sie davon überzeugt, dass es besser war, sich zu verstecken.

Sie wusste, dass es richtig war. Nach außen hielt sie zwar die Fassade der coolen Frau aufrecht, aber in Wirklichkeit hatte sie große Angst. Deshalb saß sie ja auch allein in Pleasantville herum. Eine fiese alte Katze war das einzige Wesen, das ihr Gesellschaft leistete. Und ihre einzige Tätigkeit bestand darin, Strafzettel zu bezahlen.

Oh ja, und auf den knackigen Po des Sheriffs zu starren. Das war einfach nicht genug. Insbesondere, da der Sheriff wohl kein Interesse an ihr hatte.

Wie lange war es her, dass ein Mann wirklich scharf auf sie gewesen war? Egal. Im Gegensatz zu ihrer Mutter hatte sie nicht das Bedürfnis, dass die Männer reihenweise über sie herfielen.

„Cassie?“

„Ich werde den Laden für dich aufbauen“, sagte Cassie schnell. „Komm, Kate! Was kann es Besseres geben, als einen Pornoshop in Pleasantville zu eröffnen?“

„‚Bare Essentials‘, der übrigens ausgezeichnet läuft, ist kein Pornoshop“, sagte Kate leicht eingeschnappt.

„Das weiß ich. Aber jeder hier würde ihn dafür halten.“ Cassie war freudig erregt. Die Idee gefiel ihr immer besser. „Das ist wirklich ein fantastischer Einfall. Ich werde noch verrückt …“

„Das scheint mir auch so. Vielleicht sollte ich doch besser zurückkommen …“

„… ich könnte diese Spießer hier schockieren, wenn ich das tue. Mrs. McIntyre. Mrs. Wilkens. Alle. Nein, komm bloß nicht her, es sei denn, du hast wirklich Lust dazu. Ich schaffe das schon allein.“

„Bist du sicher?“

„Absolut. Aber es fällt mir verdammt schwer, hier herumzusitzen, mich zu verstecken und nichts zu tun. Das ist nichts für mich. Sonst erschrecke ich am Ende noch bei jeder Kleinigkeit.“

„Hast du dem Sheriff den wahren Grund genannt, weshalb du hierher zurückgekommen bist?“

„Nein, natürlich nicht. Es geht mir doch gut. Ich brauche nur etwas Beschäftigung. Und die Idee mit dem Laden kommt wie gerufen. Findest du nicht?“

„Du kannst mir nicht einfach das Gebäude vermachen. Wenn wir die Sache durchziehen, dann nur als Partner. Und an dieser verdammten Stadt Rache zu nehmen hört sich nicht schlecht an. Im Gegenteil.“

Cassie wusste, dass sie Kate für ihren Plan gewonnen hatte. Und selbst wenn Kate es nur aus Sorge um sie tat, war das auch egal. Denn sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als zuzugeben, dass auch sie Angst hatte. „Also, was ist?“

„Okay“, sagte Kate. „Wir machen es. Als Partner, ja?“

„Als Partner“, versprach Cassie.

Eine Woche und einen weiteren Strafzettel später schreckte Cassie noch immer nachts im Bett auf. Sie war überzeugt, dass ihr Verfolger sie gefunden hatte. In der letzten Nacht hatte sie einen Schreckensschrei ausgestoßen, als ein schweres Gewicht sie niederdrückte. Zum Glück war es nur Miss Priss, die ihr auf die Brust gesprungen war. Mit der Katze würde sie schon klarkommen.

Auch mit der Stadt kam sie zurecht. Für die Geschäftsleute in der Magnolia Avenue und auch für alle anderen, die stehen blieben und mit dem Finger auf sie zeigten, hatte sie nur verächtliche Blicke übrig.

Eine Ausnahme bildeten die Inhaber des Delikatessenladens auf der anderen Straßenseite. Sie waren neu in der Stadt und schienen Cassie wirklich zu mögen.

Cassies Haus war ausgeräumt und von Grund auf gereinigt worden. Und die Verschönerungsarbeiten machten ihr Spaß. Anders als Kate griff sie gern zu Pinsel und Farbe.

Stundenlang hatte sie mit Kate am Telefon über die Ausstattung des Ladens gesprochen. Nach und nach hatte Kate Proben geschickt. Das Mädchen, das die Pakete brachte, staunte nicht schlecht, als sie erfuhr, was sich darin befand.

Cassie kam sich wie ein kleines Mädchen am Heiligabend bei der Bescherung vor. Eines Abends saß sie inmitten von Kartons in dem verlassenen Gebäude. Draußen tobte ein Sommergewitter.

Nur Miss Priss leistete ihr Gesellschaft. Noch immer war die Katze nicht gut auf Cassie zu sprechen, aber sie wollte nicht allein zu Hause bleiben.

Regen prasselte gegen die Scheiben, während es donnerte und blitzte. Vor etwa einer halben Stunde war das Licht ausgegangen, und Cassie hatte eine Laterne angezündet. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Laden in allen Einzelheiten vor sich, genau wie Kate und sie ihn geplant hatten. Und die Arbeit tat ihr so gut, dass sie gar nicht aufhören wollte. Sie saß allein auf dem Fußboden und machte sich Notizen für das nächste Gespräch mit Kate, ohne auch nur einen Funken Angst zu verspüren. Das war etwas ganz Neues.

„Bare Essentials“ – der Name passte ideal. Cassie notierte sich, wie das Ladenschild aussehen sollte. In der Stadt würde natürlich jeder nur das Schlechteste denken. Sollten sie doch. Kate und sie hatten sogar extra ein paar Artikel ausgewählt, nur um die Leute zu schockieren.

Die Zeit verflog, während sie Kartons öffnete, den Inhalt vor sich ausbreitete und sich Notizen machte. Einige Dinge probierte sie selbst aus.

Schon lange war Miss Priss in einem Karton eingeschlafen. Der Straßenverkehr war beinahe ganz zum Erliegen gekommen.

In einem schlichten schwarzen Unterhemd saß Cassie vor der letzten Kiste auf dem Fußboden. Sie zog sie zu sich heran und öffnete sie. Drinnen lag ein Zettel von Kate: „Ich glaube, dass diese Sachen den reizenden Matronen von Pleasantville gefallen werden.“

Cassie lächelte in sich hinein, als sie den Körperschmuck vor sich ausbreitete. Deutlich sah sie die Gesichter der feinen Damen von Pleasantville vor Augen, wenn sie mit Ringen für Brustspitzen und Klitoris konfrontiert würden.

Cassie hatte selbst einmal ein Bauchnabel-Piercing gehabt. Da der Ring jedoch bei Fotoaufnahmen im Weg war, war sie wieder davon abgekommen.

Aber ein Ring durch die Brustspitzen … Wenn sie nicht so feige gewesen wäre, hätte sie sich vielleicht auch einen solchen Ring zugelegt. Aber zum Glück gab es ja noch die Clip-Variante. Sie öffnete ein Schächtelchen, das einen fein gearbeiteten Silberring enthielt, streifte sich den Spaghetti-Träger von der Schulter und entblößte eine ihrer Brüste. Dann drückte sie die Brustspitze leicht zusammen und brachte den Clip an.

Zischend atmete sie aus. Irgendwie klemmte das Ding, aber überraschenderweise tat es nicht weh. Und als sie an sich hinunterblickte, musste sie lächeln. „Was meinst du, Miss Priss? Ziemlich scharf, was?“

„Zählt meine Meinung auch?“

Mit einem Schrei sprang Cassie auf und griff instinktiv nach einem Gegenstand, der ihr als Waffe dienen konnte. Dass sie dabei nach Big Red griff, war ihr egal. Big Red war ein dreißig Zentimeter langer und neun Zentimeter dicker roter Dildo, der im Dunklen glühte. Das Ding war schwer, und sie konnte es wie einen Baseballschläger hin und her schwingen.

„Halt! Ich bin’s nur.“

Sie wusste sofort, wem diese unglaublich sexy klingende Stimme gehörte.

Das war nicht ihr Verfolger.

Und auch kein Schläger von der Straße.

Aber nicht weniger gefährlich! Und sie stand da in ihrem dünnen Unterhemd mit entblößter Brust, an der ein Ring baumelte. In der einen Hand hielt sie Big Red, mit der anderen bedeckte sie ihre Brust. „Ach, Sie sind es!“

„Genau, ich bin es“, stimmte der Sheriff zu. Er trat gerade so weit aus dem Schatten in das schwache Licht der Laterne, dass sie sein Gesicht erkennen konnte. Völlig reglos stand er da, während er mit scharfem Blick alles überflog, Cassie eingeschlossen. „Ich dachte, dieses Gebäude steht völlig leer. Dann habe ich das Licht gesehen. Außerdem hat es ein paar Beschwerden gegeben.“

„Lassen Sie mich raten. Von Mrs. McIntyre?“

„Unter anderem.“

„Das glaube ich gern. Wie sind Sie hereingekommen?“

„Hier gibt es eine Tür, die nicht richtig schließt. Durch die kann jeder Stadtstreicher kommen.“

„Nun hören Sie mir mal gut zu. Das Haus hier gehört mir, und niemand in dieser spießigen Stadt darf etwas anderes behaupten. Wenn Sie also vorhaben, mir schon wieder einen Strafzettel zu verpassen …“

„Einen Strafzettel?“

Cassie konnte es nicht fassen. Wie erotisch seine Stimme klang!

„Ich muss Ihnen sagen, dass ich Ihnen auch bei unserer ersten Begegnung keinen Strafzettel verpassen wollte“, sagte der Sheriff und kam näher. „Haben Sie in letzter Zeit gegen geltendes Recht verstoßen?“

Während er fragte, glitt sein Blick langsam über ihren Körper, und gleichzeitig kam Cassie zu Bewusstsein, wie sie aussah. Sie stand da mit einem riesigen Dildo in der einen Hand, während sie mit der anderen ihre Brust bedeckte. „Ich …“

Er legte den Kopf schief und betrachtete sie wieder eingehend, wobei er sie mit den Augen zu verschlingen schien.

Sie konnte spüren, wie ihre andere Brustspitze hart wurde. Er lässt mich völlig kalt, versuchte sie sich einzureden. Das erklärte jedoch nicht, warum sich die Seide zwischen ihren Beinen plötzlich so unglaublich weich anfühlte – wie die Berührung eines Mannes.

Da er immer noch im Schatten stand, konnte sie nicht sehen, was er anhatte. Bewusst stellte sie sich vor, dass er seine Uniform trug. Dieser Gedanke machte es ihr leichter, seiner unglaublichen Anziehungskraft zu widerstehen.

Aber der Ausdruck in seinen Augen, mit dem er auf das schwarze Etwas starrte, das sie trug, war nicht der eines Polizisten, sondern eines Mannes.

Sie spürte ihre Erregung. Er wirkte so unglaublich verführerisch! Zweifellos wäre er eine hübsche Abwechslung! Zu dumm, dass er Polizist war!

Greif zu, Schatz! sagte Flos Stimme in ihrem Kopf. Nimm dir, was du kriegen kannst, und dann such das Weite!

Wie er im Halbdunkel dastand, wirkte er schockierend sexy. Es würde Cassie nicht schwer fallen zuzugreifen. Aber hinter der entspannten, lässigen Haltung war er hart wie Stahl. Und das wusste sie auch.

Sie war nie schüchtern gewesen und hatte ihre Sinnlichkeit nicht unterdrückt. Doch im Unterschied zu Flo ließ sie ihr Leben nicht von ihr bestimmen. Flo hatte einfach keinem Mann widerstehen können. Immerhin hatte sie es fertig gebracht, dass die Männer taten, was sie wollte.

Das gefiel Cassie. Aber eine innere Stimme sagte ihr, dass es nicht einfach sein würde, die Kontrolle über einen Mann wie Sean zu behalten. Und wenn sie nicht bestimmen konnte, würde sie auch nicht flirten.

Niemals.

Doch noch immer lag der Sommer öde und lang vor ihr. Wenn auch sonst nichts dabei herauskam, so konnte er sich doch zumindest um ihre Strafzettel kümmern …

Nimm alles, was du kriegen kannst, würde Flo jetzt sagen. Nimm es und zieh dich danach zurück!

Seans feuriger Blick glitt über ihren Körper, ließ sie bis ins Innerste erbeben, und sie vergaß die Strafzettel. Sein Blick verweilte auf Big Red. „Was wollten Sie denn mit diesem Ding machen, Cassie?“

Beim Klang seiner Stimme presste sie die Schenkel fest zusammen. „Mit Big Red? Wissen Sie, dass er im Dunklen glüht?“

Er hob eine Augenbraue. „Was kann er denn sonst noch?“

Er kann dich verrückt machen, dachte sie und lächelte verrucht.

3. KAPITEL

Oh Mann, dachte Sean. Mit ihrem Lächeln konnte Cassie Tremaine Montgomery einen Mann um den Verstand bringen. Ihre Kleidung war auch nicht übel.

Besser gesagt, das, was sie nicht trug.

Hatte sie überhaupt eine Ahnung, wie sie auf ihn wirkte? Im Schein der Laterne, in diesem schwarzen Hemdchen mit den hauchdünnen Trägern und der Spitze, die ihre Brüste kaum bedeckte …

Es reichte, ihre Finger auf der nackten Brust zu sehen, und er erschauerte bis ins Innerste. Sie berührte sich selbst, hatte es bereits getan, als er hereinkam. Sie trug einen Clip an der Brustspitze und hatte den größten Dildo in der Hand, den er je gesehen hatte. Vielleicht gab es irgendwo auf der Welt einen Mann, der stark genug war, bei diesem Anblick nicht schwach zu werden. Er jedenfalls nicht. „Cassie, was machen Sie hier, angezogen wie …“

„Haben Sie es noch nicht gehört?“ Dass sie so gut wie nackt war, schien sie überhaupt nicht zu stören. Er musste zugeben, dass er noch nie in seinem Leben eine so verführerische Frau gesehen hatte. Diesen fantastischen Körper zu verhüllen wäre ein Verbrechen gewesen. Und wenn er nur einem Bruchteil der Geschichten, die er über sie gehört hatte, Glauben schenkte, hatte sie kein Problem damit, ihn zu enthüllen.

„Wir eröffnen hier einen neuen Laden“, sagte sie.

„Wir?“

„Meine Cousine Kate und ich. Unser Angebot ist noch ein kleines Geheimnis.“

„Warum?“

„Es ist ein Laden … für Damen.“

„Aha. Sie wollen die feine Gesellschaft von Pleasantville schockieren.“

„Allerdings. Sie haben mich gerade beim Spielen ertappt.“ Cassie wog den Dildo in der freien Hand. „Meinen Sie, dass die feinen Damen von Pleasantville zugeben werden, dass sie einen dieser schlimmen Jungs brauchen?“ Mit der riesigen roten Spitze fuhr sie sich über das Schlüsselbein.

Ihm stand das Herz still.

Sie ließ den Dildo weiter hinuntergleiten.

Wie festgenagelt stand er da und schnappte nach Luft.

„Hm.“ Sie verzog die glänzenden Lippen zu einem Schmollmund. „Das erinnert mich an etwas.“ Der Dildo kam unterhalb ihres Bauchnabels an. „Wir sollten auch Batterien verkaufen, finden Sie nicht auch? Ich fände es schrecklich, wenn eine schüchterne Frau gezwungen wäre, mit diesem schlimmen Jungen in ein Haushaltswarengeschäft zu gehen.“

Es verschlug Sean nicht oft die Sprache. Es kam auch nicht oft vor, dass er während der Dienstzeit eine Erektion hatte, gegen die er machtlos war. „Ihr Träger …“ Er wandte den Blick nicht ab, als sie näher kam. Er war unfähig, sich zurückzuhalten, streckte einen Finger aus und fuhr unter den Träger. Langsam schob er ihn zurück.

Der Stoff strich über die Brust, die sie mit der Hand bedeckt hielt, während sich die andere Brustspitze aufrichtete. Er hörte, wie ihr Atem stockte. Auch er hielt die Luft an. Unter den Fingerspitzen spürte er ihre warme, weiche Haut. Beinahe unwillkürlich hatte er den Kopf vorgeneigt. Er musste sich nicht weit vorbeugen. Sie war groß, was ihn ungeheuer erregte. Sie würden Brust an Brust liegen, Schenkel an Schenkel, und alles andere würde sich vollkommen fügen.

Leicht neigte sie den Kopf zur Seite, und seine Wange streifte ihr langes Haar. Eine seidige Strähne haftete an den feinen Bartstoppeln auf seiner Wange. Sean rührte sich nicht, weil er sie noch länger spüren wollte.

Wieder bewegte sie sich, hob den Kopf, sodass sich ihre Lippen trafen und sich ihre Atemzüge vermischten: Noch nie hatte er so etwas Erotisches erlebt.

Sie befeuchtete ihre Lippen, und sie waren sich so nah, dass er ihre Zungenspitze an seinem Mund spürte. „Hm“, flüsterte sie. „Die Nacht ist traumhaft, wie geschaffen für einen Kuss, den man nicht vergisst. Findest du nicht auch?“

Stöhnend öffnete er die Lippen und presste sie auf ihren heißen, feuchten Mund. Himmlisch! Sie öffnete die Lippen für ihn, und als seine Zunge liebkosend darüber fuhr, gab sie sich mit einem sehnsüchtigen Seufzer hin, genau wie er.

Es war ruhig und ziemlich dunkel. Sean konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, als sie sich noch enger an ihn schmiegte. In wilder Leidenschaft trafen sich ihre Lippen zu einem Kuss, der sie alles andere vergessen ließ. Einen wunderbaren entrückten Augenblick lang waren sie eins, aneinander geschmiedet im Feuer der Lust – bis Cassie leicht von ihm abrückte und ihn mit verzehrendem Blick ansah.

Noch immer waren seine Finger in ihrem Unterhemd verschlungen. Ihre Haut fühlte sich wie Seide an. Wie glühende Seide. Noch spürte er ihren Kuss auf seiner Zunge – die Glut verbotener Leidenschaft, die Verheißung von überwältigendem Sex. Es gab keinen Zweifel: Er musste ihre Brust bedecken, bevor alles außer Kontrolle geriet, doch sie hielt den Träger des Hemdes fest.

Langsam, den Blick wie hypnotisierend auf ihn gerichtet, zog sie die Hand weg, und er konnte einen langen Blick auf den silbernen Ring an ihrer aufgerichteten Brustspitze werfen. Sean war so überwältigt, dass er sich nicht zurückhalten konnte: Er hob die Hand und fuhr mit dem Finger über die verlockende Spitze. Der Ring bewegte sich. Ihre Brust erbebte. Sein Mund war wie ausgetrocknet. Er wusste, dass er in diesem Augenblick jede Kontrolle über sich verloren hatte. Beim kleinsten Entgegenkommen würden sie sich beide nackt auf dem Fußboden wälzen.

Doch dann bedeckte sie ihre Brust mit dem Spitzengewebe, und er holte tief Luft.

„Danke“, flüsterte sie.

Er hätte ihr gern geantwortet, doch bei ihrem Anblick war er noch immer sprachlos. Ihre harten Brustspitzen zeichneten sich deutlich unter dem weichen Stoff ab. Als Sean sich vorstellte, dass sie sich diesen Ring angelegt hatte, stöhnte er auf.

„Er ist nicht gepierct“, sagte sie leise. „Es ist nur ein Clip. Ich …“

„Du hast nur die Ware ausprobiert, ich weiß.“

„Ich habe noch mehr davon. Es gibt auch welche für Männer.“ Mit dem Finger strich sie über seine Brust, seinen Bauch entlang bis zum Hosenknopf, den sie spielerisch umfasste. Seine Erektion schmerzte noch mehr als vorher. „Möchtest du ihn ausprobieren? Ich kann es für dich machen. Du legst …“

„Cassie!“

Sie lächelte. „Bist du zu feige?“

„Nein.“ Er atmete tief aus und hielt ihre Hand fest. „Aber ich kann mich keine Sekunde länger beherrschen. Wenn du mich noch einmal reizt, werde ich es dir beweisen.“

„Dann vielleicht nächstes Mal.“

„Ja.“ Seine Knie zitterten. Er war geschockt, wie heftig er sie begehrte, zumal sie ganz und gar nicht seinem Idealbild von einer Frau entsprach. Schnell trat er in den Schein der Laterne zurück. Verdammt noch mal, er musste wieder klar sehen! Er brauchte elektrisches Licht. Die Dunkelheit verlieh diesem kleinen Intermezzo eine Intimität, die ihm nicht passte. Er wollte sich schon verabschieden, vielleicht sogar eine Entschuldigung murmeln, dass er sich hatte gehen lassen, doch auch Cassie war zurückgewichen.

Ihre Augen blickten nicht mehr offen und freundlich. Ihr Körper war nicht mehr locker und entspannt. Sie stand da und starrte ihn an, als gehörte er zu den niedersten Lebewesen des Universums.

„Was ist los?“, fragte er. Er war immer noch wie benebelt.

Sie zeigte mit dem Dildo auf ihn. „Du bist im Dienst.“

Hatte sie das nicht schon einmal gesagt?

„Ich … hatte nicht bemerkt, dass du … in Uniform bist.“

Verunsichert blickte er an sich hinunter. „Normalerweise wirkt dieses Hemd auf Frauen erregend“, sagte er und wollte damit einen Witz machen, denn er verstand überhaupt nicht, was sie meinte.

„Ich bin nicht eine von deinen normalen Frauen, und ich stehe nicht auf schlechtes Benehmen und Autorität.“

„Schlechtes Benehmen?“ Er musste lachen. „Ich dachte, das trifft eher auf dich zu.“

Als sie die Arme schützend um sich schlang und sich wegdrehte, konnte er flüchtig sehen, dass auch sie verunsichert war. Dass sie litt. Als er ihren Rücken sah, stand er wie angewurzelt. Sein Herzschlag setzte aus.

Das, was sie trug, war völlig rückenfrei. Es endete weit unterhalb der Taille. Wenn sie auch nur die geringste Bewegung machte, würde er alles sehen. Das Nichts, das sie trug, zeigte den verführerischsten Po, den er je gesehen hatte.

„Du hast deine Pflicht als Polizist getan“, sagte sie mit eisiger Stimme, die in totalem Kontrast zu ihrem Körper stand, der einen Hitzestrom durch seine Adern jagte.

Sean stand da wie ein gaffender Idiot.

„Ich bin keine Einbrecherin“, fuhr sie fort. „Ich übertrete keine Geschwindigkeit. Es gibt wirklich keinen Grund für dich, hier zu sein.“

Sie hatte recht. Er warf einen Blick auf seine Uhr und wurde belohnt. „Ich bin schon außer Dienst.“

Sie blickte über ihre nackte Schulter, und er hob das Handgelenk, um ihr die Uhr zu zeigen. „Fünf Minuten nach Mitternacht. Meine Schicht ist beendet.“

„Ein Polizist ist immer Polizist.“

Warum war sie auf einmal so gereizt? Er wagte sich in ihre Nähe und streckte die Hand aus, um ihre Wange zu berühren. „Ich bin nur ein Mann.“ Ein Mann, der für einen Kuss alles geben würde.

Sie rückte von ihm ab. „Ein Polizist.“

Ihre Haut war warm und weich. Und er wollte mehr, aber sie wich immer weiter zurück. Er umklammerte ihre Hand. Er wusste, dass sie viel zu stolz war, um eine Schwäche zuzugeben und sich loszureißen. „Ich nehme meine Arbeit nicht mit nach Hause, Cassie. Wenn ich hier bei dir bin, arbeite ich nicht.“

Sie lachte auf. Es sollte hart klingen, aber es klang eher unsicher und ließ sie … verwundbar erscheinen.

Aber warum misstraute sie ihm so sehr? Ihm als Mann oder als Polizist? Wie auch immer, sein Magen krampfte sich zusammen.

Sie war nicht so hart, wie sie erscheinen wollte. Sean spürte, dass diese faszinierende Frau verletzbar war, und das machte seine Entscheidung zunichte, sich von ihr fern zu halten. Er zog sie noch näher an sich. Ihr Duft streifte ihn, frisch und sexy. „Irgendjemand hat dich verletzt“, sagte er. „Jemand in Uniform.“

Sie zuckte mit den Schultern, sagte weder Ja noch Nein. „Es tut mir leid“, sagte er leise, und zu seiner Verwunderung meinte er es wirklich.

„Darüber solltest du dir nicht allzu viele Gedanken machen, Sheriff.“ Sie hob den Dildo hoch. „Mit diesem bösen Buben wollte ich dich wirklich bis zum Äußersten reizen.“

Er starrte auf den Dildo und spürte, dass sein Mund trocken wurde und es in seiner Hose erwartungsvoll zuckte. „Du könntest es ja noch einmal versuchen.“

Ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht. „Nein. Jetzt ist es vorbei mit dem Vergnügen.“ Herausfordernd starrte sie auf seine Hand, bis er sie losließ. „Gute Nacht, Sheriff.“

„Gute Nacht, Cassie.“

Sie wartete, bis er die Tür erreicht hatte. „Vielleicht denkst du heute Nacht an mich“, sagte sie leise. „Ich nehme Big Red mit nach Hause. Und eine Packung Batterien.“

Er stöhnte auf. Als er hinausging, hörte er immer noch ihr kehliges, zufriedenes Lachen.

Zwei Wochen nach ihrer Ankunft hatte Cassie immer noch genug zu tun. Sie sollte den Laden fertig einrichten, während Kate sich um das Inventar kümmerte.

Cassie räumte auf und strich die Wände an. Daisy brachte immer mehr Pakete. Cassie hatte das Schild mit der Aufschrift „Bare Essentials“ gemalt, und es anzubringen machte ihr großen Spaß. Als die Leute aus ihren Häusern kamen und auf das Schild starrten, bereitete es ihr geradezu diebisches Vergnügen, so zu tun, als bemerkte sie die ganze Aufregung nicht.

„Sie reden“, flüsterte Daisy. „Über … Sie.“

Autor

Alison Kent

Leidenschaftlich gern gelesen hat Alison Kent schon immer, ihre Lust am Schreiben entdeckte sie erst als Dreißigjährige. Mittlerweile hat sie bereits zahlreiche Romane verfasst, denen die Romantic Times „Leidenschaft, Sinnlichkeit und dunkle Faszination“ bescheinigt. Mit ihren prickelnden Liebesgeschichten und den spannenden Thrillern schrieb sich Alison Kent auf Anhieb in die...

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New York Times-Bestsellerautorin Jill Shalvis lebt in einer Kleinstadt in Sierras, voller verschrobener Mitmenschen. Jegliche Ähnlichkeit mit den Quirky Charakters in ihren Büchern ist, naja, meistens zufällig. Besuchen Sie sie auf ihrer Website www.jillshalvis.com, um mehr über Jills Bücher und ihre Abenteuer als Berge erklimmendes Stadtkinde zu lesen.

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