Verführerisch nah am Tabu

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Endlich hat Milliardär Soren Vitale die kriminellen Machenschaften des Mannes aufgedeckt, der einst seine Familie zerstörte! Dadurch wird jedoch auch dessen schöne Enkelin von den Paparazzi gejagt. Ist Bibliothekarin Anna so unwissend, wie sie beteuert? Spontan entführt Soren sie nach Sizilien in den Palazzo seines Großvaters. Natürlich nur, um herauszufinden, ob sie lügt – nicht, weil er sie insgeheim begehrt. Denn unschuldig oder nicht, als Angehörige seines Erzfeindes ist Anna tabu! Trotzdem kann er nicht lange widerstehen, sie zu küssen …


  • Erscheinungstag 05.08.2025
  • Bandnummer 2712
  • ISBN / Artikelnummer 0800252712
  • Seitenanzahl 144

Leseprobe

Kim Lawrence

Verführerisch nah am Tabu

1. KAPITEL

Ächzend stellte Anna den schweren Karton auf den Tresen der unbesetzten Rezeption und drehte das in Leder gebundene Gästebuch zu sich herum.

Mit dem Stift in der einen Hand beugte sie sich darüber und schob sich mit der anderen die dicken kastanienbraunen Locken aus dem Gesicht. Ihre Unterschrift glich den vielen anderen in der Spalte neben dem Namen ihres Großvaters. Sie musste weit zurückblättern, ehe dort ein anderer Name auftauchte.

Einer nach dem anderen waren die Besucher ausgeblieben, und sie konnte es niemandem verdenken. An manchen Tagen verursachte der bevorstehende Besuch auch bei ihr ein flaues Gefühl im Magen. Sie wusste nie, was sie erwartete … und ob er sie überhaupt erkennen würde.

Gar nicht zu erscheinen, kam nicht infrage. Sie verdankte ihrem Großvater alles. Ohne ihn wäre ihr Leben wahrscheinlich völlig anders verlaufen. Bevor er als ihr Vormund eingesprungen war, hatte das Jugendamt gedroht, sich um sie zu kümmern.

Sie holte noch einmal tief Luft, ehe sie den schweren Karton wieder anhob. Die Arme taten ihr schon weh, da sie weit entfernt vom Eingang der Merlin-Klinik hatte parken müssen. Die näher gelegenen Plätze hatte dreist querstehend ein protziger Sportwagen eingenommen.

Im oberen Stockwerk angekommen, stellte sie erleichtert fest, dass die Tür zum Apartment ihres Großvaters nur angelehnt war. „Hallo Grandpa! Es tut mir leid, dass ich spät dran bin“, rief sie und schob die Tür mit ihrer Kehrseite rückwärtsgehend auf. „Du wirst staunen, wenn du siehst, was ich mitgebracht habe.“ Bemüht nirgendwo anzustoßen, ging sie weiter rückwärts ins Zimmer hinein, bis sie den Karton endlich auf dem alten Schreibtisch ihres Großvaters abstellen konnte. „Ich habe noch ein altes Fotoalbum gefunden und auch ein paar von deinen Schallplatten.“

„Du sollst doch meine Sammlung nicht anrühren!“, kam es ungehalten zurück. „Hast du wenigstens Handschuhe benutzt oder wieder alles zerkratzt, Anna?“

„Ja, Grandpa.“ Der Vorfall mit der zerkratzten Schallplatte lag mehr als ein Dutzend Jahre zurück, aber immerhin hatte er sie erkannt.

Soren stand hinter dem Rollstuhl des Mannes, den er zwölf Jahre lang gesucht hatte. Beim Klang der Frauenstimme an der Tür drehte er sich um und verfolgte, wie der ahnungslose Neuankömmling sich rückwärts ins Zimmer schob.

Als Tor Rasmusson auf die Worte der Frau reagierte, wandte er sich wieder dem Mann vor sich zu. Es waren die ersten Sätze, die der alte Mann gesprochen hatte. Für einen Augenblick wirkte sein Blick wach, verschloss sich aber gleich darauf wieder. Dieser Moment genügte, um Sorens Überzeugung zu untermauern, dass der Alte sich verstellte. Mit seinen kriminellen Machenschaften hatte dieser Mann Sorens Vater in den Selbstmord getrieben und die Familie zerstört.

Nach jahrelanger Suche war es ihm endlich gelungen, das Monstrum aufzuspüren, bevor es sich ihm abermals entziehen konnte. Diesmal sollte dem Betrüger keine neue Identität und kein neuer Zufluchtsort vergönnt sein.

Doch gerade als Soren dachte, er hätte alle schmutzigen Tricks durchschaut, mit denen der Alte ihn an der Nase herumgeführt hatte, zauberte dieser einen neuen aus dem Hut: eine vorgetäuschte Demenz!

Aber auf eine verdrehte Art und Weise ergab das sogar Sinn. Was machte ein Mann wie Tor Rasmusson, wenn er spürte, dass sich das Netz um ihn zuzog und es keinen Ausweg mehr gab? Er suchte sich einen ruhigen Ort auf dem Land mit Vollpension und Rundumservice und plädierte auf „nicht verhandlungsfähig“.

Dem Merlin machte Soren keine Vorwürfe. Ärzte und Pfleger waren nur Schachfiguren in Tors letztem Spiel. Die Sicherheitsvorkehrungen der Einrichtung waren allerdings lächerlich. Nicht ein einziges Mal war Soren gefragt worden, wer er sei. Die beiden Wachleute hatten sich mehr für seinen Sportwagen interessiert als für ihn. Auch das Zimmer zu finden, in dem ein gewisser Henry Randall wohnte, war ein Kinderspiel gewesen.

Die Probleme begannen erst, als er endlich vor seinem Erzfeind stand. Tor Rasmusson, der Verwandlungskünstler, war ganz in seinem Element. Schon zehn Minuten lang hatte Soren versucht, zu ihm durchzudringen. Es war, als liefe er gegen eine Wand. Er konnte verstehen, warum die Ärzte ihn in dieser Klinik aufgenommen hatten. Wüsste er nicht, wer dieser Henry Randall wirklich war, würde auch er auf ihn hereinfallen. Der Alte spielte die Rolle des zerbrechlichen, unschuldigen alten Mannes perfekt.

Sein anfängliches „Hallo Tor, es ist schon eine Weile her“, hatte zu keinerlei Reaktionen geführt. Tatsächlich hatte er in diesen wässrig blauen Augen nichts als Leere gesehen, bis plötzlich die leicht rauchige Stimme einer jungen Frau von der Tür her erklang.

Soren war felsenfest davon überzeugt, dass er Zeuge einer perfekten Aufführung wurde. Aufmerksam verfolgte er, wie die Gestalt im Rollstuhl eine zittrige Hand hob.

Eine gute Show, musste er zugestehen. Doch die jahrelange Verfolgung dieses Mannes hatte Soren gelehrt, diesen hinterhältigen Tor Rasmusson nie zu unterschätzen. Dieser konnte mehrere Betrügereien gleichzeitig begehen und sich immer einen Fluchtweg offenhalten. Mit den Jahren hatte der Mann eine unvergleichliche Fähigkeit entwickelt, wie eine Rauchwolke zu verschwinden und Zerstörung zu hinterlassen.

„Ich bin sicher, Anna wird ihr Examen bestens bestehen“, sagte die zusammengesunkene Gestalt plötzlich und sah dabei Soren direkt an. „Dem Mädchen fehlt es nur an Selbstvertrauen.“

Die Unbekannte hatte Sorens Anwesenheit offenbar noch immer nicht bemerkt. „Es ist lieb, dass du mich für so klug hältst, Grandpa, aber du bist der Einzige.“

Der alte Mann blickte auf eine unsichtbare Uhr an seinem Handgelenk. „Du weißt, wie ich Unpünktlichkeit hasse, Anna. Ich habe jetzt einen Termin.“

Ja, Tor, mit dem Betrugsdezernat, dachte Soren grimmig, während er darauf wartete, dass die Frau ihn endlich bemerkte.

„Ich bin ja jetzt hier, Grandpa. Hattest du eine gute Nacht?“ Jetzt endlich wandte sich die schlanke Gestalt um und erstarrte. Misstrauisch sah sie Soren an.

Der war seinerseits verblüfft. In Zeitungsmeldungen hatte er Fotos von Tors Enkelin gesehen, aber die Pixel wurden der Realität nicht gerecht. Die Bilder hatten die Proportionen ihres Gesichts korrekt wiedergegeben, aber nichts von den sinnlich geschwungenen Lippen verraten oder den dichten Wimpern, die große grüne Augen umrahmten. Zusammen verschmolzen diese Attribute zu einer lebendigen, atemberaubend sinnlichen Wirkung.

Gern hätte er sie in engen Jeans gesehen, denn die weite Leinenhose ließ lange Beine erahnen, und der Ledergürtel betonte ihre schmale Taille. Die weit geschnittene weiße Bluse verbarg schlanke Kurven, die er unter dem Stoff nur erahnen konnte.

Entrüstet über seine unangebrachten Gedanken schüttelte er den Kopf. Dies war nicht der Moment, sich vom Anblick einer Frau ablenken zu lassen. Zumal die fragliche Frau die Enkelin seines Erzfeindes war und vermutlich bis zu ihrem hübschen Hals mit in dessen Machenschaften steckte. Nach einem kurzen Moment, in dem seine Hormone verrücktspielten, rang er sich ein Lächeln ab und ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

Soren beherrschte ein weites Repertoire lächelnden Mienenspiels. Nur wenige waren ernst gemeint. Einige erzeugten Angst beim Gegenüber, andere ließen Feindseligkeit wie Eiscreme in der Sonne schmelzen und öffneten Türen … oft genug Schlafzimmertüren.

Ein geringfügiges Weiten ihrer Augen war das einzige Anzeichen, dass Anna Randall seine Bemühungen überhaupt wahrgenommen hatte. Ihr anfangs gezeigter Argwohn schien sich eher noch in bissige Feindseligkeit zu verwandeln.

Anna blickte auf die angebotene Hand und nahm die langen, schlanken Finger wahr. Ihr kurzer innerer Kampf zwischen guten Manieren und dem beschämenden Verlangen, ihre Hand in der viel zu attraktiven ihres Gegenübers zu spüren, endete im Unentschieden. Erleichtert atmete sie auf, als er seine Hand sinken ließ und ihr damit die Entscheidung abnahm. Tapfer wahrte sie den Anschein, immun gegen das Killerlächeln des Fremden zu sein.

Soren war beeindruckt von der Haltung der jungen Frau. Vielleicht steckte in dieser Anna Randall doch mehr, als ihre verkommenen Gene erwarten ließen. Er gestattete sich einen weiteren Blick auf ihre faszinierenden Gesichtszüge. Das Kinn hatte sie störrisch erhoben, der Blick aus ihren großen Augen war wach, und die sanft geschwungenen Lippen weckten in ihm unwillkürlich ein der Situation völlig unangemessenes Verlangen.

Soren war noch nie einer Wahrheit ausgewichen, schon gar nicht wenn er mit dieser geradewegs konfrontiert wurde. Er konnte nicht leugnen, dass er sich zur Enkelin seines Erzfeindes hingezogen fühlte. Diese Erkenntnis trug nicht zur Verbesserung seiner Laune bei.

„Guten Morgen …?“ Sie zögerte kurz, bevor sie kühl fortfuhr: „Kann ich Ihnen helfen?“

Selbst bei dieser unterkühlten Tonlage klang ihre Stimme verführerisch sexy. Soren wollte sich lieber nicht vorstellen, welche Wirkung eine warme Variante auf seine Hormone haben würde.

„Sie müssen wohl Henrys Enkelin sein?“ Er ließ es wie eine Frage klingen, obwohl er genau wusste, wen er vor sich hatte. Bei seinen Recherchen hatte er bisher noch nicht herausfinden können, wie tief sie in die Betrügereien ihres Großvaters verstrickt war. Der Gedanke, dass sie völlig unbeteiligt sein könnte, erschien ihm abwegig. Er begriff sofort, wie nützlich sie mit ihrem unschuldigen Augenaufschlag und der sexy Erscheinung für Tor sein musste.

Oder ist sie etwa wirklich so unschuldig, wie sie wirkt?

Diesen Gedanken verwarf er augenblicklich wieder. Kein Blutsverwandter von Tor Rasmusson konnte völlig unschuldig sein. Die Frage war nicht, ob sie beteiligt war, sondern in welchem Maße.

„Ja, ich bin Anna …“, erklärte sie mit fragendem Unterton und erwartete offensichtlich, dass er sich seinerseits vorstellte.

Zu ihrer Enttäuschung ging er darauf jedoch nicht ein und lächelte nur. Sie widerstand allerdings der Versuchung, dahinzuschmelzen. Vermutlich musste er nie etwas anderes tun als lächeln, um jeder Frage auszuweichen.

„Ich habe Sie mir älter vorgestellt“, erwiderte er wahrheitsgemäß. Sie musste Mitte zwanzig sein, aber sie sah aus, als wäre sie gerade erst volljährig geworden. „Wie es scheint, haben Sie Henrys Liebe zu Büchern geerbt. Sie sind doch Bibliothekarin. Das muss sehr interessant sein.“

Sie ging nicht darauf ein, aber immerhin schien die gefühlte Temperatur im Raum um ein oder zwei Grad gestiegen zu sein. So ganz aber war das Eis noch nicht gebrochen.

„Und Sie sind auch wieder ein Journalist?“

„Sehe ich denn so aus?“, stellte er die Gegenfrage.

„Wie sehen Journalisten denn schon aus?“, setzte sie das Fragespiel fort. Wenige würden sich allerdings so exklusiv kleiden können, dachte sie im Stillen. „Wenn Sie also keiner sind, wer sind Sie dann wirklich?“ Außer der bestaussehendste Mann zu sein, dem sie je begegnet war.

Anna musste mehrfach hinsehen, um den Eindruck ganz aufzunehmen. Der Fremde war über einsachtzig groß, hatte einen athletisch wirkenden Körper, der in einem maßgeschneiderten grauen Anzug steckte. Eine hellere graue Krawatte und ein schneeweißes Hemd ergänzten seinen tadellosen Aufzug. Nach diesen ersten oberflächlichen Eindrücken nahm sie weitere Details wahr. Das Haar hatte er lässig zurückgestrichen. Er hatte ein markantes Gesicht und kräftige Wangenknochen, eine wohlgeformte Nase und sinnliche Lippen. Doch es waren die Augen, an denen ihr Blick hängen blieb. So blaue Augen hatte sie noch nie gesehen. Aber ihr Blick war so kalt wie arktisches Eis. Unverschämt lange Wimpern rahmten sie, und darüber wölbten sich kräftige, dunkle Brauen.

Was für ein Mann! Jede Frau mit Blut in den Adern musste von ihm hingerissen sein. Enttäuscht von sich selbst, weil auch sie sich seiner Wirkung nicht entziehen konnte, aber entschlossen, ihn das nicht spüren zu lassen, gab sie sich ungerührt. Sie schluckte ein paarmal, um Zeit zu gewinnen und die Kontrolle über ihre weich gewordenen Knie zurückzuerlangen.

Glücklicherweise trugen ihre Beine sie unfallfrei an die Seite ihres Großvaters. Lächelnd griff sie nach seiner Hand, ehe er sich losriss und nach dem Wasserglas außerhalb seiner Reichweite zu greifen versuchte.

„Sie kennen also meinen Großvater, Mr. …?“

„Entschuldigung, ich dachte, ich hätte mich vorgestellt“, log er. „Soren. Soren Vitale. Vor langer Zeit war Ihr Großvater der … Mentor meines verstorbenen Vaters.“

Als er ihr erneut die Hand entgegenstreckte, hörte Anna auf ihre innere Stimme. Es wäre keine gute Idee, wenn sich diese langen, sonnengebräunten Finger um ihre Hand schlössen. So verlockend der Gedanke auch war. Schon der Blickkontakt hatte ihr Nervenkostüm strapaziert. Hautkontakt sollte sie besser vermeiden. Vorsichtshalber reichte sie deshalb ihrem Großvater das Wasserglas.

Sie hob den Kopf und wappnete sich gegen den Blick aus diesen blauen Augen. „Ich verstehe nicht …“ Erstaunlicherweise konnte sie immer noch atmen.

„Es ist schon lange her.“

„Mentor?“ Länger konnte sie seine Hand nicht mehr ignorieren, ohne unhöflich zu sein. Erstaunt registrierte sie, dass sie keinen elektrischen Stromstoß verspürte, als sich ihre Finger berührten.

„Als Ihr Großvater geschäftlich in Island war.“ Er hielt inne und wandte den Blick von ihr ab. Erleichtert, dass sie nicht mehr in seinem Fokus war, kniff sie die Lippen zusammen und unterdrückte einen kleinen Seufzer. „Sie hatten ein gemeinsames Büro außerhalb von Reykjavik“, hörte sie ihn fortfahren.

„Island?“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Ich glaube, Sie irren sich. Mein Großvater ist dort niemals gewesen“, erklärte sie entschlossen.

Er zog skeptisch die Augenbrauen hoch. „Hat er nie von seiner Zeit dort gesprochen?“

Anna wand sich unbehaglich unter seinem wieder auf sie gerichteten Blick. „Ich glaube“, begann sie steif, „ich würde es wissen, wenn mein Großvater …“ Sie verstummte. Ehrlicherweise konnte sie sich nur an die Geschenke erinnern, die er seiner damals noch kindlichen Enkelin von seinen Reisen mitgebracht hatte. „Es könnte sein …“, gab sie dann zögernd zu.

„Warum sollte ich in einer solchen Angelegenheit lügen?“

Anna zuckte nur die Schultern.

„Vielleicht sollten wir zu dem Moment zurückkehren, in dem Sie hereingekommen sind. Ich kann Führungszeugnisse vorweisen, wenn Sie es wünschen.“

Sein Sarkasmus und sein spöttisches Lächeln ließen ihre Haut kribbeln. „Ich war nur überrascht. Ich wusste nicht, dass mein Großvater einen Besucher hat. Ich habe außer meinem eigenen keinen Namen im Gästebuch gesehen.“

Diesmal wurde sein belustigtes Lächeln von attraktiven kleinen Falten um seine Augenwinkel begleitet. „Oh weh, habe ich gegen die Regeln verstoßen?“

„Die Regeln sind im Merlin ziemlich streng“, antwortete sie bestimmt. „Die Menschen, die hier leben, sind sehr verletzlich.“

Soren sah sie beschützend eine Hand auf die Stuhllehne ihres Großvaters legen. Oh ja, verletzlich wie der böse Wolf, dachte er in Erinnerung an die Verbrechen des alten Mannes.

„Und trotz strenger Regeln hat sich ein Journalist hereinschleichen können?“

Da Anna darauf nichts erwidern konnte, hielt sie ihre Lippen fest geschlossen.

„Es ist ein merkwürdiger Name für diesen … Ort.“ Er machte eine allumfassende Geste. Trotz der teilweise getäfelten Wände und des antiken Mobiliars war nicht zu übersehen, dass es sich um ein Krankenzimmer handelte, einschließlich des mobilen Sauerstoffgeräts. Er musste zugeben, dass die Tarnung überzeugend war.

„Für diesen Ort?“ Anna sah ihn fragend an.

Er schnitt ein Gesicht und wiederholte seine Geste. „Das hier.“

„Merlin war der Künstlername des ursprünglichen Besitzers. Zurzeit Edwards war er ein sehr berühmter Magier. Von seinem einst riesigen Anwesen sind heutzutage nur noch das Haus und der Garten übrig geblieben.“ Ihr war gerade bewusst geworden, dass sie wie eine Fremdenführerin klang, als sie spürte, wie die Hand ihres Großvaters in ihrer erschlaffte. Sie blickte darauf und sah, dass er eingeschlafen war.

Sie spürte die Trauer, als hätte sie einen Kloß im Hals. Es war kaum vorstellbar, wie er vor noch nicht langer Zeit mit seiner vitalen Präsenz ganze Auditorien hatte füllen können. Sie hatte es miterlebt und voll Stolz verfolgt, wie sich sein Publikum von seinen Ideen inspirieren ließ. Sie hob die Hand zum Gesicht, um das Zittern ihrer Mundwinkel zu verbergen.

„Wie lange ist er schon hier?“

Sie hob den Kopf und bemerkte, dass der Fremde sie verstörend eindringlich musterte. „Seit sechs Monaten. Es tut mir leid, wenn ich so abweisend klang. Das Personal hat hier letzte Woche bereits einen Journalisten erwischt.“ Der Ärger ließ ihre Augen aufblitzen. „Ich möchte nicht, dass die Öffentlichkeit ihn so zu sehen bekommt. Deshalb ist hier niemand zugelassen.“

„Ihr Großvater darf keinen Besuch bekommen?“

„Er darf schon, und den hatte er auch, bevor sich sein Zustand so verschlechterte.“

Unter dem Vorwand, sich eine Haarsträhne aus der Stirn streichen zu wollen, nutzte sie die kleine Pause, um ihre zittrige Stimme wieder in den Griff zu bekommen. Leise und ausdruckslos fügte sie hinzu: „Er erkennt inzwischen kaum noch jemanden.“

Wenn das eine Show war, musste Soren zugestehen, dann war es eine ziemlich gute. Ihre Augenlider flatterten, um die Tränen herauszublinzeln, und er sah, wie sie schluckte, als müsste sie ihre Gefühle kontrollieren.

Soren überlegte. War es möglich, dass sie wirklich nichts von den Schandtaten ihres Großvaters wusste? Das würde tatsächlich ihre anscheinend unschuldige Reaktion erklären. Es brauchte schon einen so gewissenlosen Schurken wie Tor, um seiner einzigen Blutsverwandten so etwas anzutun.

„Vermutlich schreckt die Demenz die Menschen ab und hält ihnen vor Augen, wie zerbrechlich das Leben ist.“ Mit der Zerbrechlichkeit des Lebens kannte sich Soren bestens aus. Er stand, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Hände in die Hosentaschen geschoben, und beobachtete, welche Reaktion seine Worte hervorriefen.

Die junge Frau an der Seite des Alten wirkte weiterhin wachsam, aber sie schien ihm wenigstens nicht mehr den nächstliegenden Gegenstand an den Kopf werfen zu wollen.

Vom Sessel erklang ein leises Schnarchen. Tor war erschöpft in sich zusammengesunken. Der Anblick würde das kälteste Herz erbarmen, doch Soren hatte keinen Zweifel, dass es nichts als ein einstudiertes Schauspiel war. Tor beherrschte anscheinend immer noch alle Tricks, mochte er auch älter geworden sein.

So wie auch Soren. Er hatte nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit dem Siebzehnjährigen, der in die Scheune gegangen war und dort seinen Vater gefunden hatte. Er wusste nicht mehr, wie lange er vor dem leblosen Körper gewacht hatte, ehe ihn endlich ein Nachbar gefunden hatte.

„Sein Zustand verunsichert die Leute. Menschen, die noch im letzten Jahr eng mit ihm zusammengearbeitet haben …“ Sie hielt inne. Irgendetwas an seiner vagen Erklärung für seine Anwesenheit kam ihr eigenartig vor.

Die Stille dauerte mehrere Herzschläge. Anna wollte sich von ihm abwenden, aber der hypnotisierende Blick aus diesen eisblauen Augen hielt sie fest.

„Island ist ein kleines Land. Jeder kennt jeden, und eine Zeit lang gehörte Ihr Großvater fast zur Familie.“

Sie hatten den Feind in ihr Haus gelassen. Es gab Familienfeste und gemütliche Abendessen. Tor hatte sich aufmerksam Sorens Probleme als Teenager angehört, wenn dieser mal wieder Krach mit seinen Eltern hatte. Er schien ernsthaft an dem jungen Mann interessiert zu sein, bis sich plötzlich herausstellte, dass sein wahres Interesse der Pensionskasse seines Geschäftspartners galt.

Es ist alles weg, Soren. Es ist nichts mehr da. Die hoffnungslosen Worte seines Vaters hatten sich zusammen mit den Bildern in sein Gedächtnis eingebrannt. Er würde sie nie vergessen.

Einen Moment lang schien sein Blick nach innen gerichtet. Anna atmete befreit auf. „Vitale? Ich erinnere mich gar nicht.“

„Nicht Vitale, Steinsson.“ Jetzt richtete sich sein Blick wieder wie ein Laserstrahl auf sie. „Ich bin nach dem Tod meines Vaters nach Sizilien gezogen und habe den Familiennamen meiner Mutter angenommen.“ Er hatte sich das nicht selbst ausgesucht. Die Namensänderung war Teil des Deals, mit dem er die Zukunft seiner Mutter gesichert hatte. Von Biagio Vitale bekam man nichts umsonst, und Soren war in keiner guten Verhandlungsposition gewesen.

Anna kam sich unter seinem Blick wie ein Insekt unter dem Mikroskop vor. „Es tut mir leid, vielleicht hat er …“ Dann runzelte sie die Stirn. „Vitale klingt ein wenig bekannt“, gab sie zu.

Vermutlich lag das daran, dass sie wie die halbe Welt wenigstens ein glänzendes Küchenutensil mit diesem Logo besaß. Dabei waren die wichtigen Verzweigungen des Vitale-Imperiums vor der Öffentlichkeit eher verborgen. Die diversen Produktlinien und die Finanzdienstleistungen besaßen weltweit guten Ruf, aber das Juwel in der milliardenschweren Krone des Unternehmens waren die grünen Initiativen, die Soren sofort nach seiner Ernennung zum CEO eingeführt hatte. Seine Abkehr vom Öl- und Gasgeschäft galt längst nicht mehr als größenwahnsinniges Zocken.

„Es ist aber schon sehr lange her“, schränkte Anna wieder ein.

Für den Rest der Welt mochten es Nachrichten von gestern sein. Nicht für Soren. Er hatte die ganze Geschichte durchlebt: Sein gedemütigter Vater nahm sich das Leben, nachdem er angeblich die Pensionskasse seiner Firma geplündert hatte. Tatsächlich war er unschuldig. Sein einziger Fehler war, seinem Freund und Partner Tor Rasmusson zu vertrauen. Der hatte sich längst mit dem Geld aus dem Staub gemacht und heimtückisch Spuren gelegt, die zu Stein Steinsson führten.

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