Verführt im Schloss des stolzen Spaniers

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Schockiert erfährt Santiago Silva, dass sein Bruder sich in die berüchtigte Femme fatale Lucy verliebt hat. Er muss ihn vor ihr retten! Auch wenn er selbst zu diesem Zweck Lucy eiskalt verführen muss …


  • Erscheinungstag 23.07.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751515238
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Lucy Fitzgerald …?“

Santiago hatte nur mit halbem Ohr hingehört, während sein Bruder begeistert seine neueste Freundin beschrieb, die wieder „die Richtige“ war. Stirnrunzelnd blickte er auf und versuchte, den Namen unterzubringen, der ihm seltsam bekannt vorkam.

„Kenne ich sie?“

Sein Halbbruder hatte sich vor den großen vergoldeten Spiegel gestellt, der über dem imposanten Kamin hing. Er warf einen selbstgefälligen Blick auf sein Spiegelbild, fuhr sich durch das schwarze Haar und drehte sich breit lächelnd zu Santiago um. „Wenn du Lucy schon einmal begegnet wärst, hättest du es nicht vergessen. Du wirst sie lieben, Santiago.“

„Nicht so sehr, wie du dich liebst.“

Ramon betrachtete kritisch sein Profil und strich sich über den sorgfältig gepflegten Dreitagebart. „Auch Vollkommenheit lässt sich stetig verbessern.“

In Wirklichkeit nahm er gelassen hin, dass er trotz seiner Bemühungen und trotz seines schönen Profils niemals die Anziehungskraft haben würde, die sein charismatischer Bruder auf Frauen ausübte und ungenutzt ließ. Nach Ramons Meinung gehörte es sich einfach nicht, die Frauen nicht einmal zu beachten, die bereitwillig den kleinen Höcker auf Santiagos Nase übersahen – eine Erinnerung an seine Zeit als Rugbyspieler – und seine Aufmerksamkeit zu erregen versuchten.

Forschend blickte Ramon seinen älteren Bruder an, der an seinem großen Mahagonischreibtisch saß. Auch wenn er viele Gelegenheiten nicht nutzte, lebte er nicht wie ein Mönch. Ebenso unvorstellbar war allerdings, dass er herumspielte.

„Hast du überhaupt vor, irgendwann wieder zu heiraten?“ Sofort bereute Ramon die unbedachte Frage. „Entschuldige, ich wollte nicht …“ Verlegen zuckte er die Schultern. Magdalena war vor acht Jahren gestorben. Obwohl er damals noch ein Teenager war, hatte er nicht vergessen, wie schrecklich der leere Blick seines Bruders gewesen war. Selbst jetzt noch konnte es genügen, ihren Namen auszusprechen, und der leblose Blick kehrte zurück. Nicht, dass Santiago nicht ständig an seine Frau erinnert wurde: Die kleine Gabriella war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

Santiago merkte Ramon sein Unbehagen an, und aus Mitleid mit ihm verdrängte er die Schuldgefühle, die ihn bei jedem Gedanken an seine verstorbene Frau überkamen. Er zwang sich zu einem Lächeln und wechselte das Thema.

„Diese Lucy bringt dich also dazu, ans Heiraten zu denken?“, fragte er und rechnete damit, dass Ramon das entsetzt verneinte. „Sie muss ja etwas ganz Besonderes sein“, fügte er spöttisch hinzu.

„Ja, ist sie. Heirat …?“ Einen Moment lang schien Ramon wie vom Donner gerührt zu sein, dann lächelte er herausfordernd. „Warum nicht?“ Als er sich das sagen hörte, wirkte er völlig schockiert.

Santiago unterdrückte ein Stöhnen und tröstete sich mit dem Schreck seines Bruders. „Warum nicht? Du bist dreiundzwanzig und kennst diese Frau wie lange?“

„Du warst einundzwanzig, als du geheiratet hast.“

Und das ist nicht gut gegangen. Sich bewusst, dass sich sein Bruder nur auf die Hinterbeine stellen würde, wenn er zu sehr dagegen anredete, zuckte Santiago lässig die Schultern. Ramons Leidenschaft kühlte oft so schnell ab, wie sie aufgeflammt war. „Vielleicht sollte ich deine Lucy kennenlernen?“

Das streitlustige Funkeln verschwand aus Ramons Augen. „Du wirst sie lieben, Santiago, du wirst gar nicht anders können. Sie ist perfekt, eine …“ Ramon machte eine schwungvolle Handbewegung und seufzte. „Eine Göttin.“

Belustigt zog Santiago die Augenbrauen hoch. „Wenn du das sagst.“ Bei seiner Rückkehr hatte ein Stapel Privatbriefe auf ihn gewartet. Er nahm den obersten Umschlag in die Hand, stand auf und ging um den Schreibtisch.

„Eine Frau wie sie habe ich noch nie getroffen.“

„Sie scheint … außergewöhnlich zu sein.“ Santiago, der keine Frau kannte, die perfekt oder eine Göttin war, ertrug Ramons Schwärmerei mit Geduld.

„Also hast du nichts dagegen?“

„Bring sie am Freitag mit zum Abendessen.“

„Im Ernst? Hierher?“

Santiago nickte, während er den Brief las, den er aus dem Umschlag gezogen hatte. Solche Nachrichten waren ihm vertraut. Ramon, schrieb seine Mutter, sei durch die Prüfungen gefallen. Und sie wollte von Santiago wissen, was er zu tun gedenke. Er blickte auf. „Du hast mir nicht erzählt, dass du dein zweites Jahr wiederholen musst.“ Woran im Grunde Santiago schuld war, wie seine Stiefmutter ihm zu verstehen gab, ohne es direkt zu sagen.

Vielleicht ist an dem Vorwurf etwas dran? grübelte er.

Wurde es Zeit, dass er hart durchgriff? Er wollte, dass sein Bruder die Freiheit genoss, die er selbst nach dem frühen Tod ihres Vaters nicht gehabt hatte. War er deshalb zu nachsichtig gewesen?

Ramon zuckte die Schultern. „Meeresbiologie ist nicht das, was ich erwartet hatte.“

„Archäologie war auch nicht das Richtige. Oder war es Ökologie?“

„Glaub mir, das hat wirklich nicht …“

„Du bist so intelligent. Ich verstehe einfach nicht, wie …“ Mühsam unterdrückte Santiago seine Wut. „Hast du überhaupt irgendwelche Vorlesungen besucht, Ramon?“

„Ein paar. Ja, ich weiß, aber ich werde mich dahinterklemmen, ehrlich. Lucy sagt …“

„Lucy?“ Er sah, was für ein Gesicht sein Bruder machte. „Die Göttin. Entschuldige, ich hatte es vergessen.“

„Eine gute Ausbildung kann einem niemand nehmen, sagt Lucy.“

Verwundert schüttelte Santiago den Kopf. Diese Lucy schien anders zu sein als die vielen Frauen, mit denen sich Ramon bisher eingelassen hatte. „Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen.“ Möglicherweise war eine anständige junge Frau, die eine gute Ausbildung wichtig fand, genau das, was sein Bruder brauchte.

Sein Urteil stand noch nicht fest. Santiago entschied sich, gegenüber Ramons neuer Freundin aufgeschlossen zu bleiben.

An ihrem ersten Tag auf der Finca war Harriets Auto nicht angesprungen. Kein Problem, hatte Lucy gesagt und war zu Fuß in die Kleinstadt gegangen. Es war dann doch ein Problem gewesen. Nicht die Entfernung, sondern die glühend heiße andalusische Mittagssonne.

Eine Woche später war das Auto noch immer im Hof aufgebockt und wartete auf das Ersatzteil, das der Mechaniker hatte bestellen müssen, und die Haut auf Lucys Nasenrücken schälte sich noch immer. Aber die schmerzhafte Röte war abgeklungen, und Lucy hatte ihren Pfirsichteint wieder.

Heute hatte sie Harriets vernünftigen Vorschlag, ein Taxi zu nehmen, abgelehnt. Sie lief gern, war jedoch viel früher losgegangen. Und so hatte sie alles auf Harriets Liste rechtzeitig eingekauft, um den Rückweg durch eine wirklich wunderschöne Landschaft zu genießen, solange es noch angenehm kühl war. Trotzdem hatte Lucy Lichtschutzfaktor dreißig aufgetragen und sich von Harriet einen Strohhut geliehen.

Es war erst halb elf, als Lucy den Steg über dem Bach erreichte, der die Grenze zu Harriets Finca bildete. Das einstöckige Haus war nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Die gut anderthalb Hektar Land hatten Harriet gereizt. Nach ihrer Pensionierung hatte sie beschlossen, ihren Traum zu verwirklichen und in Spanien ein Tierheim für Esel zu eröffnen.

Lucy hatte ihr gesagt, sie halte sie für sehr mutig. Ihre frühere Universitätstutorin hatte erwidert, sie folge nur dem Beispiel ihrer ehemaligen Lieblingsstudentin. Lucy, die es nicht gewohnt war, als Vorbild hingestellt zu werden, hatte nicht darauf hingewiesen, dass sie ihren Lebensstil eher notgedrungen geändert hatte.

Spontan ging sie neben dem Steg das Bachufer hinunter und zog die Sandalen aus. Zuerst fühlte sich das Wasser auf ihrer heißen Haut so kalt an, dass sie nach Atem rang. Dann tastete sie sich vor Freude lachend vorsichtig über die glatten Steine und watete hinaus.

Schließlich reichte ihr das Wasser bis an die Waden. Lucy nahm den Strohhut ab und hielt mit geschlossenen Augen das Gesicht in die Sonne. Herrlich!

Santiago trieb sein Pferd aus dem Schatten der Pinien, wo sie eine Pause gemacht hatten. Sein markantes Gesicht maskenhaft starr, ritt er auf den schnell fließenden Bach zu.

Jetzt wusste Santiago, warum ihm der Name bekannt vorgekommen war.

Die Verkleidung als aufreizender Engel war gut, aber so gut nun auch wieder nicht. Nicht bei einer Frau, für die galt: einmal gesehen, niemals vergessen. Und Lucy Fitzgerald war so eine Frau!

Auf dem Bild, das vor vier Jahren von den Medien immer wieder verwendet worden war, trug sie ein elegantes, figurbetontes rotes Kostüm und Stilettos. Aber Santiago hatte keinen Zweifel, dass es dieselbe Frau war, die von einer empörten Öffentlichkeit in Bausch und Bogen verurteilt worden war.

Sie hatte kein Wort gesagt, um sich zu verteidigen. Andererseits war das der Zweck der Sache gewesen. Wenn sie die einstweilige Verfügung missachtet hätte, Stillschweigen zu bewahren, wäre sie im Gefängnis gelandet.

Er erinnerte sich an das verweinte Gesicht der betrogenen Ehefrau auf einem der Fotos. Was für ein Gegensatz zu Lucy Fitzgerald, die sich im Blitzlichtgewitter kühl und gefasst gezeigt hatte.

Normalerweise hätte Santiago so eine Story nicht weiter als bis zur ersten Zeile gelesen, aber er war gerade zu der Zeit in einer ähnlichen Situation wie der Werbeleiter gewesen, der vor Gericht gegangen war, um sich vor Lucy Fitzgerald zu schützen.

Die Frau, die Geld aus ihm hatte herausholen wollen – Santiago hatte vergessen, wie sie geheißen und wie sie ausgesehen hatte –, war eher opportunistisch als skrupellos gewesen. Und er war unverheiratet und machte sich nicht viel daraus, was die Leute von ihm dachten. Dadurch war er nicht so verwundbar gewesen wie Lucy Fitzgeralds Opfer. Der Werbeleiter hatte der Drohung seiner Geliebten, ihn bloßzustellen, nicht nachgegeben. Stattdessen hatte er eine einstweilige Verfügung beantragt, durch die ihr verboten worden war, sich zu äußern.

Erpressung war die Tat von Feiglingen, und eine Frau wie Lucy Fitzgerald verkörperte alles, was Santiago verachtete. Weshalb das Gesicht seiner eigenen Möchtegernerpresserin längst vergessen war, während das madonnenhafte Gesicht der hartherzigen Engländerin ihm im Gedächtnis haften geblieben war. Und ihr Körper auch.

Mir und dem Rest der männlichen Bevölkerung ist sie ins Gedächtnis gebrannt, dachte Santiago und verzog spöttisch den Mund, während er den Blick über die üppigen Rundungen wandern ließ, die sich unter dem Top und dem Rock aus Baumwolle abzeichneten. Die Frau hatte einen Körper, der dazu aufforderte, sündhafte Vermutungen anzustellen.

Für seinen Geschmack machte sie es allzu auffällig, aber Santiago konnte verstehen, warum sein Bruder, der leicht zu beeindrucken war, sich in sie verliebt hatte.

Und er hatte gedacht, Ramons neue Freundin würde einen positiven Einfluss auf ihn ausüben! Santiago unterdrückte ein bitteres Lachen. Positiv? Wenn Lucy Fitzgerald auch nur ein bisschen ihrem schlechtem Ruf gerecht wurde, war sie durch und durch verdorben!

Fast wehmütig dachte Santiago an die hohlköpfigen, hübschen, aber im Grunde harmlosen Partygirls, vor denen sich sein Bruder bis jetzt hatte selbst retten müssen. Santiago war ihm nicht zu Hilfe gekommen, weil er meinte, dass Ramon aus seinen Erfahrungen lernen würde. Das hier war jedoch eine völlig andere Situation. Er durfte nicht zulassen, dass Ramon ein Opfer dieser Frau wurde.

Hatte sie sich Ramon gezielt ausgesucht?

Das hielt Santiago für wahrscheinlich. Eine Femme fatale wie sie sah in seinem jüngeren Bruder wohl eine leichte Beute.

Wusste Ramon über ihre Vergangenheit Bescheid? Oder kannte er zumindest ihre entschärfte Version davon, in der zweifellos sie das unschuldige Opfer war? Bestimmt konnte sie sehr überzeugend sein, und sie hatte ihm offensichtlich völlig den Kopf verdreht. Andererseits, warum sollte sie ihre Vergangenheit wieder aufleben lassen, wenn Ramon doch noch ein Teenager gewesen war, als die Story Schlagzeilen gemacht hatte?

Ein Teenager!

Wütend presste Santiago die Lippen zusammen. Sie war nicht nur eine habgierige, durch und durch verdorbene Frau, die nur hinter dem Geld der Männer her war, sondern sie hatte auch ein Verhältnis mit seinem Bruder angefangen. Wie alt war sie eigentlich? Sie musste … um die dreißig sein, oder?

Santiago musste seinem Bruder recht geben, als er sein Pferd am Bachufer anhielt. Er hatte nicht übertrieben: Es war berechtigt, wenn er sie „Göttin“ nannte. Zutiefst unmoralisch, aber atemberaubend schön, sogar barfuß und in einem einfachen Baumwollrock. Bei jeder anderen Frau hätte Santiago angenommen, dass sie nicht wusste, wie durchsichtig der Rock war, wenn die Sonne direkt darauf schien. Lucy Fitzgerald hingegen hatte mit Sicherheit einkalkuliert, dass sich ihre wohlgeformten Schenkel unter dem dünnen Stoff abzeichneten.

Dass sie ihn nicht bemerkte, nutzte Santiago aus, um sie zu mustern. Sie war groß, hatte lange Beine und eine Sanduhrfigur. Die Blondine verströmte Sex, und Santiago ärgerte sich darüber, dass sein Körper auf ihren Anblick reagierte.

Während er sie beobachtete, schob sie die Hand in den Ausschnitt ihres Tops und versuchte, den BH-Träger zu erwischen, der ihr über die Schultern gerutscht war. Dabei wirkte sie plötzlich weniger wie ein Pin-up-Girl und mehr wie eine natürliche, warme, begehrenswerte Frau. Sehr begehrenswert.

Die Sonne fing ihr taillenlanges Haar ein und ließ es wie gesponnenes Gold funkeln. Da erkannte Santiago, dass er schnell handeln musste, wenn er seinen Bruder vor den Machenschaften dieses betörenden Geschöpfs retten wollte. Lucy Fitzgerald war gefährlich schön. Eines Tages würde Ramon ihm dankbar sein.

Der Ledersattel knarrte, als Santiago ein Bein darüber schwang und leichtfüßig auf den Boden sprang. Die kleinen Steine, mit denen der Weg übersät war, knackten metallisch unter seinen Stiefeln.

Erschrocken drehte Lucy sich um. Ihr Blick verriet Angst, als sie die bedrohlich große männliche Gestalt sah, die sich als Silhouette gegen die Sonne abzeichnete. Das entsprechend große Pferd neben ihm trank aus dem Bach.

Als der Mann einen Moment später etwas sagte, hatte sich Lucy wieder unter Kontrolle und ließ sich nichts anmerken.

„Entschuldigen Sie, habe ich Sie erschreckt?“

Nur halb zu Tode, dachte sie. Der Fremde sprach mit schwachem spanischen Akzent und volltönender Stimme. Eine tiefe Stimme, die gleichzeitig samtweich und rau klang.

„Ich habe Sie nicht kommen hören.“ Lucy hielt eine Hand über die Augen und versuchte, sich ein Lächeln abzuringen. Sie wusste, dass sie die maskenhafte Miene aufgesetzt hatte, die ihr den Beinamen „eiskaltes Luder“ eingebracht hatte. Es war schwer, weil ihr der Abwehrmechanismus inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen war.

Es hatte eine Zeit gegeben, als ihre Erfahrungen sie hart und zynisch zu machen gedroht hatten und – wie ihre Mutter behauptet hatte – zu verängstigt, um zu leben. Der besorgte Vorwurf hatte Lucy aufgerüttelt, und neuerdings bemühte sie sich, nicht immer gleich das Schlimmste zu vermuten.

Vorsicht war etwas anderes, und unter diesen Umständen nur vernünftig!

Den Blick auf ihre Füße gerichtet, damit sie im steinigen Bachbett nicht stolperte, watete Lucy ans Ufer. Sie stieg den kleinen Abhang hoch, sodass sie auf gleicher Höhe mit dem Mann stand. Und so nah, dass sie den Geruch nach Leder und Pferd wahrnahm. Reserviert lächelnd sah sie den Fremden an.

Er war außergewöhnlich groß, hatte breite Schultern, schmale Hüften und lange Beine. Sie gewann einen Eindruck von urwüchsiger Kraft. Seine Gesichtszüge wirkten wie aus Bronze gegossen, von einem Künstler, der mehr an einem männlichen Ideal als an der Wirklichkeit interessiert war. Der Reiter hatte eine Römernase, eine breite Stirn, ein energisches Kinn und hohe Wangenknochen. Lucys Blick fiel auf seinen sinnlichen Mund.

Der Mann war umwerfend attraktiv. Ihr wurde bewusst, dass sie ihn anstarrte, und sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon völlig überwältigt dastand. Sie spürte, dass sie rot wurde, und mühte sich ab, ihm in die Augen zu sehen.

Sie verstand es meisterlich, ihre Gefühle zu verbergen, aber dieser Mann konnte es noch viel besser. Sein Blick war unergründlich. Die von langen Wimpern umrahmten dunklen Augen hatten goldene Einsprengsel und erinnerten sie an einen sternenklaren Nachthimmel.

Sternenklarer …? Lucy, du brauchst etwas Süßes für deinen Blutzuckerspiegel, dachte sie. Ihre beste Freundin Sally war der Meinung, dass sie etwas ganz anderes brauchte. Und das hatte sie ihr unverblümt gesagt, als Lucy ihr erzählt hatte, sie gehe nach Spanien.

„Grundsätze zu haben ist großartig, Lucy, und wahre Liebe ist ja gut und schön – aber nur im Märchen! Wie wäre es mit einem Kompromiss, während du darauf wartest, dass ein Prinz an deine Tür klopft? Genieß eine Zeit lang heißen Sex mit einem Spanier. Angebote wirst du genug bekommen. Mensch, wenn ich aussehen würde wie du …“

Lucy, die von heißem Sex nichts verstand und nur wusste, dass so etwas nichts für sie war, verdrängte die Erinnerung an das Gespräch. Aber da hatte sie den Blick schon zum sinnlichen Mund des Fremden schweifen lassen. Fast beneidete sie ihre Freundin um ihre sachliche Einstellung zum Sex, als sich plötzlich Hitze in ihr ausbreitete. Lucy räusperte sich, was nicht verhinderte, dass ihre Stimme heiser und atemlos klang.

„Woher sprechen Sie meine Sprache so gut?“, fragte sie, weil es das Erste war, das ihr in den Sinn kam.

Ihr Herz hämmerte, und sie hatte weiche Knie. War das die sogenannte animalische Anziehungskraft? Nun, was auch immer es war, er strahlte es aus! Und sie wäre ihm lieber nicht so nahe.

Santiago zog spöttisch die Augenbrauen hoch, während er ihr taillenlanges blondes Haar betrachtete, das ihr offen über die Schultern fiel. Auf allen Fotos, die Santiago gesehen hatte, trug sie einen eleganten Nackenknoten. Vermutlich änderte sie ihre Frisur je nachdem, welche Rolle sie gerade spielte. Und er konnte verstehen, dass die prachtvolle Lockenmähne seinen Bruder reizte. Alle Männer.

„Ich habe gleich erkannt, dass sie nicht von hier sind: Ihre Haut- und Haarfarbe ist nicht gerade die der Einheimischen“, wich er der Frage aus.

Er musterte ihre zarten Gesichtszüge. Die helle, samtweiche Haut hatte einen fast opalartigen Schimmer; auf den rosigen Wangen war kein Make-up: Erstaunlicherweise war Lucy Fitzgerald ungeschminkt. Trotz ihrer hellen Haar- und Hautfarbe hatte sie dunkle Wimpern und Brauen. Ein Purist hätte bemängeln können, dass die sinnlichen Lippen für ihr zartes Gesicht zu üppig waren, aber selbst der schärfste Kritiker hätte an ihren Augen nichts auszusetzen gehabt. Sie waren groß und leuchtend blau.

„Oh …“ Lucy klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Auf ihr verlegenes Lächeln reagierte er mit einem starren Blick. Sie war sich der unerklärlichen Feindseligkeit in seiner Körpersprache bewusst. War der Mann immer so oder nur zu ihr? „Ich falle wohl ein bisschen auf“, räumte sie ein.

Er musterte ihre Figur.

Die zweifellos absichtliche Unverschämtheit brachte Lucy dazu, ihn wütend anzufunkeln. Der Typ hatte keine Manieren.

„Und Sie tun ja alles dafür, nicht beachtet zu werden.“

Sie gab einen erstickten Laut von sich. „Was ist eigentlich Ihr Problem? Ich bin nicht widerrechtlich auf dem Land, aber Sie wahrscheinlich.“ Er sah aus wie jemand, der Grenzen nicht anerkannte.

„Ich bin Santiago Silva.“

„Soll ich jetzt einen Knicks machen?“ Also das war der Gutsherr, dem alles hier gehörte, auch das Grundstück, das Harriet gepachtet hatte. Ihre Freundin hatte ihr erzählt, er sei „ein wundervoller Mann“. Seltsam. Normalerweise war Harriet eine gute Menschenkennerin.

Lucy stemmte die Hand in die Hüfte, ohne sich bewusst zu sein, wie aufreizend diese Pose war. Er verzog den Mund zu einem Lächeln, das nicht seine Augen erreichte. Sein Blick war eiskalt.

„Ich hatte keine Ahnung, dass wir einen so berühmten – oder sollte ich sagen berüchtigten? – Gast in unserer Gegend haben, Miss Fitzgerald.“ Zufrieden nahm Santiago zur Kenntnis, dass sie zusammenzuckte. Jetzt hab ich dich! dachte er.

2. KAPITEL

Lucy spürte den vertrauten Druck im Magen. Ihre Miene wurde maskenhaft starr. Sie hätte sich selbst verfluchen können! Und zwar dafür, dass es sie schockierte, hier in Spanien von jemandem erkannt worden zu sein. Die Welt war klein, hieß es, und nach dem Aufkommen der sozialen Netzwerke noch kleiner.

Was Fremde von ihr dachten, war deren Problem, nicht ihres. Aber ganz gleich, wie oft sie sich das sagte, es tat trotzdem weh. Und es machte sie wütend, dass die abschätzigen Blicke und verächtlichen Bemerkungen sie dazu brachten, sich verstecken zu wollen. Was, wie von einigen behauptet wurde, genau das war, was sie schon seit vier Jahren tat.

Stolz blickte sie ihm ins Gesicht. Sie würde sich nicht mehr verstecken, sie hatte nichts Unrechtes getan. Die einstweilige Verfügung war lange aufgehoben, deshalb hinderte sie nichts daran, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sich aus ihrer Sicht darstellte. denn schließlich war sie das unschuldige Opfer, das niemandem irgendetwas erklären musste. Schließlich hatten die Menschen, die ihr wichtig waren, keine von den Lügen geglaubt, die über sie gedruckt worden waren.

„Wenn ich gewusst hätte, wie herzlich die Einheimischen einen Gast aufnehmen, wäre ich schon früher gekommen.“ Lucy lächelte ihn zuckersüß an und sah mit Genugtuung, dass er ärgerlich die Lippen zusammenpresste.

„Und wie lange wollen Sie bleiben?“

„Warum fragen Sie? Haben Sie vor, mich aus dem Dorf zu jagen?“, spottete sie.

Auf ihre flapsige Äußerung reagierte Santiago Silva mit einem eisigen Blick. Seine Feindseligkeit verwirrte Lucy. Hatte der Mann nichts Besseres zu tun?

Ihre Story war Schnee von gestern. Selbst wenn er sie für so verdorben hielt, wie man sie geschildert hatte, erklärte das kaum, warum er anscheinend persönlich etwas gegen sie hatte.

„Ich sollte keine Witze darüber machen. Wahrscheinlich können Sie mich tatsächlich davonjagen.“ Sie hatte den Eindruck, dass der Mann nur mit den Fingern zu schnippsen brauchte, und die Leute im Ort würden ihm helfen. Seit sie hier war, hatte Lucy den Namen Santiago Silva regelmäßig gehört. Alle in der Gegend sangen ein Loblied auf diesen vorbildhaften Menschen. Was Lucy erstaunlich fand, da er ein Banker war – und Banker waren ja heutzutage nicht gerade beliebt.

Der Mann, der vor ihr stand und die Nase über sie rümpfte, ähnelte überhaupt nicht dem warmherzigen, fürsorglichen Menschen, den man ihr beschrieben hatte. Er sah durch und durch wie der selbstherrliche, reaktionäre Gutsbesitzer aus, der von den Leuten erwartete, dass sie vor ihm katzbuckelten.

„Sie haben meinen Bruder kennengelernt.“

Lucy schüttelte den Kopf, dann fiel der Groschen. „Ramon.“ Kurz bevor sie heute Morgen losgegangen war, hatte er angerufen und sie zum Abendessen ins Schloss eingeladen. Meine Güte, war sie froh, dass sie Nein gesagt hatte. Wenn diese Begegnung mit seinem Bruder ein Vorgeschmack war, dann wäre der Abend ein Albtraum geworden! Er wirkte jetzt steif und förmlich. Wie würde er erst in Anzug und Krawatte aussehen? Außer großartig. Lucy verdrängte den Gedanken.

Dass sie den Zusammenhang nicht sofort hergestellt hatte, wunderte sie nicht. Ramon strahlte nicht die selbstherrliche Arroganz aus, die seinem Bruder zu eigen war. Er war ein netter junger Mann. Als Harriet und sie am Tag nach ihrer Ankunft auf dem Parkplatz der Klinik mit dem Auto liegen geblieben waren, hatte Ramon dem alten Wagen ihrer Freundin Erste Hilfe geleistet.

Autor

Kim Lawrence
<p>Kim Lawrence, deren Vorfahren aus England und Irland stammen, ist in Nordwales groß geworden. Nach der Hochzeit kehrten sie und ihr Mann in ihre Heimat zurück, wo sie auch ihre beiden Söhne zur Welt brachte. Auf der kleinen Insel Anlesey, lebt Kim nun mit ihren Lieben auf einer kleinen Farm,...
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