Unberechenbare Gefühle einer Lady

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Zweiunddreißig Heiratsanträge hat Lady Myrtle mittlerweile bekommen – doch sie liebt nur eines: die kühle, berechenbare Welt der Zahlen! Und sie weiß, es wäre eine Verschwendung, wenn sie heiraten würde. Viel besser wäre es, ihren scharfen Verstand zum Wohl der Allgemeinheit einzusetzen. Solch großartige Pläne kann sie jedoch nur in der Stadt umsetzen, und alleine darf sie als unverheiratete Lady nicht nach London reisen. Wie gut, dass sie Simeon Jones begegnet, der sich bereit erklärt, für die Dauer der Reise ihren Verlobten zu spielen. Ein Wüstling wie er stellt für sie keine Versuchung dar! Doch sie hat die Rechnung ohne die Liebe gemacht …


  • Erscheinungstag 10.05.2025
  • Bandnummer 415
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532075
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Megan Frampton

Unberechenbare Gefühle einer Lady

Megan Frampton

Diesen Dingen kann Megan Frampton einfach nicht widerstehen: der Farbe Schwarz, gutem Gin, dunkelhaarigen Briten und großen Ohrringen. Neben historischen Romanen schreibt sie unter dem Namen Megan Caldwell auch gefühlvolle Liebesromane. Die Autorin lebt mit Ehemann und Kind in Brooklyn, New York.

1. KAPITEL

Immerhin war die Torte großartig.

Myrtle saß mit gespreizten Beinen auf dem Boden des Ballsaals und überlegte, welchem Teil der Torte sie sich als Nächstes widmen sollte. Ihr Abendkleid bauschte sich dabei um sie herum wie eine Wolke. Sie hatte normalerweise nichts dafür übrig, wenn Torten mit überflüssigen Kleinigkeiten versehen waren, aber sie musste zugeben, dass die kandierten Orangenstückchen, mit denen die Decke von dieser verziert war, köstlich schmeckten.

„Warum?“, fragte ihr Bruder. Seine Stimme klang mitgenommen. Wie meistens, wenn er mit ihr sprach.

Es war ja nicht so, dass sie unangenehm sein wollte; im Allgemeinen wollte sie nur umherstolzieren, schöne Kleider tragen, köstliches Essen probieren und ihrem Bedürfnis (manche, zu denen ihr Bruder gehörte, hätten Wahn gesagt) nachgehen, ihren Kopf auch für andere Dinge zu benutzen als für belanglose Gespräche und um sich zu merken, welches Besteck man für welchen Gang benutzte.

Sie alle erfüllten mehr oder weniger denselben Zweck. Sie verstand nicht, warum man deswegen so einen Aufstand machen musste. Aber offensichtlich fand die vornehme Gesellschaft – die Welt, in der sie sich unglücklicherweise bewegte, weil sie die Tochter eines Viscounts war – es erschütternd, beunruhigend und infam, wenn man seine Fischgabel dazu benutzte, eine Erbse auf Abwegen einzufangen.

Doch das war nicht einmal der Grund dafür, warum ihr Bruder, Lord Richard Allen, der Viscount Leybourne, so aufgebracht war. So gereizt.

Die Geschwister waren allein im Ballsaal, der Rest der Familie und ihre Hausgäste hatten sich längst zum Schlafengehen zurückgezogen. Das Fest war ein rauschender Erfolg gewesen, zumindest bis Myrtle gesagt hatte, was sie wirklich dachte. Offensichtlich hatte ihr Bruder gegen diese Wahrheit etwas einzuwenden.

Der Ballsaal gehörte zum Landsitz der Familie Leybourne, einem opulenten, weitläufigen Schloss mit weit über einhundert Zimmern, das auf mehr als siebenhundert Morgen Land stand.

Der Besitz der Leybournes – nicht Myrtles eigene Reize, wie sie sehr gut wusste – war auch der Grund dafür, dass sie so viele Heiratsangebote bekommen hatte.

Und bislang hatte sie kein einziges davon angenommen.

„Ich habe doch nur die Wahrheit gesagt“, stellte Myrtle achselzuckend fest und machte sich mit neuem Elan über das Stück Torte vor ihr her.

Der Teig war ein heller Biskuit mit weißem Guss, die erwähnten kandierten Orangen bildeten einen säuerlichen Kontrast mit dem Guss und der Himbeermarmelade, mit der er gefüllt war.

„Du hast ihm gesagt – vor allen anderen noch dazu –, dass du ihn niemals heiraten könntest, weil er nichts von Babbages Logarithmentabellen versteht.“ Richard kniff sich mit zwei Fingern in den Nasenrücken. „Was haben Logarithmen – was auch immer das sein mag – mit einer Ehe zu tun?“

Myrtle hob eine Hand, um ihrem Bruder zu bedeuten, dass sie erst zu Ende kauen musste. Richard sah sie finster an, aber sie lächelte nur – mit geschlossenem Mund natürlich, wegen des Kauens und so – und er wandte den Blick ab.

„Die Sache ist die“, sagte sie, nachdem sie heruntergeschluckt hatte, „dass Babbage nicht das Einzige ist, wovon Mr. Oakes nichts versteht. Ich wollte nicht sagen, dass ich ihn nicht heiraten möchte, weil er dumm ist, das wäre schlicht unhöflich gewesen.“ Sie zuckte noch einmal mit den Schultern. „Also habe ich ein möglichst einfaches Konzept erwähnt, eins, mit dem sein Geist vielleicht nicht überfordert ist.“ Sie schwieg eine Weile, während sie überlegte. „Und es ist unabdingbar, dass man Logarithmen beherrscht, wenn man beispielsweise die Zinsen für Darlehen oder Zahlungen berechnen muss. Wie viel Profit eine Investition eingebracht hat und so weiter.“ Sie schniefte. „Mr. Oakes – genau wie jeder andere Mann übrigens – braucht grundlegende mathematische Kenntnisse, wenn er mit einem beträchtlichen Vermögen wie meinem zurechtkommen soll.“

Einem Vermögen, das unglücklicherweise nicht direkt ihr gehörte. Ihr Bruder traf alle Entscheidungen darüber und er schien fest entschlossen zu sein, sie jemand anderem zu überlassen. Nur nicht ihr.

Es war vollkommen ungerecht. Es war auch der Grund dafür, dass sie beschlossen hatte, anderen Ladys zu helfen, die in ähnlich ungerechten Situationen waren. Sie wollte nicht Torte essend zusehen, wie andere leiden mussten.

Sie konnte mit ihrem mathematischen Verstand viel mehr Gutes bewirken, als irgendeinen Trottel zu heiraten, der nur darauf aus war, dass sie eine Mitgift mitbrachte und eine Unmenge von Kindern gebar.

Doch Richard wollte nichts davon wissen. Jedes Mal, wenn sie auch nur angedeutet hatte, dass sie etwas anderes mit ihrem Leben anfangen wollte, hatte er dieses Gesicht gemacht und sie hatte sich gefragt, ob er vorhatte, sie im Keller einzusperren, bis sie ihre Meinung geändert hatte.

„Du hast jedes Angebot abgelehnt, das du bekommen hast, und ich schätze, dass du mindestens siebenundzwanzig Anträge bekommen hast.“ Er malträtierte schon wieder seinen Nasenrücken.

„Wenn ich irgendwann einen angenommen hätte, wäre das das Ende der Anträge gewesen“, stellte Myrtle nicht unzutreffend fest. „Wie wenn man sagt ‚Oh, ich habe diese Sache, die ich gesucht hatte, da gefunden, wo ich zuletzt gesucht hatte!‘, denn man würde natürlich aufhören zu suchen, sobald man die Sache gefunden hat.“ Sie runzelte die Stirn. „Genau genommen waren es zweiunddreißig Anträge, aber nur wenn man die Zwillinge Hollister und ein paar von Josephs Schulkameraden mitzählt.“

Joseph, Richards und Myrtles kleiner Bruder, besuchte ein Internat, etwas, um das ihn Myrtle heftig beneidete. Sie hatte eine Gouvernante gehabt, aber diese Dame hatte aufgegeben, als festgestanden hatte, dass Myrtle mehr über alles wusste als sie. Miss Rogers führte inzwischen ein schönes Leben, nachdem sie auf Myrtles Rat hin mehrere kluge Investitionen gemacht hatte. Und sie war Myrtles beste – und wahrscheinlich einzige – Freundin, von Myrtles Nichte Lilah abgesehen.

„Darum geht es nicht“, sagte Richard. „Und hast du nicht genug von der Torte gegessen?“

Myrtle sah auf das fragliche Stück Torte hinab. „Es ist noch einiges übrig, also würde ich sagen, nein, ich habe noch nicht genug von der Torte gegessen. Es sei denn, du möchtest?“ Sie sah zu ihrem Bruder auf und wedelte mit der Gabel durch die Luft.

„Ich will keine Torte“, knurrte er.

„Und warum fragst du dann, ob ich genug gegessen habe?“ Sie zeigte auf sein Gesicht. „Du solltest dich lieber nicht so aufregen“, sagte sie. „Du hast eine Ader auf der Stirn, die sehr angeschwollen ist. Das kann nicht gesund für dich sein.“

„Ich bräuchte mich nicht so aufzuregen“, erwiderte er scharf, „wenn du einen Ehemann für dich finden würdest!“

Myrtle blinzelte. „Ich habe einige gefunden. Ich will nur keinen von ihnen.“

Richards Blick wurde eisig und sie bekam beinahe – beinahe – ein schlechtes Gewissen. Aber das war nicht so schlimm wie mit einem Idioten verheiratet zu sein. Und alle Gentlemen, und die meisten Ladys ebenfalls, die Myrtle kannte, waren Idioten.

Sie hatte nichts gegen die Ehe an sich; sie konnte sich nur absolut nicht vorstellen, dass jemand, der nicht dazu verpflichtet war, versuchen würde, mit ihr zurechtzukommen, wenn sogar die Menschen, die mit ihr blutsverwandt waren, es so schwierig fanden. Für andere war eine Ehe mit Sicherheit etwas Gutes; sie glaubte nur nicht, dass sie gut für sie war.

Was für ein Glück, dass es Torte gibt, dachte sie und sah auf das ehemals so elegante Dessert hinab. Sie hatte mit ihrer Gabel eine Schneise hineingeschlagen, neben der jeder Trampelpfad verblasst wäre, und der eine Teil schwankte, als ob er gleich ganz ohne Eleganz umfallen wollte.

„Ich kann nicht weiter darüber reden“, sagte Richard, obwohl er in Wirklichkeit weiterredete. Myrtle war sehr zufrieden mit sich, weil sie es schaffte, ihn nicht darauf hinzuweisen. Sie wollte nicht, dass ihrem Bruder der Kopf platzte. „Du musst einen Ehemann finden oder etwas unternehmen, denn deine ständige Anwesenheit hier stört. Regina muss Lilah in die Gesellschaft einführen und sie macht sich jetzt schon Sorgen, dass du irgendetwas tust oder sagst, das ein schlechtes Licht auf sie wirft. Wenn Lilah keine gute Partie macht, dann …“

„Dann sind die Gentlemen alle Idioten. Lilah ist wunderbar“, warf Myrtle mit fester Stimme ein. Ihre Nichte Lilah war wunderschön und kultiviert. Sie hatte ein lebhaftes, mitreißendes Naturell, mit dem sie alle für sich einnahm. Myrtle eingeschlossen; sie konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass Lilahs Debüt irgendeinen Makel bekam. Im Gegensatz zu ihrer Tante wollte Lilah unbedingt ein „Bis an ihr Lebensende“. Sie redete von nichts anderem mehr und Myrtle würde nichts tun, das sie daran hinderte.

Es war ärgerlich, sich Richards Gerede anhören zu müssen, wo Myrtles Schwägerin Regina selbst einige fragwürdige Dinge getan hatte. Die waren nur deshalb irgendwie weniger ungeheuerlich, weil sie nichts mit ihrem Geist zu tun hatten.

Das konnte Myrtle einfach nicht begreifen. Noch etwas, das sie der Liste hinzufügen musste, auf der bereits das Benutzen von Besteck, die Ehe und Tee ohne Milch standen.

Sie nahm ihre Gabel und stopfte sich wütend noch einen Bissen Torte in den Mund. Sie würde nicht der Grund für Lilahs Unglück sein.

„Und es schickt sich nicht, dass du dich in die Führung der Geschäfte auf unseren Ländereien einmischst. Eine Lady sollte ihre Zeit nicht mit Buchführung verbringen oder den Verwalter belästigen. Farrows war ziemlich aufgebracht.“ Er holte tief Luft, offensichtlich um seine Fassung wiederzugewinnen. Myrtle nutzte die Gelegenheit, um ein Stückchen Kuchenglasur aus ihrem Mundwinkel zu erwischen. „Ich habe keine andere Wahl, als dir dieses Ultimatum zu stellen“, sagte er in sanftem Ton. „Du musst einen Ehemann finden oder etwas unternehmen, um …“

Ein lauter Schrei schnitt ihm das Wort ab.

Simeon Jones hatte ein Geheimnis.

Es war nicht, dass er charmant war. Das war bekannt, seitdem er fünf Jahre alt gewesen war und die anderen Kinder in Devenaughs Heim für mittellose Knaben dazu überredet hatte, bei einem komplizierten Plan mitzumachen, nachts die Speisekammer der Heimküche zu plündern. Als man sie erwischt hatte, waren bereits zwei Drittel eines Kirschkuchens verschwunden gewesen.

Das Personal brauchte zwei Tage, um die Kirschflecken wieder aus den Nachthemden zu entfernen.

Es war auch nicht, dass er gut aussah. Simeon hatte ein verwegenes Lächeln, ein Grübchen in der linken Wange und braune Augen, mit denen er jedem, den er ansah, tief in die Seele zu blicken schien. Dass er groß war, muskulös gebaut und weiches, seidig schwarzes Haar hatte, das dazu einzuladen schien, es zu streicheln, reichte, damit es von ihm hieß, er wäre bemerkenswert gut aussehend.

Und es war auch nicht, dass er Talent hatte. Er hatte mit dem Zeichnen angefangen, als er seine Strafe für den Überfall auf die Speisekammer verbüßt hatte, und war mit zehn Jahren zu Wasserfarben übergegangen. Er wurde von einer Künstlerin aufgenommen, die ihm alles beigebracht hatte, was sie wusste, und ihn außerdem mit genügend Ölfarben und Leinwänden versorgt hatte, um ein Museum zu füllen. Bei den beiden war nicht immer genug zu essen im Haus gewesen, aber sie hatten immer Malsachen gehabt.

Nein, es war, dass Simeon Jones – lässig-elegant, mit geschliffenen Umgangsformen und außerordentlich höflich – ein weiches Herz hatte.

Er gab jedem Geld, der welches brauchte. Er rettete streunende Katzen, warf Kindern und Bettlern Münzen zu, gab mehr als großzügige Trinkgelder und steckte immer wieder Geld in die verschiedensten Unternehmungen, weil er einfach nicht nein sagen konnte.

Deswegen war er, wie man so sagte, arm wie eine Kirchenmaus.

Es war ein Geheimnis, für das er sich schrecklich geschämt hätte, wenn irgendjemand – selbst seine engsten Freunde, vier weitere Waisenjungen – davon erfahren hätte.

Das bedeutete, dass er sich selbst nichts gönnte, was Geld kostete, was bedeutete, dass die Fleischeslust, gute Gespräche und Bücher aus der Leihbücherei, deren Leiterin er gerade erst überredet hatte, ihm die Gebühren zu erlassen, seine einzigen Vergnügungen waren.

Normalerweise konnte er sich alles Nötige leisten und sein Geheimnis bewahren.

Aber vor drei Wochen hatte er einen Brief bekommen, der sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte.

Lieber Mr. Jones,

ich hoffe, dieser Brief erreicht Sie bei guter Gesundheit. Ich schreibe Ihnen im Interesse der verstorbenen Mrs. Wellsford, der Schwester von Miss Jones, Ihrer Adoptivmutter. Mir ist völlig klar, dass die Nachricht, die ich zu überbringen habe, wahrscheinlich ein Schock für Sie sein wird. Mrs. Wellsford hat sich um das Kind von Miss Jones gekümmert, aber Mrs. Wellsford ist von uns gegangen, sodass die Vormundschaft für das Kind auf Sie übergeht. Es ist dringend geboten, dass Sie uns wissen lassen, wie Sie diesbezüglich verfahren möchten.

Hochachtungsvoll, Ihr Reverend William Anglethorpe

Selbst jetzt noch sorgten diese fünf Worte – wie Sie diesbezüglich verfahren möchten – dafür, dass er gerne auf etwas eingeschlagen hätte. Auf jemanden.

Dafür konnte der Absender natürlich nichts. Aber hier stand das Leben eines Kindes auf dem Spiel, es lag in seinen Händen. In seinen, der bislang für nichts anderes verantwortlich gewesen war als für sich selbst und seine Kunst. Seine Adoptivmutter hatte nie einen Zweifel daran gelassen, was für ihn das Wichtigste war: Nichts durfte seiner Kunst im Wege stehen. Nicht die Liebe, keine Bequemlichkeit und ganz sicher kein unerwartet auftauchendes Kind.

Aber er würde einen Unschuldigen auch nicht zu einem Leben wie seinem eigenen verdammen.

Ganz gleich, wofür er sich entschied, es würde alles Geld kosten. Viel mehr Geld, als er im Augenblick hatte.

Seine Mutter war vor ein paar Jahren gestorben. Sie hatte ihm nichts hinterlassen außer der Überzeugung, dass seine Kunst das Wichtigste in seinem Leben war und dass er tun musste, was in seiner Macht stand, um seine künstlerische Begabung voll auszuschöpfen.

Aber er brauchte auch etwas zu essen und zum Anziehen und jetzt musste er entscheiden, wie er diesbezüglich verfahren wollte.

Deswegen saß Simeon auf dem Land fest. Er hatte den Auftrag übernommen, ein Porträt von Regina, der Viscountess Leybourne, zu malen. Dieses Werk sollte ihm eine ordentliche Summe einbringen.

Und deswegen versuchte er um vier Uhr morgens verzweifelt, die mehr als angeheiterte Viscountess aus seinem Zimmer zu verscheuchen.

„Ssie ham gesacht, ich könnde mich überden Flur schleichn.“ Lady Allen, nur mit einem Nachthemd und einem Schultertuch bekleidet, mit offen über den Rücken fallendem Haar, sah Simeon mit vorwurfsvoll zusammengekniffenen Augen an. „Ich bin geschlichen und jetzt versuchen Sie, mich loszuwerden?“

Bei den letzten beiden Worten erhob sie die Stimme, sie wurde immer lauter. Simeons Gedanken rasten. Wie sollte man damit umgehen, wenn der Gegenstand eines Porträts mitten in der Nacht aufkreuzte, um, so nahm er jedenfalls an, ihm ein eindeutiges Angebot zu machen?

„Möchten Sie nicht lieber zurück in Ihr Zimmer gehen und …“, sagte er, nur um von der inzwischen sehr erbosten Viscountess unterbrochen zu werden.

Du lieber Gott, was für ein Schlamassel.

„Ich kann nicht zurück in mein Zimmer gehen!“, sagte sie voller Empörung.

„Äh …“, sagte Simeon und nahm ihren Arm. „Lassen Sie uns doch darüber sprechen. Wir können uns mit Sicherheit einigen.“

Sie streifte seinen Arm ab und hob dann unmissverständlich einladend das Gesicht. „Oder Ssie könndn mich einfach küssen.“

Simeon war es gewöhnt, dass er eindeutige Angebote bekam; er hatte seine jetzige Größe mit fünfzehn Jahren erreicht und schon viel, viel länger ein Engelsgesicht gehabt. Aber er wusste sehr gut, dass es viele Gründe gab, diesem Wunsch hier nicht nachzukommen. Mit an oberster Stelle stand die Tatsache, dass Lady Allen ordentlich gebechert hatte und deswegen kaum in der Lage war, eine durchdachte Entscheidung zu treffen.

Er war sich nicht sicher, ob sie sein Zimmer mit einem anderen verwechselt hatte oder ob sie seine Höflichkeit als etwas anderes verstanden hatte oder ob sie einfach nur dazu neigte, spontan in die Zimmer von Gentlemen zu stürmen, aber das war auch nicht relevant.

Er nahm wieder ihren Arm und zog sie in Richtung Korridor, dabei murmelte er unverständliche beruhigende Worte vor sich hin.

„Nein!“, kreischte sie so laut, dass es ihm in den Ohren wehtat. „Neeeeein!“ Und dann gab sie die Worte vollkommen auf und kreischte nur noch.

Zu seinem Entsetzen hörte er Schritte näher kommen und es wurden Türen geöffnet, hinter denen die Gesichter von Gästen erschienen. Er schloss die Augen und wünschte sich zum ersten Mal, keinen Ruf als Draufgänger zu haben.

Niemand würde ihm glauben, dass er nicht vorgehabt hatte, ein Techtelmechtel mit der Hausherrin anzufangen. Außerdem war es eigentlich egal, ob man ihm tatsächlich glaubte oder nicht; er war ein Bastard, ein Auftragskünstler, keine angesehene Dame wie sie. Dass er genau deswegen hergekommen war, um ein Porträt von ihr zu malen, würde die Überzeugung nur noch bestärken, dass das alles allein seine Schuld war.

Von seinem Auftrag konnte er sich auf jeden Fall verabschieden, was bedeutete, dass das Waisenkind – von dem er nicht einmal Namen oder Geschlecht wusste – noch länger darauf warten musste, zu erfahren, wie Simeon verfahren wollte.

Verdammt noch mal.

2. KAPITEL

Eine Stunde später erst sank Simeon an seine Zimmertür gelehnt in sich zusammen. Er war vollkommen erschöpft. Alle waren auf den Korridor gekommen, einschließlich Lord Allen, den das Benehmen seiner Ehefrau nicht zu überraschen schien, auch wenn es darauf jetzt nicht mehr ankam. Simeons Schicksal war ohnehin besiegelt.

„Sie werden morgen früh abreisen“, sagte der Viscount streng, nachdem seine Frau von ihrer Zofe von Simeon losgeeist und in ihr eigenes Bett zurückgebracht worden war. „Und selbstverständlich werden Sie den Vorschuss zurückzahlen, den Sie von mir bekommen haben, da Sie ja Ihr Werk nicht vollenden werden.“

„Selbstverständlich“, wiederholte Simeon.

Immer noch standen ein paar Leute auf dem Korridor, die sich nicht einmal die Mühe machten, so zu tun, als ob sie nicht lauschen würden.

„Ich werde den Vorfall nie wieder erwähnen“, fuhr der Viscount fort, „und da ich denke, dass Ihnen etwas an Ihrem guten Ruf liegt, werden Sie es ebenfalls nicht tun.“ Er sah aus, als wäre ihm die ganze Sache unangenehm und Simeon überlegte kurz, ob er ihn wissen lassen wollte, dass er wusste, was in Wirklichkeit passiert war. Ob der Viscount zugeben würde, dass Simeon sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, wenn auch nur unter vier Augen.

„Es ist unglücklich“, sagte Lord Allen tadelnd und damit war der Moment vorbei. „Aber ich kann nicht zulassen, dass meine Familie mit einem Skandal in Berührung kommt. Das Debüt meiner Tochter steht kurz bevor und Sie müssen verstehen …“

„Ich verstehe schon“, schnitt Simeon ihm das Wort ab. „Ich mache mich gleich morgen früh auf den Weg.“ Er nickte, ging in sein Zimmer und schloss die Tür. Dann lehnte er sich an das Holz und schloss die Augen.

Es ging ihm gar nicht so sehr darum, dass er den Auftrag an sich verloren hatte; Porträts gehörten nicht zu seinen Lieblingsarbeiten und es war gut möglich, dass der Mensch, den er porträtiert hatte, mit dem Ergebnis nicht zufrieden war. Aber das Geld konnte er gut gebrauchen. Er hatte eine größere Summe ausgehandelt als normalerweise, weil der Viscount wollte, dass das Gemälde auf seinem Landsitz entstand und nicht in Simeons Londoner Atelier. Vielleicht weil er wusste, was seine Frau nachts trieb?

„Das arme Kind“, murmelte er. Wie sollte er denn „verfahren“, wenn ihm die Mittel fehlten? Er schüttelte verzweifelt den Kopf.

Der dann pochte, als ein Klopfen seinen Schädel erschütterte, weil er immer noch an der Tür lehnte.

Er zuckte vor dem Lärm zurück und starrte voller Entsetzen die Tür an. Hatte der Viscount seinem Personal befohlen, ihn zu verprügeln? Oder war Lady Allen selbst zurückgekehrt, entweder um ihm noch ein unmoralisches Angebot zu machen oder vielleicht um ihr Benehmen zu erklären?

Es klopfte noch einmal.

Er riss die Tür auf und machte sich auf alles gefasst, ganz gleich, wer da draußen vor ihm stehen mochte.

Er runzelte die Stirn, als er eine fremde Frau vor sich sah, deren Gesicht vor Aufregung zu glühen schien.

Nicht schon wieder, sagte eine Stimme in seinem Kopf, aber er nickte der Frau einfach nur zu. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bin davon überzeugt, Sir, dass wir einander helfen können“, sagte sie, schob sich an ihm vorbei und baute sich mitten in seinem Zimmer auf. „Sie sollten die vielleicht wieder schließen, ich möchte nicht, dass es einen zweiten Skandal gibt.“ Sie sagte das in einem sachlichen Tonfall, der keinen Widerspruch zu dulden schien.

Er schloss reflexhaft die Tür und schimpfte sich sogleich selbst einen Idioten. Aber die Frau sah nicht so aus, als würde sie es darauf anlegen, irgendjemanden zu verführen; sie trug ein Abendkleid, das inzwischen ein wenig mitgenommen wirkte, und es sah so aus, als hätte sie Tortenglasur an ihrem Spitzenausschnitt. Das Kleid war von bester Qualität, aus einem hellrosa Satin mit winzigen Ärmeln aus Spitze. Sie mochte Mitte zwanzig sein, zu alt, um die Tochter des Viscounts zu sein, und sie musterte ihn mit erwartungsvollem Blick.

Wer war sie?

„Ich bitte um Verzeihung, kennen wir uns?“, fragte Simeon.

Sie zog eine ihrer dunklen Augenbrauen hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Allerdings. Wir sind uns heute Abend erst vorgestellt worden. Ich bin Miss Myrtle Allen, Richards Schwester.“

„Oh“, sagte Simeon noch immer verwirrt, aber jetzt noch mehr auf der Hut als zuvor. „Hat Ihr Bruder Sie geschickt, um …“

„Nein“, sagte sie. Ihr Tonfall klang ungeduldig. „Versuchen Sie mitzukommen, wir haben nicht viel Zeit.“

„In Bezug auf was soll ich mitkommen?“, erwiderte er verwirrt. „Nicht viel Zeit wofür?“

„Wir können uns gegenseitig helfen“, wiederholte sie. „Wie ich schon vor der Tür gesagt habe – dieser dort“, sagte sie und zeigte auf den fraglichen Teil des Zimmers, „vor nicht einmal fünf Minuten.“

„Es tut mir leid, wenn ich Ihnen nicht folgen kann“, erwiderte Simeon, der das Gefühl hatte, er würde wie ein Boot auf stürmischer See umhergeworfen. „Könnten Sie mir noch einmal erläutern, wie Sie und ich einander helfen könnten?“

Sie sah ihn verärgert an und sagte dann: „Sie müssen von hier verschwinden. Ich würde gerne ebenfalls von hier verschwinden, allerdings aus Gründen, von denen ich nicht möchte, dass sie allgemein bekannt werden. Damit meine ich sowohl die Gründe als auch die Tatsache, dass ich überhaupt verschwunden bin. Beides darf nicht allgemein bekannt werden.“ Als ob das alles erklärte.

„Also möchten Sie, dass ich …?“, fragte Simeon, der das Gefühl hatte, er würde sich mit einem angeheiterten Wörterbuch unterhalten.

„Ja, ich möchte, dass Sie mich mit nach London nehmen. Wenn möglich sofort.“ Sie sah sich im Zimmer um. „Sie brauchen sicher nicht lange, um zu packen, Sie sind ja gerade erst angekommen.“

„Nein, Mylady“, sagte Simeon, der sich fragte, ob er zufällig in einem Irrenhaus gelandet war. Er hatte das Gefühl, dass alle hier eine Sprache sprechen würden, die er nicht verstand. Vielleicht war er der Verrückte. „Ich werde Sie nicht mit nach London nehmen.“ Und dann wurde ihm das ganze Ausmaß dieses Ansinnens bewusst und er wurde wütend. Es war ein sehr langer und anstrengender Abend gewesen. „Aber selbst wenn ich Sie mitnehmen sollte, nach allem, was heute Abend vorgefallen ist, würde Sie das unwiderruflich kompromittieren, mein guter Ruf wäre zerstört und ich würde nie wieder einen Auftrag bekommen.“ Er holte tief Luft. „Ich weiß nicht, was Sie dazu veranlasst hat, mir einen solchen Vorschlag zu machen, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich ein Gentleman bin, trotz allem, was vorhin vorgefallen ist.“

Und trotz meiner illegitimen Herkunft.

Simeon fand es gelinde gesagt verletzend, dass man ihn als geringer ansah, einfach nur weil seine Eltern nicht verheiratet gewesen waren. Oder einfach weil er nicht wusste, wer sie überhaupt gewesen waren. Wie konnte man ihm irgendetwas davon zum Vorwurf machen, wenn es im wahrsten Sinne des Wortes lange vor seiner Geburt passiert war? Neun Monate vorher, um genau zu sein.

Deswegen war er so fest entschlossen, dem Entscheidungskind zu helfen, dem Kind, für das er entscheiden musste, „wie er verfahren“ wollte. Simeon hatte eine einigermaßen glückliche Kindheit gehabt, aber die Folgen seiner Herkunft hatten ihm Grenzen gesetzt. Wenn er einem anderen Menschen das ersparen konnte – oder zumindest erleichtern konnte, indem er einen Batzen Geld zur Verfügung stellte –, würde er es tun.

„Ich weiß, dass Sie ein Gentleman sind“, sagte sie, noch immer in ungeduldigem Tonfall. „Jeder weiß, dass sich meine Schwägerin gerne nachts herumtreibt, vor allem nachdem sie ein paar Gläser Madeira zu viel getrunken hat. Ich bitte Sie nicht darum, weil ich es auf Sie abgesehen habe oder was auch immer.“ Das sagte sie in höhnischem Tonfall und er wäre beinahe zum Spiegel hinübergegangen, um sicherzugehen, dass er sich in der vergangenen Stunde nicht in einen Troll oder so etwas verwandelt hatte. „Ich muss irgendwie nach London gelangen und mir ist klar, dass ich mich nicht allein auf den Weg machen kann. Das heißt, ich könnte mich schon alleine auf den Weg machen, aber das wäre gefährlicher. Ich muss mich auf den Weg machen, ohne mich in Gefahr zu bringen. Außerdem müsste ich andernfalls zu Fuß gehen und dann würde man mich innerhalb von wenigen Stunden finden. Und Sie sind meine beste Chance.“ Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass diese beste Chance weit entfernt von dem war, was tatsächlich am besten gewesen wäre, aber das Beste, was sie im Augenblick tun konnte.

„Nein“, sagte er mit fester Stimme. „Versuchen Sie mitzukommen.“

Sie machte vor Staunen große Augen. „Oh! Ausgezeichnete Retourkutsche. Das hatte ich nicht von Ihnen erwartet.“

Warum war er stolz darauf, dass er sie mit seinem Witz beeindruck hatte?

Er streckte die Hand nach dem Türknauf aus und sagte: „Sie müssen verschwinden, bevor irgendjemand Sie hier sieht.“

Sie streckte die Arme aus und packte sein Handgelenk. Von Nahem sah er, dass sie ein hübsches Gesicht hatte; sie hatte lockiges, dunkelbraunes Haar, braune Augen, eine Stupsnase und volle Lippen, die aussahen, als würden sie jederzeit in Gelächter ausbrechen. Ihre Augenbrauen waren gerade, dunkle Linien. Sie gaben ihr ein ernsthaftes Aussehen.

Sie war deutlich kleiner als er und hatte üppige Kurven. Ihr Abendkleid war so geschnitten, dass es ihren hübschen Busen gut zur Geltung brachte.

„Starren Sie mich nicht so an“, blaffte sie ihn an und er schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen. „Meine Körperform ist zugegebenermaßen sehr üppig und ich habe ausgerechnet, dass sie es noch mehr werden wird, wenn ich so weitermache wie bisher.“

„Sie haben das ausgerechnet?“

„Ja“, sagte sie und er hörte, dass in ihrer Stimme eine Spur von Stolz mitschwang. „Ich bin Mathematikerin.“ Sie seufzte. „Eine Mathematikerin mit einer Vorliebe für Torte.“

„Wenn Sie nicht gerade fremde Gentlemen entführen“, sagte Simeon trocken. Sie hielt ihn immer noch am Handgelenk fest. „Jetzt müssen Sie aber wirklich verschwinden.“

Sie umfasste sein Handgelenk nur noch fester. „Wie viel?“

„Wie bitte?“

„Wie viel Geld verlangen Sie dafür, dass Sie mich mit an einen Ort nehmen, an den Sie ohnehin fahren werden? Ich weiß, dass Richard Ihnen gerade gesagt hat, dass Sie abreisen müssen, und ich weiß, dass er bereit war, Ihnen eine ordentliche Summe zu bezahlen – ich habe gehört, wie er sich letzte Woche darüber beklagt hat. Wie viel?“

Simeon öffnete den Mund, um sich zu weigern, um ihr zu sagen, dass es das Risiko für seinen guten Ruf und seinen zukünftigen Verdienst nicht wert war. Aber die Summe, die er für das Kind brauchte, für das Heim und für seinen eigenen Lebensunterhalt wurde zu einem riesigen Klotz aus Pfund und Pennys in seinem Kopf.

„Das Doppelte von dem, was Ihr Bruder mir gezahlt hätte“, sagte er also stattdessen.

Sie sah ihn durchdringend an. „Ausgezeichnet. Ich mache das Dreifache daraus. Ich habe die Risiken berechnet und ich möchte allen Hindernissen zuvorkommen.“ Ihre Miene erhellte sich. „Meine erste geschäftliche Verhandlung! Ein ausgezeichneter Anfang für mich“, sagte sie, eindeutig zu sich selbst.

Simeons Brust zog sich zusammen. „Alle Hindernisse“ bedeutete alles, was der ganzen Welt verraten konnte, was er und diese seltsam fröhliche Frau vorgehabt hatten – oder, genauer gesagt, der Welt, die bestimmte, wie er sein Leben zu leben hatte. Ein Leben, das ihm sehr gut gefiel, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, streunende Waisenkinder zu retten. Oder unerwartete Besucherinnen aus seinem Schlafzimmer zu vertreiben.

„Einverstanden“, sagte er.

Sie ließ ihn los. „Ausgezeichnet. Sie sind nicht so dumm, wie Sie aussehen.“

Er runzelte die Stirn. Er hätte sie gerne gefragt, wie dumm er aussah, aber ihm war bewusst, dass es darum gerade nicht ging. Auch wenn es ihn in seiner Eitelkeit verletzte.

„Wir treffen uns in einer Stunde bei den Stallungen. Ich gehe jetzt gleich hinunter und sage Bescheid, dass man Ihre Kutsche anspannen soll.“

Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern nickte ihm nur mit Nachdruck zu und ging hinaus. Die Tür zog sie hinter sich zu.

Simeon blieb mit dem Gefühl zurück, dass ihm gerade etwas begegnet war, mit dem er nicht umgehen konnte. Dieses Gefühl kannte er bis jetzt nicht.

Myrtle lächelte, als sie den Korridor hinab zu ihrem Zimmer ging. Sie war sehr gut darin, sich anzupassen, aber das hier war selbst für ihre Verhältnisse eine bemerkenswerte Entwicklung. Nachdem sie den Aufruhr mitbekommen hatte, den Regina verursacht hatte, und Richards Genörgel über Porträts und Honorare gehört hatte, war ihr klar geworden, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen konnte. Sie konnte sich ihre eigene Zukunft aufbauen.

Richard hatte schließlich gesagt Du musst einen Ehemann finden oder etwas unternehmen; sie entschied sich für „etwas unternehmen.“

Richard war sicher nicht davon ausgegangen, dass sie eine andere Wahl hatte, als „einen Ehemann finden“, aber genau darum ging es doch, oder nicht? Dass man nicht entscheiden konnte, wie die eigene Zukunft aussehen sollte.

Sie würde nach London fahren und ihre mathematischen Fähigkeiten dazu nutzen, Ladys in Geldangelegenheiten zu helfen, in der Hoffnung, dass sie ihnen damit auch zu mehr finanzieller Sicherheit verhalf. Der erste Schritt – sich auf den Weg nach London machen – war eindeutig der wichtigste und sie war unterwegs.

Sie würde etwas unternehmen, ohne „Ich will“ sagen zu müssen. Sie musste darüber lächeln, wie gut sich alles gefügt hatte, so erleichtert war sie, dass sie selbst unter den trostlosesten Umständen nicht die Zuversicht verlor.

Wenn sie erst ihre Geschäftstüchtigkeit unter Beweis gestellt hatte und sich die Unterstützung und das Vertrauen ihrer Klientinnen gesichert hatte, war Richard sicher nicht mehr so darauf versessen, sie zu einer Heirat zu drängen.

Wenn sie es schaffte, etwas zu unternehmen, das dafür sorgte, dass sie aus dem Haus verschwand, und womit sie mehr als nur ihren Lebensunterhalt verdienen konnte, gab es keinen Grund mehr, sie zu etwas zu drängen, das sie nicht tun wollte. Die Ehe stand dabei natürlich an vorderster Stelle, aber auch auszugehen und sich mit der vornehmen Gesellschaft befassen zu müssen – ihr war bewusst, dass sie manchmal ungeschickt war, auch wenn ihr das normalerweise nichts ausmachte.

Aber wenn sie um diesen Unsinn herumkam, verbesserte das ihr Leben sogar noch weiter. Mehr als Torte, mehr als hübsche Kleider und sogar mehr als die Mathematik.

Und vielleicht wurde dann auch mehr Wert darauf gelegt, was sie mit ihrem Geist anstellte, als was sie mit ihrem Besteck machte.

Ihre Überlegungen waren so streng logisch, dass ihr jetzt schon klar war, dass Richard niemals einverstanden sein würde. Deswegen musste sie eine unabhängige Entscheidung treffen. Eine von der sie wusste, einfach wusste, dass Richard später nichts mehr dagegen haben würde. Viel später.

„Guten Morgen, John“, sagte sie mit leiser Stimme zu dem schlafenden Stallknecht. Er schrak auf und sie klopfte ihm beruhigend auf die Schulter.

Er hatte sich Sorgen um eins von Richards Pferden gemacht, deshalb übernachtete er im Augenblick in den Stallungen, was sie genau gewusst hatte, als sie Mr. Jones ihren Fluchtplan dargelegt hatte.

„Guten Morgen, Mylady“, erwiderte er. „Kann ich was für Sie tun?“

„Ja und ich möchte, dass Sie alles für sich behalten.“

Er wurde blass im Gesicht. Der größte Teil des Personals hatte schon genügend von Myrtles Abenteuern miterlebt, um unruhig zu werden, wenn sie um Verschwiegenheit bat.

„Es ist wirklich keine große Sache“, sagte sie in unbekümmertem Tonfall. „Es gab nur einen Streit und einer der Gäste – Mr. Jones – muss so schnell wie möglich abreisen.“

Seine Miene erhellte sich. „Aye, davon hab ich gehört. Soll ich seine Kutsche anspannen?“ Er runzelte verwirrt die Stirn. „Warum kommt er dann nicht selbst?“

„Mein Bruder ist noch immer einigermaßen verärgert“, erklärte Myrtle, „deswegen hat er mich darum gebeten, mich darum zu kümmern. Er will später unauffällig verschwinden.“ Das war allerdings von vorne bis hinten gelogen.

„Verstehe. Selbstverständlich, Mylady. In einer Viertelstunde bin ich so weit.“ Er schwieg einen Moment. „Ich werde auch den Kutscher wecken. Er schläft in den Stallungen.“

„Vielen Dank, John“, erwiderte Myrtle und steckte ihm eine Münze zu. „Von Mr. Jones.“

„Richten Sie dem Gentleman bitte meinen Dank aus“, sagte John.

Myrtle nickte und eilte dann zurück in ihr Zimmer. Sie war froh, dass dieser Teil ihres Fluchtplans so gut funktioniert hatte.

Mr. Jones war die einzige Unbekannte in der ganzen Angelegenheit.

Natürlich zögerte Mr. Jones, ihr zu helfen, aber sie hatte seine Lage korrekt eingeschätzt und gewusst, dass er Geld brauchte. Sie wusste, dass er als Künstler einen guten Ruf hatte und dieser Auftrag unter seinem Können lag. Es musste also einen zwingenden Grund dafür geben, dass er ihn angenommen hatte. Als sie mit angehört hatte, wie Richard von den Honorarverhandlungen erzählt hatte, war ihr klar geworden, was Mr. Jones dazu bewogen hatte. Es war einfach, Mr. Jones so viel Geld zu bieten, dass er sich überreden ließ.

Und was für ein Gesicht. Myrtle interessierte sich normalerweise nicht besonders für die Gesichter von Menschen, wenn ihr Geist nicht ebenfalls interessant war, aber Mr. Jones’ Schönheit setzte diesen Grundsatz außer Kraft. Er war hochgewachsen, von elegantem Körperbau, hatte rabenschwarzes Haar, ein wunderschön modelliertes Gesicht und die Fähigkeit, sich den Anschein zu geben, er würde sich ausschließlich für den Menschen interessieren, mit dem er gerade sprach.

Es war niederschmetternd zu erfahren, dass er sich nicht daran erinnerte, dass er ihr früher am Abend vorgestellt worden war, aber das war sie gewohnt – attraktive Gentlemen interessierten sich nur dann für sie, wenn sie von ihrem attraktiven Vermögen erfuhren und glaubten, dass sie die Chance hätten, es sich zu sichern.

„Außerdem“, erklärte sie sich selbst, als sie ihr Schlafzimmer betrat, „macht es das alles hier viel weniger kompliziert. Er wird sich nicht für mich interessieren, weil ich für ihn nichts anderes bedeute als Geld, und ich werde mich nicht für ihn interessieren, weil er nicht meine Zukunft ist.“

Sie machte sich daran, ein paar Kleider in ihren Koffer zu stopfen, zog mit Bedauern ihr mit Kuchenglasur beschmiertes Abendkleid aus und etwas viel Schlichteres an. Normalerweise halft Lilahs Zofe ihr beim Umziehen, aber es war nicht allzu schwer, das Abendkleid auszuziehen, auch wenn dabei ein paar Knöpfe absprangen.

In London brauchte sie keine eleganten Kleider, weil sie nur zum Arbeiten dort war. Wenn Richard sie einholte – was er wahrscheinlich nicht sehr schnell zu Wege bringen würde, weil er das Haus voller Gäste und das verzweifelte Bedürfnis hatte, einen Skandal zu vermeiden –, würde sie sich bewiesen haben und konnte ihren eigenen Hausstand gründen.

Ihr eigener Hausstand. Unabhängigkeit.

Der Gedanke daran, die Chance darauf ließ sie ein wenig stolpern, als sie ihre Bücher einpackte: ein paar Bände von Cauchy, obwohl ihr Französisch nicht gut genug war, um sie zu lesen, Fibonaccis Liber Abbaci, Booles Mathematische Analyse der Logik und Peacocks Abhandlung über die Algebra. Dann nahm sie all ihr Geld – zum Glück hatte sie immer eine große Summe zur Verfügung, weil Richard ihr ein großzügiges Taschengeld gab. Sie würde mehr als genug haben, um nach London zu gelangen und mit der Arbeit zu beginnen.

Falls sie Erfolg hatte – wofür die Wahrscheinlichkeit siebenunddreißigeinhalb Prozent betrug, wie sie bereits berechnet hatte –, konnte sie über ihre eigene Zukunft entscheiden. Richard war nicht unvernünftig, er war nur verärgert. Irgendwann, wenn sie ihm bewiesen hatte, wozu sie fähig war, würde er ihr ihr Vermögen schon überlassen. Bis dahin war Lilah wahrscheinlich verheiratet.

Lilah.

Myrtle überlegte kurz, ob sie ihre Nichte wecken und sich verabschieden sollte, ob sie ihr erklären sollte, dass ihre Tante eine kluge, logische und gut durchdachte Entscheidung traf, indem sie sich auf den Weg nach London machte.

Auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Und Myrtle brachte es nicht über sich, zu lügen.

Aber in einem Monat oder so kam es nicht mehr darauf an, ob sie die Unwahrheit gesagt hatte. Sie würde ihr eigenes Schicksal entschieden haben und Richard würde aufhören, ihr auf die Nerven zu gehen, indem er von ihr verlangte, dass sie etwas tat, das sie nicht tun wollte. Sie würde etwas unternehmen und das würde sie gut machen. Sie musste einfach.

Lilah würde schon bald selbst nach London kommen – in ein paar Wochen fing die Saison wieder an, deswegen musste Myrtle unbedingt sofort nach London aufbrechen.

Wo Myrtle auf sich allein gestellt sein würde. Vielleicht für immer. War es eine einsame Zukunft, die sie sich ausmalte? Man konnte es so sehen, aber die Alternative – eine Ehe mit jemandem, der ihr geistig nicht einmal annähernd das Wasser reichen konnte – war noch viel, viel schlimmer. Allein bei dem Gedanken daran bekam sie das Gefühl zu ersticken.

Nachdem sie gepackt hatte, holte sie einen Umhang aus ihrem Kleiderschrank. Sie schlüpfte hinein und zog die Kapuze über den Kopf. Es war fünf Uhr morgens. In ungefähr einer halben Stunde würde das Personal aufstehen, also musste sie verschwinden. Hoffentlich hatte Mr. Jones begriffen, wie eilig sie es hatte, und wartete bei den Stallungen auf sie. Sie kritzelte schnell einen kurzen Brief, den sie unter eine Ecke des Spiegels auf ihrer Frisierkommode schob. Hoffentlich dauerte es ein paar Stunden, bis ihn jemand bemerkte.

Jetzt brauchte sie nichts weiter zu tun, als nach London zu fahren, ihr Unternehmen aufzuziehen und Klientinnen zu finden, sodass sie beweisen konnte, dass sie in der Lage war, sich ihren Lebensunterhalt zu erarbeiten.

Alles, bevor Richard kam, um sie zurückzuholen.

Wahrscheinlich war das hier das Aberwitzigste, was Simeon je getan hatte. Und darin war das Intermezzo mit einer Bäckerin, ihrer Backhelferin und drei Sandkuchen inbegriffen.

Er dachte doch nicht wirklich daran, es zu tun, oder?

Es war kaum zu leugnen, so eilig, wie er gepackt hatte, und so außer sich, wie er insgesamt war. Er musste ohnehin verschwinden; vielleicht würde sein Gastgeber nichts davon erfahren, dass sich Simeon mit der Schwester des besagten Gastgebers aus dem Staub gemacht hatte.

Allerdings war es ganz und gar kein Zufall, dass er und Miss Allen sich genau zur selben Zeit auf den Weg gemacht hatten.

Aber sie hatte ihm genügend Geld geboten, damit er sich überlegen konnte, wie er auf menschliche Art und Weise mit dem Entscheidungskind weitermachen wollte. Dieses Baby hatte eine Chance auf ein gutes Leben verdient, zumindest die realistische Chance, die man ihm nur mit Geld und fürsorglicher Unterstützung eröffnen konnte.

„Ich mache mich ja lächerlich“, murmelte er in sich hinein, während er seinen Koffer zuklappte. Er hatte nur wenig Gepäck dabei: seine Malsachen und ein paar Kleider zum Wechseln. Er beschäftigte keinen persönlichen Diener – konnte sich keinen leisten – und er hatte sich schon die Kutsche von seinem Freund Fenton geliehen. Er wollte nicht mehr Gefallen schuldig sein als ohnehin schon.

Fenton trieb sich in Paris herum, also stand die Kutsche nur in der Remise. Simeon hatte Fentons Kutscher ein gutes Trinkgeld gegeben, obwohl er genau wusste, dass Fenton seinem gesamten Personal gute Gehälter zahlte. Fenton war mathematisch begabt, genau wie Miss Allen, und hatte die Vorteile berechnet, sein Personal gut zu bezahlen oder es nicht zu tun. Es war einfach eine Frage des gesunden Menschenverstands, hatte er erklärt.

Jetzt konnte Fentons Kutscher weit früher als geplant in Fentons Haus in London zurückkehren. Simeon tat in Wirklichkeit allen einen Gefallen, wenn er früher zurückfuhr.

„Und das ist die verworrenste Begründung aller Zeiten“, sagte er, verärgert über sich selbst.

Aber es war nun einmal eine Tatsache, dass er verschwinden musste, und er konnte genauso gut eine Mitfahrerin mitnehmen. Wenn Miss Allen so unerschrocken war, dass sie mitten in der Nacht ins Schlafzimmer eines Fremden stürmte, konnte man unmöglich vorhersehen, wozu sie fähig war, wenn Simeon sich weigerte. Es war besser, sie im Auge zu behalten, zumindest, bis sie in London waren. Sie hatte bewiesen, wie furchtlos sie war, wenn nicht sogar naiv, und sie war bereit, sich zu unpassenden Zeiten mit irgendeinem Fremden zusammen auf den Weg zu machen. Dieser Fremde sollte dann wenigstens er sein und nicht jemand, der weniger ehrenhaft war.

Falls der Viscount ihn zur Rede stellte, konnte er ihm alles erklären. Möglicherweise.

Allerdings hatte er den starken Verdacht, dass der Viscount keine Erklärung akzeptieren würde, zu der nicht gehörte, dass man ihm Simeons Kopf auf einem Silbertablett servierte. Oder, schlimmer noch, dass er die Lady, die ein angeheitertes Wörterbuch war, heiraten musste.

Aber er steckte ohnehin schon in großen Schwierigkeiten mit dem Viscount und im weiteren Sinne auch mit dem Rest der vornehmen Gesellschaft, also konnte er wenigstens ein wenig Geld verdienen, indem er tat, was er ohnehin vorgehabt hatte.

Nachdem er diesen Beschluss gefasst hatte, nahm er seine Sachen und verließ sein Zimmer, dabei gab er sich Mühe, sich so leise wie möglich zu bewegen, als er sich auf den Weg nach unten machte. Noch war niemand auf, aber es würde wahrscheinlich nicht mehr lange dauern – das hier war ein Landsitz und der Tagesablauf von Familie und Gästen war der des Landlebens.

Er öffnete die Tür und stand Miss Allen direkt gegenüber. Ihre Miene erhellte sich, als sie ihn sah.

„Gut“, sagte sie und nickte ihm befriedigt zu, „ich hatte gehofft, dass ich Sie nicht am Kragen aus dem Haus zerren muss.“

„Am Kragen …?“, sagte Simeon ungläubig. Nicht weil sie es gesagt hatte – seine Bekanntschaft mit der Lady ging so weit, dass ihm klar war, dass ihn nichts überraschen durfte, was sie sagte –, sondern weil es schlichtweg unmöglich war, dass eine halbe Portion wie sie ihn irgendwohin zerrte.

Wenn er nicht gezerrt werden wollte.

Wo war diese Idee denn gerade hergekommen, fragte er sich.

„Die Kutsche ist da“, fuhr sie fort und zeigte dorthin, wo die Kutsche in der Tat stand.

Fentons Kutscher sah erfreut aus, also tat Simeon wenigstens einem einen Gefallen, auch wenn er wusste, dass er Miss Allen keinen Gefallen tat. Eine unverheiratete junge Dame, egal wie exzentrisch sie sein mochte, durfte nicht in einer geschlossenen Kutsche mit einem unverheirateten jungen Mann unterwegs sein, vor allem wenn der unverheiratete junge Mann illegitim geboren war, während sie aus dem Hochadel kam.

Aber sie hatte ihm ein Angebot gemacht und er war in Nöten gewesen und er musste diese Gelegenheit beim Schopf packen, wenn ihm seine andere Option – ein Porträt von der Viscountess zu malen – genommen wurde. Das Entscheidungskind brauchte Miss Allens Geld.

„Geben Sie mir das“, sagte sie und versuchte, die Aktentasche zu packen, in der sich seine Farben, Pinsel und die anderen Malutensilien befanden. Den Koffer mit seinen persönlichen Sachen hatte er in der anderen Hand.

Er packte die Tasche unwillkürlich fester und sah sie im Dämmerlicht des frühen Morgens finster an. „Ich schaffe das schon allein“, sagte er.

Sie verdrehte die Augen; offensichtlich kam er nicht mit.

„Das können Sie, aber ist es nicht einfacher, wenn Ihnen jemand hilft? Also wirklich, was ist denn aus dem gesunden Menschenverstand geworden?“

Er schnaubte, überließ ihr aber die Tasche, die sie neben einen Koffer stellte, der wahrscheinlich ihr gehörte, ehe er seinen Koffer zu dem übrigen Gepäck stellte.

Der Kutscher war von seinem Bock gesprungen und hielt ihnen die Tür auf. Miss Allen kletterte hinauf, ohne die Hand auch nur anzusehen, die Simeon ihr hinhielt, und setzte sich auf die eine Seite. Dann winkte sie ihm sofort. „Kommen Sie schon, wir müssen los!“

Simeon verkniff sich eine Antwort und stieg in die Kutsche, wo er sich neben Miss Allen setzte.

Der Kutscher schloss die Tür und die Kutsche schwankte, als er auf den Bock oben auf dem Gefährt zurückkehrte. Nur wenige Augenblicke später schwankte die Kutsche erneut, weil die Pferde anzogen.

Fentons Kutsche war nicht prächtig, aber bequem. Simeon hatte den ungewohnten Luxus einer eigenen Kutsche genossen, da er London so selten verließ und lieber zu Fuß ging, als eine Mietdroschke zu nehmen.

Und auf seinen Wegen traf er unweigerlich jemanden, der Hilfe gebrauchen konnte, sodass ihn das Zufußgehen manchmal letztlich teurer zu stehen kam, als es die Droschke gewesen wäre. Aber dafür gab er sein Geld am liebsten aus, deswegen fühlte er sich gut dabei.

Auch wenn es bedeutete, dass er wenig übrig hatte.

Die Polster von Fentons Kutsche hatten hellbraune Bezüge, während die Gardinen vor den beiden kleinen Fenstern ein Spiralmuster in dunklerem Braun hatten. Der Kutscher hatte Simeon stolz erzählt, dass es sehr gute Pferde waren, nicht so schnell wie Rennpferde, aber verlässlich und ausdauernd. Fenton hatte die Kutsche, die Pferde dazu und den Kutscher von einem Gentleman übernommen, der Pech mit seinen Investitionen gehabt hatte. Anstatt den Mann in den Ruin zu drängen, hatte Fenton einen Teil seines Besitzes übernommen und ihm damit erspart, dass er den Kutscher bezahlen musste. Gleichzeitig konnte der Mann so sein Gesicht wahren.

Miss Allen wedelte mit den Händen und kicherte erfreut. „Wir sind auf dem Weg! Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, was uns für Abenteuer bevorstehen!“, rief sie.

Simeon wandte langsam den Kopf, um sie anzusehen. „Was für Abenteuer erwarten Sie denn, Mylady?“, fragte er misstrauisch. „Ich bin nämlich nur bereit, Ihnen sicheres Geleit nach London zu geben. Ich lege keinen Wert auf Abenteuer.“

„Doch, natürlich tun Sie das“, erwiderte sie und stieß ihn ander Schulter an. „Alle Menschen mögen Abenteuer.“

Er fragte sich, warum ihm bei diesen Worten ein kalter Schauer über den Rücken lief.

3. KAPITEL

„Da wir gemeinsam reisen, zumindest in den nächsten Tagen …“, ergriff Myrtle das Wort, doch dann zuckte sie zurück. „Oje. Wir werden unterwegs eine Pause machen müssen, um uns auszuruhen, nicht wahr? Hmm. Ich frage mich, wie das wohl gehen soll.“

„Sie meinen“, sagte Mr. Jones in bissigem Tonfall, „wie wir ein Quartier für die Nacht finden sollen, ohne Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass wir zwei unverheiratete Personen sind, die ohne Begleitung zusammen auf Reisen sind?“ Er schwieg für einen Moment. „Ich dachte, dass Sie sich über die Einzelheiten Gedanken gemacht hätten, bevor Sie um vier Uhr morgens in mein Schlafzimmer gekommen sind. Es enttäuscht mich sehr, dass es nicht so ist.“

„Ich habe Sie falsch eingeschätzt, Mr. Jones“, erwiderte Myrtle fröhlich. „Sie sind ziemlich klug, das hat man bei sehr attraktiven Menschen nur selten. Normalerweise kann so jemand durchs Leben segeln und sich dabei einfach auf seine Attraktivität verlassen.“

Als Antwort auf dieses Kompliment vergrub er sein Gesicht in den Händen. Seltsam, aber man hatte ihr auch schon vorgeworfen, dass sie seltsam war, also konnte sie ihm daraus keinen Vorwurf machen.

„Ich habe festgestellt, dass die meisten Menschen mich auch nicht für klug halten“, fuhr sie fort. „Aber nicht weil ich attraktiv wäre, das möchte ich betonen. Vor allem wegen meines Vermögens.“

Er hob mit einem Ruck den Kopf. „Wollen Sie etwa behaupten, dass Sie nicht attraktiv sind? Sie sind sehr hübsch. Etwas Besonderes. Sie sind auf jeden Fall Sie selbst, und das ist eine gute Sache.“ Er wies mit einem Rucken seines Kinns auf sie. „Ich würde Sie als Artemis malen, die ihre Schiffe in die Schlacht führt, oder vielleicht als Grace O’Malley, die ihre Piratenbande anführt.“ 

Ihre Wangen wurden unerwartet heiß. Auch das war seltsam. „Vielen Dank“, sagte sie eilig, „aber darum geht es jetzt nicht.“ Sie musste ihn ein andermal nach diesen beiden Frauen fragen. „Die Leute glauben, dass ich nichts anderes im Kopf habe als Kleider und Torten und Hochzeiten.“ Sie schwieg einen Augenblick, dabei zog sie die Stirn kraus und dachte über ihre eigenen Worte nach. „Ich mag tatsächlich zwei von diesen drei Dingen, aber dass man an etwas Freude hat, das manche Leute für alberne Vergnügungen halten, bedeutet doch nicht, dass man nicht zu gründlichem Nachdenken in der Lage wäre.“

„Wollen Sie damit sagen, dass man niemanden nach seinem Äußeren beurteilen sollte, weil sich herausstellen könne, dass die betreffende Person tatsächlich klug ist?“, fragte er in trockenem Tonfall.

Sie drehte sich um und starrte ihn an. Sie war wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben sprachlos. „Du liebe Güte“, sagte sie, als sie ihre Worte wiedergefunden hatte, „ich bin genauso schlimm wie diese Leute! Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Mr. Jones.“

„Sie können ebenso gut Simeon zu mir sagen.“ Er hörte sich abgekämpft an, was nicht weiter überraschend war. Schließlich waren sie beide die ganze Nacht lang wach gewesen. „Wir werden so tun müssen, als ob wir ein Ehepaar wären“, fuhr er fort. Sie erschrak. „Sie können sich in keinem der Gasthäuser, an denen wir vorbeikommen werden, ein eigenes Zimmer nehmen.“ Er sagte das in einem Tonfall, als ob er sagen wollte, sie sollten so tun, als ob sie Süßigkeiten verabscheuen würden oder, schlimmer noch, als ob der Satz des Pythagoras reiner Unfug wäre.

„So tun, als ob wir … ein Ehepaar wären?“, quiekte sie. Dann runzelte sie verärgert über ihre eigene Reaktion die Stirn. „Wahrscheinlich wäre das wirklich das Beste“, fuhr sie fort, als ob sie umherflattern und so tun würde, als ob sie mit jedem Mann verheiratet wäre, mit dem sie Zeit verbrachte. Nicht dass es viele davon gegeben hätte; einige der Dienstboten und einige der siebenundzwanzig oder zweiunddreißig Freier und diese Treffen waren glücklicherweise immer nur kurz gewesen. „Ich vertraue Ihnen schließlich Leib und Leben an und Sie werden Ihr Geld nicht bekommen, wenn ich verletzt oder verwundet werde. Was beides dasselbe ist, verflucht“, sagte sie verärgert. „Die Nacht im selben Zimmer zu verbringen, hört sich sicherer an als getrennt.“

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