Julia Ärzte zum Verlieben Band 203

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ZWEITE CHANCE AM STRAND DER SEHNSUCHT? von SUE MACKAY

Leighton ist der Trauzeuge? Fassungslos sieht Alyssa ihren Ex bei der Hochzeit von Freunden wieder. Ihre Ehe mit dem attraktiven Inselarzt zerbrach so schnell, wie sie begonnen hatte. Alyssa hat nie verstanden, warum. Wird sie es jetzt herausfinden – und einen Neuanfang wagen?

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  • Erscheinungstag 03.05.2025
  • Bandnummer 203
  • ISBN / Artikelnummer 9783751533485
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sue MacKay, Juliette Hyland, Annie Claydon

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 203

Sue MacKay

1. KAPITEL

„Alyssa Cook, bitte kommen Sie zum Check-in-Schalter“, ertönte es über die Lautsprecher am Flughafen von Nelson.

Alyssa eilte durch die Halle. Hoffentlich bedeutete das, dass ihr Flug nach Rarotonga geregelt war. Durch die Verspätung hier verpasste sie ihren Anschlussflug in Auckland, aber mit etwas Glück gab es auf dem nächsten Flug einen freien Platz für sie.

„Hi, ich bin Alyssa.“

Die Frau hinter dem Schalter wirkte gestresst. Kein Wunder. Die Fluglinie musste viele verärgerte Passieren besänftigen, weil ein Pilot für den Flug nach Auckland nicht zur Arbeit erschienen war und der Ersatz auf sich warten ließ.

„Gut. Sie wissen sicherlich schon, dass Sie Ihren Anschlussflug von Auckland nicht erreichen werden, aber wir haben Sie auf den Flug später am Nachmittag gebucht. Leider werden Sie Raro nicht vor zehn Uhr abends Ortszeit erreichen.“

Aber wenigstens konnte sie heute noch fliegen. „Danke, dass Sie das für mich geklärt haben. Ich weiß es zu schätzen.“

Die Frau am Schalter lächelte leicht. „Danke, dass Sie mir nicht den Kopf abgerissen haben.“

„Es ist doch nicht Ihre Schuld, dass das passiert ist.“

So verpasste sie leider die Party mit den Mädels an diesem Abend. Aber zum Glück waren es noch einige Tage bis zu der Hochzeit, zu der sie alle wollten.

Nach der Landung in Auckland suchte sich Alyssa ein Café und frühstückte, bevor sie durch die Duty-free-Läden bummelte. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen. Als sie sehr viel später auf die beleuchtete Rollbahn des Flughafens von Rarotonga schaute, seufzte sie erleichtert. Endlich. Jetzt konnte der Spaß wirklich losgehen.

Aber zuerst eine heiße Dusche und ein kalter Drink am Pool des Resorts, in dem sie mit den anderen wohnte. Der erste Urlaub seit einer gefühlten Ewigkeit, und erschöpft ins Bett zu fallen, war nicht der beste Beginn für die Pause von der anstrengenden Arbeit als Oberschwester der Kardiologie. Ein Arzt und eine Schwester von ihrer Station, mit denen sie befreundet war, wollten hier am Strand heiraten, was versprach, atemberaubend und spaßig zu werden. Und sie war zwei ganze Wochen hier. Vierzehn Tage, in denen sie sich nur entspannen und amüsieren musste. In letzter Zeit Fremdwörter für sie.

Die Schlange der Urlauber wand sich durch das kleine Terminal, aber niemand schien es eilig zu haben. Ein älterer Mann saß auf einem erhöhten Podest, spielte Banjo und hieß die Ankömmlinge mit seiner tiefen, rauen Singstimme auf den Cookinseln willkommen.

Perfekt, dachte Alyssa. Ein Blick auf ihr Handy zeigte ihr ein Foto des glücklichen Paares, Collette und Jamie, am Strand vor dem Resort.

Kurz beneidete Alyssa sie. Ihre eigene Hochzeit nach einer stürmischen Romanze hatte in einem Standesamt stattgefunden, mit zwei weiteren Paaren und den Eltern ihres zukünftigen Ehemannes als Zeugen, gefolgt von einem Essen in einem Restaurant. Trotz der finsteren Blicke ihrer Schwiegereltern war sie unglaublich glücklich gewesen. Ihre Kollegen dagegen hatten Familie und Freunde zu einer Feier an diesem idyllischen Ort eingeladen. Sie wünschte ihnen das Beste und eine glücklichere, länger dauernde Ehe als ihre eigene. Doch im Gegensatz zu ihr heirateten Jamie und Collette nicht überstürzt, sondern hatten sich Zeit genommen, sich richtig kennenzulernen. Sie dagegen war innerhalb eines Jahres bereits wieder geschieden.

„Nächster“, rief die Beamtin an der Passkontrolle.

Alyssa trat vor.

„Willkommen in Rarotonga“, sagte die Frau, als sie Alyssas Reisepass abstempelte.

„Vielen Dank.“

Ihr Rücken zwickte, als sie ihren Koffer vom Rollband nahm. Ein langer Spaziergang würde da helfen, aber heute Abend nicht mehr stattfinden, da sie die Gegend nicht kannte. Eine Frau in einem blau-weißen Blumenkleid hieß im Ankunftsbereich Passagiere willkommen. „Wo finde ich die Autovermietung?“, wandte sich Alyssa an sie. Weil sie unabhängig sein wollte, hatte sie ein Auto für sich und ihre Freunde gemietet, obwohl jede halbe Stunde Busse fuhren und nur eine Stunde brauchten, um die Insel zu umrunden.

„Das hängt davon ab, zu welcher sie wollen. Eine ist offen, die andere hat geschlossen, nachdem der letzte Flug gestartet ist.“

Als Alyssa den Namen der Vermietung nannte, verzog die Frau das Gesicht. „Entschuldigung, das ist die, die zu hat. Da werden Sie morgen früh wiederkommen müssen. Möchten Sie, dass ich Ihnen ein Taxi rufe?“

„Das ist ein Witz, oder?“

„Leider nicht. Die junge Frau, die dort arbeitet, musste nach Hause, um sich um ihr Kind zu kümmern, da der Vater zum Fischen rausfahren musste.“ Die Frau lächelte. „So ist das hier.“

Alyssa holte tief Luft und zählte bis zehn. Sich aufzuregen brachte nichts. „In Ordnung. Wo fahren die Taxis?“

„Kommen Sie mit. Heben Sie die Quittung vom Fahrer auf, dann bekommen Sie das Fahrtgeld ersetzt, wenn Sie Ihren Mietwagen abholen.“

In kürzester Zeit saß sie auf dem Rücksitz eines viel genutzten Autos auf dem Weg zum Resort. Umso mehr freute sie sich auf ihr Zimmer und ein Glas Champagner aus der Flasche, die zum Unterbringungspaket gehörte.

„Miss Cook, willkommen im Seaview Resort. Ich bin Pepe.“ Der junge Mann hinter dem Empfangstisch lächelte. „Sie kommen sehr spät.“

„Ja, mein Flug von Nelson war verspätet, dadurch habe ich meinen Anschlussflug in Auckland verpasst und musste zehn Stunden auf den nächsten Flug warten. Sie glauben nicht, wie ich mich auf mein Zimmer freue. Ich hatte Ihnen per E-Mail Bescheid gegeben.“

„Ja, die haben wir bekommen, danke. Aber leider gab es ein Problem mit Ihrer Buchung.“

Nein, bitte nicht. Nicht heute.

Alyssa zog ihr Handy aus ihrer Handtasche und tippte auf den Bildschirm. „Das kann nicht sein. Ich habe eine Kopie der Bestätigung hier.“ Sie schob das Handy über den Tisch. „Sehen Sie?“

„Ich weiß, dass Sie eine Buchung haben, aber Sie sind spät gekommen, und das Paar, das vorher Ihr Zimmer bewohnt hat, muss eine weitere Nacht bleiben, weil sein Flug nach Australien wegen schlechtem Wetter in Brisbane gestrichen wurde.“

Natürlich. Es hätte sie auch überrascht, wenn es anders gewesen wäre. „Ich habe also kein Zimmer? Wollen Sie mir das damit sagen?“ Erst kein Auto, jetzt kein Zimmer. Was noch?

„Bitte, wir haben Vorkehrungen für Sie getroffen.“

Langsam ging ihre Geduld zu Ende. „Hoffentlich sind sie gut.“

Der junge Mann lächelte breit. „Sie sind sehr gut, Miss Cook. Wir haben Bungalows neben dem Hauptgebäude, und Sie bekommen einen davon. So sind Sie nah am Pool, ohne dass Ihnen alle ins Zimmer schauen können. Ihr Frühstück geht aufs Haus, und Sie haben den Bungalow für die erste Woche, die Sie bei uns wohnen.“

Nach ihrer Recherche wusste Alyssa, dass die Bungalows wunderbar waren, und sie hätte gern einen gebucht, doch weil sie jeden Dollar sparte, um ein Haus kaufen zu können, hatte sie darauf verzichtet. Der einzige Nachteil des Bungalows war, dass sie nicht mit allen anderen auf der ersten Etage war, aber das war kaum ein Problem. Ein Bungalow, gerne doch! „Vielen Dank.“

„Es freut mich, dass Sie zufrieden sind. Die Reinigungskräfte bereiten den Bungalow noch vor, da die letzten Bewohner erst vor zwei Stunden ausgecheckt haben. Der Concierge bringt Ihre Taschen jetzt rüber, aber Sie werden noch etwas an der Bar warten müssen.“

Wie lange konnte es dauern, ein Zimmer zu reinigen? Aber das war Rarotonga, und sie hatte gehört, dass hier alles nach Inselzeit lief. „Verkaufen Sie Champagner glasweise?“, fragte sie, denn sie brauchte jetzt dringend ein Glas.

„An der Bar. Ich gebe Bescheid, dass sie Ihnen ein Glas einschenken. Aufs Haus.“ Pepe grinste.

Alyssa lachte auf. Sie war hier, auf den Inseln, im Urlaub. Ab jetzt würde alles gut werden.

Die Bar war kaum zwanzig Schritte entfernt. Doch als sie sich an die Theke lehnte und auf ihren Drink wartete, erreichte sie ein vertrauter Klang von früher. Sie wirbelte herum und starrte auf die Erscheinung, die neben Jamie, dem Bräutigam, auf einer Liege saß.

Leighton?

Das konnte nicht sein. Leighton konnte nicht hier sein. Nicht nach all der Zeit. Sie war nicht darauf vorbereitet, ihren Exmann zu sehen. Wollte ihn nicht sehen.

Hastig drehte sie dem Doppelgänger den Rücken zu, griff nach dem Glas, das vor sie auf die Theke gestellt wurde, und trank einen großen Schluck, bevor sie darauf deutete und zu dem jungen Mann sagte: „Noch eins bitte.“

Warte nicht, bis ich das hier ausgetrunken habe.

Nach dem nächsten Schluck war das Glas beinahe leer. Sie war im Urlaub, okay?

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie musste es wissen. Musste sichergehen, dass sie sich geirrt hatte und Leighton nicht wenige Meter entfernt saß.

„Hallo Lyssa. Lange nicht gesehen.“

Nur einer hatte sie jemals so genannt. Und die Stimme war so vertraut, dass sich die Härchen auf ihren nackten Armen aufstellten. Ihr drehte sich der Kopf, und sie umklammerte die Theke. Leighton war echt.

Leighton Harris hielt den Atem an, um sein rasendes Herz zu beruhigen. Lyssa war auf der Insel. Nachdem er sie vier Jahre nicht gesehen hatte, war sie hier und sah sogar noch atemberaubender aus als in seiner Erinnerung. Sie musste jetzt siebenundzwanzig sein. Natürlich sah sie schöner aus. Ihr Gesicht wirkte erwachsener, diese Augen, die ihn lange heimgesucht hatten, wirkten grüner und intensiver. Und ihr Mund – sinnlich wie immer. Mehr noch. Beweis dafür war das Kribbeln in seinen Händen, wo diese Lippen ihn oft zärtlich berührt hatten.

„Sehr lange“, erwiderte Alyssa. Ungläubig starrte sie ihn an. Dann blinzelte sie und trat auf ihn zu.

Automatisch hob er die Arme, um sie zu umarmen, und bereute es sofort, als der Geruch von Zitrone und Erschöpfung ihn erreichte. So verdammt vertraut, dass es wehtat. Das sollte es nicht. Er war lange über sie hinweg. Also warum sie umarmen? Weil sein Körper ohne Zutun seines Hirns reagierte. Manche Dinge änderten sich nicht. Er ließ die Arme sinken, ohne sie zu berühren, und trat zurück. Das war anders. „Bist du für etwas Spezielles hier oder machst du Urlaub?“

Alyssa schaute sich im Raum um, bevor ihr Blick wieder auf ihm landete. „Ich bin wegen Collettes und Jamies Hochzeit hier. Ich habe gesehen, dass du bei Jamie und einigen meiner Kollegen sitzt. Habt ihr euch gerade getroffen oder kennst du jemanden aus der Gruppe von zu Hause?“

„Nur Jamie.“

Mein Halbbruder, von dem du nichts wusstest. Der Hauptgrund, warum ich mich von dir zurückgezogen habe und nicht mehr der Mann war, den du geheiratet hast.

Wie es aussah, kam die Wahrheit immer ans Licht. Aber nicht jetzt. Jamie wusste auch nicht, dass Lyssa seine Exfrau war, weil er nie von ihr gesprochen hatte. Sie zu verlieren, war einfach zu schmerzhaft gewesen. Er hatte sie über alles geliebt und dann gewaltig enttäuscht.

Hey, Lyssa hat dich auch enttäuscht, indem sie ihre Sachen gepackt hat und gegangen ist, ohne zu versuchen herauszufinden, was mit dir los war.

„Wenn du mit diesen Leuten arbeitest, lebst du wohl in Nelson.“ Er hatte nicht versucht, etwas über sie zu erfahren. Nach dem Scheitern ihrer Ehe gab es keinen Grund dafür. Sie hatten sich in die Ehe gestürzt und diese genauso schnell wieder beendet.

Lyssa hatte ihn geliebt. Trotzdem war sie gegangen und hatte ihm dabei das Herz gebrochen.

Dann noch der Bruder, den seine Eltern ihm verschwiegen hatten, und sein Leben war komplett auf den Kopf gestellt worden. Plötzlich war er verunsichert gewesen, wer er war und was er mit seiner Zukunft anstellen sollte. Als hätte er sein gesamtes Leben eine Lüge gelebt und brauchte Alyssa, die ihn bedingungslos liebte.

Aber unangenehme Wahrheiten und schmerzhafte Gefühle hatte er nicht teilen wollen. Er war der Starke in ihrer Beziehung gewesen, hatte Lyssa unterstützt, wenn sie aufgrund ihrer Familiengeschichte unsicher war, da sollte sie nicht denken, dass er doch nicht so tough war. Also hatte er sich hinter seiner Arbeit versteckt, sie als Ausrede genutzt, warum er nicht bei ihr zu Hause war, wie er es hätte sein sollen. Hätte er diese Angst nur überwunden und mit ihr gesprochen, wäre es vielleicht anders ausgegangen. Als er ihren Geburtstag vergessen hatte, war für sie das Maß voll gewesen, und sie hatte ihre Taschen gepackt und ihm dabei vorgeworfen, dass er egoistisch war und sie ihm egal wäre.

Dabei war das Gegenteil der Fall. Aber er hatte seine Frau und ihre Ehe aus dem Blick verloren, während er über seine Familie grübelte und darüber, was sie ihm und Jamie angetan hatte. Trotzdem war die Trennung schmerzhaft gewesen. Er hatte ihre Unterstützung gebraucht, obwohl er ihr so viel verschwiegen hatte. Er seufzte. Leider konnte man die Vergangenheit nicht ändern.

„Ich bin Oberschwester der Kardiologie des Hauptkrankenhauses“, sprudelte es stolz aus ihr heraus. Sie war immer ehrgeizig gewesen, wollte die Beste in dem sein, was sie tat. Er schaute genauer hin. Sie wirkte deutlich selbstbewusster als die Frau, die er geheiratet hatte. Der gequälte Ausdruck in ihren Augen war verschwunden, ihre Schultern waren gestrafft, ihr Rücken gerade. Interessant.

„Hier ist Ihr Drink, Miss Cook.“ Pepe hielt ein Glas Champagner in der Hand.

Leighton zuckte zusammen. Miss Cook. Sie hatte seinen Nachnamen abgelegt. Das sollte nicht schmerzen, aber aus unerfindlichen Gründen tat es das doch. Darüber würde er später nachdenken. Er musste ihr von Jamie erzählen, denn irgendwann in den nächsten Tagen würde jemand erwähnen, dass sie Brüder waren. Es war Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen. Aber er würde ihr nicht alle Details verraten, nur das Nötigste.

„Danke, Pepe.“ Mit zitternder Hand nahm Lyssa das Glas. Als sie sich wieder Leighton zuwandte, runzelte sie die Stirn. „Also bist du für Jamies Hochzeit hier?“

„Ich werde bei der Hochzeit sein, ja.“ Er verschwieg, dass er der Trauzeuge war, falls sie bereits wusste, dass das die Rolle von Jamies Bruder war. Da fiel ihm etwas ein, das Jamie gesagt hatte: „Es kommt eine Schwester ohne Begleitung zur Hochzeit. Ihr zwei werdet euch prächtig verstehen. Sie ist genau dein Typ.“

Toll. Frustriert knirschte er mit den Zähnen. Das musste diese Schwester sein, seine Exfrau. Er wusste es einfach. Er musste schnell mit Jamie sprechen und gleich morgen früh mit Lyssa. Damit schob er das Unvermeidliche nur auf, aber es war spät, und sie sah erschöpft aus. Empathie war nicht ihre Stärke, wenn sie übermüdet war. Zumindest war das früher so gewesen. Aber sie hatte sich verändert, und er wusste nicht mehr, wer sie war. Sie beide waren erwachsen geworden, nachdem sie ziemlich jung geheiratet hatten.

„Alyssa, du hast es geschafft.“ Jamie gesellte sich zu ihnen.

„Es war ein höllischer Tag, aber ich bin hier, und alles ist gut.“ Kurz umarmte sie seinen Bruder. „Wo sind die Mädels?“

„Collette ist schlafen gegangen. Sie meinte, sie braucht ihren Schönheitsschlaf, damit sie für die Hochzeit gut aussieht, obwohl ich nicht weiß, warum sie denkt, dass sie nur dann wunderschön ist. Einige der anderen sind mit dem Partybus unterwegs. Sie können nicht weit sein.“ Grinsend schaute Jamie ihn an.

Leighton schüttelte den Kopf. Das würde nicht passieren. „Hast du kurz Zeit, bevor ich nach Hause gehe?“

Jamie runzelte die Stirn. „Ich schätze schon. Alyssa, wenn du bei deinem Drink Gesellschaft möchtest, komme ich zu dir, nachdem ich mir angehört habe, was Leighton auf dem Herzen hat.“

Wenigstens hat er nicht „mein Bruder“ gesagt, dachte Leighton erleichtert.

„Nach Hause?“, fragte Alyssa. Sie war schnell. Und wieder war das keine Überraschung.

„Ich bin bei den anderen.“ Jamie trat zurück.

Leighton war nicht sicher, ob er sich freuen sollte oder nicht. „Ich bin seit fünf Monaten hier Vertretungsarzt in einer der Hausarztpraxen.“ Sie würde nicht wissen, dass er die Klinik verlassen hatte, in der er gearbeitet hatte, als sie noch zusammen gewesen waren, und als Vertretungsarzt in Hausarztpraxen überall in Neuseeland arbeitete. Es gab vieles, was sie nicht wusste und zweifellos auch nicht wissen wollen würde. Für sie bedeutete vorbei genau das. Für ihn auch, obwohl es ihm an manchen Tagen schwerfiel. Wenn er nicht versuchte, es zu leugnen, hatte er sie schrecklich vermisst. Und jetzt holte ihn die Vergangenheit ein.

Überrascht riss Alyssa die Augen auf. „Du bist nicht mehr Partner in der Remuera-Klinik?“

„Nein, ich arbeite überall und genieße es.“

„Gut für dich.“ Entwaffnend lächelte sie ihn an.

Ein Bruchteil seiner Anspannung ließ nach. „Es war eine gute Entscheidung.“ So musste er sich nicht zu sehr auf Leute einlassen und später herausfinden, dass er sie falsch eingeschätzt hatte.

Lautes Lachen und Musik übertönten ihre Antwort.

„Das ist der Partybus“, erklärte er. Der zurückkehrende Rest der Hochzeitsgesellschaft lieferte ihm den nötigen Vorwand, um zu flüchten. Er war nicht mehr in der Stimmung, herumzusitzen und Small Talk zu machen. Er würde nur ständig darauf hören, was Lyssa sagte. Alyssa, nicht Lyssa. Das war Vergangenheit, genau wie alles andere.

Nur waren sie noch verheiratet, da keiner von ihnen die Scheidung eingereicht hatte. Ihn hielt ein Funken Hoffnung für die Zukunft davon ab, den endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Warum Lyssa nichts unternommen hatte, war ihm schleierhaft. Bestimmt war sie nur beschäftigt gewesen, auf keinen Fall wartete sie darauf, dass sie wieder zusammenkamen. Hoffnung wuchs und verpuffte. Was dachte er da? Ihre Beziehung war vorbei. Fertig. Aber … sie war wunderschön und brachte glückliche Erinnerungen zurück. Davon gab es viele, genauso wie weniger glückliche.

„Eigentlich sollte ich mit den anderen in diesem Bus sitzen“, sagte sie bedauernd. „Egal. Wir können jetzt feiern.“ Dann gähnte sie und verzog das Gesicht. „Vielleicht doch nicht. Es war ein heftiger Tag. Mit einer Doppelschicht davor.“

Der Drang, sie in die Arme zu nehmen, war so stark, dass er herumwirbelte und zu dem Tisch, an dem Jamie saß, zurückeilte. Er würde sie nicht berühren. Keine Umarmungen. Keine müßige Plauderei. Nichts. Sie war nicht geblieben, um ihn zu unterstützen, als er sie gebraucht hatte. Und jetzt wollte er sie umarmen? Sei realistisch, Mann. Sie hätte ihn gut genug kennen sollen, um zu verstehen, dass etwas nicht stimmte und dass er sie brauchte. Er hatte sie geliebt, aber hatte er sie wirklich gekannt? Wenn sie es noch einmal miteinander versuchen würden, verlor er den Verstand. Sie würde ihn nur wieder im Stich lassen, und mit dem Schmerz könnte er kein zweites Mal umgehen.

Sein Magen verkrampfte sich. So viel dazu, dass er über sie hinweg war. Natürlich war er das. Es war nur der Schock, sie hier zu sehen. Seltsam, wie er noch immer diese sofortige Anziehung zu ihr spürte. Sie hatte ihm in dem Moment das Herz gestohlen, als er ihr vor fünfeinhalb Jahren zum ersten Mal begegnet war. Mit anderen Lernschwestern hatte sie in der Cafeteria gelacht und sich unterhalten, als hätte sie keine Sorgen. Was nicht stimmte, wie er herausgefunden hatte, als sie sich kennenlernten. Nach dem Tod ihrer Mutter plagten sie viele Unsicherheiten. Sie hatten nie viel Geld gehabt, und Lyssa hatte während ihrer Ausbildung finanziell kämpfen müssen. Natürlich hatte er ihr ausgeholfen, als sie ein Paar wurden.

Vergisst du nicht etwas?

Er vergaß, dass sie zuerst versucht hatte herauszufinden, was sein Problem war, und ihn zu unterstützen, aber er hatte seinen Schmerz nicht teilen wollen, sie nicht an sich herangelassen. Er hatte damit gekämpft, was er über seinen Vater erfahren hatte, und ihr gegenüber geschwiegen. Stattdessen hätte er ihr anvertrauen sollen, dass seine Eltern nicht die Menschen waren, für die er sie gehalten hatte. Dass sein Vater ein richtiger Mistkerl war.

Plötzlich schmeckte das Bier bitter. Er hatte sie von ganzem Herzen geliebt und trotzdem auf Abstand gehalten.

„Also kennst du Alyssa bereits?“, fragte Jamie, als er zu ihm kam.

„Sie ist meine Exfrau.“

Sein Bruder starrte ihn an. „Verdammt. Ich wusste, dass du verheiratet warst, als wir uns getroffen haben, aber da ich kurz danach wieder nach Großbritannien zurück bin, habe ich deine Frau nie kennengelernt. Und du hast auch nie von ihr erzählt.“ Jetzt wirkte er nachdenklich. „Ich wünschte, ich hätte es gewusst.“

„Was spielt es für eine Rolle?“ Es fiel ihnen noch immer schwer, miteinander darüber zu sprechen, was in ihren Leben passiert war, bevor sie von der Existenz des anderen erfahren hatten. Von seinem Familienleben zu erzählen, obwohl Jamie nicht die Chance gehabt hatte, seinen Vater kennenzulernen, war schwer, weil er selbst so glücklich aufgewachsen war. Genauso schwer war es, über Alyssa zu sprechen.

Jamie schlug die Beine übereinander, nahm sein leeres Glas. „Leider könnt ihr euch bei den verschiedenen Veranstaltungen vor der Hochzeit nicht aus dem Weg gehen. Und wir haben nicht so viele Gäste, dass du dich unter ihnen verstecken könntest.“

„Mach dir keine Sorgen, wir kommen klar. Wir sind erwachsen.“

„Und ich dachte, ihr würdet euch gut verstehen, aber damit bin ich wohl ein paar Jahre zu spät.“ Jamie schüttelte den Kopf.

„Ironie des Schicksals, was?“, erwiderte er traurig. Alyssa nur zu sehen, brachte so viele Erinnerungen zurück, und bis auf die letzten Monate waren sie gut. Mehr als gut. Alyssa war wunderbar gewesen. Sexy und fürsorglich. Anteilnehmend und lustig. „Ich sehe dich morgen“, verabschiedete er sich dann. „Ich muss ins Bett.“ Vor allem brauchte er frische Luft und Ruhe, um darüber nachzudenken, was Lyssas Auftauchen bedeutete. „Ich muss früh raus.“

Früh bedeutete auf den Cookinseln irgendwann nach einem späten Frühstück, obwohl er meist um acht in der Praxis war. Hauptsächlich, weil er nichts anderes zu tun hatte und niemanden, mit dem er etwas unternehmen konnte. Bestimmt fragte sich Alyssa, warum er aus der Klinik ausgeschieden war, nachdem er sich ein Bein ausgerissen hatte, um dort Partner zu werden.

„Wir treffen uns um elf am Kai“, erinnerte ihn Jamie.

Der Angelausflug würde lustig werden. Seit er hier war, war er einmal zum Angeln draußen gewesen und hatte es sehr genossen. Es war toll, dass einer der anderen Ärzte den Großteil dieser Woche für ihn einsprang, damit er Zeit mit Jamie verbringen konnte. Es war perfekt gewesen, und dann war Lyssa aufgetaucht. Jetzt war er verletzt, obwohl es keinen Grund dazu gab. So viel dazu, dass er über sie hinweg war. Dabei war er das doch, oder? Noch mal würde er diesen Schmerz nicht ertragen.

„Dann sehe ich dich bei der Hochzeit“, sagte Lyssa, als er an ihr vorbeiging.

Ihm drehte sich der Kopf. Sie hatte keine ja Ahnung. „Ich denke schon.“ Die nächsten Tage konnte er ihr nicht entkommen. Morgen fuhren die Frauen in einem Glasbodenboot zum Riff raus, während die Männer angelten. Danach gab es im Resort ein Barbecue für alle, bei dem der Koch alle Fische zubereitete, die die Männer hoffentlich gefangen hatten.

„Leighton.“ Sie war ihm gefolgt.

Er blieb stehen, musste wissen, was sie sagen wollte, während er gleichzeitig wünschte, sie wäre nicht hier. Nach all der Zeit machte ihm nach wie vor die Angst vor Zurückweisung zu schaffen.

„Du siehst gut aus. Ich freue mich, dass du mit deiner Entscheidung, die Klinik zu verlassen und hier zu arbeiten, glücklich bist.“ Dann ging sie und ließ ihn überrascht zurück. Was er überhaupt nicht gebrauchen konnte.

Trotzdem konnte er den Blick nicht von ihr wenden, als sie die Bar verließ, erhobenen Hauptes, die Schultern gestrafft, und der kecke Po so kurvig wie früher, dass sein Körper sich anspannte. Dann war sie weg, und er konnte endlich aufatmen. Alyssa war in seine Welt zurückgekehrt. Das neue Selbstvertrauen stand ihr gut, und er wollte herausfinden, wer sie geworden war.

Ein Mann trat vor ihn. „Dr. Leighton, können Sie mitkommen? Eine Lady ist aus dem Bus gefallen und blutet.“

„Sicher, Amiri.“ Nichts ging über ein bisschen Medizin, um sich abzulenken. „Ist die Frau Gast im Resort?“ Hoffentlich niemand von der Hochzeitsgesellschaft. Zum Glück war Collette an diesem Abend hiergeblieben.

„Nein, ist sie nicht“, antwortete Amiri, als sie nach draußen gingen. „Hier ist der Arzt. Lassen Sie ihn durch.“

Als Leighton die Frau erreichte, die auf dem Asphalt lag, zuckte er zusammen. Alyssa war schon da, kniete sich bereits hin und nahm Taschentücher von jemandem, um sie auf eine blutende Kopfverletzung zu pressen. „Wie schlimm ist es?“

Obwohl Alyssa überrascht die Augen aufriss, antwortete sie schlicht: „Der Knochen ist zu sehen.“

Er hockte sich hin und tippte der Frau auf die Schulter. „Hallo, ich bin Arzt, mein Name ist Leighton. Können Sie mir sagen, was passiert ist?“

„Ich wurde von der Stufe geschubst, weil jemand wieder einsteigen wollte, der am falschen Hotel ausgestiegen war.“

„Wie heißen Sie?“, fragte Alyssa.

„Michelle.“ Die Frau blinzelte, wirkte verwirrt.

Ein Mann hockte sich neben sie. „Sie heißt Michelle Hopkins. Wir wohnen im Familienresort in der Nähe des Flughafens. Sie ist meine Schwester“, ergänzte er leise. „Ich bin Andrew.“

Wenn sie mit dem Kopf auf etwas Hartes aufgeschlagen war, stand eine Gehirnerschütterung ganz oben auf der Liste möglicher Verletzungen. „Ich schaue sie mir kurz an, bevor wir sie in die Praxis bringen, wo ich sie verarzten kann.“

Überrascht schaute Alyssa ihn an. „Kein Rettungswagen? Sie wird nicht ins Krankenhaus gebracht?“

„Hier läuft es etwas anders.“ Er würde das Gesundheitssystem nicht vor Zuschauern erklären, aber manchmal ersparte es Ärger mit Versicherungen und der Fluglinie, einen Patienten, der die Insel besuchte, in der Praxis zu behandeln, wenn der Patient schnell wieder nach Hause musste. Es sei denn, der Patient war schwer verletzt.

„Ich brauche mehr Taschentücher oder Papiertücher.“ Alyssa schaute sich um, und ihre Augen leuchteten auf. „Pepe, können Sie mir welche besorgen?“

„Ich bin gleich zurück.“

„Wird sie wieder gesund?“, fragte der Bruder. „Wäre es nicht besser, sie ins Krankenhaus zu bringen?“

„Wir haben in der Praxis alles, um sie zu versorgen.“ Zumindest auf demselben Stand wie das Krankenhaus. „Ihr Knöchel ist verstaucht, Michelle.“

„Leighton“, sagte Alyssa leise. „Ihr Ohr?“

Es war an einer Stelle eingerissen, wodurch es noch weiter blutete. „Nimmt sie irgendwelche Medikamente?“

„Blutverdünner“, antwortete Andrew für seine Schwester.

Das ergab Sinn. Es würde mehr als Taschentücher brauchen, um die Blutung zu stoppen. „Damit werden Sie die nächsten zwei Tage pausieren müssen, damit die Wunde heilen kann.“

„Ist das denn nicht riskant?“, fragte Michelle. Ihre Gedanken schienen klarer zu werden.

„Ja. Wenn Sie sich operieren lassen müssten, würden die Ärzte Sie ebenfalls anweisen, die Verdünner abzusetzen, um Blutungen zu vermeiden. Okay, los geht’s. Alyssa, kommst du hier zurecht, während ich mein Auto hole?“ Wenigstens hatte er sie Alyssa genannt. Überraschend, wenn ein Blick auf sie so viele Lyssa-Erinnerungen weckte.

„Natürlich.“

„Ich bin gleich zurück.“

Ihre Patientin stützte sich auf die Ellbogen. „Lassen Sie mich los. Ich möchte wieder in den Bus einsteigen.“

Sanft drückte Alyssa sie zurück. „Das würde ich nicht empfehlen. Sie haben eine ernste Schnittverletzung am Kopf, die genäht werden muss.“

„Sie können mir nicht verbieten, in den Bus zu steigen.“

Andrew beugte sich zu ihr. „Schwesterchen, beruhige dich. Der Bus fährt los, und der Fahrer will dich so nicht an Bord haben.“

„Ich beeile mich“, versprach Leighton. Sein Auto parkte auf der Straße vor dem Haupteingang.

„Ich begleite Sie zur Praxis“, rief ihm der Bruder hinterher.

„Kein Problem.“ Ein zusätzliches Paar starke Hände wäre gut, um die Frau hochzuheben, falls es ihr schwerfiel, zum Auto zu laufen.

Es war auch praktisch, Alyssa hierzuhaben. Sie war kompetent und nicht aus der Ruhe zu bringen, was mit schwierigen Patienten immer alles leichter machte.

Fünfzehn Minuten später hielten sie an der Praxis, und Michelle war sehr kleinlaut geworden.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte Alyssa sie.

„Ja.“ Sie nickte. „Aber ich komme mir dumm vor. Ich hatte einiges getrunken.“

„Darum geht es ja bei einem Partybus.“ Alyssa lächelte. „Jetzt müssen wir Sie nur in Ordnung bringen. Dazu muss Leighton ein bisschen nähen.“

Er nickte. „Bring sie in den Raum zu deiner Linken, ich hole, was ich brauche.“

„Ich warte hier draußen“, meldete sich Andrew. „Sie möchten sicher keinen zusätzlichen Patienten, wenn ich in Ohnmacht falle.“

„Bis jetzt haben Sie sich gut geschlagen.“

„Ich habe nicht hingesehen.“

Als Lyssa lachte, liefen Leighton unpassende Schauer des Verlangens über den Rücken. Froh über etwas Abstand betrat er den Lagerraum.

Dreißig Minuten später fuhr das Taxi, das er gerufen hatte, mit Michelle und Andrew weg, zusammen mit einer Reihe von Anweisungen, wie die Wunde und der Knöchel versorgt werden sollten und auf welche Anzeichen einer Gehirnerschütterung geachtet werden sollte. Leighton seufzte. „Ich fahre dich zurück zum Resort, Lyssa.“ Alyssa, nicht Lyssa, rief er sich ins Gedächtnis. Alte Angewohnheiten.

„Danke. Ich habe zwar ein Mietauto gebucht, aber das Büro war geschlossen, als ich ankam. Darum kümmere ich mich morgen früh.“ Sie ging nach draußen, ohne auf ihn zu warten.

„Langer Tag?“, fragte er, sobald sie im Auto saßen.

„Sehr. Wenigstens kann ich ausschlafen.“ Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Gespräch beendet.

Er hatte nichts dagegen. Es gab sowieso nichts zu bereden. Bis auf seinen Bruder. Aber dazu brauchte er einen klaren Kopf und musste Alyssa in die Augen sehen. Jetzt gerade war ihm eher nach Schlaf als nach einem Streit zumute. Aber an Schlaf war momentan nicht zu denken. Dazu reagierte sein Körper zu sehr auf Alyssas Nähe.

Natürlich war Schlaf auch keine Option, als Leighton nach Hause kam. Darum ging er mit einer Tasse Tee auf die Veranda, setzte sich, starrte in die Ferne und hörte den Wellen zu. Doch das Bild seiner Frau beherrschte seine Gedanken. Wie sie miteinander schliefen. Wie sie auf dem Höhepunkt seinen Namen rief. Eine Berührung von ihr, und es war um ihn geschehen. Ja, sein Körper erinnerte sich an diese Berührungen. Ihre Leidenschaft. Ihre Hingabe.

Jamie hatte gehofft, dass sie sich zueinander hingezogen fühlten, weil er gerne Leute miteinander verkuppelte und dachte, dass alle so glücklich sein sollten wie er und Collette. Aber dass er glaubte, Alyssa wäre die Richtige für ihn, ließ Leighton erschauern.

Denn leider hatte sein Bruder recht. Er und Alyssa waren wie füreinander geschaffen, bis ihnen die Realität dazwischengekommen war.

In Form eines Bruders, von dem er nichts gewusst hatte. Jamie war das Ergebnis einer Affäre seines Vaters mit der besten Freundin seiner Frau. Sein Vater hatte Jamies Mutter für ihr Schweigen bezahlt, und sie hatte mitgemacht, damit ihrem Sohn alle Möglichkeiten offenstanden. Aber bei ihrem Tod hatte sie ihm einen Brief hinterlassen, in dem sie ihm verriet, wer sein Vater war, und der erklärte, warum sie geschworen hatte, seinen Namen geheim zu halten.

Als Leighton davon erfuhr, war er fassungslos gewesen und verletzt. Er besaß einen Bruder, von dem er nichts gewusst hatte. Das erklärte den Zustand der Ehe seiner Eltern und die manchmal angespannte Atmosphäre zwischen ihnen.

Aber es war keine Entschuldigung dafür, Alyssa gegenüber nicht offen gewesen zu sein, ihr die Chance zu nehmen, ihn zu unterstützen. Er hatte gehofft, sie verstand, dass er sie brauchte, ohne es aussprechen zu müssen, was wirklich lächerlich war. Mit seinem Schweigen war er genauso geheimnistuerisch und verlogen gewesen wie seine Eltern.

Das hatte ihn davon abgehalten, sie um eine zweite Chance zu bitten. Hätte sie von Jamie und der Affäre seines Vaters erfahren, hätte sie dann vielleicht geglaubt, dass er in jeder Hinsicht wie sein Vater war? Das hätte er nicht ertragen. Nachdem sie gegangen war, war der ersten Bombe eine zweite gefolgt, als er erfahren hatte, wie schrecklich sein Vater Alyssa behandelt hatte, und er hatte sich geschämt, der Sohn eines Mannes zu sein, der Frauen verletzte. Schlimmer, mit seiner Weigerung, mit ihr zu reden, hatte er genau dasselbe getan. Noch immer konnte er ihren Schmerz sehen, als sie ihre Sachen gepackt hatte und gegangen war, ihm vorwarf, dass er sie aus seinem Leben ausschloss. Das hatte ihn tief getroffen, weil es stimmte.

Sie schien ihre Karriere verfolgt und dabei neue Freunde gefunden zu haben. Hatte sich verändert: war stärker, selbstsicherer, fokussierter geworden. Es konnte eine Fassade sein, um ihn auf Abstand zu halten, aber das bezweifelte er.

Er hatte nach der Trennung die Klinik verlassen, um Vertretungsstellen anzunehmen, war quer durchs Land gezogen, ohne sich irgendwo länger niederzulassen. Seine Ambitionen waren zusammen mit dem Glauben an seine Familie verschwunden. Nicht nur das schreckliche Verhalten seines Vaters hatte ihn zur Weißglut gebracht, sondern dass seine Mutter es akzeptierte.

Wo war Alyssa während der letzten vier Jahre gewesen? Zuerst hatte er gehört, sie wäre nach Perth in Australien gezogen, aber danach hatte sich ihre Spur verloren. Es gab auch nichts, was er für sie hätte tun können, außer, ihr die Wahrheit zu sagen, und dazu war er nicht bereit gewesen, aus Angst, dass sie ihn verachtete, weil er einen solchen Vater hatte.

Aber er konnte der Wahrheit nicht länger aus dem Weg gehen, was zeigte, dass er es längst hätte tun sollen. Denn sobald Lyssa hörte, was er zu sagen hatte, würde sie noch erleichterter sein, dass sie ihn verlassen hatte.

2. KAPITEL

Langsam schlug Alyssa die Augen auf und sah sich im Bungalow um. Sonnenlicht schien an den Kanten der Jalousien herein, und es war angenehm warm. Sie wusste nicht mehr, wie sie letzte Nacht ins Bett gekommen war und ob sie geduscht hatte, aber das feucht aussehende Handtuch auf dem Ständer deutete darauf hin. Nicht einmal Leighton, der ihr unaufhörlich durch den Kopf ging, hatte sie wachhalten können. Und dabei hatte seine Anwesenheit sie gestern so geschockt.

Es klopfte laut an der Tür. War sie davon wach geworden?

Geh weg. Ich habe Urlaub.

Doch sie stand auf und schnappte sich den Bademantel des Resorts von der Tür, weil es einer ihrer Freunde sein musste. Oder Leighton. Sie war nicht bereit, ihn zu sehen. Und warum sollte er hier sein?

„Wird auch Zeit.“ Collette lachte, als sie die Tür öffnete. „Du kannst nicht den ganzen Tag verschlafen. Unser Bootsausflug beginnt in nicht mal zwei Stunden.“

„Wie spät ist es?“

„Zehn Uhr fünfzehn.“ Collette ging um sie herum, um sich den Bungalow anzusehen. „Ich habe gehört, du hast ein Upgrade bekommen. Gut gemacht.“

„Wird Kaffee gebracht? Oder muss ich dafür anrufen?“ Ohne Kaffee würde sie sich nicht bewegen können, denn ihr Körper fühlte sich bleischwer an.

„Er sollte jede Minute hier sein.“ Collettes Lächeln verblasste. „Ich muss dir etwas gestehen.“

Ein Schauer lief Alyssa über die warme Haut. Sie hatte keine Ahnung, wovon Collette sprach, ahnte aber, dass es ihr nicht gefallen würde. „Setzen wir uns auf der Veranda in die Sonne.“

„Hier ist der Kaffee.“ Collette nahm die Tassen, die Pepe ihr reichte. Arbeitete er rund um die Uhr? „Danke.“

„Haben Sie gut geschlafen, Alyssa?“, fragte er.

„Ich war die ganze Nacht bewusstlos.“

„Unter den Umständen vielleicht nicht schlecht“, murmelte Collette, als sie auf die Veranda trat und Pepe sie allein ließ.

Nach den ersten Schlucken Kaffee wurde Alyssa langsam lebendig. „Los, raus damit. Du siehst aus, als hättest du eine Zitrone verschluckt.“

„Du wirst nicht glücklich darüber sein.“

Langsam kapierte sie. „Es geht um Leighton, oder?“

„Die Sache ist, wir wussten nicht, dass du mit ihm verheiratet warst.“

Also hatte Leighton es Jamie erzählt. Keine wirkliche Überraschung. Irgendwann musste es herauskommen. „Woher auch? Ich wusste nicht, dass Leighton und Jamie sich kennen, und selbst dann hätte ich ihn nicht erwähnt. Unsere Beziehung ist vorbei, wir sind seit Jahren getrennt.“ Der zweite Mann, der sie verlassen hatte, auch wenn sie gegangen war.

Ihr Vater war verschwunden, bevor sie geboren wurde, und starb bei einem Bootsunfall, als sie ungefähr acht Jahre alt gewesen war. Umso mehr hatte sie sich an ihre Mutter geklammert. Auch ohne Geld waren sie zusammen sehr glücklich gewesen. Nur war sie an Krebs sie gestorben, als Alyssa siebzehn gewesen war. Nachdem sie ihre Mutter während der letzten Monate ihres Lebens gepflegt hatte, wollte sie unbedingt Krankenschwester werden.

„Jamie wollte euch verkuppeln“, sprudelte es aus Collette heraus. „Darum haben wir es so arrangiert, dass ihr beim Hochzeitsessen nebeneinandersitzt. Er dachte wirklich, ihr werdet euch gut verstehen.“

„Dafür kommt er etwas zu spät.“ Alyssa trank ihren Kaffee. Toll. Ihr Ex würde bei der Hochzeit neben ihr sitzen. Aber sie konnten höflich miteinander umgehen. Sie hatten sich gestern auch um Michelle gekümmert, ohne sich an die Gurgel zu gehen. Und mit Lachen und Spaß um sie herum wurde alles leichter. „Es ist okay. Wirklich.“ Dafür würde sie verdammt noch mal sorgen.

„Danke.“ Collette starrte auf den Pool. „Du sprichst nie über deine vergangenen Beziehungen.“

„Was gibt es da zu sagen? Wir waren glücklich verheiratet, dann ist es schiefgegangen, und jetzt bin ich allein unterwegs.“

„Du willst es nicht noch einmal probieren?“

„Mit Leighton? Nein.“ Einmal verletzt zu werden reichte.

„Da draußen gibt es noch andere gute Männer.“

„Alyssa?“ Neben der Veranda stand Leighton mit einer Frau. „Das ist Kara von der Mietwagenfirma. Darf sie kurz reinkommen?“

„Natürlich.“ Der Kaffee brannte in ihrer Kehle. Was machte Leighton hier?

„Ich habe Kaffee mitgebracht, aber wie ich sehe, war Collette schneller.“ Leighton betrachtete ihre Freundin besorgt. Fragte er sich, wie Alyssa reagierte, wenn sie erfuhr, dass sie an der Hochzeitstafel nebeneinandersitzen mussten?

„Ich sollte mich anziehen.“ Duschen musste warten. „Bin gleich zurück.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, ging Alyssa hinein. So viel zu einem ruhigen ersten Morgen ihrer Ferien.

Verdammt, Leighton. Unsere Beziehung ist schon ewig vorbei. Ich sollte nichts mehr für dich fühlen.

Als sie zurückkam, reichte Kara ihr Schlüssel. „Hallo Alyssa. Es tut mir leid, dass wir geschlossen hatten, als Sie gestern Abend angekommen sind, aber Dr. Leighton hat uns informiert, dass Sie hier wohnen. Ihr Auto steht jetzt vor dem Resort.“ Die junge Frau schien sich unwohl zu fühlen. „Sie müssten nur einige Papiere unterschreiben und mir Ihren Führerschein zeigen.“

Leighton hatte das organisiert? Warum? Sie waren kein Paar, nicht einmal Freunde. „Es ist sehr freundlich, dass Sie das Auto hergebracht haben, aber ich hätte es auch holen können. Machen Sie sich keine Sorgen wegen gestern. So übermüdet war es wahrscheinlich besser, dass ich nicht gefahren bin.“

„Danke.“ Kara lächelte erleichtert.

Genau wie Leighton. Dachte er wirklich, sie stauchte Kara zusammen, weil sie nicht gewartet hatte, bis Alyssa sich den Wagen selbst abholte? Dann kannte er sie nicht sehr gut. Oder er hatte es vergessen. Wenn sie das nur auch könnte, aber plötzlich erinnerte sie sich, was ein Kuss von ihm mit ihr machen konnte. Oder wie er immer großzügig dafür gesorgt hatte, dass ihr Konto gefüllt war, damit sie auf nichts verzichten musste. Wie er ihr vor ihrer Abschlussprüfung beim Lernen geholfen hatte. Wie sich seine Hände auf ihren Hüften anfühlten, wenn er sie an sich zog, um sie zu lieben.

Er war perfekt gewesen. Bis alles schiefgegangen war. Sie griff nach den Papieren. Es war Zeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Zehn Minuten später hatte sie den Mietvertrag unterschrieben und schaute sich den gelben Sportwagen mit offenem Verdeck an. Grinsend wirbelte sie die Schlüssel um ihre Finger. „Fantastisch. Ich werde gleich eine Spritzfahrt damit machen.“ Der Fahrtwind würde auch die letzten Spinnweben aus ihrem Kopf vertreiben. Und die Hitze aus ihrem Körper, die Leighton ausgelöst hatte.

Collette räusperte sich. „Fahr nicht ohne mich. Ich bin mit den anderen am Pool. Sie werden auch mitkommen wollen.“

„Lass uns gleich starten.“

„Leighton will mit dir sprechen.“ Collette schaute überall hin, nur nicht in ihr Gesicht.

Ein ungutes Gefühl überkam sie. „Was ist los?“

„Nichts. Ich sehe dich später, falls wir keine Zeit für eine Spritztour haben. Wir treffen uns mittags hier für den Kleinbus, der uns für den Bootsausflug nach Muri bringt.“ Ihre Freundin eilte in das Hauptgebäude des Resorts.

Das ungute Gefühl wuchs, als Alyssa zum Bungalow zurückging. „Leighton, warum bist du hier?“, wollte sie wissen, sobald sie die Veranda betrat. „Ich muss duschen und will eine Runde mit dem Auto drehen, bevor wir mit den Mädels losfahren. Ich habe keine Zeit, mit dir Dinge durchzukauen.“ Es gab nichts, worüber sie reden mussten. Sie waren Geschichte.

Dann erinnerte sie sich an den Ausdruck auf Collettes Gesicht und wusste, dass sie sich irrte. „Was geht hier vor?“

„Hier ist noch ein Kaffee, wenn du möchtest.“ Er reichte ihr den Pappbecher, den er mitgebracht hatte, und stellte sich dann ans Geländer, starrte auf den Strand hinter dem Poolbereich.

Er war so still, dass sie sich Sorgen machte. Das war so untypisch für ihn. Damals hatte er sich immer unter Kontrolle gehabt und die Führung übernommen. Jetzt wirkte er unsicher. Definitiv nicht ihr Leighton. Alarmglocken läuteten. Was war passiert? Brauchte er ihre Unterstützung? Konnte sie ihm die geben, nach allem, was damals passiert war? Ja, absolut. Egal, was sie sich damals vorgeworfen hatten, er war ihr noch wichtig genug, dass sie für ihn da sein wollte, wenn er sie brauchte. Er war der einzige Mann, den sie jemals geliebt hatte. In ihrem Herzen würde es immer einen Platz für ihn geben, egal, wie schrecklich ihre Trennung gewesen war. Ohne den Blick von ihm zu wenden, ließ sie sich auf einen Stuhl sinken. „Leighton?“

Er drehte sich zu ihr um. „Jamie ist mein Bruder.“

Das war kein Problem zwischen ihr und Leighton, das geklärt werden musste. Puh. Dann traf es sie. „Jamie und du seid Brüder? Aber …“ Sie stockte. Als sie ihn gekannt hatte, war kein Bruder in Sicht gewesen. Da musste mehr dahinterstecken. „Sprich weiter.“

Er trank seinen Kaffee und starrte auf den Boden. Dann kam er zu ihr und setzte sich neben sie. „Wir sind Halbbrüder. Mein Vater hatte eine Affäre mit der besten Freundin meiner Mutter, und Jamie ist das Resultat. Ich wusste nichts davon, bis Jamie eines Tages vor unserer Tür stand.“

Wut stieg in ihr auf. Sie hatte John Harrison dafür gehasst, wie er sie behandelt hatte, aber das war bei Weitem schlimmer. Für Leighton und Jamie. „Was ist passiert, dass Jamie zu dir gekommen ist und es dir erzählt hat?“

„Seine Mutter ist gestorben. Da hat er erfahren, wer sein Vater ist, und nach einer kurzen Recherche hat er mich gefunden. Er kam aus Großbritannien, wo er seine Spezialisierung absolviert hat, um mir die schmutzigen Details zu erzählen, hat sogar das DNA-Ergebnis als Beweis mitgebracht. All die Jahre als Kinder, die wir verpasst haben.“ Leighton trank seinen Kaffee aus, bevor er sich ihr zuwandte. Sein Blick war so verzweifelt, dass sie ihn umarmen wollte.

Stattdessen umfasste sie ihren Becher fest mit beiden Händen. Sie würde ihn nicht umarmen. Sonst lief sie Gefahr, ihn nicht mehr loszulassen. Keine gute Idee. „Sprich weiter.“

Er holte tief Luft und fuhr hastig fort: „Du hast an dem Tag gearbeitet. Das hatte er bewusst so geplant. Ich denke, er hatte Angst, ich jage ihn zum Teufel, und wärst du da gewesen, hättest du ebenso verhindert, dass er mit mir spricht.“

Gut möglich. Ohne zuerst die Beweise zu prüfen, hätte sie die Neuigkeiten nicht akzeptiert. „Du hast nie etwas davon erwähnt.“

„Nein. Und das tut mir so leid.“

Ihr ging ein Licht auf. „War das zufällig zu der Zeit, als wir aufgehört haben, miteinander zu sprechen?“

„Ja.“

„Hätte ich es nur gewusst.“ Welchen Unterschied hätte es gemacht? Zumindest hätte sie Leighton durch den Schock geholfen, ihm eine Schulter zum Anlehnen geboten und ihn getröstet. Es musste die Hölle gewesen sein. Dann hatte sie ihn verlassen, weil er scheinbar kein Interesse mehr an ihr oder ihrer Ehe gehabt hatte.

Aber … „Wir waren verheiratet, Leighton. Wir hätten alles miteinander teilen sollen, nicht nur, wie der Tag war oder wen wir getroffen haben.“ Was hatte er ihr noch verschwiegen? Sie wurde wütend. Er hatte kein Recht gehabt, ihr das zu verheimlichen. Sie war seine andere Hälfte gewesen. Zumindest hatte sie das geglaubt. Aber nach seinem emotionalen Rückzug hatte sie ebenfalls angefangen, ihr Herz zu schützen.

„Ja.“

„Das ist alles? ‚Ja‘?“ Als er schwieg, fuhr sie fort: „Unsere Ehe ist kaputtgegangen, weil du dich von mir zurückgezogen hast. Du hast stundenlang gelernt oder Überstunden gemacht und bist nicht mal nach Hause gekommen, um mit mir zu essen oder mit mir zu schlafen und zu kuscheln. Ich habe mich überflüssig gefühlt.“

„Tatsächlich?“

„Ja.“

„Ich verstehe.“ Er sprach nicht wirklich mit ihr, sondern gab ihr nur die nötigsten Informationen.

Das reichte nicht. Sie hatte ihn geliebt und hätte alles für ihn getan. Ihr altes Ich hätte ihn damit durchkommen lassen, aber das war vorbei. „Ich brauche mehr, Leighton. Warum hast du es mir nicht erzählt?“, fauchte sie. Ernsthaft? Sie hätte doch verstanden, warum er so in sich gekehrt gewesen war. Vielleicht hätten sie dann ihre Ehe retten können. „Ich hatte etwas Besseres verdient. Genau wie du.“

Er streckte seine Beine aus und musterte den Ausblick. „Ich war wütend auf Dad, weil er mir nie gesagt hat, dass ich einen Bruder habe. Wirklich wütend. Jamie hätte Teil unserer Familie sein sollen, auch wenn seine Mutter die Freundin meiner Mum war. Außerdem war ich verletzt und verwirrt. Dad war nicht der, für den ich ihn gehalten habe.“

„Das wäre für jeden verstörend gewesen.“ Und Leightons Mutter war selbst zu den besten Zeiten eine unversöhnliche Frau, sie hätte Jamie nie in ihrer Familie akzeptiert, und wer könnte es ihr verübeln? Langsam verstand Alyssa sie etwas besser. Ihr Mann und ihre Freundin hatten eine Affäre gehabt und einen Sohn gezeugt. Erschütternd. „Ich verstehe, dass du bedauerst, so viel Zeit mit Jamie verpasst zu haben.“

„Mum hat den Kontakt zu ihrer Freundin abgebrochen, als sie von der Affäre erfuhr.“

„Aber sie ist bei deinem Vater geblieben.“ Die Frau hatte ihren luxuriösen Lebensstil gemocht, aber so sehr?

„Kein Kommentar.“ Sein bitterer Ton sagte mehr als Worte.

Alyssa ließ das Thema fallen, um kein Salz in die Wunde zu streuen. „Du und Jamie scheint euch gut zu verstehen.“ Lustig, dass sie niemals Leightons Namen gehört hatte, wenn sie bei Collette und Jamie war. Aber Jamie arbeitete auch meist, wenn sie und Collette etwas unternahmen. Außerdem hatte sie Leighton bei niemandem erwähnt.

„Unglaublich gut. Ich habe ihn sofort akzeptiert und war froh, dass er zu mir gekommen ist. Einen Bruder zu haben, ist etwas Besonderes.“

Wieder wurde sie wütend.

Mir hast du nichts davon erzählt.

„Du hast wirklich nicht an uns geglaubt. An mich.“ Sonst hätte er doch sicher mit ihr über Jamie gesprochen und wie er sich damit gefühlt hatte? Sie waren verheiratet gewesen, hatten sich geliebt. Hätten sie nicht alles teilen sollen? Und sie hatte gedacht, er könnte sie nicht noch mehr verletzen. Gerade hatte er es getan. Warum hatte er sie überhaupt geheiratet?

Er schluckte. „Es war schwer, das alles zu erfahren und zu akzeptieren. Dass ich mein Leben lang belogen worden war. Meine Gefühle waren völlig durcheinander. Als ich damit zu Dad gegangen bin, hat er getobt, behauptet, er wüsste nicht, wovon ich rede. Als ich ihm den Beweis gezeigt habe, ist er explodiert, hat Jamies Mutter beschuldigt, den Vertrag gebrochen zu haben, mit dem sie die monatlichen Zahlungen akzeptiert hat unter der Voraussetzung, dass sie niemandem erzählt, wer Jamies Vater ist.“

John Harrison war ein reicher Mann und glaubte, Geld wäre die Antwort auf alle Probleme des Lebens. „Überrascht mich nicht.“

Leighton wandte sich ihr zu und berührte sanft ihre Hand. „Er hat auch gesagt, dass du dumm genug warst, sein Angebot abzulehnen, dich auszuzahlen, damit du verschwindest. Ich war überrascht. Das hast du mit nie erzählt, Alyssa. Warum?“

„Das war etwas zwischen deinem Vater und mir. Es dir zu sagen, hätte dich nur unter Druck gesetzt. Du hast John vergöttert. Ich wollte nicht, dass du denkst, du müsstest dich zwischen uns entscheiden.“

Lange hatte sie gegrübelt, ob sie es ihm erzählen sollte, und war immer wieder bei der Tatsache gelandet, dass er seinen Vater für unfehlbar hielt. Und sie hatte nicht diejenige sein wollen, die diesen Glauben zerstörte. Es war nicht ihre Schuld, dass John durch und durch verdorben war, aber es war auch nicht an ihr, seinem Sohn die Augen zu öffnen. Sie hatte Leighton so sehr geliebt, dass sie ihn nicht verletzen wollte, musste aber anerkennen, wie das im Nachhinein für ihn aussah. „Ich akzeptiere, dass du vielleicht verärgert bist, dass ich es nicht erwähnt habe. Aber ich bin sehr viel verärgerter, dass du mit mir nicht über Jamie gesprochen hast. Warum nicht?“

Er schluckte. „Ich weiß, ich hätte das anders angehen sollen, aber zu der Zeit war es nicht leicht.“

„Und jetzt?“

„Ich habe es vermasselt, okay? Aber zwischen uns lief es schon nicht mehr gut, bevor Jamie aufgetaucht ist. Du hast immer mehr Zeit mit deinen Freunden verbracht.“

„Weil du nie da warst“, fauchte sie.

„Ich hatte mit der Arbeit und dem Studium zu tun, dann musste ich dazu noch mit dem Betrug meines Vaters zurechtkommen. Du hast offensichtlich nicht bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Oder es war dir egal.“

„Bitte?“, keuchte sie. Natürlich hatte es ihr etwas ausgemacht. Sie hatte ihn geliebt. Fassungslos starrte sie ihn an. Hatte sie ihn jemals wirklich gekannt?

„Alyssa, es tut mir leid. Das kam falsch rüber. Ich weiß, dass du mich geliebt hast.“

„Du hast mir gerade wieder die ganze Schuld zugeschoben, und dann soll eine Entschuldigung alles in Ordnung bringen?“ Sie deutete mit dem Finger auf ihn. „Du hättest dich mit mir hinsetzen und alles auf den Tisch legen sollen. Ich hätte dich nie damit allein gelassen. Niemals.“

Reiner Schmerz sprach aus seinem Blick. „Es lief nicht gut zwischen uns“, wehrte er ab.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass du mir nicht genug vertraut hast.“ Ihre Brust schmerzte, und ihr Kopf drehte sich. Das war zu viel.

Er presste seine Lippen aufeinander. „Ich gehe besser, bevor wir Dinge sagen, die uns später leidtun.“

„Sicher.“ Er lief weg. Aber sie brauchte auch Abstand, um alles zu verarbeiten, was er gesagt … und nicht gesagt hatte. „Vergiss nur nicht, dass ich dich nie damit allein gelassen hätte.“

Vielleicht hätte sie ihn in einem Wutanfall verlassen, aber er hatte wochenlang, sogar Monate vorher kaum mit ihr gesprochen. Es hatte sich angefühlt, als lebten sie aneinander vorbei. War sie fair gewesen? Ohne zu wissen, was los war, hatte sie gedacht, er liebte sie nicht mehr. Es hatte sich angefühlt, als verließ sie jeder, der sie lieben sollte, auf die eine oder andere Art. Hätte er ihr alles erzählt, wenn sie darauf bestanden hätte? Wären sie noch zusammen? Trug sie genauso viel Schuld?

„Das meine ich ernst“, rief sie ihm hinterher, als er ging. Sie wollte mehr sagen, ließ es aber. Es brachte nichts, die Ängste von damals wieder aufleben zu lassen.

Ihn weggehen zu sehen, gab ihr plötzlich das Gefühl, als würde sie die Liebe ein zweites Mal verlieren. Leighton war ihre große Liebe gewesen. Jetzt war er hier und verwirrte sie total, und trotzdem hüpfte ihr Herz, wenn sie ihn sah.

Mit diesen gegenseitigen Vorwürfen würde die kommende Woche schwierig werden. Sie musste diese Sache schnell hinter sich lassen. Immerhin waren sie getrennt, wenn auch nicht geschieden. Warum Leighton die Scheidung nicht eingereicht hatte, war ihr allerdings schleierhaft. Normalerweise ließ er Dinge nicht gerne schleifen. Aber sie hatte auch nichts unternommen deswegen. Egal, wie beschäftigt sie gewesen war, ein einziger Besuch bei einem Anwalt hätte den Ball ins Rollen gebracht. Wollte sie in Wirklichkeit gar keine Scheidung? Hatte sie heimlich gehofft, dass es doch nicht ganz aus war zwischen ihnen? Sie bezweifelte es. Nach dem heutigen Gespräch erst recht.

Auf alle Fälle war ihr Morgen ruiniert, und jetzt musste sie vor den Mädels ihren Schmerz überspielen. Sie sollten davon nichts erfahren.

„Lyssa.“ Leighton stand am Tor. „Ich weiß, ich hätte mit dir über Jamie sprechen sollen. Es tut mir wirklich leid, dass ich es nicht getan habe.“

„Mein Name ist Alyssa, nicht Lyssa.“ Nicht mehr.

Das war, als wir uns liebten, und das ist lange vorbei.

Alyssa würde ihm nicht so leicht verzeihen, wenn ...

Autor

Juliette Hyland
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Annie Claydon
<p>Annie Claydon wurde mit einer großen Leidenschaft für das Lesen gesegnet, in ihrer Kindheit verbrachte sie viel Zeit hinter Buchdeckeln. Später machte sie ihren Abschluss in Englischer Literatur und gab sich danach vorerst vollständig ihrer Liebe zu romantischen Geschichten hin. Sie las nicht länger bloß, sondern verbrachte einen langen und...
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