Weites Land, wilde Herzen

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Zehn Jahre ist es her, dass Architekt Sol Adams mit gebrochenem Herzen seinen idyllischen Heimatort Schofield verließ – nachdem seine beste Freundin einen anderen geheiratet hat. Doch nun ist Cassie verwitwet, und Sol kehrt über die Weihnachtstage zurück. Unter der Sonne Australiens blüht ihre Freundschaft schnell wieder auf. Bald fühlt es sich an, als wäre er nie fort gewesen. Und diesmal erwidert Cassie seine romantischen Gefühle. Aber kaum hofft Sol auf eine gemeinsame Zukunft, zieht sie sich zurück. Was verbirgt Cassie vor ihm?


  • Erscheinungstag 14.10.2025
  • Bandnummer 212025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751535151
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Michelle Douglas

Weites Land, wilde Herzen

1. KAPITEL

Sol trat hinaus auf die Veranda und atmete tief durch. Erst seit einer halben Stunde war er hier und hatte schon genug von allem. Offensichtlich hatte sich hier nichts verändert, seit er vor zehn Jahren weggezogen war, und das war frustrierend.

Er ließ die Schultern kreisen, um die Verspannungen zu lösen, die sich in ihm aufgebaut hatten, seit er in Schofield angekommen war. Dabei ließ er den Blick über Alecs Garten gleiten und schüttelte den Kopf. Wie es hier aussah! Der Zaun musste repariert und der Rasen gemäht werden, und die Hecken brauchten einen neuen Schnitt. Dann fiel sein Blick auf den großen Baum auf dem gegenüberliegenden Grundstück. Cassies Baum…

Sol kniff die Augen zusammen, weil ihn die untergehende Sonne blendete. Zwei riesige Oleanderbüsche versperrten ihm die Sicht auf das Haus, in dem Cassie Campbell damals gewohnt hatte. Ob sie immer noch hier lebte? Nein, nicht Campbell, sondern Parker, dachte er, denn sie hatte ja vor zehn Jahren geheiratet. Vor eineinhalb Jahren war allerdings ihr Mann Brian gestorben, sodass sie schon mit Ende zwanzig Witwe war. Also hatte sich doch etwas verändert.

Sol runzelte die Stirn. Nein, bestimmt wohnte sie nicht mehr in diesem Haus, sondern in der Stadt wie die restliche Familie Parker. Cassie hatte es nicht nötig, in einem kleinen Ort wie Schofield zu wohnen so wie früher, als ihre Mutter noch am Leben war.

Gewissensbisse kamen in Sol auf. Er war nicht auf der Beerdigung gewesen und auch nicht auf der von Brian. Ob Cassie ihm das übelnahm? Er blickte wieder auf den Baum und lächelte versonnen. Damals war sie seine beste Freundin gewesen und der einzige Mensch, dem er alles hatte anvertrauen können. Nur ihr hatte er es zu verdanken, dass sein Leben einigermaßen erträglich gewesen war.

Sein Lächeln verflog. Was machte er hier eigentlich? Hoffte er, dass sie hier war und er sie zufällig zu Gesicht bekam? Warum? Er hatte alles verdrängt, was mit Cassie und seinem alten Leben zu tun hatte, als er vor zehn Jahren weggegangen war. Und er hatte sich in all den Jahren nicht bei ihr gemeldet.

Gerade wollte er zurück ins Haus gehen, als er plötzlich eine Bewegung auf dem Baum wahrnahm. Da lugte ein Bein zwischen den Ästen hervor, ein schlankes weibliches Bein.

Cassie?

Sols Herz klopfte sofort schneller. Hastig ging er die Verandastufen herunter und lief zum Baum. Dann hörte er ein unterdrücktes Fluchen, und gleich darauf erschien tatsächlich das Gesicht mit den strahlend blauen Augen, von denen er damals schon so fasziniert gewesen war.

„Sol!“, rief Cassie überrascht. „Du bist tatsächlich nach Hause gekommen, und das auch noch zu Weihnachten!“

Es kribbelte in seinem Bauch, und sein Herz schlug noch mal ein paar Takte schneller. Verdammt, was war bloß mit ihm los, warum war er nur so aufgeregt? Das war doch nur Cassie Campbell, seine Jugendfreundin, mit der er so vertraut gewesen war.

„Hallo, Cassie“, erwiderte er steif.

„Hallo, Cassie?“ Sie verdrehte die Augen. „Ist das alles, was dir einfällt, nachdem wir uns zehn Jahre nicht gesehen haben?“

Dann schenkte sie ihm dieses Wahnsinnslächeln, das er noch von früher kannte. Es war wie heller Sonnenschein, der sein Herz erwärmte und Licht in seine dunkle Seele brachte.

Als er nichts erwiderte, verschwand ihr Lächeln, und sie runzelte die Stirn. „Du hättest dich wenigstens von mir verabschieden können, als du damals weggegangen bist.“

Sie hatte recht, das hätte er, und tatsächlich hatte er es oft bereut, dass er einfach so verschwunden war. Könnte er die Zeit zurückdrehen, würde er …

„Hilf mir mal kurz, bitte.“

Helfen? Wobei? Jetzt erst fiel ihm auf, dass sie ein junges Kätzchen im Arm hielt.

Cassie beugte sich zu ihm herab und reichte ihm das Tier. „Halt es gut fest, damit es nicht entwischt.“ Dann verschwand sie wieder im Geäst, holte ein zweites Kätzchen hervor und reichte es ihm ebenfalls. Danach kam noch drittes, sodass er nun die Arme voll mit kleinen, zappeligen Fellbündeln hatte.

Cassie lachte, als sie sah, wie er sich bemühte, die Kätzchen unter Kontrolle zu bringen. „Jetzt hast du leider keine Hand mehr frei, um mir zu helfen, stimmt’s?“

Zu gern hätte Sol ihr die Hand gereicht, um ihr vom Baum zu helfen. Sein Blick fiel auf ihre zarten Hände, und er fragte sich, ob sie sich wohl immer noch so weich und warm anfühlten wie damals vor zehn Jahren. Er versuchte, die drei Kätzchen irgendwie auf einem Arm zu bündeln, um wenigstens eine Hand freizubekommen, doch es gelang ihm nicht.

„Pass auf, dass sie nicht runterspringen, dann sind sie nämlich weg“, warnte sie und sprang dann mühelos vom Baum.

Ihr zarter Duft nach Rosenblüten stieg Sol in die Nase, und er verspürte den Impuls, Cassie in den Arm zu nehmen, um diesen wundervollen Duft noch intensiver zu genießen. „Keine Angst, ich halte sie schon fest“, sagte er mit einem schiefen Lächeln, um sich von seinen verwirrenden Gefühlen abzulenken.

Cassie lächelte frech. „Glaubst du ernsthaft, dass ich fürs Runterkommen Hilfe brauche? Ich klettere schon auf diesen Baum, seit ich denken kann.“

„Aber du … trägst einen Rock“, erwiderte Sol unbeholfen und räusperte sich. „Ich dachte …“

„Oh, das ist kein Problem.“ Sie hob den Rock an, und zum Vorschein kam zu Sols Verwunderung eine Radlerhose. Er stieß den Atem wieder aus, den er unwillkürlich angehalten hatte.

Cassie lachte, als sie seinen verblüfften Gesichtsausdruck sah. „Das hättest du jetzt nicht gedacht, oder?“ Dann kniete sie sich vor den Zaun und schob ein loses Brett zur Seite, hinter dem sich ein weiteres Kätzchen verbarg, das deutlich kleiner als die anderen drei war.

„Na komm, mein Kleiner.“ Cassie klopfte auf ihr Knie, und tatsächlich zwängte sich das Kätzchen durch den Spalt und klettert auf ihren Schoß. Cassie nahm es auf den Arm und stand wieder auf. Dann wies sie mit dem Kopf in Richtung Alecs Haus. „Komm mit.“

Sol folgte ihr mit den drei Kätzchen im Arm in Alecs Garten. Cassie schloss hinter sich das kleine Tor und ließ das Kätzchen sachte herunter, dann nahm sie Sol die anderen ab und setzte sie ebenfalls auf dem Boden ab.

Sol schüttelte den Kopf. „Was willst du denn mit all den Katzen? So viele kann doch niemand brauchen.“

Cassie richtete sich zu ihrer vollen Größe vor ihm auf und stemmte die Arme in die Hüften. „Wieso, was willst du damit sagen?“

Sein Blick fiel auf ihren schönen Mund, und plötzlich schien die Luft zwischen ihnen zu knistern. „Nichts, ich … dachte nur …“

„Ich liebe diese Kätzchen, also behalt solche unnötigen Kommentare gefälligst für dich.“

„Entschuldige, ich …“

Bevor er seinen Satz zu Ende bringen konnte, hob sie das kleinste Kätzchen hoch und hielt es ihm direkt vor die Nase. „Schau doch mal, ist es nicht süß?“

Das Kätzchen gab ein leises Maunzen von sich, und Sol kraulte es sanft hinter den Ohren. „Stimmt, es ist wirklich niedlich“, gab er zu, und meinte das auch ernst. Beim Streicheln berührte er unwillkürlich Cassies Hand, und das Prickeln von vorhin war wieder da. „Es tut mir leid, Cassie, ich hab’s nicht so gemeint. Ich wollte mich nicht über etwas lustig machen, was dir wichtig ist.“

Nun lächelte sie wieder, und etwas rührte sich ganz tief in seinem Inneren. Etwas Reines, Süßes und Authentisches, das nur von Cassie kommen konnte. Seiner Cassie …

Dann trat sie zurück, und der Zauber war verflogen.

„Hallo, Alec, bist du da?“, rief sie durch die Hintertür.

„Na klar, wo sollte ich denn sonst sein“, ertönte seine tiefe Stimme, und gleich darauf kam er im Rollstuhl herbei. „Du bist heute aber früh dran.“

„Ich habe Sol an meinem Gartenzaun getroffen und bin dann gleich mitgekommen. Wie wär’s, wenn du dich nützlich machst und uns was zu trinken bringst?“

„Wieso ich? Ich sitze doch im Rollstuhl.“

„Na und? So invalide bist du nicht, dass du nicht mal paar Getränke transportieren kannst.“ Cassie setzte sich an den Terrassentisch und lächelte zufrieden, als Alec sich mit seinem Rollstuhl drehte und in Richtung Küche verschwand.

Sol war überrascht. Die beiden schienen einen recht vertrauten Umgang miteinander zu pflegen. „Seit wann seid ihr zwei denn so eng miteinander?“

Alec war der Mann, der ihn großgezogen hatte, aber sicherlich kein Mensch, mit dem Cassie früher gelacht und gescherzt hätte, das wusste Sol. Zögernd setzte er sich auf den Stuhl ihr gegenüber.

„Also hat er es tatsächlich geschafft“, sagte sie, ohne seine Frage zu beantworten.

Sol musterte sie. Sie hatte sich verändert. Statt dem langen Pferdeschwanz von früher trug sie nun einen modischen Bob, der hinten etwas kürzer geschnitten war als vorn und ihr bis zu den Schultern reichte. Wenn sie den Kopf drehte und ihr das Haar dabei ins Gesicht fiel, verspürte Sol den Wunsch, es sanft zurückzustreichen, um herauszufinden, ob es sich genauso toll anfühlte, wie es aussah.

Er räusperte sich. Hoffentlich sah Cassie ihm nicht an, was ihm gerade durch den Kopf gegangen war. „Er … hat was geschafft?“

„Dich zu überzeugen, dass du zu Weihnachten nach Hause kommst.“

„Hat er nicht.“

„Hm, das hätte mich auch sehr gewundert. Weißt du, Alec steht sich manchmal selbst im Weg.“

„Inwiefern?“

„Schon seit Monaten jammert er mir die Ohren voll, dass du nie nach Hause kommst, und ich sage ihm dann immer, dass ihm das ganz recht geschieht. Ich an deiner Stelle würde auch nicht kommen.“ Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und hob ihr Kinn an. „Ich habe ihm auch gesagt, dass er ein unverbesserlicher alter Griesgram ist.“

Sol warf den Kopf zurück und lachte, was sich so gut und so befreiend anfühlte, dass es ihm gleich besser ging. Das war typisch Cassie! Kaum war er mit ihr zusammen, brachte sie ihn schon zum Lachen und vertrieb seine trüben Gedanken. Und das, obwohl sie sich zehn Jahre nicht gesehen hatten.

Sie stimmte in sein Lachen ein, dann wurde sie wieder ernst. „Vor allem ist er aber eines, Sol. Ein alter kranker Mann. Und er hat Angst.“

„Angst? Wovor?“

Die Fliegentür ging auf, und Alec kam mit einem Tablett auf dem Schoß herausgerollt. Darauf standen ein Krug Mineralwasser und zwei Gläser.

„Pass auf meine Kätzchen auf“, warnte Cassie.

Alec brummelte, hielt den Blick aber trotzdem nach unten gerichtet, damit er keinem Kätzchen versehentlich über die Pfoten fuhr. Dann stellte er Krug und Gläser auf den Tisch.

Sol runzelte die Stirn, als er sah, dass sich Zitronenscheiben und Eiswürfel in den Gläsern befanden. Alec hatte doch nicht etwa …?

„Magst du uns Gesellschaft leisten?“, bot Cassie an.

„Nein, ich schaue mir doch gerade das Testspiel an.“

„Okay, dann lass dich nicht länger stören.“

Sol war überrascht, als Alec plötzlich lächelte. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das zum letzten Mal gesehen hatte. Achtzehn Jahre musste das wohl her sein …

„Diskutiere nie mit einer Frau“, sagte er dann auch noch grinsend. „Da ziehst du immer den Kürzeren.“

Das war der längste Satz, den Sol in der letzten halben Stunde von Alec gehört hatte. Er war zehn Jahre weg gewesen, und als er morgens ins Haus gekommen war, hatte Alec lediglich gesagt: „Da bist du ja“, als wäre Sol nur kurz im Supermarkt gewesen. Da hätte er am liebsten kehrtgemacht und wäre ins Hotel gegangen.

Cassie lachte. „Das gilt aber auch für dich!“, rief sie ihm nach und füllte dann die Gläser. „Jetzt geht’s ihm wieder besser, das merkt man. Er hat überhaupt nicht wegen der Kätzchen mit mir diskutiert, und das hat schon was zu heißen.“

„Und wovor hat er Angst?“, nahm Sol den Faden von vorhin wieder auf.

„Hättest du das nicht, wenn du wüsstest, dass du nicht mehr lange leben würdest?“

„Wie bitte?“

„Sag bloß, das weißt du nicht.“

„Nein, mir hat niemand was gesagt.“

„Ich dachte, das sei der Grund, weshalb du zurückgekommen bist. Hast du nicht mit seinem Arzt gesprochen?“

„Doch, aber Dr. Philips hat mir lediglich gesagt, dass Alec bald ins Pflegeheim muss und wahrscheinlich kurz nach Weihnachten ein Platz für ihn frei wird.“

„Puh …“ Cassie schüttelte den Kopf. „Wenn ich gewusst hätte, dass du keine Ahnung hast, dann hätte ich …“

„Schon gut, Cassie, du kannst nichts dafür.“

Es war allein seine Schuld, dass er nichts von Alecs schlechtem Gesundheitszustand wusste. Sol war viel zu lange weg gewesen und hatte den Dingen einfach seinen Lauf gelassen, ohne sich regelmäßig nach ihm zu erkundigen. Eins der Kätzchen strich jetzt um seine Beine, und er bückte sich, um es zu kraulen. „Was hast du eigentlich mit all den Tieren vor?“

„Ich möchte sie meinen Senioren zu Weihnachten schenken.“

Ihren Senioren? Sol trank einen Schluck aus seinem Glas und stellte es dann zurück auf den Tisch. „Okay … aber du willst Alec doch nicht etwa auch eins schenken?“

„Nein, natürlich nicht. Er muss ja bald ins Pflegeheim, dort darf man keine Tiere halten.“

Sol sah zu, wie ein anderes Kätzchen mit dem Schnürsenkel ihres rechten Schuhs spielte, und sein Blick wanderte unwillkürlich höher. Mann, was hatte sie für tolle Beine! Fast noch schöner als damals vor zehn Jahren.

Cassie beugte sich vor und streichelte das Kätzchen. „Du hast ihn nie Dad genannt, sondern immer nur Alec, stimmt’s?“

Sols gute Laune verflog schlagartig, wie immer, wenn er an früher dachte. „Stimmt. Wir standen uns nie besonders nahe.“

„Ich weiß.“ Cassie schwieg ein paar Sekunden und zog dabei nachdenklich mit den Fingern den Rand ihres Glases nach. „Er hat sich verändert, Sol. In den letzten zwei Jahren hat er keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken.“

Sol spürte einen Druck in der Magengegend und atmete tief ein. „Und was willst du mir jetzt damit sagen?“

Wieder zögerte sie kurz, dann hob sie den Kopf und sah Sol an. „Bist du nach Hause gekommen, um dich mit ihm zu versöhnen?“

„Meinst du das im Ernst? Wieso sollte ich …“

„Pst! Nicht so laut.“ Sie legte den Finger an die Lippen und wies mit dem Kopf zur Tür.

Das Kätzchen an Sols Füßen legte sich nun unter seinen Stuhl, und ein weiteres gesellte sich dazu. Sols innere Anspannung war zurück und verteilte sich in seinem ganzen Körper. Warum musste Cassie dieses Thema anschneiden?

„Hör zu, Sol, ich weiß, wie du dich fühlst. Meine Mutter war wie Alec, erinnerst du dich noch?“

Und ob er sich daran erinnerte! Am liebsten hätte er diese Zeit ganz aus seinem Gedächtnis gestrichen, doch das war unmöglich. „Hast du deine Mutter etwa Mom genannt?“, erwiderte er scharf. „Und hast du dich mit ihr versöhnt, bevor sie gestorben ist?“

Kaum hatte er die harschen Worte ausgesprochen, tat es ihm schon leid. Er wollte seinen Frust nicht an Cassie auslassen, das war nicht fair. Sie senkte den Kopf und ließ ihr Haar wie einen Vorhang über ihr Gesicht fallen, sodass Sol nicht sehen konnte, ob seine Worte sie gekränkt hatten.

„Nein, habe ich nicht“, gab sie schließlich zu. „Meine Mutter war nie lange genug nüchtern, als dass ich vernünftig mit ihr hätte reden können. Und jetzt ist sie tot.“

Sol legte seine Hand auf ihre. „Das tut mir leid.“

Sie drehte ihre Hand um und drückte seine sanft. „Und mir tut’s leid für dich.“ Dann zog sie ihre Hand ganz weg und lächelte. „Jetzt mal Themawechsel. Ich habe gehört, dass du ein erfolgreicher Architekt geworden bist. Dann kannst du mir ja endlich das Baumhaus bauen, das du mir vor zehn Jahren so hoch und heilig versprochen hast.“

Sol musste wieder lachen, und sein Unmut verflog. „Ach ja, das Baumhaus. Stimmt, das habe ich ganz vergessen.“

„Ich nicht.“

Die Art und Weise, wie sie das sagte, sprach Bände. Sie sah ihm in die Augen, und wieder berührte sie sein Herz. „Also, ich …“ Sol räusperte sich verlegen. Natürlich hatte er das Baumhaus nicht vergessen. „Ich hatte sogar schon Pläne dafür entworfen, nur mit der Umsetzung hat es dann gehapert.“

„Ja, das weiß ich noch. Leider haben wir damals keinen Baum gefunden, der groß genug dafür gewesen wäre.“

Sol lächelte. „Ich wollte halt schon immer hoch hinaus.“

Cassie erwiderte sein Lächeln. „Und das ist dir auch gelungen.“

Dass Cassie sich aufrichtig für seinen beruflichen Erfolg freute, merkte er ihr deutlich an. Er hingegen hatte es nicht einmal für nötig gehalten, der Beerdigung ihrer Mutter beizuwohnen, ganz zu schweigen der von Brian. Auch das bereute Sol zutiefst.

„Ich habe gehört, was mit Brian passiert ist, Cassie. Das tut mir sehr leid.“

Wieder senkte sie den Kopf, um ihre Gefühle vor Sol zu verbergen. Ihre Hände fingen leicht zu beben an, wie immer, wenn das Thema Brian aufkam. Hatte sie wirklich geglaubt, sie könnte mit Sol reden, ohne dass er auf Brian zu sprechen kam? Einen Moment lang war sie versucht, ihm etwas vorzuspielen, doch dann besann sie sich. Sol kannte sie zu gut und würde merken, wenn sie nicht ehrlich zu ihm war.

„Ja, das … war sehr schwer für mich“, gab sie zu und sah ihn wieder an. „Vor allem letztes Weihnachten war es besonders schlimm, und deshalb ist es mir jetzt auch so wichtig, für ein schönes Fest zu sorgen.“ Sie lächelte erneut. „Aber jetzt zurück zu dir, was hast du so alles vor? Bleibst du bis nach Weihnachten in Schofield?“

„Ja, das ist der Plan.“

Ein Gefühl freudiger Erregung erfasste Cassie. Weihnachten war erst in neun Tagen, was bedeutete, dass sie Sol mehr als nur ein paar Tage sehen würde, schließlich ging sie ja bei Alec ein und aus. „Und was wollte ihr an den Feiertagen machen, du und Alec?“

Sol zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Weihnachten ist für mich ein Tag wie jeder andere.“

„Im Ernst? Früher war das aber anders. Als wir Teenager waren, hätten wir uns sehr über ein schönes Weihnachtsfest gefreut, weil wir zu Hause nie eins hatten.“

„Ist dir das deshalb jetzt so wichtig?“

„Wahrscheinlich, ja.“ Cassie sah ihn prüfend an. „Und du? Ist die Vergangenheit der Grund, warum du Weihnachten nicht magst?“

„Schon möglich“, gab Sol zu, und in diesem Moment fasste Cassie den Entschluss, ihm ein schönes Weihnachtsfest zu schenken, ob er wollte oder nicht, denn sie war überzeugt davon, dass ihm das guttun würde.

Sie konnte sich noch gut daran erinnern, dass Sol zwölf Jahre alt gewesen war, als er zum letzten Mal richtig Weihnachten gefeiert hatte. Danach hatte sein Leben sich komplett verändert, nachdem seine Mutter die Familie verlassen hatte. Cassie betrachtete ihn versonnen. Wie gut er aussah, wie männlich, reif und erwachsen er geworden war. Schon als Teenager hatte er ihr sehr gefallen, und jetzt, mit seinen neunundzwanzig Jahren, fand sie ihn unglaublich attraktiv.

Sie nahm ein Kätzchen zu sich auf den Schoß, und es begann sofort zu schnurren. „Sol, kann ich dich um etwas bitten?“

„Klar. Alles, was du willst.“

Cassie lächelte spitzbübisch. „Das kann aber gefährlich für dich werden, du weißt doch noch gar nicht, was ich von dir will.“ Sol lachte wieder, und der angenehme Klang löste eine Gänsehaut bei ihr aus.

„Wir haben uns zwar zehn Jahre nicht gesehen, Cassie Campbell … beziehungsweise Parker“, korrigierte er sich selbst, „aber ich glaube, ich kenne dich trotzdem noch gut genug, um zu wissen, dass du mich nie reinlegen würdest.“

„Vielleicht habe ich mich ja verändert und bin nicht mehr wie früher.“

Sol wurde wieder ernst und sah sie nun auf eine Art und Weise an, die ihr Herz schneller schlagen ließ. „Stimmt, äußerlich hast du dich verändert, Cassie. Du siehst sogar noch schöner aus als früher.“

Unter seinem intensiven Blick wurde ihr ganz heiß, und sie trank schnell noch einen Schluck. „Danke für das Kompliment, das kann ich nur zurückgeben.“

„Danke gleichfalls.“ Sol lächelte. „Also, worum wolltest du mich bitten?“

„Ach so, ja.“ Cassie hätte fast vergessen, was sie sagen wollte, so durcheinander brachte er sie mit seinen Komplimenten und den heißen Blicken. „Also ich … ich wollte dich fragen, ob du dich vielleicht um meine Kätzchen kümmern kannst.“

Sol zog überrascht die Brauen hoch. „Ich soll mich um die Kätzchen kümmern? Wie denn und für wie lange?“

„Nur bis Weihnachten. Ich kann sie nicht bei mir zu Hause lassen wegen Rufus, meinem Hund. Bisher habe ich sie über Nacht in meine Waschküche gesperrt, aber da fühlen sie sich überhaupt nicht wohl, sie merken ja, dass Rufus in der Nähe ist. Du wirst auch keine Mühe damit haben, versprochen.“

Sol sah sie skeptisch an, und Cassie überlegte krampfhaft, wie sie ihn überreden könnte, ihr zu helfen. „Du brauchst überhaupt nichts zu machen außer sie morgens rauszulassen. Und ich komme jeden Abend her, um sie zu füttern.“

„Jeden Abend?“

Sie nickte eifrig. „Jeden Abend. Wenn ich sie gefüttert habe, schließe ich sie in eurer Waschküche ein, und du lässt sie morgens wieder raus, das ist alles.“

„Mehr nicht?“

„Mehr nicht. Ich will dich aber zu nichts drängen. Wenn du das nicht willst, komme ich trotzdem jeden Tag, weil ich mich ja eh um Alec kümmern muss. Ich bin seine Pflegehilfe.“

„Seine Pflegehilfe?“, wiederholte Sol verwundert. „Davon hat er mir gar nichts erzählt.“

„Das ist Teil eines Programms für pflegebedürftige Menschen, das von der Gemeinde organisiert wird. Sie werden von ehrenamtlichen Helfern unterstützt, zum Beispiel beim Kochen und leichten Hausarbeiten, damit sie länger in ihrem eigenen Zuhause wohnen bleiben können.“

„Und das machst du alles?“

„Ja, und es macht mir sehr viel Spaß.“

„Wie lange bist du schon dabei?“

„Seit zehn Jahren.“

Seit zehn Jahren! Wieder wurde Sol bewusst, wie wenig er von Cassies Leben wusste, seit er von Schofield weggegangen war. „Und wie lange betreust du Alec schon?“

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