Ein schicksalhaftes Erbe

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Lady Lina Radbourne ist verzweifelt: Ihr Gatte ist tot und hat ihr nichts hinterlassen! Wie soll es weitergehen? Ihre ganze Hoffnung ruht auf ihrem ungeborenen Kind: Falls es ein Junge wird, erbt er alles – und nicht der attraktive Colonel Winstead Vaughan, wie es die Erbfolge vorsieht. Als wäre das nicht Unglück genug, versucht auch noch jemand, Lina zu vergiften! Steckt Winstead dahinter? Dabei ist er immer so nett und zuvorkommend. Wie gerne würde sie ihrem Herzen vertrauen und sich in seine starken Arme schmiegen! Doch woher soll sie wissen, ob ihn nicht doch nur das Geld interessiert?


  • Erscheinungstag 10.01.2026
  • Bandnummer 423
  • ISBN / Artikelnummer 9783751540230
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Alyssa Everett

Ein schicksalhaftes Erbe

1. KAPITEL

Wir erben nur, wofür unsere Taten uns würdig machen.

George Chapman

Yorkshire, Anfang Dezember 1820

Lina war gerade drei Monate und zwei Tage verheiratet, als ihr junger Ehemann im Wirtshaus ein Glas zu viel trank, aufgrund einer Mutprobe auf den Glockenturm der Kirche kletterte und in der eisigen Dezemberkälte den Halt verlor. Der Kirchendiener hätte ihn gut genau an der Stelle begraben können, auf die er gestürzt war, allerdings war es Brauch bei den Earls of Radbourne, in der Familiengruft beigesetzt zu werden.

Lord Radbourne stürzte um ein Uhr nachts zu Tode. Um drei Uhr riss ein lautes Hämmern gegen Linas Schlafzimmertür sie aus tiefem Schlaf.

„Mylady!“ Die Stimme gehörte Mrs. Phelps, der Haushälterin. „Verzeihen Sie, aber Sie werden unten verlangt.“

Noch halb im Schlaf und verwirrt, setzte Lina sich auf. Edwards Seite im Bett war noch immer leer. „Unten?“

„Ja, Mylady. Sofort.“

Seufzend kletterte Lina aus dem Bett. Was hatte Edward jetzt angestellt? Sie würde ihm schon wieder eine Standpauke halten müssen.

Wenn du darauf bestehst, dich in Schwierigkeiten zu bringen, dann such dir dazu wenigstens eine angemessenere Zeit aus. Oder: Wirklich, Neddy, ich würde dich ja übers Knie legen, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass du Spaß daran haben würdest.

Aber vielleicht war der Tumult dieses Mal gar nicht Edwards Schuld, sondern irgendein Notfall bei den Dienstboten. Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln und tastete im Dunkeln nach dem Morgenrock. Womöglich hatte Cassandra wieder einen Anfall.

Lina trat auf den Flur hinaus, wo Mrs. Phelps, einen Kerzenständer in der Hand, sie bereits erwartete. „Was ist geschehen?“, flüsterte sie.

„Mr. Channing ist hier und möchte Sie sehen, Mylady.“

Mr. Channing? Was tat der Friedensrichter um diese Stunde auf Belryth Abbey? Mrs. Phelps drehte sich um und ging ihrer Herrin voraus, und Lina folgte dem flackernden Kerzenschein. Sie bogen um die Ecke und gingen die Treppe hinunter. In der Eingangshalle war Mr. Channing gerade damit beschäftigt, unruhig auf und ab zu gehen. Er trug noch immer seinen schweren Wintermantel. Sein Blick glitt flüchtig über Lina, als sie die letzten Stufen erreicht hatte.

Ein Anflug von Unbehagen vertrieb auch die letzten Reste ihrer Schläfrigkeit. Sie wappnete sich für den Ausdruck, den sie üblicherweise von ihm – und im Grunde auch der Hälfte aller Bewohner von Malton – gewohnt war, wann immer er sie ansah – als wäre er der König und sie ein Stück Mist, das er von seinem Stiefel kratzte. Sie rechnete dieses Mal mit einem besonders ausgeprägt verächtlichen Blick, da sie in ihrer Eile den Morgenrock übergeworfen hatte, den Edward ihr auf ihrer Hochzeitsreise geschenkt hatte und der eher den Eindruck vermittelte, sie sei ein Freudenmädchen und nicht die Frau eines Earls.

Aber der Blick drückte seltsamerweise nicht die übliche Verachtung aus.

Sie begrüßte ihn verwundert mit einem Kopfnicken. „Mr. Channing.“

Er runzelte düster die Stirn. „Ich werde nicht um den heißen Brei herumreden, Lady Radbourne. Ihr Gatte ist tot.“

„Was?“ Sie hatte das Gefühl, der Boden würde ihr unter den Füßen weggezogen.

„Tot. Auf dem Friedhof“, sagte Mr. Channing, und danach hörte sie ihn kaum noch, obwohl er weiterredete – etwas über das Radbourne Arms, den jungen Ralph Whitacre und eine Mutprobe. Eine Mutprobe! Edward konnte niemals widerstehen, wenn es um so etwas ging …

Mr. Channing sprach immer noch, aber Mrs. Phelps nahm ihren Arm. „Wirklich, Sir, können Sie denn nicht sehen, dass sie sich unbedingt setzen muss?“

Er folgte Lina, während die Haushälterin sie zum Salon führte. „Ich werde die übrigen Treuhänder informieren. Soll ich auch mit Mr. Niven in Kontakt treten für Sie?“

Zu fassungslos, um ihre Gedanken sammeln zu können, ließ Lina es einfach nur zu, dass man ihr half. Noch kein einziges Kaminfeuer war entzündet worden. Jeder Raum im Haus wirkte seltsam unvertraut im Dunkeln. „Mr. Niven?“

„Der Anwalt Ihres Mannes. Falls Sie es wünschen, schicke ich ihm eine Nachricht, sobald die Sonne aufgeht.“

„Oh, ja. Danke.“

„Wissen Sie, wer der Nächste in der Erbfolge ist?“

„Erbfolge?“ Sie hatten den Salon erreicht. Lina setzte sich schwer auf das Sofa. Tot. Edward, der immer so voller Leben war.

„Ja, um den Titel und den Besitz.“

„Oh, natürlich.“ Mr. Channing musste sie für unglaublich dumm halten, so wie sie ständig alles wiederholte, was er sagte, als wäre sie ein dressierter Papagei auf dem Jahrmarkt. „Das kann ich nicht sagen. Es war früher einmal der Bruder meines Mannes, aber jetzt … Ihr Vater war ein Einzelkind und ihr Großvater ebenfalls der einzige Junge. Es müsste also ein entfernter Cousin sein, wenn überhaupt einer existiert. Vielleicht weiß Mr. Niven mehr.“

Mr. Channing stellte sich vor sie und beugte sich leicht vor – halb besorgt, halb bedrängend. „Vergeben Sie meine Taktlosigkeit, Ma’am, aber die Frage muss gestellt werden. Ich vermute, es besteht die Möglichkeit eines Kindes?“

Wie konnte Edward sie einfach so im Stich lassen? Ihre letzten Worte an ihn hatten auch noch gelautet: Versuch bitte, dich nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Sie schalt ihn ständig, aber er nahm es immer gutmütig auf. Und jetzt war er nicht mehr da. Das konnte nicht wirklich wahr sein.

Aber Mr. Channing wartete. Mühsam riss Lina sich zusammen und versuchte, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Was hatte er eben noch gefragt?

Als sie ihn verloren ansah, verzog Mr. Channing den Mund wieder auf die altvertraute, verächtliche Weise. „Um zu erben, Lady Radbourne. Ihr Sohn wäre selbstverständlich der nächste Earl. Gewiss besteht doch eine gewisse Hoffnung …“

Ihr Sohn? Wovon redete er? Sie hatte keinen Sohn. Sie erwartete wohl auch keinen, nachdem sie gerade am vorigen Morgen einen Blutfleck entdeckt hatte. „Ich glaube nicht … nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin ganz sicher, dass es ein entfernter Cousin sein muss …“

„Aha. Nun gut.“ Mr. Channing richtete sich auf. „Ihr Verlust tut mir sehr leid. Er war stets ein sehr junger Bursche, Ihr Mann, und wäre bestimmt zu einem großartigen Mann herangereift, wenn ihm genügend Zeit geblieben wäre, sich in seine Rolle hineinzuleben. Ich mache mich jetzt auf den Weg. Mr. Wilkins sollte bald da sein, um Ihnen all den Trost zu geben, der in seiner Macht steht.“

Mr. Wilkins? Ausgerechnet der Pfarrer sollte sie trösten wollen? Edward mochte den Mann nicht einmal.

Lina saß wie in einem Nebel und hoffte, dass es nicht mehr als ein böser Traum war, aus dem sie gleich erwachen würde – in Sicherheit und von ihrem Mann geliebt, in ihrem weichen Federbett liegend.

„Gütiger Himmel, endlich sind wir da.“ Freddie wandte sich vom Fenster ab, als die Kutsche zum Halten kam. Mit seinen langen Armen und Beinen kam ihm das Innere des Wagens noch kleiner und beengter vor als am Anfang. „Selbst eine durchschnittlich schnelle Taube hätte nur sechs Stunden bis hierher gebraucht. Eine gute Flugtaube vielleicht sogar nur die Hälfte der Zeit.“

Win erhob sich, aber nicht zu seiner vollen Größe, um sich nicht schon wieder den Kopf an der Decke zu stoßen. Er war bereit, die Verschrobenheit und das Geplapper seines jüngeren Bruders mit Nachsicht zu betrachten, aber nicht, wenn Gefahr bestand, dass er damit seine Tochter wecken könnte. „Rede leiser, du Hohlkopf. Julia schläft.“

Glücklicherweise rührte Julia sich, warm in ihre Wolldecke gehüllt, überhaupt nicht. Es erstaunte Win nicht wenig, dass jemand in einer fahrenden Kutsche schlafen konnte, ganz besonders bei dem erbärmlichen Zustand, den die Wege in dieser Ecke Englands aufwiesen. Andererseits hatte er selbst auch in einigen recht unbequemen Fleckchen dieser Erde geschlafen, als er fünf Jahre alt gewesen war. Und außerdem war es nicht mehr weit bis zu ihrer Schlafenszeit, und das Tageslicht an diesem Abend im späten Januar verblasste bereits.

Freddie öffnete den Verschlag und sprang hinaus. So sanft wie möglich hob Win seine Tochter auf die Arme, lehnte ihr Köpfchen an seine linke Schulter und stieg vorsichtig aus.

Er hielt inne, um das Gebäude vor sich, das in seinen Anfängen eine Abtei gewesen war, nachdenklich zu betrachten. Wenn je ein Haus so aussehen könnte, als würde es darin spuken …

„Macht nicht viel her, was?“ Freddie stand an Wins Ellbogen und rümpfte die Nase. „Groß genug ist es ja, aber … Meinst du, es hat vielleicht einen Taubenschlag? Ich glaube, Kloster teilten sich das droit de colombier mit den Herrenhäusern und durften ihre eigenen Tauben halten.“

„Das werden wir wohl bald genug herausfinden.“ Win ließ den Blick über die enormen, verwitterten Steinmauern gleiten. Kloster hatte es gemeinhin in zwei Varianten gegeben – einerseits hoch aufragende gotische Schmuckstücke wie die Abtei von Westminster und andererseits deren gedrungene normannische Vorfahren. Belryth Abbey fiel in die zweite Kategorie. Ein ganzer Flügel lag in Trümmern. Es gab kein Dach und keine Fenster, sondern lediglich bröckelnde graue Mauern. Der Rest des Gebäudes erinnerte an eine riesige, umgestürzte Badewanne, bauchig und hässlich.

Aber es war Wins Familiensitz, und jetzt bekam er endlich die Gelegenheit, sein Versprechen an Harriet einzulösen. Schon allein dafür würde er lernen, ihn zu lieben.

Er stieg die abgenutzten Stufen zum Vordereingang hinauf, während sein Bruder ihm folgte. Es gab kaum eine Möglichkeit, mit diesem schweren eisernen Türklopfer leise Geräusche zu verursachen, aber Julia regte sich trotz des Lärms noch immer nicht. Als niemand öffnete, klopfte Win ein zweites Mal und etwas kräftiger.

Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen und enthüllte einen beleibten Diener mittleren Alters mit intelligenten Augen und leicht fliehender Stirn. Er sah von Win zu Freddie und wieder zu Win. „Ja?“

Win öffnete den Mund, um seinen Namen zu sagen, aber plötzlich wusste er nicht, wie er das tun sollte. Es kam ihm vermessen vor, einfach so an der Vordertür zu erscheinen und sich einem alten Bediensteten als „Radbourne“ vorzustellen, als hätte er sein ganzes Leben lang nur darauf gewartet, die Stelle des verstorbenen Earls anzunehmen. Dabei hatte er nicht einmal gewusst, dass er für das Erbe infrage gekommen war, bis er vor einer Weile den Brief vom Anwalt erhalten hatte. Also beschloss er, den Namen anzugeben, den er sein ganzes Leben benutzt hatte. „Winstead Vaughan aus Hampshire und mein Bruder Mr. Frederick Vaughan – Cousins vierten Grades des siebten Earls.“

Als er den Namen Vaughan hörte, verschwand die kühle Höflichkeit des Butlers augenblicklich, und er begrüßte die Neuankömmlinge lebhaft. „Ah, natürlich, Sir!“ Er verbeugte sich tief. „Verzeihen Sie mir. Ich war nur so überrascht. Mr. Niven hat Sie nicht vor morgen erwartet, und wir wussten auch nicht, dass Sie ein Mann mit Familie sind.“

Sir? „Ein Witwer.“ Er wies mit dem Kinn auf das schlafende Kind in seinen Armen. „Meine Tochter Julia.“

„Willkommen, Sir. Ich bin Dyson.“ Er sah über die Schulter zu einem Diener, der genau hinter ihm stand. „Ruf Mrs. Phelps und sag ihr, dass Mr. Vaughan angekommen ist und wir ein weiteres Zimmer für seinen Bruder und seine kleine Tochter brauchen.“

Wieder Sir und Mr. Vaughan. Entsprach das dem üblichen Protokoll so bald nach dem Tod eines Earls, oder war sich der Butler nicht bewusst, weswegen er überhaupt gekommen war? Win hätte es fast für möglich gehalten, dass der Brief, den er vor nun fast drei Wochen erhalten hatte, nichts weiter als ein Scherz gewesen war, ein ausgeklügelter Streich, den ihm einer seiner alten Kriegskameraden gespielt hatte, aber Dyson hatte Mr. Niven namentlich erwähnt und hinzugefügt, dass das Personal ihn erwarten würde.

Im Innern machte das Haus einen besseren Eindruck. Hier war es viel wärmer und nicht so düster und beengend, wie Win gefürchtet hatte. Obwohl der Boden in der Halle aus Schiefer bestand, waren die Räume zu beiden Seiten mit dicken Perserteppichen ausgelegt – sehr kostbaren, soweit er es beurteilen konnte. Deren kräftige Farben erhellten das Innere und vertrieben das Gefühl von Düsterkeit und Schwermut. Win konnte auch keine Anzeichen von Feuchtigkeit oder starken Luftzügen feststellen, und das hieß schon sehr viel, wenn es um ein altes Gemäuer wie dieses ging.

„Gibt es einen Taubenschlag auf dem Gut?“, fragte Freddie den Butler hoffnungsvoll.

Dyson runzelte verwirrt die Stirn. „Einen Taubenschlag, Sir?“

„Ja. Sie wissen schon, ein Taubenhaus. Eine Konstruktion, in der man größere und kleinere Arten von Tauben unterbringt. In Frankreich gibt es Taubenschläge mit sogar mehr als zweitausend boulins.“

„Nistlöcher“, übersetzte Win freundlicherweise. „Mein Bruder hat großes Interesse an Tauben“, fügte er unnötigerweise hinzu. Obwohl er sich schon seit Langem mit der Hoffnungslosigkeit abgefunden hatte, Freddie je dazu überreden zu können, über irgendein anderes Thema zu sprechen, wünschte Win im Augenblick wirklich, sein Bruder wäre ein wenig zurückhaltender und würde seine exzentrische Liebhaberei nicht jedem mitteilen, dem er begegnete.

„Jahrhunderte vor Jesus Christus waren es Tauben, die den Stadtstaaten des antiken Griechenland die Ergebnisse der Olympischen Spiele überbrachten“, teilte Freddie dem Butler mit. „Deswegen gebe ich all meinen Tauben klassische Namen. Admetus und Alcestis, Odysseus und Penelope, Philemon und Baucis …“

Win unterbrach ihn. „Nicht nötig, Dyson mit der vollständigen Liste zu überwältigen, Freddie.“

Das Gesicht des Butlers blieb bewundernswert gelassen. „Ich fürchte, es gibt keinen Taubenschlag auf dem Grundstück von Belryth Abbey, Sir.“

„Wirklich? Verdammt. Wo mag der nächste Taubenschlag also liegen?“

Win hatte jede Methode angewandt, die ihm einfiel, um seinen Bruder zu dieser Reise zu überreden, einschließlich diverser vager Andeutungen, dass Yorkshire ein wahres Paradies für Tauben sei. Natürlich würde Freddie keine Ruhe geben, bevor er dafür gesorgt hatte, dass man ihm seine Vögel brachte. „Machen wir uns darum Gedanken, nachdem wir den Rest des …“

Er brach ab, als die Haushälterin erschien – jünger und attraktiver, als er erwartet hatte –, um ihnen ihre Zimmer zu zeigen. Win hatte natürlich nicht die Absicht, mit den Bediensteten zu tändeln, aber dass die oberen Ränge des Personals nicht völlig aus alten Dienern bestanden, war eine angenehme Überraschung.

In dem Raum, der für Julia gedacht war, war die Kammerzofe noch damit beschäftigt, Feuer zu machen. Win legte seine Tochter behutsam auf das gemachte Bett und zog die kunstvoll bestickte Bettdecke bis zu ihrem Kinn hoch – in der Hoffnung, dass sie die Nacht durchschlafen würde. Es war ein großes Zimmer und sehr hübsch, ganz und gar nicht die trostlose Zelle, die er befürchtet hatte. Allerdings sah nach einer anstrengenden Reise von sieben Tagen wohl jedes Zimmer einladend aus, wenn es nicht roch und aussah wie die Gasthäuser an einer Poststation.

Er trat wieder in den Flur hinaus und stellte fest, dass Mrs. Phelps Freddie bereits zu seinem Zimmer gebracht hatte. Sosehr er seinem Bruder auch zugetan war, musste Win zugeben, dass er sich freute, einen Moment für sich allein zu haben. Mit Julias Ungeduld auf der einen Seite und Freddies zwanghaftem Geschnatter auf der anderen, hatte er keinen Augenblick Ruhe gefunden, seit sie Bishop’s Waltham verlassen hatten. Aber wenigstens wusste er jetzt alles, was es zu wissen gab, wenn es darum ging, den Gesundheitszustand einer Taube abzuschätzen, indem man deren Kot untersuchte.

Sein Zimmer erwies sich als ebenso einladend wie das seiner Tochter mit seinen getäfelten Wänden, dem Mahagonibett und den Seidenvorhängen. Insgesamt bekam er einen immer zuversichtlicheren Eindruck vom Zustand des Hauses. Kaum hatte er sich jedoch den Reiseschmutz vom Leib gewaschen, da klopfte es leise an seine Tür.

„Verzeihen Sie, Sir“, sagte Dyson beim Eintreten, „aber Mr. Niven möchte Sie gern im Salon sprechen.“

Er brauchte die Begleitung des Butlers, um den Salon zu finden. Es war ein großer Raum im vorderen Teil des Gebäudes, das stilvoll und elegant mit Möbeln eingerichtet war, die aussahen wie Chippendale. Barocke Porträtmalerei blickte von den Wänden herab. Belryth Abbey musste tatsächlich regelrecht luxuriös genannt werden.

Win schüttelte insgeheim den Kopf über seine Art, das Haus seiner Ahnen abzuschätzen wie ein Pferdehändler einen jüngst erstandenen Gaul. Er musste diese Gewohnheit wirklich ablegen, bevor einer der Bediensteten ihn dabei ertappte, wie er das Silberbesteck nach dem Gütesiegel absuchte.

Es waren zwei Männer, die ihn erwarteten. Der eine war ein schlanker, adretter Gentleman mit faltenfreiem Gesicht und gepflegtem silbergrauem Haar. Sobald er Win bemerkte, kam er eilends auf ihn zu und hielt ihm die Hand hin. „Ich bin Arthur Niven. Ich habe Sie nicht so bald erwartet.“

Win schüttelte ihm die Hand. „Ich habe alles getan, um die Reise kurz zu halten. Es gefällt mir nicht, unterwegs zu sein, ganz besonders im Winter. Das unstete Leben während des Krieges in Spanien reicht mir für den Rest meines Lebens.“

Mr. Niven wies auf den kräftigeren Mann, der genau hinter ihm stand. „Das ist Mr. Channing, der darum gebeten hat, an unserem Gespräch teilzunehmen.“

„Ich bin hier der Friedensrichter“, sagte Channing und schüttelte Win ebenfalls die Hand, „ebenso wie einer der drei Treuhänder des Vermögens. Ich habe mich nach dem Tod des Earls mit Mr. Niven in Verbindung gesetzt und bin sozusagen seine Augen und Ohren hier, wenn er sich in York aufhält.“

Obwohl Mr. Channing nur ein wenig älter sein dürfte als Mr. Niven, waren die beiden Männer äußerlich totale Gegensätze. Mr. Niven hatte ein weltmännisches, penibles Auftreten, während Mr. Channing die zerknitterte Reitkleidung und ausgetretenen Schaftstiefel eines Landadligen trug. Er war groß und breit, fast so groß wie Win, und hatte raue Hände und ein wettergegerbtes Gesicht.

Der Anwalt wies auf einen Sessel. „Bitte setzen Sie sich. Wir haben recht viel zu besprechen.“

Win nahm Platz und sah die beiden Gentlemen ernst an. „Nach Ihrer Miene zu schließen, wird es nichts Gutes sein.“

„Leider haben Sie recht.“

„Ich bleibe stehen“, sagte Channing, als Mr. Niven sich in einen der zwei Sessel gegenüber von Win setzte. „Mein Rücken macht mir zu schaffen, und das wird im Sitzen nicht besser.“

Mr. Niven begegnete Wins Blick und seufzte. „Ich fürchte, es gibt keine schonende Art, Ihnen das mitzuteilen. Als ich Ihnen schrieb, war ich davon überzeugt, dass Sie der rechtmäßige Erbe des verstorbenen Lord Radbourne sind und damit Anspruch auf dessen Titel und Würden haben. Sie und er haben im vierten Earl einen gemeinsamen Ahnen, und ich konnte in der männlichen Linie keinen näheren Berechtigten finden.“

Win spannte sich unwillkürlich an. „Ich spüre, dass Sie mit einem Aber fortfahren werden.“

Der Anwalt nickte knapp. „In der Tat. Ich war leider zu voreilig, als ich mich mit Ihnen in Verbindung setzte. Zu der Zeit glaubte ich, der verstorbene Lord Radbourne sei ohne legitime eigene Erben verstorben und ohne die Erwartung auf welche. Aber wie es aussieht, ist seine Witwe guter Hoffnung.“

Der Brief, den Win von Mr. Niven erhalten hatte, war gespickt gewesen mit eindeutigen Versicherungen wie das kürzlich erfolgte Hinscheiden seines Cousins und starb kinderlos. An keiner Stelle war die Existenz einer Witwe auch nur erwähnt worden. „Sie werden mir meine Offenheit nachsehen, Mr. Niven, aber es sind mehr als 250 Meilen von Bishop’s Waltham bis hierher, und ich habe gerade diese Strecke in einer geschlossenen Kutsche und in Gesellschaft eines kleinen Kindes und eines unruhigen Neunzehnjährigen hinter mich gebracht. Ich gehöre nicht zu den Männern, die sich mir nichts, dir nichts entwurzeln. Sie hätten sich vielleicht erst die Mühe machen sollen zu ergründen, ob ein Kind unterwegs ist oder nicht, sodass kein Zweifel geblieben wäre, bevor Sie mir mitteilten, dass ich der Erbe bin.“

Mr. Niven schürzte leicht die Lippen. „Ja. Ja, Sie haben natürlich vollkommen recht, und ich entschuldige mich dafür aufrichtig bei Ihnen. Ich hätte länger warten sollen, bevor ich versuchte, mich an Sie zu wenden. Aber mir war versichert worden, dass Lady Radbourne die Möglichkeit eines Babys ausdrücklich verworfen hatte.“ Er bedachte Mr. Channing mit einem finsteren Blick, der unverhohlen klarstellte, wer sein Informant gewesen war.

Mr. Channing war sichtlich verärgert. „Sie sagte mir, sie sei nicht schwanger. Meinte sogar entschieden, das sei unmöglich! Und ich kann ja wohl kaum die Worte einer frisch verwitweten Frau anzweifeln, was ihre … äh … weiblichen Symptome angeht. Sie ließ mich glauben, dass kein Zweifel besteht.“

„Aber ein Baby ist dennoch unterwegs“, sagte Mr. Niven. „Oder wenigstens teilte uns Lady Radbourne vor fünf Tagen mit, dass sie das glaube.“

Mr. Channing sah so aus, als hätte diese Neuigkeit einen üblen Nachgeschmack hinterlassen. „Ja. Aber weiß Gott, wessen Baby das nun ist.“

Win blinzelte erstaunt. „Wollen Sie damit sagen, es bestehe irgendein Zweifel an der Vaterschaft des Kindes?“

„Mehr als nur irgendeiner.“ Mr. Channing ging rastlos und in offensichtlicher Unzufriedenheit auf dem gemusterten Teppich auf und ab. „Selbst als ihr Mann noch am Leben war, ging Lady Radbourne viel zu freundlich mit dem hiesigen Doktor um – der darüber hinaus zu jeder Tages- und Nachtstunde hier ein und aus ging. Fast der ganzen Nachbarschaft ist das schon aufgefallen. Ich traue ihr zu, dass sie sich schwängern ließ, sobald sie erfuhr, dass ihr Mann tot war, um das Radbourne-Vermögen an sich zu reißen. Immerhin war sie vor ihrer Heirat eine Douglass.“ Er sprach den letzten Satz aus, als würde der alles sagen und kein weiterer Beweis wäre mehr nötig.

Win rührte sich unbehaglich. „Sie vergessen, dass ich nicht aus dieser Gegend bin. Was hat die Tatsache, dass sie eine Douglass ist, mit der Angelegenheit zu tun?“

Mr. Niven verzog schmerzlich das Gesicht, aber Mr. Channings Miene wurde noch grimmiger. „Na ja, ihre Mutter bekam fünf Bälger von drei verschiedenen Männern, und es hat nie wirklich einen Mister Douglass gegeben, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Win bezweifelte sehr, dass irgendjemand ihn missverstehen könnte. Lady Radbournes Mutter hatte also moralisch ein eher abenteuerliches Leben geführt – und nach Channings Haltung zu schließen, war der Apfel hier nicht weit vom Stamm gefallen.

„Lady Radbournes Mutter und drei ihrer Geschwister sind inzwischen gestorben“, warf Mr. Niven sehr viel diplomatischer ein. „Sie ist Halbschwester des anderen überlebenden Mädchens.“

Mr. Channing nickte. „Sind wie Tag und Nacht, die beiden. Die eine dunkelhaarig und unverschämt und die andere hell und kränklich.“

Win fragte sich, welche der beiden Schwestern Lady Radbourne war, die Unverschämte oder die Kränkliche. Er ging davon aus, dass es Erstere sein musste, wenn sie hinter dem Rücken ihres Gatten ein Techtelmechtel mit einem anderen Mann haben konnte.

Mr. Niven wurde ernst. „Leider besteht keine Möglichkeit zu beweisen, dass Lady Radbournes Baby auf ehebrecherische Weise empfangen wurde, und selbst wenn es nicht so wäre, kümmert sich das Gesetz nicht darum, ob der verstorbene Lord Radbourne der Vaters des Kindes ist, sondern nur ob er es hätte sein können. Dem Gesetz nach muss jedes Baby, das er in einer logischen Frist vor seinem Tod hätte zeugen können, als sein posthumes Kind betrachtet werden.“

„Eine logische Frist?“, fragte Win. „Welche Frist wäre das?“

„Das wird nicht ausdrücklich festgesetzt. In aller Regel gilt jede Geburt, die innerhalb von zehn Monaten nach dem Tod des Vaters erfolgt, als legitim.“

„Zehn Monate …“ Also könnte er bis Oktober im Ungewissen bleiben.

„Vielleicht länger. Wenn die Legitimität eines Kindes umstritten ist, sind die meisten Geschworenen sehr abgeneigt, den guten Ruf einer Witwe zu beschmutzen und ein vaterloses Kind zu enterben.“ Mr. Niven zuckte die Achseln. „Sie haben jedoch das Recht, einen Anspruch zu stellen, Mr. Vaughan.“

Mr. Vaughan. Win war froh, dass er sich dafür entschieden hatte, sich dem Butler mit seinem Namen vorzustellen. „Und zwar?“

Der Anwalt lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Fingerspitzen nachdenklich aneinander. „Sie könnten einen Erlass erlangen, einen sogenannten De ventre inspiciendo. Der würde es Ihnen erlauben, Lady Radbourne untersuchen zu lassen, um ohne jeden Zweifel festzustellen, ob sie ein Kind erwartet. Wenn es so ist, können Sie sie an einem bestimmten Ort einsperren, bis zur Geburt regelmäßig untersuchen lassen und bei dieser schließlich dafür sorgen, dass Zeugen anwesend sind.“

Win konnte ihn einen Moment nur mit offenem Mund anstarren. „Mein Gott“, sagte er dann. „Sieht das Gesetz das wirklich vor?“

„Es wird heutzutage nicht oft durchgeführt, aber ja, als mutmaßlicher Erbe haben Sie das Recht, so etwas zu verlangen. Der Erlass würde sie davon abhalten, einen Ersatz einzuschmuggeln sozusagen, das heißt, eine Schwangerschaft vorzutäuschen und zu versuchen, zum Beispiel ein Findelkind als den rechtmäßigen Erben auszugeben.“

Guter Gott, konnte es sein, dass Lady Radbourne wirklich dermaßen verschlagen war? Aber wie ihr Charakter auch sein mochte, Win wusste, wozu sein eigenes Gewissen fähig war und wozu nicht. „Nein. Ich werde die Witwe meines Cousins keiner Untersuchung aussetzen. Und ganz gewiss werde ich sie nicht einsperren wie einen gewöhnlichen Verbrecher.“

Unter Mr. Nivens halb gesenkten Lidern funkelten seine Augen beifällig. „Eine weise Entscheidung, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben. Was immer eine solche Untersuchung auch ergeben würde, besteht kein Zweifel, dass Lady Radbourne doch noch immer die Dowager Countess ist und das Recht hat, vom Erben anständig behandelt zu werden.“

„Wird immer auf den Füßen landen, diese Person“, meinte Mr. Channing mürrisch.

Win seufzte tief auf. Er hatte Mr. Nivens Brief als göttliches Eingreifen angesehen. Hamble Grange war kein Fideikommiss, und Wins Vater hatte das Gut schon vor Jahren mit Hypotheken belastet, um die Ausbildung seiner Söhne zu bezahlen und für ein neues Dach zu sorgen. Die Ernten der vergangenen paar Jahre hatten unter den kalten Sommern gelitten, und obwohl Win ein achtsamer Verwalter war, lag er in der Zahlung der Hypotheken zurück. Er war bereits gezwungen gewesen, Freddie aus Cambridge zurückzuholen – nicht, dass es Freddie etwas ausgemacht hatte, aber Win, im Gegensatz zu ihm, sogar sehr. Falls er keinen Weg finden konnte, die Bank zufriedenzustellen, würde er Hamble Grange verlieren.

Er hatte sich außerdem darüber gefreut, Julia als Tochter eines Adligen aufwachsen zu sehen, statt als Kind eines unbedeutenden und noch dazu verschuldeten Gutsbesitzers. Lady Julia Vaughan. Gerade als er gehofft hatte, endlich sein Versprechen an Harriet einlösen zu können …

Nachdenklich rieb er sich das Kinn. „Und was bedeutet das jetzt für mich?“

„Sollte Lady Radbourne einen Jungen zur Welt bringen, wird seine Geburt Sie leider den Titel und das Gut kosten. Natürlich besteht genauso gut die Möglichkeit, dass es ein Mädchen wird.“

„Oder es könnte eine Fehlgeburt werden“, sagte Mr. Channing.

Sowohl Win als auch Mr. Niven zuckten bei seinem seltsam optimistischen Ton unwillkürlich zusammen, aber der Anwalt musste zustimmen. „Ja, auch das ist eine Möglichkeit. Sie sehen also, Ihre Chancen stehen ein wenig besser als fünfzig zu fünfzig, Mr. Vaughan. Und selbst wenn es ein Junge werden sollte, bleiben Sie der Nächste in der Erbfolge, bis der Junge selbst einen Sohn zeugt.“

„Aber im Augenblick sagen Sie mir, dass ich eigentlich nichts habe.“

„Was war das?“ Freddies Stimme erklang hinter ihnen an der Tür und klang schärfer, als man es von seiner sonst so geistesabwesenden Art gewohnt war. „Was meinst du damit, dass du nichts hast?“

Win sah über die Schulter zu seinem Bruder hinüber, der mit weit aufgerissenen Augen das Bild betrachtete, das er und die beiden anderen Männer abgaben. „Sieht so aus, als würde ich vielleicht doch nicht der neue Earl werden.“ Er sprach so gelassen, wie es ihm nur möglich war. „Unser Cousin hat eine Witwe hinterlassen, und offenbar ist sie in anderen Umständen.“

Freddie fiel die Kinnlade herunter. „Du machst Witze.“

„Leider nicht.“ Win stellte Freddie die Gentlemen vor und gab ihm eine kurze und leicht zensierte Version von allem, was Mr. Niven ihm mitgeteilt hatte.

Ausnahmsweise schien Freddie an einer Angelegenheit interessiert zu sein, die nichts mit seinen Tauben zu tun hatte. Obwohl er den Anwalt nicht richtiggehend anstarrte – Freddie hatte die verwirrende Neigung, ins Leere zu schauen, wenn er jemanden ansprach –, so runzelte er doch ungläubig die Stirn. „Wir haben uns also völlig umsonst die Mühe gemacht herzukommen?“

„Ja und nein“, erwiderte Mr. Niven. „Zu diesem Zeitpunkt kann Ihr Bruder sein Anrecht an den Titel nicht beweisen, also kann er weder eine Vorladung beantragen noch seinen Sitz im Oberhaus einnehmen. Aber dennoch ist er bis auf Weiteres noch der rechtmäßige Erbe. Die Treuhänder des Besitzes werden zwar nicht zulassen, dass er es ruiniert, aber er hat das Recht, es zu nutzen und zu bewohnen – zumindest bis zu Lady Radbournes Entbindung. Alles Übrige hängt von der Countess und ihrem Baby ab.“

Noch immer finster blickend, ließ Freddie sich in einen Sessel fallen. „Na ja, das ist wenigstens etwas“, meinte er sarkastisch.

Ja, es war wirklich etwas – es war Ungewissheit und Verzögerung und Verwirrung. Win wollte sich seine Enttäuschung nicht anmerken lassen, ganz besonders nicht vor Freddie, der nichts von den finanziellen Problemen auf ihrem Gut wusste. Aber es war dennoch eine sehr bittere Pille. Er hatte sein Haus in Hampshire geschlossen, Julia von ihrem geliebten Kindermädchen Drew getrennt und Freddie – eigentlich gegen seinen Willen, weil er seine Tauben nur sehr ungern zurückließ – durch ganz England gezerrt – und all das für nichts und wieder nichts. Außerdem hatte er einunddreißig Pfund ausgegeben, um hierherzukommen, eine Summe, die er sich nicht leisten konnte. Und jetzt würde er weitere einunddreißig Pfund aufbringen müssen, nur um wieder nach Hause zu kommen.

Natürlich konnte er bleiben und sich mit dem Gut vertraut machen, aber wenn er das tat und Lady Radbournes Kind am Ende ein Junge wurde, würde er wirklich wie der größte Idiot dastehen, dem nur noch blieb, nach Hamble Grange zurückzukriechen, ohne etwas für die vielen Monate seiner Abwesenheit vorzeigen zu können. Und nicht nur das, er würde außerdem auf sehr ungehörige Weise raffgierig aussehen, wenn er hier verweilen wollte, noch dazu mitsamt Bruder und Tochter, um der Witwe bis zu ihrer Entbindung sozusagen im Nacken zu sitzen.

Er war nicht einmal sicher, um wie viel es hier überhaupt ging. Verlegen sah er zu Mr. Niven hinüber. „Ich möchte nicht unfein erscheinen, aber die Frage muss gestellt werden, wenn auch nur aus Gründen der Klarheit. Wie viel ist das Erbe wert?“

Der Anwalt zeigte ein gewisses Unbehagen. „Es ist nicht möglich, einen Preis für Haus, Land und Familienerbstücke festzusetzen, außerdem ist alles Fideikommiss und kann somit nicht veräußert werden. Aber ich kann Ihnen sagen, dass die Pachten und weiteres Einkommen sich auf etwa dreißigtausend im Jahr belaufen.“

Win schnappte nach Luft und versuchte es hastig durch einen trockenen Husten zu kaschieren.

Freddie war weniger taktvoll. Er rutschte abrupt in seinem Sessel nach vorn. „Haben Sie dreißigtausend gesagt?“

„Ungefähr so viel, ja. Zusammen mit dem Kohlebergwerk und den Schifffahrtsinteressen.“

Win fühlte sich seltsam benommen. Er hatte den Titel mit einkalkuliert und alles auf zwischen acht und zwölf geschätzt, und gehofft hatte er auf fünfzehn. Nur in seinen fantasievollsten Momenten hatte er von der fürstlichen Summe von zwanzigtausend geträumt. Aber sogar dreißig? Hamble Grange brachte kaum zweitausend im Jahr ein, und das nur bei einer sehr guten Ernte. Selbst Harriets Familie, so wohlhabend sie auch war, konnte nicht mehr als sieben aufweisen.

Dreißigtausend. Und eine solch enorme Summe könnte ihm gehören – oder auch nicht. Alles hing von der Countess und ihrem Baby ab.

„Oh, Mann“, sagte Freddie. „Ich wünschte, du hättest diese Frage nicht gestellt, Win. Dass du einem Titel so nahe gewesen bist, bevor du ihn wieder aufgeben musstest, ist schon übel genug, aber sich dreißigtausend durch die Lappen gehen zu lassen …“

„Es hat keinen Zweck zu verzweifeln“, meinte Mr. Niven mitfühlend. „Der Zustand der Countess könnte ja auch nur eine kleine Verzögerung darstellen.“

Erschöpft erhob Win sich. „Ja, gewiss. Ich danke Ihnen, Mr. Niven. Verzeihen Sie, mein Bruder und ich haben eine lange Reise hinter uns, und meine Tochter schläft oben. Ich kann auch noch morgen früh entscheiden, was jetzt geschehen soll.“ Es gab nur noch eins, was er wissen wollte. „Wann können wir Lady Radbourne treffen?“

„Oh, darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen“, versicherte Mr. Niven ihm. „Sie ist zusammen mit ihrer Schwester ins Witwenhaus gezogen. Sie wird Sie nicht stören.“

„Nein“, sagte Mr. Channing und lächelte breit. „Sie machte sich davon, bevor sie beschloss, schwanger zu sein. Die einzige gute Nachricht, die Sie erhalten haben, seit Sie angekommen sind, was, Mr. Vaughan?“

2. KAPITEL

Manchmal fehlt nur ein einziger Mensch, und doch scheint die ganze Welt entvölkert.

Alphonse de Lamartine

„Ich wünschte, ich wäre ein Igel“, sagte Lina. Sie saß auf der Fensterbank und sah in den frostigen Morgen hinaus. „Oder ein Siebenschläfer. Dann könnte ich jedes Jahr Winterschlaf halten.“

Cassandra setzte ihre Teetasse ab und wirkte sehr erstaunt, ihre Schwester so reden zu hören. „Mir hat der Winter auch nie gefallen, aber ich würde bestimmt nicht so viel von meinem Leben verschlafen wollen.“

Lina seufzte. „Nein, wahrscheinlich nicht.“

Außer in diesem Jahr. Zwar wollte sie Cassie nicht beunruhigen, aber diese Zeit ihres Lebens hätte sie wirklich äußerst gern verschlafen. Wenn sie sich zusammenrollen und die nächsten zwei Monate durchschlafen könnte, würde sie vielleicht aufwachen und feststellen, dass Edward ihr nicht mehr so fürchterlich fehlte. Es würde bereits Frühling sein und sie würde im Sonnenschein sitzen und ihr Baby in sich wachsen spüren, statt sich übel zu fühlen, zu frieren und sich Sorgen darüber zu machen, ob sie sich nicht doch über ihren Zustand geirrt hatte.

Aber das war reine Feigheit. Sie tat sich selbst nur fürchterlich leid und schreckte vor einem neuen Abenteuer zurück. Das waren alles Dinge, die Edward gehasst hätte. Und übrigens wäre er entsetzt gewesen, wenn er sie jetzt sehen könnte – in ihrem alten Wollkleid und den Haaren, die sie zu einem unattraktiven Zopf geflochten und hochgesteckt hatte. Fast ihr ganzes Leben lang war ihr Aussehen das einzig Wertvolle gewesen, das sie besessen hatte, der einzige Vorzug, auf den sie selbst in den bedrückendsten Momenten stolz gewesen war. Doch in letzter Zeit konnte sie sich kaum dazu aufraffen, auch nur einen Funken Interesse für ihr Äußeres aufzubringen, wenn sie sich morgens ankleidete.

„Du solltest nicht beim Fenster sitzen“, sagte Cassie. „Sagst du mir nicht selbst immer, es sei die kälteste Stelle im ganzen Haus?“

Lina antwortete nicht sofort, da ihre Aufmerksamkeit von einer jungen Frau erregt wurde. Sie trug einen Umhang und hielt einen Eimer Milch in der Hand, während sie den Park überquerte. „Das Milchmädchen kommt. Sie ist heute spät dran. Sarah hat sich schon auf den Weg zum Markt gemacht.“

Sie machte Anstalten aufzustehen, aber Cassandra hob die Hand, um sie aufzuhalten. „Nein, steh nicht auf. Diesmal kümmere ich mich darum. Vielleicht hat sie ja auch ein wenig Klatsch für uns, der uns aus unserer Langeweile reißen kann.“

Lina lächelte dankbar und sah ihrer Schwester nach, die auf das Mädchen zuging. Sie wünschte, sie hätte Cassies offene Art und engelhaftes Aussehen. Cassandra war die geselligere von ihnen beiden, die lebhafte Romantikerin und jedermanns Vertraute, während Lina immer sehr viel entschlossener und realistischer gewesen war, die Stimme der Vernunft und der Pflicht. Das rührte natürlich daher, dass sie das älteste Kind war und sich immer um die jüngeren gekümmert hatte.

Vielleicht waren die vergangenen Monate auch deswegen so schwierig für sie gewesen. Seit Edwards Tod schien sie all ihre Energie und Entschlossenheit verloren zu haben. Sie hatte nicht einmal das Rückgrat besessen, Mr. Niven in seine Schranken zu weisen, als sie ihm ihre Neuigkeit mitgeteilt und er sie mit diesem ganz bestimmten Blick bedacht hatte, als würde er sich bei ihr über gar nichts mehr wundern. Er hätte sagen können, dass er sich für sie freue, so wie Cassie es getan hatte, oder wenigstens eine neutrale Haltung einnehmen können, wie es sich für einen Mann seines Berufsstands gehörte. Stattdessen hatte er sich ganz kurz seine Verärgerung anmerken lassen, hatte sogar missbilligend die Stirn gerunzelt, als hätte sie ihr Baby nur empfangen, um ihm das Leben zu erschweren und einen völlig unberechtigten Anspruch auf das Gut geltend zu machen.

Lina hatte von den Lästermäulern im Dorf natürlich eine solche Ablehnung erwartet – von jenen engstirnigen Klatschbasen, die auf sie herabgesehen hatten, seit sie sich erinnern konnte. Sie war immerhin die Tochter einer gefallenen Frau und eines treulosen Schurken, und sie war in dem Wissen aufgewachsen, dass der größte Teil des Landadels in Malton sie verachtete. Aber bei jeder Gelegenheit, bei der sie Mr. Niven begegnet war und als Edward noch am Leben gewesen war, hatte er sich verbeugt und gelächelt und sich wieder verbeugt, nur allzu eifrig darauf bedacht, ihr zu Gefallen zu sein.

Der böse Blick des Anwalts war ungerecht gewesen. Sie hatte nichts getan, dessen sie sich schämen müsste.

Nun, sie würde es ihm schon zeigen, sobald ihr Baby da war. Sie würde einen Jungen bekommen, und dieser Junge würde der neue Earl werden, und dann würde sie das große Vergnügen haben, Mr. Niven zu entlassen. Was für ein Jammer, Mr. Niven, dass Ihre Dienste nach so vielen Jahren nicht mehr benötigt werden. Sie war davon überzeugt, dass ihr Baby ein Junge war, wenn auch nur aus dem Grund, dass sie es mehr als müde war, arm zu sein und von allen herablassend behandelt zu werden. Außerdem weigerte sie sich einfach zu glauben, der Himmel könne wollen, dass sie ihr Kind auf diese Weise großzog.

Cassandra kam wieder herein und setzte sich, ohne ein Wort zu sagen.

Lina betrachtete sie verwundert. „Was ist los, Cassie? Was hat das Milchmädchen gesagt? Ich weiß, dass etwas nicht stimmt, wenn du plötzlich zuschnappst wie eine Auster.“

Ihre Schwester seufzte. „Na schön, aber du darfst dich nicht aufregen.“

„Werde ich nicht“, versprach Lina, als wäre es wirklich möglich, die Kränkungen und Missgeschicke des Lebens einfach mit einem Schulterzucken abzutun. Sie beugte sich vor.

„Offenbar ist man auf Belryth Abbey völlig außer sich. Der Cousin ist gestern Abend angekommen.“

Der Cousin. Unwillkürlich legte Lina die Hand auf ihren noch flachen Bauch. Vielleicht hatte sie doch etwas getan, was zumindest diesen Cousin sehr enttäuschen würde, aber es war nicht mit Absicht geschehen. „Ich nehme an, sie haben es ihm gesagt?“

„Da bin ich sicher.“

Ein weiterer missmutig dreinblickender Widersacher zuzüglich zu all den übrigen auf ihrer langen Liste. Und dieser würde sie mehr als alle anderen hassen, dabei war sie ihm noch nicht einmal begegnet. „Wie ist er?“

„Ein Witwer mit einer kleinen Tochter. Martha sagt, er sei Anfang dreißig und ein stattlicher Mann. Und Mrs. Phelps meinte, sie habe auf den ersten Blick erkannt, dass er im Krieg gewesen ist.“

„Woran denn?“, fragte Lina leichthin. „Hat er einen Teil seiner Anatomie an eine Kanone verloren?“

„Ich nehme an, sie meinte, er habe ein militärisches Auftreten.“

Na, großartig. Er war es wahrscheinlich gewohnt, Befehle zu brüllen. Und Martha war auf alles wild, das in Hosen herumlief, also war stattlicher Mann im Jargon der Hausmädchen wohl das blasse Lob für gedrungene Gentlemen mit zerfurchten Gesichtern.

Lina ermahnte sich ungeduldig, sich zusammenzureißen. Sie war ungerecht und versuchte, Fehler an einem Mann zu finden, den sie noch nie gesehen und der ihr nichts Böses getan hatte. Trotzdem konnte sie die tiefe Enttäuschung in sich nicht unterdrücken. Aus irgendeinem Grund hatte sie sich vorgestellt, dass der Cousin – Edwards Erbe – ihrem Mann sehr ähnlich sein würde. Immerhin waren sie beide Vaughans. Aber es klang ganz so, als würde dieser Mann nichts von Edwards Herzlichkeit besitzen, nichts von seinem elfenhaften Charme.

„Es gibt noch mehr“, sagte Cassie mit einem Lächeln. „Er hat seinen Bruder mitgebracht. Seinen unverheirateten Bruder.“

Das bedeutete also gleich zwei neue Widersacher, da Lina sich nicht vorstellen konnte, dass der Bruder erfreuter darüber sein würde, dass sie den Titel und ein Vermögen verloren hatten.

Cassies blaue Augen blitzten auf vor Begeisterung. Und warum sollte sie auch nicht begeistert sein, wenn ein Junggeselle in ihrer Nähe auftauchte? Sie hätte schon vor Langem die Gelegenheit bekommen sollen, einen Verehrer kennenzulernen, und war viel zu hübsch, um keinen zu haben. „Er ist etwa in meinem Alter, hat Martha dem Milchmädchen gesagt. Er ist dünn, sieht sogar besser aus als sein Bruder, sei aber ein komischer Kauz. Was meinst du, was sie mit der letzten Bemerkung gemeint hat?“

„Ich habe keine Ahnung. Werden wir überhaupt die Gelegenheit haben, sie kennenzulernen?“

„Der ältere Bruder hat noch nicht gesagt, ob sie vorhaben zu bleiben, bis die Frage des Erbes sich geklärt hat, oder auf sein Gut in Hampshire zurückkehren wollen. Aber das Empfinden unter der Dienerschaft deutet eher darauf hin, dass sie abreisen werden. Die Diener sind davon überzeugt, dass der ältere Bruder seiner Tochter nur eine Atempause gönnen will, bevor sie sich wieder auf den Weg machen.“

Nun, das klang doch ganz hoffnungsvoll. Lina würde aufatmen, wenn der mutmaßliche Erbe nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft bliebe, sie nur eine halbe Meile von ihr entfernt wie ein Geier beobachten und wahrscheinlich jede Nacht inbrünstig darum beten würde, dass ihr Baby ein Mädchen wurde. Hin und wieder würde sie ihm dann womöglich über den Weg laufen, und sie konnte sich nichts Unbehaglicheres vorstellen, als sich mit dem Mann höflich unterhalten zu müssen, dessen Hoffnungen ihren eigenen notwendigerweise völlig zuwiderliefen.

3. KAPITEL

Wie wenig sehen jene, was wirklich ist,

Die ihr rasches Urteil nur gründen auf den Schein.

Robert Southey

Später am selben Morgen ging Lina nach Malton, um zu sehen, wie der Steinmetz mit Edwards Grabmal vorankam. Es war ein melancholisches Unterfangen, und wenn man es genau nahm, schickte es sich auch nicht ganz für sie, aus dem Haus zu gehen, während sie sich noch in tiefer Trauer befand. Andererseits beruhigte es sie, den Fortschritt zu verfolgen, den Mr. Monkman gemacht hatte. Sie strich mit der Hand über die gemeißelte Inschrift. Der Erinnerung an Edward Cuthbert Vaughan geweiht, den siebten Earl of Radbourne. Sie hätte ein persönlicheres Epitaph vorgezogen, ganz besonders nach allem, was Edward für sie getan hatte, aber so wie sie die hiesigen Lästermäuler kannte, würden sie die Bedeutung zu etwas Vulgärem verdrehen.

Sie nahm die Abkürzung zum Witwenhaus, die durch das Wäldchen und später wieder auf den Weg zurückführte, und ihr Atem formte kleine weiße Wölkchen in der frostigen Luft. Eine Schar von Krähen flatterte am Winterhimmel, und ihr widerhallendes Krächzen verstärkte nur das Gefühl der Einsamkeit, das von ihr Besitz ergriff.

Der Wald lag zur Hälfte hinter ihr, als plötzlich etwas die Stille zerriss.

Es war eine Männerstimme, scharf und wütend. „Um Gottes willen, bist du denn ganz von Sinnen? Weißt du nicht, wie gefährlich das ist? Ich kann mir nichts Leichtsinnigeres vorstellen.“

„Aber …“

„Komm mir nicht mit deinem Aber. Nicht, wenn du weißt, was gut für dich ist. Du bist kein Baby mehr, doch hast du auch nur für einen Augenblick darüber nachgedacht, wo du bist …“

Lina hatte diesen missbilligenden Ton zu oft in ihrem Leben zu hören bekommen, wenn auch selten mit einer solch wütenden Strenge. Sie spähte zwischen den Bäumen hindurch und sah einen hochgewachsenen Mann, der ein dunkelhaariges kleines Mädchen in blauem Spenzer ausschimpfte. Der Mann kehrte Lina den Rücken zu, aber sie konnte sehen, dass das Gesicht des Kindes tränenüberströmt war.

Das konnte nur der Cousin aus Hampshire sein – ein Witwer mit einer kleinen Tochter –, aber jede Hoffnung auf eine höfliche Vorstellung löste sich in Luft auf, als Linas Sinn für Gerechtigkeit geweckt wurde. Das Mädchen konnte nicht älter als fünf Jahre alt sein. Wie konnte ein erwachsener Mann es wagen, seine Wut an einem kleinen, erschrockenen Kind auszulassen?

Sie folgte ihrem Gefühl und stürzte hinter den Bäumen hervor. „Das reicht jetzt wirklich, Sir!“

Offenbar hatte sie ihn erschreckt, denn als sie auf den Weg hinaustrat, wandte er sich mit einem bestürzten Gesicht zu ihr um – und einem zehnmal attraktiveren, als sie erwartet hatte. Ihr fielen die geraden Brauen auf, die faszinierenden Augen und ein festes Kinn. Insgesamt war der erste Eindruck, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie einen so hinreißend attraktiven Mann gesehen hatte, und einen Moment geriet sie doch tatsächlich aus dem Tritt.

Aber nur einen Moment. Schnell überwand sie ihre Überraschung und ging entschlossen weiter auf ihn zu. „Ist es wirklich nötig, das arme Kind so zu schelten? Sie erschrecken das Mädchen doch nur.“

Seine Verblüffung verwandelte sich schnell in unverhohlenen Ärger. „Zu Ihrer Information – wenn es Sie auch nichts angeht –, war meine Tochter in Gefahr, über diesen Hügel hier auf den zugefrorenen Teich zu laufen. Oder wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn ich den Mund gehalten und einfach dabeigestanden hätte, während sie auf dem dünnen Eis ihr Leben riskiert?“

„Oh.“ Ihr war nicht bewusst gewesen … und sie wollte sich auch entschuldigen, aber der Mann ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen und richtete seine Wut jetzt gegen sie.

„Und seit wann steht es Ihnen überhaupt zu, einen Vater anzuweisen, wie er mit seinem eigenen Kind umgehen soll, Miss …“

Sie spannte sich empört an und schob verärgert das Kinn vor. „Nicht Miss, es heißt richtig Lady Radbourne. Und es steht mir gewiss zu, mich einzumischen, wenn jemand die Ruhe auf dem Land meines Mannes stört.“

Jetzt war es an ihm, verlegen zu werden. „Ah. Es tut mir leid. Mir war nicht klar, dass Sie die Countess sind.“ Er nahm den Hut mit steifer, widerwilliger Höflichkeit ab. Selbst sein Haar sah männlich aus. Die dichten kastanienbraunen Wellen waren kurz geschnitten, sicher in einem vergeblichen Versuch, sie zu zähmen. „Dennoch ist die Sicherheit meiner Tochter allein mein Anliegen. Und ich befinde mich kaum unrechtmäßig hier. Verzeihen Sie meine Unverblümtheit, aber dieses Land gehört Ihrem Mann nicht mehr.“

„Ich vermute, dass Sie Mr. Vaughan sind. Nun, Ihnen gehört das Land auch nicht. Jedenfalls noch nicht.“

Er presste kurz eigensinnig die Lippen zusammen. „Ich bedaure, einer Dame widersprechen zu müssen, aber offenbar gehört das Land doch mir, zumindest vorläufig. Und es ist nicht Mr. Vaughan, es heißt richtig Colonel Vaughan.“

Sie hatte sich nicht darin geirrt, dass er Edward in nichts gleichen würde, aber wenn auch widerwillig, musste sie dem Hausmädchen zustimmen – er war wirklich ein sehr stattlicher Mann. Edward war schlank und von durchschnittlicher Größe gewesen, während Colonel Vaughan hochgewachsen war und sehr breite Schultern aufwies. Er trug einen Garrick-Mantel, mit den charakteristischen drei Pelerinenkragen, und er besaß den starken, athletischen Körperbau, der darauf hinwies, dass er mehr an Aktivitäten an der frischen Luft gewohnt war wie Reiten und Jagen statt an den Besuch von Wirtshäusern oder Bierschenken.

Der unfreundliche Gedanke – sie wusste sehr wohl, warum ihr Wirtshäuser und Bierschenken eingefallen waren – beschämte Lina, und sie richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter siebenundfünfzig auf. „An Ihrer Stelle würde ich mich noch nicht zu sehr mit dem Gedanken anfreunden, dass dies mein Land ist, Colonel.“

„Und an Ihrer Stelle würde ich nicht so hochmütig auf andere Leute herabsehen, Lady Radbourne.“

Das kleine Mädchen sah zu ihrem Vater auf und zupfte an seinem Ärmel. „Werd nicht wütend, Papa.“

Er blickte auf sie herab, und wie durch Zauberhand verschwand seine streitlustige Miene. „Ich bin nicht wütend, Jules. Lady Radbourne und ich hatten nur … eine Unterhaltung.“

„Ja.“ Dem kleinen Mädchen zuliebe bemühte Lina sich um ein freundliches Lächeln. „Erwachsene klingen manchmal verärgert, wenn sie einfach nur davon überzeugt sind, dass sie recht haben.“

„Ja, in der Tat“, sagte Colonel Vaughan, „wenn eine Überzeugung auch nicht immer bedeutet, dass man wirklich recht hat.“

Lieber Himmel, er gehörte eindeutig zur dickköpfigen Sorte, die immer das letzte Wort haben musste, selbst vor seiner kleinen Tochter! Offenbar war sie gezwungen, mehr Größe zu zeigen als er.

Vielleicht das nächste Mal. Dieses Mal erwiderte Lina: „Ebenso wenig hat man recht, nur weil man unnötig die Stimme erhebt.“

Ein Muskel arbeitete in der Wange des Colonels. Er schien seine Wut nur mit Mühe im Zaum zu halten, wenn er auch so aussah, als würde er nichts lieber tun, als Lina einen vernichtenden Rüffel zu verpassen – vielleicht einen, bei dem er sich sogar erlauben würde zu fluchen. Doch stattdessen neigte er nur den Kopf und sagte mit eisiger Höflichkeit: „Julia und ich waren auf dem Weg zum Witwenhaus, um Ihnen einen Besuch abzustatten, Lady Radbourne. Ich sehe, dass wir Sie nicht angetroffen hätten, aber vielleicht wollen Sie uns erlauben, Sie zurückzubegleiten.“

Sie war sehr wohl in der Lage, allein zum Witwenhaus zu gehen, aber da sie spürte, dass es ihn ärgern würde, weiterhin höflich zu ihr sein zu müssen, während er doch ganz offensichtlich eine Abneigung gegen sie gefasst hatte, beschloss sie schadenfroh, das Angebot anzunehmen. „Ich danke Ihnen, Colonel. Das wäre sehr freundlich.“ Das würde ihn lehren, unaufrichtige Vorschläge zu machen, nur um vor seiner Tochter gute Manieren zu heucheln.

Er wies mit dem Kinn nach Südosten. „Es ist hier entlang, nicht wahr?“

Sie nickte, und gemeinsam gingen sie weiter. Der Colonel nahm die Hand seiner Tochter.

Lina verstand jetzt, warum Mrs. Phelps gesagt hatte, man sehe Colonel Vaughan an, dass er im Krieg gewesen war. Er ging mit militärisch aufrechter Haltung, den Kopf hoch erhoben. Sein kleines Mädchen war verstummt, was wahrscheinlich bedeutete, dass er sich der pädagogischen Schule anschloss, kleine Kinder dürfe man sehen, aber nicht hören. Noch ein Punkt, der gegen ihn sprach, soweit es Lina anging. Sie hatte nichts übrig für strenge Disziplin. Die dritte große Liebe ihrer Mutter, Cassies Vater, war von der strengen, anspruchsvollen Sorte gewesen, und er hatte Lina stets für jeden Verstoß verantwortlich gemacht, den ihre jüngeren Geschwister sich erlaubt hatten. „Warum wollten Sie zu mir?“

Er sah sie an, als wäre die Antwort offensichtlich. „Um mich Ihnen vorzustellen und Ihnen mein Beileid zu Ihrem Verlust auszusprechen.“

„Oh.“ Damit hatte sie nicht gerechnet. Wie aufrichtig konnte der zweite Grund allerdings gemeint sein, wenn ihr Verlust ihn sehr wahrscheinlich um Titel und Vermögen bringen würde? „Wie mir gesagt wurde, hatten Sie und mein Mann denselben Ururgroßvater.“

„Er war mein Ururgroßvater. Da Ihr Mann und ich eine Generation voneinander entfernt waren, müssen Sie in seinem Fall ein weiteres Ur hinzufügen.“

„Wie ist Ihr Zweig der Familie in Hampshire gelandet?“

Der Colonel zuckte die Achseln. „Eine oder zwei vorteilhafte Partien, vermute ich. Ist das nicht das übliche Ziel der jüngeren Söhne?“

Er hatte so lange Beine, dass Lina fünf Schritte machen musste, um mit dreien von seinen mitzuhalten. „Aber Sie müssen selbst ein ältester Sohn sein. Ich hörte heute Morgen, dass Sie Ihren jüngeren Bruder mitgebracht haben.“

Das leichte Stirnrunzeln, das Colonel Vaughan nicht abgelegt hatte, vertiefte sich jetzt. „Ja, ich hielt es für klüger, ihn nicht sich selbst zu überlassen, allerdings hat es die Reise für mich sicher erschwert.“

Oh ja, dieser Mann war wirklich ein wahrer Zuchtmeister – ein ungerechterweise sehr attraktiver Zuchtmeister mit vollkommener Knochenstruktur und faszinierenden Grübchen, aber dennoch ein Zuchtmeister. Ihr waren das Stirnrunzeln und der missbilligende Ton seiner Stimme nicht entgangen, als er davon sprach, seinen Bruder sich selbst zu überlassen. Ihr tat der arme junge Mann leid, denn er wurde offensichtlich von seinem hochmütigen, überheblichen Bruder an der kurzen Leine gehalten.

Und musste er sich so offen über die Reise beschweren? Es war taktlos von ihm, denn sie war schließlich der Grund für deren enttäuschendes Ergebnis. Aber es war ihr gutes Recht, Edwards Sohn zur Welt zu bringen, und es war das gute Recht dieses Sohnes, seinen Vater zu beerben, statt sein Recht an einen Cousin abzugeben, der ein so entfernter Verwandter war, dass sie wahrscheinlich schon gar nicht mehr das gleiche Blut teilten. Aber im Gegensatz zu ihm wollte sie höflich bleiben. „Ich bedaure den Ärger, den Sie durchstehen mussten, indem Sie hierherkamen. Mr. Niven hätte Ihnen die Reise ersparen können, wenn er nur ein winziges bisschen gewartet hätte, bevor er Ihnen schrieb.“ 

„Wie seltsam. Ihr Mr. Channing scheint zu denken, dass Sie ihm mitteilten, es wäre nicht nötig zu warten.“

Sie war versucht, ihm heftig zu antworten. Man hatte mich gerade über den Tod meines Mannes informiert. Ich hätte ihm sogar versichert, dass ich die Königin von Saba bin, wenn er mich darum gebeten hätte. Wenn es ihr wirklich wichtig gewesen wäre, den Colonel in seine Schranken zu weisen, hätte sie ihm von dem Blut erzählt, das sie kurz vor Edwards Tod gesehen hatte und weswegen sie geglaubt hatte, ein Baby könne unmöglich unterwegs sein – wenigstens bis Dr. Strickland ihr erklärt hatte, dass ein solches Symptom manchmal das genaue Gegenteil bedeutete. Aber da ein kleines Mädchen bei ihnen war, erwiderte sie lediglich: „Er ist nicht mein Mr. Channing.“

Ein Lächeln erschien kurz um Colonel Vaughans Mundwinkel, ebenso überraschend wie attraktiv. „Nein, das glaube ich gern.“

Obwohl er Julias Hand mit seiner linken festhielt, fragte Win sich, ob er Lady Radbourne seinen freien Arm anbieten sollte. Schließlich war sie in anderen Umständen und der Boden recht uneben. Aber die kühle Art, mit der s...

Autor

Alyssa Everett
<p>Alyssa Everett mochte schon immer Bücher am liebsten, in denen ein Duke die Hauptrolle spielte. In Florida aufgewachsen, hat sie in ihren Teenagerjahren in einem Vergnügungspark alle möglichen Aushilfsjobs übernommen und am Ende sogar eine Bootstour geleitet. Mittlerweile lebt sie mit ihrer Familie in Pennsylvania. Auf http://alyssaeverett.com können Sie mehr...
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