Weihnachten im kleinen Brautladen am Strand

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Was gibt es Romantischeres als eine Winterwunderland-Traumhochzeit? Als Holly in den kleinen Ort St. Aidan und in den Brautladen Brides by the Sea zurückkehrt, ist sie fest entschlossen, sich vor all dieser Romantik und den Weihnachtsfeiertagen zu verstecken. Sie wird ihrer Freundin einen einzigen Gefallen tun und als Fotografin auf ihrer Hochzeit einspringen, doch danach will sie sich sofort wieder unter ihrer kuscheligen Decke verkriechen und dem Dezember aus dem Weg gehen. Doch Holly hat nicht mit der Überzeugungskraft von prickelndem Champagner, dem weihnachtlichen Bann des festlich geschmückten Brautladens und dem Einsatz ihrer Freundinnen gerechnet …

»Man kann beim Lesen beinahe die Weihnachtsbäume riechen und hat den Geschmack der Mince-Pie-Muffins auf der Zunge.«
My Chestnut Reading Tree


  • Erscheinungstag 16.09.2019
  • Bandnummer 4
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750393
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Anna und Jamie,

Indi, Richard und Eric,

Max und Caroline, M. und Phil.

1. Kapitel

Glitzer überall

Samstag, 2. Dezember

Am Bahnhof von St. Aidan

»Können Sie mich mitnehmen? Zu ›Brides by the Sea‹?«, frage ich und starre den Bart des Kutschers an. Seine Barthaare sind gelockt, weiß und bestimmt zu hundert Prozent aus Acryl. Und nur damit das klar ist: Eine Mitfahrgelegenheit auf einer Pferdekutsche, noch dazu einer Weihnachtskutsche, hätte ich mir nicht freiwillig ausgesucht. Aber ich muss einmal quer durch die Stadt zu dem Brautmodenladen, wo ich diesen ­Monat wohnen werde.

Als ich heute Morgen in London in den Zug gestiegen bin, stand da in der Bahnhofshalle von St. Pancras ein über zwanzig Meter hoher Weihnachtsbaum. Mit ausreichend Glitzerlichtern geschmückt, um damit die gesamte Nordhalbkugel zu beleuchten. Daneben stand ein Konzertflügel, und Chöre gruppierten sich darum und sangen Weihnachtslieder. In London fängt Weihnachten immer schon im November an. Ein wahrer Segen, das alles hinter mir zu lassen und nach St. Aidan zu fahren. Zu dem Geschrei der Möwen und dem schiefen Weihnachtsbäumchen, das noch nicht geschmückt worden ist. Meine Mutter und mein Vater haben unser Haus in Rose Hill, dem Dorf ganz in der Nähe, untervermietet und sind längst in ihrem Wohnmobil nach Spanien gefahren, um dort Sonne und Abenteuer zu tanken. Aber als ich die salzige Seeluft rieche und die ersten weiß getünchten Cottages und die grauen Steinhäuser sehe, die sich den Hügel entlang bis ins Städtchen schlängeln, da fühle ich mich sofort wie zu Hause, obwohl meine Eltern nicht hier sind.

Die schlechte Nachricht: Als ich mich endlich durch die Menge der Reisenden in ihren North-Face-Jacken gekämpft und meinen Rucksack und den Koffer in der Größe einer Gartenlaube vor die Bahnhofshalle geschleppt habe, ist das letzte Taxi aus der Warteschlange vor dem Eingang nur noch ein schwindender Punkt am Horizont. Da sind der Pferdewagen mit dem Weihnachtsmann auf dem Kutschbock, der mit klingelnden Glocken direkt vor meiner Nase zum Halten kommt, und das Angebot mitzufahren zu gut, um es abzulehnen. Und das, obwohl ich doch hergekommen bin, um einen weiten Bogen um Weihnachten zu machen. »›Brides by the Sea‹, der Brautmodenladen von Jess?« Der Weihnachtsmann ruckelt den Gürtel über seinem wabbeligen Bauch zurecht – Schaumstoff, vermute ich – und hebt schelmisch eine Braue. Dann stupst er dem Elfen in die Seite, der neben ihm auf dem Kutschbock sitzt und ganz in Grün gekleidet ist. »Umwerfende Brautmode auf vier Stockwerken, Cornwalls berühmtestes Hochzeitsimperium – so der Werbeslogan auf Pirate Radio und in der Hello! und OK!

»Genau der Laden«, sage ich und bin etwas überrascht, dass der Weihnachtsmann den Werbeslogan wie aus der Pistole geschossen aufsagen kann. Wobei selbst diese geschliffene Beschreibung dem Brautmodengeschäft, diesem Paradies für herrliche weiße Spitze und schönste Stoffe, mit Sitz an der Bucht von St. Aidan, nicht annähernd gerecht wird. Offenbar hat er von Seraphina East gehört, wir nennen sie nur Sera. Sie ist die Schneiderin und Designerin der Boutique und hat es letztes Jahr bis in die großen Magazine geschafft und es zu landesweiter Berühmtheit gebracht wegen eines Kleides, das sie für eine Prominente maßgeschneidert hat.

Santa strahlt und streicht sich über seinen Bauch und den Gürtel. »Mit ›Brides by the Sea‹ verbinden wir sehr viel. Der Laden wird für immer einen Platz in unserem Herzen haben. Dort haben wir die Anzüge für unsere Hochzeit gekauft.« Der Weihnachtsmann und der Elf sehen sich verträumt an, dann stupsen und knuffen sie sich ein paarmal und ziehen die Nasen kraus. »Wussten Sie, dass sie erweitern und auch den Laden nebenan übernehmen?« Aus dem plötzlichen Wechsel seines Tonfalls schließe ich, dass der Weihnachtsmann schwer beeindruckt ist, vielleicht sogar ein wenig neidisch.

»Kennen Sie Jess denn gut?« Von der Erweiterung des Ladens wusste ich bereits, weil meine beste Freundin Poppy mir davon erzählt hat, sie arbeitet da. Aber ich bin jedes Mal wieder erschrocken, wenn ich hier bin. St. Aidan ist eine Kleinstadt, in der jeder jeden kennt und alle alles übereinander wissen. Sogar die Körbchengröße.

Der Elf springt von der Kutsche und zwinkert mir zu, als er neben mir auf dem Gehweg landet. »Wir kennen uns aus der Handelskammer. Die Scheidung vor einiger Zeit hat Jess gutgetan. Sie wirkt seitdem so energiegeladen. Und Freunde von Jess sind auch unsere Freunde. Für Sie fahren wir gern einen Umweg. Obwohl dies eigentlich nur eine vorweihnachtliche Übungsfahrt ist. Um unser Pony, Nutella, oder kurz Nuttie, wieder an die Glocken zu gewöhnen.« Er gibt dem schokoladenbraunen Pony einen Klaps auf das Hinterteil und beugt sich zu meinem Gepäck hinunter. Der Elf stöhnt, als er meinen schweren Koffer anhebt und hinten auf die Kutsche hievt. »Herr im Himmel! Wie viele Neoprenanzüge schleppen Sie mit sich rum? Sie sind bestimmt zum Wintersurfen hier, stimmt’s?«

Die andere Sache, die ich vergesse, wenn ich weg bin, sind die Fragen, die einem hier unaufhörlich gestellt werden.

Ich lache. Falls jemand den Beweis braucht, dass man an der Küste Cornwalls aufwachsen und null Veranlagung für Wassersportarten haben kann, dann sollte er sich mich ansehen. Was die schweren Taschen angeht, werde ich öffentlich auf keinen Fall die Wahrheit preisgeben. Die lautete nämlich, dass darin die DVD-Sammelboxen von »Friends«, sämtliche Harry Potter-Taschenbuchausgaben, außerdem die Plötzlich Prinzessin-Bücher und meine Gesamtausgabe von Sweet Valley High verstaut sind. Wer sich jetzt fragt, wie lange ich denn um Himmels willen in Cornwall bleiben will: Ja, ich habe vor, mich einen ganzen Monat einzuschließen und zu Hause zu bleiben.

»Tut mir leid, ich hätte Sie vorwarnen sollen. Meine Fotoausrüstung wiegt eine Tonne. Ich bin hier, weil ich auf der Strandhochzeit einer Freundin fotografieren soll.« Ja, das klingt irre, im Dezember am Strand zu heiraten. Aber als die beiden mich baten, auf ihrer Hochzeit zu fotografieren, wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, aus London rauszukommen. Eigentlich bin ich als Food-Stylistin bei einer Firma angestellt, die Lebensmittel entwickelt. Klar, einen Hamburger zu fotografieren ist etwas ganz anderes, als Bräute zu knipsen. Aber diese Feier mit den passionierten Surfern ist so bescheiden und »easy going«, dass ich mich auf die Abwechslung und die kleine Herausforderung freue. Ich hoffe, dass es mir mehr Spaß als Arbeit macht. Vor allem sind die glücklichen Brautleute die besten Freunde von meinem Ex, dem ich das ganze letzte Jahr lang nachgeweint habe. Nicht dass ich da jetzt Hoffnung schöpfen würde. Aber zumindest bleibe ich so auf dem Laufenden und erfahre, was er so treibt. Und ganz nebenbei schieße ich ein paar hübsche Fotos für meine Freunde Becky und Nate.

Der Weihnachtsmann zieht mich unsanft zurück in die Realität. Er zerrt so sehr an meiner Hand, dass mein Arm beinahe ausgekugelt wäre. Eine Sekunde später landet mein Hintern hart auf dem Kutschbock neben ihm, und der Ärmel meines Kunstpelzmantels wird gegen seinen himbeerroten Flauschmantel gedrückt. Als dann sein kräftiger Handgriff zu einem Schütteln wird, schaltet mein Mund auf Autopilot. »Hallo, ich bin Holly, schön, Sie kennenzulernen, Herr Weihnachtsmann … und Ihren Ehemann, den Elfen …«

Normalerweise verrate ich zwischen November und Januar aus Prinzip niemandem meinen Namen. Also wappne ich mich jetzt und bereite mich innerlich auf die dummen Sprüche vor. Wir haben Dezember, die dummen Sprüche würden fallen, keine Frage. Der Weihnachtsmann nickt und schnauft leise. »Eine Weihnachts- und Hochzeitsfotografin, die Holly heißt. Das passt. Das heißt doch Stechpalme, oder?«

»Sie haben doch hoffentlich nicht zu viele Stecher?«, kalauert der Elf und zwinkert dem Weihnachtsmann anzüglich zu. Dann hüpft er auf den Kutschbock und landet auf meiner anderen Seite.

»Ich habe nur einen Ex-Freund, und der bringt mich eher auf die Palme«, erwidere ich.

Der Elf muss meinen genervten Seufzer gehört haben, denn er wechselt rasch das Thema. »Gut. Sollen wir noch schnell ein Selfie machen, mit dem Weihnachtsmann, bevor wir losfahren?«

»Nein, danke.« Falls das sehr barsch klingt, sei’s drum. Abgesehen von der Strandhochzeit bin ich doch nur deshalb hier, weil ich Weihnachten um jeden Preis entkommen will. Es macht mir einen fetten Strich durch die Rechnung, dass ich prompt dem Weihnachtsmann höchstpersönlich in die Arme gelaufen bin, kaum dass ich den Zug verlassen habe. Und jetzt sitze ich auch noch eingequetscht zwischen Santa und seinem Oberelfen. Ein Selfie? Das wäre das Ende. Ende Gelände sozusagen.

Der Elf verzieht das Gesicht. Laut und theatralisch jammert er: »Aber alle, die in unserem Wohltätigkeits-Weihnachtsschlitten fahren, wollen ein Selfie mit dem Weihnachtsmann. Auch wenn heute nur die Generalprobe ist.«

»Wirklich, vielen Dank. Aber nein.« Das ist meine nette Art, zu sagen, dass ich eher einen Besen fresse, als ein Foto von mir und dem Weihnachtsmann zu machen. Selfie mit Santa! Alles, was ich will, ist zum Brautladen zu fahren, die Treppen zu Poppys kleiner Küche unterm Dach hochzusteigen und mir eine schöne Tasse Tee zu kochen.

Der Elf bläht die Nasenflügel auf. »Achtung! Santa ist sehr empfindlich. Das ist Elfisch und heißt: Die Ablehnung könnte ihn schwer treffen.« Er funkelt mich triumphierend an: »Sie wollen doch Weihnachten nicht leer ausgehen? Der Weihnachtsmann soll Ihnen doch bestimmt was bringen? Nicht wahr?«

Spielt hier jemand seine Rolle etwa zu gut? Und nimmt sich selber viel zu ernst? Doch obwohl es für mich mehr als okay wäre, wenn der Weihnachtsmann mir dieses Jahr nichts bringt, muss ich mich geschlagen geben. »Na gut.« Ich angele nach meinem Smartphone und drücke mein Gesicht gegen Santas. Mürrisch stelle ich fest, dass der Weihnachtsmann mehr Kajal benutzt als ich, und setze ein Lächeln auf. Als ich meine Mundwinkel verziehe, ahne ich, dass ich später Pickelchen wegen der Bartstoppeln vom Weihnachtsmann kriege, die an meiner Wange reiben.

»Super.« Mr. Elf – oder soll ich »Mr. Weihnachtsmanngatte« sagen? – hat sich wieder eingekriegt und scheint zufrieden. »Der Hashtag lautet ›St. Aidan Santa Special Selfie‹, Unterstrich ›Kids at Christmas‹, denken Sie bei jedem Tweet daran. Sofern Sie Empfang haben, heißt das. Hier ist ja ein Funkloch.«

Noch so ein Nachteil an Cornwall, den ich glatt vergessen hatte, als Poppy mir vorschlug, in die kleine Dachwohnung über »Brides by the Sea« zu ziehen. Als Unterschlupf und um mich dort zu verschanzen. Ich hatte augenblicklich und ohne zu zögern zugesagt. Poppy und ich sind in Rose Hill aufgewachsen, dem Dorf ein paar Kilometer landeinwärts. Sie war in der Klasse über mir. Später sind wir beide dann nach London gegangen und haben dort denselben Studiengang in Ernährungswissenschaften belegt. Und obwohl sie längst wieder aufs Land zurückgekehrt ist, haben wir immer noch Kontakt.

Du fotografierst deine tolle Winterhochzeit. Und dann hängst du noch ein paar ruhige Tage dran und bleibst über Weihnachten. Wohnen kannst du über dem Brautladen, hatte Poppy mir über Facebook geschrieben. Sie wollte mich aufmuntern. Außerdem hatte ich noch meinen ganzen Jahresurlaub übrig, wie mir dann einfiel. Dann hat Poppy auch noch gesagt, ich könne so viele Cupcakes essen, wie ich will. Sie ist die Konditorin bei »Brides by the Sea«. Außerdem ist sie völlig überraschend schwanger. Das heißt, jetzt muss sie sich außer um bergeweise Hochzeitstermine über die Feiertage auch noch um ihren dicken Babybauch kümmern. Der Deal war also, ich bekomme die Wohnung für einen Monat und helfe dafür im Gegenzug ein wenig im Laden aus. Denn Jess ist zurzeit gerade im Winterurlaub. Außerdem will ich Poppy mit den Hochzeiten helfen, die sie zusammen mit ihrem Mann Rafe auf dessen Hof, der Daisy Hill Farm, veranstaltet, einem ganz fantastischen Ort, um eine Hochzeit zu feiern.

Früher hat Poppy in der winzigen Wohnung unterm Dach gelebt. Und ich erinnere mich an die atemberaubende Aussicht, die man durch die kleinen Dachluken hinaus über die Bucht von St. Aidan hat. Das war aber nicht ausschlaggebend für mich. In Wahrheit will ich das Weihnachtsfest nicht nur ruhig verbringen, sondern ich will überhaupt kein Weihnachten feiern.

Mein Plan lautet wie folgt: Die Arbeit, die ich machen soll, erledige ich. Dann schließe ich die Tür hinter mir und verbarrikadiere mich über die Feiertage in der Bude unterm Dach. So weit mein perfekter, weihnachtsfeierfreier Plan. Dann kann ich in aller Ruhe sämtliche »Friends«-Folgen gucken. Wenn alles vorbei ist, gehe ich wieder raus. Ein idiotensicheres Ausweichmanöver. Für eine Weihnachtsverweigerin wie mich ideal. Und sobald die Fotos erst mal im Kasten sind, wird das alles ein Kinderspiel. Null Problemo.

»Fertig? Kann’s losgehen? Abfahrbereit?« Der Weihnachtsmann schnalzt mit der Zunge und lockert die Zügel, woraufhin Nuttie auf die Straße trabt. Das Geläut der Glocken ist ohrenbetäubend. Und so unsäglich weihnachtlich. Ganz abgesehen von dem Kutscher ist der Pferdewagen selbst voll behangen mit Kunstschnee, bunten Kugeln, Girlanden aus Efeu und übervoll beladen mit Geschenken. Dazu der unübersehbare Schriftzug: Der Weihnachtsmann kommt auch zu dir! Alle starren uns an. Ach was, sie zeigen mit den Fingern auf uns. Noch mehr Aufmerksamkeit könnten wir nur erregen, wenn wir echte Rentiere angespannt hätten. Jetzt rasen wir im Affenzahn die Straße entlang. Es weht ein beißender Wind. Sehr zu meinem Leidwesen ist meine Nase selbst an angenehmen Wintertagen rot genug, um Rudolf locker Konkurrenz zu machen. Und das ganz ohne heiß dampfenden Kaffee oder einen Wodkacocktail. Beides Getränke, die ich in der Öffentlichkeit zu trinken vermeide. Was allerdings nicht immer gelingt. Noch ein paar Minuten länger in dieser arktischen Kälte und mein Zinken wird regelrecht leuchten …

Ich löse meinen Klammergriff vom Sitz und ziehe mir den Kragen meiner geliebten und altgedienten Jacke mit dem Leopardenmuster bis zu den Ohren, sodass ich meine Nase in dem Kunstfell vergraben kann. Das ist eine dieser Jacken, die sich wie ein Schutzschild anfühlen. Wenn man sich da hineinkuschelt, hält sie einen garantiert warm und sicher, wo immer man hingeht. In der Jacke komme ich mir unbesiegbar vor. Deshalb konnte ich mir nicht vorstellen, einen Monat lang ohne das Ding unterwegs zu sein, auch wenn ganz Cornwall trendige Daunenjacken oder diese umwerfenden Wollmäntel mit den riesigen Fellkragen trägt. Der harsche Cornwall-Westwind, der heute weht, und mein Versuch, sie als Tarn­umhang zu benutzen, verlangen meiner kleinen Jacke heute allerdings ganz schön viel ab.

»Freuen wir uns denn schon auf Weihnachten?« Es ist ein Wunder, dass Santa Zeit zum Plaudern findet, während er gleichzeitig durch den jetzt einsetzenden Feierabendverkehr fährt. Seine Kutschfahrtechnik besteht darin, dem Pony den Weg zu zeigen und Gas zu geben, wenn man das so sagen kann. Wahrscheinlich ist ihm sein Kostüm zu Kopf gestiegen. An jeder Kreuzung meint er, Vorfahrt zu haben. Wenn ein Taxi so fahren würde, würde man es aus dem Verkehr ziehen und dem Fahrer den Lappen entziehen.

Ich zucke zusammen, als zum wiederholten Mal ein Auto reifenquietschend zum Stehen kommt. Der Fahrer sitzt mit offenem Mund da und blickt uns hinterher, als wir vorüberrauschen und nur eine Schneeflockenbreite an seiner Stoßstange vorbeischrammen. Alles in allem, beschließe ich, muss ich mich irgendwie durch diese vertrackte Frage durchbluffen.

»Weihnachten? Klar, ich bin schon wahnsinnig aufgeregt, Santa.« Selbst wenn ich in diesem Moment nicht hinter einem wehenden Ponyschweif sitzen und durchgerüttelt werden würde, wäre die Wahrheit viel zu kompliziert, um sie hier zu erörtern. Sogar für den Weihnachtsmann. Im Grunde genommen besteht das Problem darin, dass er mit seiner Frage zwölf Monate zu spät kommt.

Mein ganzes Leben lang war Weihnachten meine Lieblingsjahreszeit. Als Kinder waren meine große Schwester Freya und ich so aufgeregt, dass wir in der Weihnachtszeit durchgehend Schnappatmung hatten. Von dem Moment an, als wir das erste Türchen im Adventskalender öffneten, bis schließlich das letzte Geschenk ausgepackt war. Freya feierte Weihnachten so, wie sie alles im Leben anging: Mit ihrer erstaunlichen Ausgelassenheit preschte sie voran und zog unsere jüngeren Brüder und mich mit auf ihrer Welle der Begeisterung. Sie bastelte kilometerlange Papierschlangen, die sie als Girlanden überall im Haus und sogar im Bad aufhängte. Alle Fenster entlang der gesamten Straße besprühte sie nachts mit Kunstschnee. Auf dem Wochenmarkt besorgte sie einen Ballen roten Vliesstoff und nähte im Rahmen eines Handarbeitsschulprojekts der ganzen Familie Weihnachtsmännerkostüme. Dann, als ich zwölf war, geschah das Unfassbare, und sie starb. Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Ein Hirntumor, der wahnsinnig schnell wuchs – so etwas passierte doch eigentlich nur anderen, nicht einem Mädchen wie Freya. Sie war doch erst vierzehn und peste durchs Leben wie ein Wirbelwind. Zwanzig Jahre später habe ich gelernt, dass die beste Art, damit umzugehen, darin besteht, sich auf die guten Dinge im Leben zu konzentrieren. Heute bin ich so weit, dass ich mich sehr gerne an die glücklichen Momente zurückerinnere. In Gedenken an Freya übertrieb ich immer mit Weihnachten. Denn alles andere, jeder Funke weniger Feier wäre falsch.

Genau deshalb hatte ich vor ziemlich genau einem Jahr im Dezember die Wohnung von meinem Freund Luc von oben bis unten geschmückt. Dann wartete ich mit angehaltenem Atem. Wir wollten über die Feiertage einen ach so fantastischen Ausflug zu seinen Eltern in die schottischen Highlands machen. Bei den Geschenken hatte ich alles gegeben und mindestens hundert Rollen Geschenkpapier gekauft, um alles schön einzupacken, ist doch klar. Und ja, ich konnte es kaum erwarten, dass Weihnachten endlich vor der Tür stand. Dann kam Weihnachten, und mein Leben löste sich in Wohlgefallen auf.

Die traurigen Einzelheiten spare ich für später auf, wenn ich nicht mehr in Höchstgeschwindigkeit in einem Pferdekarren um die Ecken sause, so wie jetzt gerade. Jedenfalls kommen wir in dem Tempo schneller an, und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass mich jemand sieht, der mich kennt. An dieser Stelle reicht es zu sagen, dass allein ich die Schuld daran trage, dass Lucs Überraschungs-Weihnachts-Heiratsantrag in die Hose ging. Und ja, stimmt schon, im Eiltempo davonzulaufen ist keine ideale Reaktion, wenn ein Typ dir einen Diamantring unter die Nase hält. Vor allem, wenn man so unsportlich ist wie ich, dann ist das mehr als lächerlich. Trotzdem verstehe ich immer noch nicht ganz, warum meine Beine so reagiert haben. Und warum wir die Dinge nicht klären konnten, nachdem ich mich wieder beruhigt hatte und zurückgekehrt war. Das Ende vom Lied war jedenfalls, dass ich im Januar meinen Freund los war. Elf Monate später bin ich immer noch solo, verwirrt und voller Selbstmitleid. Hinzu kommt, dass mein Traumleben in London nun gänzlich seinen Glanz verloren hat. Meine fünfzehn Kartons voll Weihnachtsschmuck musste ich zwischenlagern, ich habe eh keine eigene, geeignete Wohnung in Sicht, in der ich einen Baum aufstellen könnte. Da wird es wohl kaum verwundern, dass ich am ersten Weihnachtstag nicht in Jubel ausbreche und die Sau rauslasse. Aber dank Jess und Poppy hat sich das geklärt. Ich hoffe jetzt nur, dass es sich nicht rächt, dass ich den Weihnachtsmann anflunkere. Besonders, da ich gerade wieder anfange, optimistischer und mit mehr Zuversicht in die Zukunft zu blicken, und hoffe, dass sich doch noch alles zum Guten wendet.

»Wir nehmen die schöne Strecke am Meer entlang«, ruft der Weihnachtsmann dreißig Zentimeter von meinem Ohr entfernt und biegt scharf nach rechts ab. Der Wind, der uns jetzt von der Meerseite entgegenweht, bläst so stürmisch, dass ich kaum ein Wort verstehe. »Das ist ein Umweg, aber leichter für Nuttie, und außerdem können wir dann die Lichter sehen.«

»Super«, sage ich und versinke tiefer in meiner Jacke. Es ist Hochwasser, und graue, dunkle Wassermassen brechen gegen die Ufermauer. Gischt platscht über das Geländer. Die Lichterketten sind noch ausgeschaltet und flattern waagerecht im Wind. Der aufgewirbelte Sand in der Luft beißt mir in den Augen. Wenn es so weitergeht, werde ich wie eine Hexe aussehen, die einen Ritt auf ihrem Besen durch einen Hagelsturm hinter sich hat, wenn wir im Laden ankommen. Ich bin so damit beschäftigt, mir mein Haar aus dem Gesicht zu halten, dass ich die Monsterwelle erst im letzten Moment sehe. In hohem Bogen bricht sie über der Straße zusammen. Während wir darauf zurasen, rufe ich: »Santa, Achtung!«

»Ho, Nuttie!«

Selbst ein derart gut gebauter Typ wie der Weihnachtsmann kann nicht so einfach eine Kutsche zum Stehen bringen, die von einem tonnenschweren Pony in Tempo-30-Trabgeschwindigkeit gezogen wird. Als der Brecher sein Wasser in einem Bogen über uns ergießt, kommen wir klappernd und mehrere Meter zu spät zum Stehen. Der Kaventsmann trifft uns mitten ins Gesicht, und das Meerwasser prasselt über unsere Schultern und Beine nieder.

»Heiliger Bimbam! Was für eine Schlittenfahrt!«, flucht Santa und greift nach den Zügeln. »Zum Glück ist Nuttie nicht durchgegangen.«

»Ach, Pferde, die durchgehen, wären ’ne Kleinigkeit.« Der Elf blickt entsetzt auf seine pitschnassen grünen Knie. »Meine Strumpfhose ist jetzt durchsichtig. Bei dir alles in Ordnung, Holly?«

Ich wische mir die eiskalten Tropfen von den Augen und wringe Wasserbäche aus meiner Jacke. »Ich könnte nicht nasser sein, wenn man mich in den Ozean getunkt hätte«, brumme ich. Wenn das die Strafe für das Belügen des Weihnachtsmanns ist, dann hat sie mich beängstigend schnell und vor allem verdammt nass getroffen.

Der Elf wendet sich mit flehender Stimme an Santa: »Sollen wir einen Zwischenstopp im Surf Shack einlegen, um trocken zu werden?«

Recht hat er. Ich muss schon sagen: Elfen, die sich mit der örtlichen Kneipenlandschaft auskennen, gehört mein Respekt. Wenn einen die Wände aus Treibholz nicht stören, dann ist das Surf Shack eines der besten Lokale am Strand. Mir wird schon bei dem Gedanken an die Strandbar warm, bei der Vorstellung, wie ich mir tonnenweise Marshmallows auf die ausgezeichnete heiße Schokolade in Eimergröße schaufele. Leider haben wir beide nicht bedacht, dass der Weihnachtsmann eine Mission hat.

»Wir sind nicht zum Spaß hier!«, sagt Santa erzürnt. »Wir haben etwas abzuliefern. Wir müssen Holly zu dem Braut­laden bringen.« Mit einem Ruck geht die Fahrt weiter, diesmal noch schneller.

Ich brauche etwa zwei Minuten, um mich darüber hinwegzutrösten, dass ich nicht auf die Toilette gehen und mich herrichten kann, um etwas weniger wie eine Schiffbrüchige auszusehen. Statt Klippen säumen jetzt wieder Häuser die Straße. Als wir die Anhöhe hinaufbrausen und ich die mir so vertrauten Gebäude sehe, spüre ich das aufgeregte Flattern in meiner Brust. Jaggers Bar, das Yellow Daisy Café, Hot Jack’s und die Reinigung Iron Maiden’s gleiten so schnell vorbei, dass sie vor meinem Auge verschwimmen. Wir sind nur noch wenige Meter von »Brides by the Sea« entfernt. Noch einmal nehmen wir Fahrt auf und preschen in vollem Tempo auf die Auffahrt. Dann sehen wir, dass ein Wagen mit Allradantrieb bereits auf dem Platz parkt, den wir auch anvisiert hatten.

»Herr im Himmel! Noch nie davon gehört, dass man den älteren Leuten den Vorrang lässt und Platz macht? Sieht der meinen Bart nicht?« Santas Flüche hallen von den Schaufenstern wider, durch die warmes Licht dringt und den trüben Nachmittag erhellt. Sein irrer Fahrstil geht nur so lange gut, wie man ihm die Vorfahrt lässt. Wenn einem hier in den engen Gassen ein Stinkefingerfahrer in die Quere kommt, dann gibt’s Probleme. Besonders, wenn man es mit einem Autofahrer zu tun hat, der nicht schon Kilometer vorher in die Eisen steigt, kann man mit seiner Kutsche eingequetscht zwischen zwei Häusern und einem Auto enden. Also genau da, wo wir jetzt »parken«. Keine Ahnung, wie das passieren konnte oder wessen Schuld das ist. Das könnte ich beim besten Willen nicht sagen, obwohl es direkt vor meiner Nase passiert ist.

Es reicht zu sagen, dass der Wagen, gegen den wir parken, von der einen übergroßen Stoßstange bis zur anderen mit einer aufwendigen Lackierung versehen ist. Irgendein Künstler aus der Gegend muss sich hier ausgetobt haben und Bierflaschen, die auf außerordentlich echt wirkenden Wellen schwimmen, mit Airbrush darauf gemalt haben. Die Beschriftung an der Fahrertür ist sehr praktisch auf Kniehöhe: Huntley and Handsome’s Roaring Waves Brewery – St. Aidan in Flaschen. Das sagt alles. Wurden all die Mikrobrauereien, die aus dem Boden schießen, nicht von großen Jungs mit zu viel Knete und einer Midlife-Crisis gegründet? Ich schüttele mich. Der Fahrer kurbelt das Fenster herunter, und mir wird klar, dass wir hier womöglich stundenlang diskutieren und ich mir währenddessen den Hintern abfrieren muss.

Aber als ich an dem Elfen vorbei den Autofahrer ansehe, schießt mir Hitze in den Kopf. Diese Art Hitzewallung bis zum Hals, die ich nicht mehr gespürt habe, seit ich als Teenie jeden Morgen im Schulbus rot geworden bin. Weil mein Gesicht bei der kleinsten Andeutung rot aufflammte, hat der Bad Boy aus der sechsten Klasse, Rory Sanderson, mich, damals dreizehn, immer geneckt, wenn er an mir vorbei den Gang im Bus entlang zu seinem Platz ganz hinten ging. Jeden Morgen. Wirklich jeden. Kurz bevor er später zur Uni ging, reichte eine Bewegung seiner Augenbraue aus hundert Metern Entfernung, um mich feuerrot anlaufen zu lassen. Ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet, ihn heute zu treffen. Vor allem nicht jetzt, eingequetscht zwischen dem Weihnachtsmann und dem Elfen, und die Verkörperung einer alten Frau, die gerade dem Meer entstiegen ist.

Ich schaudere, als ich einen Blick in das Auto werfe. Rorys an einen Rockstar erinnerndes langes Haar ist jetzt vielleicht etwas kürzer, aber das breite Grinsen auf seinem Gesicht, in das ich jetzt blicke, ist unverkennbar. Es strotzt immer noch genauso vor Überheblichkeit und Selbstbewusstsein. Dieses unerschütterliche Selbstvertrauen rührt vermutlich daher, dass er schon mit zehn seinen eigenen Traktor fuhr. Die Fältchen um seine Schlafzimmeraugen sind nur einer der Gründe für seinen legendären Ruf. Gerüchten zufolge hat er das Musikzimmer der Schule abgefackelt, weil am Verstärker seiner Gitarre irgendwas kaputt war. Vor allem war er der einzige Schüler, der die Nerven hatte, Mrs. Wilson, die stellvertretende Direktorin, »Schätzchen« zu nennen und sich damit auch noch zu brüsten. Obwohl, genau genommen, war es die Tatsache, dass er ein Auto über die Klippen gefahren hat, die ihn ganz oben auf die Liste der verbotenen Freunde gebracht hat, die unsere Mütter insgeheim führten.

»Holly Rotbeerbäckchen? Was machst du denn hier? Du tropfst Santas Schlitten voll? Hast du mit dem Schwimmen angefangen? Und ich dachte, du hasst Wasser?«

Falls das die göttliche Rache für meine Lüge vorhin sein soll, dass ausgerechnet er mir über den Weg läuft, dann muss ich hier etwas klarstellen. Hundert Monsterwellen, die über meinem Kopf zusammenbrechen, wären weniger schlimm als eine Begegnung mit dem schrecklichen Mr. Sanderson. Vor Ewigkeiten habe ich zuletzt von ihm gehört, da hatte er als Unternehmensjurist in Bristol für Wirbel gesorgt. Danach hatte ich ihn dummerweise von meinem Radar entwischen lassen, dem Radar, der besagt: Achtung, unter allen Umständen umschiffen! Da ist er also wieder. Und schon wieder fängt er damit an, meine persönlichen Geheimnisse hervorzukramen. Als hätten wir uns gestern erst zum letzten Mal gesehen.

Einen Moment lang wünschte ich, wir hätten uns woanders wiedergetroffen, auf einer Feier, vor der ich mich hätte zurechtmachen und herausputzen können. Dass meine Haare perfekt frisiert wären, dass ich meinen extra lang anhaltenden Lippenstift aufgetragen hätte und mich in ein sexy Kleid gezwängt hätte. Ein Kleid, das ich wahrscheinlich gar nicht besitze, fällt mir ein. Dann jedenfalls würde ich mich ein wenig selbstsicherer fühlen. Jetzt hängt mir mein Haar in nassen Zotteln vom Kopf, der halbe Strand klebt in meinem Kunstfell. Und ich bin so rot von dem Wind und der Kälte, dass kein Erröten es schlimmer machen könnte – immerhin etwas. Diese Gelegenheit kommt vielleicht nie wieder. Das ist also meine einzige Chance, mit diesem Teil meiner Vergangenheit abzuschließen. Das ist ein Jetzt-oder-nie-Moment. Ich schiebe meine Hände in meine Jackentasche und schlinge die Jacke enger um meinen Körper, dann blase ich zum Angriff.

»Soll ich dir sagen, was ich noch mehr als Wasser verabscheue?« Ich bin noch keine halbe Stunde hier in St. Aidan, und schon rede ich in Fragen wie die Einheimischen. »Bist du’s, Rory?«

»Ich bin’s. Dachte ich jedenfalls, als ich letztes Mal nachgeschaut habe.« Er trommelt mit den Fingern auf dem Lenkrad und nickt. »Und? Ich bin ganz Ohr. Santa und der Elf sind bestimmt auch schon gespannt.«

Diese Art Retourkutsche war zu erwarten. Wenn ich da einen leicht irritierten Ausdruck hinter seinem ansonsten gelassenen Lächeln sehe, dann liegt das wahrscheinlich daran, dass ich so zackig-rabiat rüberkomme. Ehrlich gesagt bin ich selbst geschockt. Aber es ist wirklich befreiend, nicht mehr röter werden zu können und sich wenigstens dieses eine Mal keine Sorgen darüber zu machen.

»Zum Beispiel …« Ich halte inne und hole Luft, so tief, dass meine Brust anschwillt und ich mir wie eine Katze mit aufgestelltem Nackenhaar vorkomme. »Rücksichtslose Fahrer, die in Lücken fahren, die gar nicht da sind.«

Er verzieht das Gesicht und hebt seine Stimme: »Entschuldigung, aber ich bin hier der Geschädigte. Dein Freund der Weihnachtsmann ist derjenige, der mich vom Weg abgedrängt hat.«

Ja, klar. »Du warst schon immer ein Kindskopf. Werd mal erwachsen und lerne einzusehen, wann du im Unrecht bist. Offenbar ist dir nicht klar, dass Ponys keinen Rückwärtsgang haben.« Obwohl ich hier gerade einen Lauf habe, wollte ich ihm eigentlich nur sagen, dass er endlich erwachsen werden soll. Na ja, egal. Ich mache weiter. »Du willst doch nicht etwa die Rute? Sondern Geschenke zu Weihnachten? Oder? Und da benimmst du dich wie ein Kind?« Eigentlich ist das der Text vom Elfen. Aber das ist zu gut, um mir die Zeilen nicht zu leihen.

Der Weihnachtsmann beugt sich an mir vorbei und sagt versöhnlich: »Tut mir leid, dass sie so zickig ist, Rory. Nimm’s ihr nicht übel, sie kommt gerade aus London.«

Da lacht Rory, der verdammte Kerl. »Keine Sorge, Gaz. So eine Gardinenpredigt hat mir lange keiner mehr gehalten, und ich genieße es.«

Mir bleibt mein Mund offen stehen. »Ihr kennt euch?«

Der Weihnachtsmann bedenkt mich mit einem seltsamen Blick. »Aber natürlich. Das ist Rory Sanderson, auch bekannt als Mr. Huntley and Handsome, der Weinlieferant von St. Aidan.« Er unterbricht sich und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ein dufter Typ. Dieser Auffahrvorfall war bestimmt keine Absicht.«

Der Elf kräuselt seine Lippen. »Rory ist dafür zuständig, den Alkohol in St. Aidan am Fließen zu halten. Und er ist unser persönlicher Adonis in der Handelskammer. Mit niemand anderem bin ich so gern in ein Verkehrsdelikt verwickelt wie mit ihm.«

Der widerlich attraktive Rory-Körper wirkt also immer noch Wunder, selbst zwanzig Jahre später. Dabei ist es nicht so, dass ein Einzelteil dabei besonders bemerkenswert wäre. Aber die Gesamtwirkung ist offenbar immer noch umwerfend. Nicht dass ich jemals ein bekennender Fan gewesen wäre, versteht sich. Ich habe immer sichergestellt, dass niemand von meinen fehlgeleiteten Teenie-Gelüsten erfahren hat.

»Trotzdem kein Grund, mit ihm zu flirten, Ken«, sagt der Weihnachtsmann und durchbohrt den Elfen mit Blicken.

Rory unterdrückt ein Lachen. »Super. Es ist allgemein bekannt, dass die exklusivsten Kater in St. Aidan auf mein Konto gehen. Gaz, halt das Pony fest, dann parke ich um, und ihr könnt eure Frisuren in Ordnung bringen.« Er beugt sich vor und beäugt mich. »Damit will ich natürlich nicht sagen, dass du wie ein Heuhaufen aussiehst, Holly. Oder wie eine Hexe nach einem Ritt durch einen Wirbelsturm.« Er lehnt sich zurück, und als sein breites Lächeln erscheint, wird klar, dass er natürlich genau das meint. »Dann können wir alle weitermachen.«

Ich fasse mir an den Kopf und suche nach einer passenden Retourkutsche, aber der Fluss meiner Worte und meine Schlaumeier-Glückssträhne scheinen versiegt zu sein. Stattdessen stehe ich da mit offenem Mund und schaue ihm stumm beim Umparken zu. Erst als er mit wenigen Bewegungen den Wagen gewendet hat, sehe ich durch die Aufkleber an den Scheiben, die für sein Weihnachtsbier »Bad Ass Santa Brew« werben, die Kindersitze auf der Rückbank. Ich schlucke und sacke in mich zusammen, als er davonrauscht. Rory Sanderson hat Kinder? Das hätte ich nicht gedacht. Aber was geht mich das an? Das sollte mir eigentlich vollkommen egal sein.

»Holliiiiii!«

Ich drehe mich um. Nur ein Mensch kann meinen Namen so rufen. »Poppy?«

Sie kommt die Auffahrt runter, ihre blonden Zöpfe glänzen in der Nachmittagssonne, die plötzlich einen Schimmer auf die Straße wirft. Ihre Barbour-Jacke flattert. »Super Mitfahrgelegenheit, Hols. Da suche ich dich überall, dabei hat dich der Weihnachtsmann entführt. Lustig!« Als sie näher kommt, legt sie ihre Stirn in Falten und fragt entsetzt: »Halleluja, was ist passiert? Seid ihr durch eine Waschanlage gefahren?«

Zum Glück ist es nicht ganz so schlimm. »War so ’ne Art Bescherung«, sage ich und klettere vom Kutschbock. Ich schüttele den Sand aus meinem Haar und kann schon wieder drüber lachen. »Danke fürs Mitnehmen, Santa! Das war aufregender als jede Taxifahrt. Hier, das ist für die Sammelbüchse.« Ich lange in meine Tasche und drücke ihm einen Zehner in die Hand.

Poppy springt zurück, als ich einen Schritt auf sie zugehe. »Ich umarme dich lieber nicht, wenn du so nass bist. Obwohl du wie ein süßes Seehundbaby aussiehst.« Poppy ist toll, sie sieht immer das Positive. Sogar aus der Entfernung duften ihre Luftküsse, die sie mit einer Armlänge Abstand auf meine Wangen haucht, nach warmer Vanille, Zuckerguss und nach Wachsjacke. Sie wendet sich an den Weihnachtsmann und den Elfen, der gerade meinen Koffer schleppt. »Ich habe eben gebacken, Weihnachtsmuffins. Wollt ihr reinkommen und probieren?« Das ist das Gute an ihr. Poppy sucht immer Testesser für ihre Backkünste.

Der Elf reicht mir meinen Rucksack und deutet unglücklich auf seine Beine in den Strumpfhosen. »Tut mir leid, heute nicht. Meine Strumpfhose ist aktuell nicht blickdicht.«

Poppy mustert das knappe Kostüm und das Kleidchen, das hochrutscht. Schnell wendet sie den Blick wieder ab. »Uh. Verstehe. Wartet, ich bringe euch die Muffins raus.« Sie drückt aufgeregt meinen Arm und greift sich meinen Koffer. Dafür, dass sie schwanger ist und ich hier bin, um ihr zu helfen, ist sie erstaunlich energiegeladen. »Komm, Hols. Ich freue mich so, dass du da bist. Wir werden ein ganz großartiges Weihnachtsfest feiern!«

»Super.« Es bleibt keine Zeit, ihr zu erklären, dass Weihnachten für mich dieses Jahr flachfällt. Eine Sekunde später schiebt sie mich und meinen Rollkoffer über das Kopfsteinpflaster Richtung Ladentür.

2. Kapitel

Small Talk und gerade Linien

Samstag, 2. Dezember

»Brides by the Sea«

Später an dem Abend, während Poppy die Verpackung und die Reste von unseren Fish and Chips, die wir in der kleinen Küche der Dachwohnung zum Abendbrot gegessen haben, wegräumt, gibt sie ihr Bestes, um mich zu dem zu überreden, was verdächtig nach einer Party klingt.

»Dieses Jahr veranstalten wir bei ›Brides by the Sea‹ nicht die übliche große Weihnachtsparty, weil Jess nicht da ist. Deshalb findet heute eine kleine Feier zum Trost statt. Nur ein Umtrunk mit ein paar Freunden. Du kennst die meisten. Du musst kommen.« Sie schiebt mir die Keksdose rüber. »Noch einen?«

Obwohl sie eine riesige Küche auf dem Gutshof von Daisy Hill hat, backt sie immer noch oft hier in der Wohnung über dem Laden. Es ist bestimmt nur die halbe Wahrheit, dass der Grund dafür ihr Freund Rafe und sein kaum stillbarer Kekskonsum sind. Jedes Mal, wenn ich herkomme und die blau gestrichenen Schränke und die Regale mit dem farbenfrohen, durcheinandergewürfelten Geschirr sehe, vollgestellt mit Schüssel und Backblechen jeder Größe, verstehe ich, dass es kein Ort ist, den man leichtfertig aufgibt. Wahrscheinlich arbeitet sie deshalb weiterhin hier und lädt so viele Freunde und Bekannte ein, hier zu wohnen.

Falls das Poppys Versuch sein soll, mich mit Süßigkeiten gefügig zu machen, dann kann ich sicherlich noch einen zweiten Weihnachtsmuffin verdrücken – und trotzdem der Partyeinladung widerstehen. »Ich hatte vor, einen ruhigen Abend zu Hause zu verbringen und dem Meeresrauschen und dem Wind zu lauschen. Und nach Tipps fürs Fotografieren von Hochzeiten zu googeln und meinen Termin für die Probefotos mit Nate und Becky morgen vorzubereiten.« Falls sie vergessen haben sollte, dass ich hier bin, um mich zu verkriechen, und dass ich nicht auf Vergnügungen aus bin. Ich nehme das dekorative Stechpalmenblättchen vom Muffin und beiße durch die weißen Kleckse aus Zuckerguss. Meine Zähne sinken in den köstlichen dunklen Schokoladenbiskuit, der einfach himmlisch schmeckt.

Poppys Gebäck erinnert mich an die gemütliche Küche ihrer Mutter und den Küchentisch voller Kuchenkrümel und Puderzucker. An die Wärme und den Duft aus dem Backofen. Das Haus war immer voll mit Poppys Freunden, darunter auch Freya und meine Wenigkeit. Ich erinnere mich, wie wir als Teenies Zuckerguss auf das Gebäck träufelten und mit einem Messer zarte Muster zeichneten. Und dass ich damals nicht daran denken musste, meine große Schwester nie mehr wiederzusehen. Das war eine schöne Zeit.

Poppy spült die Rührschüsseln ab und grinst mich an, als ich aufstehe. »Dein Hemd und deine Hose sehen gut aus. Du hast vorhin geduscht. Dein Haar sitzt toll. Nur noch ein bisschen Lippenstift und du bist fertig gestylt für den Umtrunk.«

Ich knülle das Muffin-Papier zusammen und gehe zum Mülleimer. Noch bin ich fest entschlossen, nicht mitzukommen. Dann werfe ich einen Blick durch die Dachluke. Selbst an Wintertagen ist die Aussicht über die Bucht von St. Aidan das perfekte Motiv für eine Postkarte, eine Glitzerpostkarte. Als ich jetzt das Licht auf dem tintenschwarzen Meer schimmern und sich spiegeln sehe, bin ich dankbar, dass Poppy mich hergelockt hat. Sosehr ich Menschenansammlung auch meiden will, ich muss einfach mitkommen zu dem Weihnachtsumtrunk im Laden. »Na gut, ich hole nur schnell meine Handtasche.«

Da reicht Poppy sie mir schon. »Sehr gut. Jess meinte auch, sie will mit dir sprechen.« Sie greift in ihre eigene Handtasche und tuscht sich in null Komma nichts die Wimpern, wobei sie den Wasserkocher als Spiegel benutzt. Dann schiebt sie mich eilig zur Treppe. »Super. Unten gibt es Champagner-Cocktails, da wollen wir nicht zu spät kommen. Ich trinke natürlich einen alkoholfreien, unseren sogenannten Virgin-Cocktail, schmeckt aber fast wie echt.«

Wenn man bedenkt, dass Poppy schwanger ist und einen dicken Babybauch hat, jagen wir die Treppen in geradezu halsbrecherischem Tempo hinunter. Im Erdgeschoss angekommen, stehe ich vor einem Mega-Christbaum im Flur, der aber ganz in Weiß geschmückt ist und sich so hervorragend in die Einrichtung fügt. Das Prachtstück lässt daher meine Weihnachtsalarmglocken nicht allzu schrill läuten.

Ich wappne mich für das erste abendliche Ausgehen seit einer gefühlten Ewigkeit und luge vorsichtig in das Weiße Zimmer, in dem stangenweise weiße und cremefarbene Kleider hängen und Wolken aus Tüll und Chiffon. In den Schaufenstern vorne strahlen Lichterketten mit unzähligen Lichtern, die die Perlenstickereien funkeln lassen. Weiß glitzernde Efeuranken schlängeln sich hinter hauchdünnen Satinkleidern hervor. »Es ist so still hier. Wo sind die anderen?«, frage ich Poppy.

Sie wackelt mit den Augenbrauen. »Wir feiern unten in Lilys neuer Abteilung im Souterrain. Das ist viel praktischer. Dann müssen wir uns keine Sorgen mehr machen, dass wir Weinflecken auf den Kleidern verteilen.« Lily ist eine weitere Freundin aus unserer Kindheit in Rose Hill. Sie hat ein Händchen für Blumen und hat hier schon gearbeitet, als wir noch klein waren. Dank Jess’ Arbeitsvermittlung und unter ihren Fittichen hat Lily ihre Floristentätigkeit ausgebaut und arbeitet heute als Dekorateurin.

Wir steigen die Treppen bis zum nächsten Absatz herab und gehen in den Raum mit den weiß gestrichenen Backsteinwänden im untersten Stockwerk des Ladens. Die hier versammelte Menge an Gästen in glitzernden Festkleidern, die alle Cocktailgläser in der Hand schwenken, ist ein erster Hinweis. Der Tisch, der unter der Last der Champagnerflaschen und Kübel voller Eiswürfel ächzt und zu dem mich Poppy jetzt schiebt, ist das letzte Beweisstück.

»Okay, Hols, ich gebe auf, es ist doch eine Party. Aber nur eine kleine. Und ich verspreche dir, dass durch einen Alkoholschleier alles gleich viel rosiger aussieht.« Sie schaut schuldbewusst drein, als sie mir ein Glas voller Früchte in die Hand drückt. »Hier, fang mit einem Christmosa an, Traubensaft und Champagner. Und das ist Granatapfel mit Prosecco. Wir nennen es auch ›Spaß in Rosa‹.« Ein Glas mit einer pinkfarbenen Flüssigkeit landet in meiner anderen Hand. »Und vergiss auf keinen Fall, die Weihnachts-Margaritas zu probieren!«

Ich schüttele mich, als mich Sektbläschen in der Nase kitzeln. »Willst du mich abfüllen? Es ist so lange her, dass ich ausgegangen bin, ich bin überhaupt nicht mehr in Form. Da werde ich schnell beschwipst.«

Sie nimmt sich auch ein Glas. »Das will ich natürlich nicht. Ich muss mich an Granatapfel mit Selters halten. Sieh es so: Du musst gewissermaßen für mich mittrinken.« Sie grinst mich triumphierend an. »Prost, Hols! Toll, dass du gekommen bist. Im Ernst, du musst wieder mehr Spaß haben und das Leben genießen. Komm, lass uns gucken, wer alles hier ist.«

Bevor wir losziehen können, kommt Jess uns mit wehender Chiffonbluse entgegen. »Holly! Wie schön, dass du hier bist! Als Erstes muss ich mich entschuldigen für unsere zwei Apokalyptischen Reiter. Gary und Ken mögen St. Aidans Antwort auf Boy George und Pete Burns, Gott hab ihn selig, sein, aber manchmal übertreiben sie etwas.«

»Kein Problem.« Ich lächele. Die Fahrt mit Santa scheint schon eine Ewigkeit her zu sein. Dann werfe ich schnell einen Blick auf das Partyvolk, um mich zu vergewissern, dass niemand von den Leuten, die ich vorhin getroffen habe, hier unerwartet auftaucht. Als ich mich gegen die Party gesträubt hatte, war mir der Gedanke, dass Rory Sanderson, der wandelnde Albtraum, unter den Gästen sein könnte, gar nicht gekommen. An Ken und Gary hatte ich allerdings auch nicht gedacht.

Poppy sieht, dass ich mich umschaue. »Keine Sorge, heute Abend ist Playback-Karaoke im Hungry Shark. Das werden Ken und Gary auf keinen Fall verpassen wollen. Wahrscheinlich stoßen sie später zu uns, wenn wir ins Jaggers gehen, zum Weihnachtsvorglühen.«

Ich stöhne leise auf. Das Jaggers ist die Bar im Ort mit den Happy Hours und den besoffenen Teenies. Ich persönlich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als Cocktails krügeweise zu exen und dann um drei Uhr nachts ins Bett zu sinken. Von der Partynummer muss ich mich also irgendwie lossagen. Mittlerweile habe ich den ganzen Raum mit Blicken abgesucht und niemanden entdeckt, der mir eine Herzattacke beschert. Also winke ich Sera und Lily aus dem Laden zu. Als ich mich wieder umdrehe, sehe ich, dass Jess mich eindringlich ansieht.

»Also, Holly, wir springen beide ins kalte Wasser. Hast du einen Ratschlag für mich?«

»Ratschlag?« Ich sehe sie verständnislos an, denn normalerweise fragt Jess nicht nach Ratschlägen. Immerhin ist sie älter und hat sich ein ganzes Imperium aufgebaut, angefangen mit dem einen Raum als Blumenladen im Souterrain. Sie hat schon alles erlebt. Und he, dieser Raum ist nur ein winziger Teil ihres Ladens, jetzt hat sie ja auch den Laden nebenan gekauft.

Selbst nach einem weiteren Schluck von dem Christmosa und einem Schlückchen »Spaß in Rosa« bin ich immer noch verwirrt. »Kaltes Wasser? Was meinst du?«

Das bringt sie zum Lachen. »Das Sprichwort, ins kalte Wasser springen! Nicht wirklich kaltes Wasser. Mein Wagnis ist, dass ich mit einem Mann verreise, den ich kaum kenne. Und deins, dass du die Hochzeit fotografieren sollst und keine Ahnung davon hast.« Sie macht eine Pause und lässt ihre Worte wirken. »Ich sage ja immer, stelle dich deinen Ängsten. Aber jetzt, da es mich trifft, ist das einfacher gesagt als getan.«

Für Party-Small-Talk finde ich das ein wenig zu tiefschürfend. Und die kleine Surfer-Hochzeit ist für mich gar nicht so ein großes Ding, wie sie das jetzt darstellt. Während Jess tatsächlich ihre Komfortzone verlassen muss. Nachdem sie seit Jahren eingefleischter Single war, hat sie zu unserer Überraschung jetzt was mit einem Typen namens Bart am Laufen, den sie noch aus ihrer Jugend kennt. Die Vorzüge von Bart sind sein Ganzjahresteint und sein Zaster. Ihm gehört nicht nur Rose Hill Manor, das fantastische Herrenhaus außerhalb des Ortes, in dem ich aufgewachsen bin, er besitzt auch Immobilien in der Karibik und in der Schweiz. Das Herrenhaus vermietet er manchmal für Hochzeitsfeiern, die Poppy und Rafe und ihre Mannschaft von dem nahe gelegenen Gutshof Daisy Hill aus veranstalten. Da im Dezember ein paar Feiern gebucht sind, wollte er verreisen und hat Jess überredet, ihn zu begleiten. Aber da Jess in den letzten zehn Jahren keinen einzigen Tag freihatte und immer in ihrem Laden stand, ist es eine große Sache für sie, von Bart in die Alpen entführt zu werden. Ich verstehe also vollkommen, warum sie weniger selbstbeherrscht und selbstsicher wirkt als sonst.

»Ehrlich gesagt, Jess, glaube ich, dass ich eventuelle Probleme im Vorfeld ausräumen werde, wenn wir morgen die Probefotos machen.«

Sie schnaubt ungläubig. »Schön, dass du so zuversichtlich bist. Aber ich muss zwei Wochen mit Bart in seiner Berghütte in Klosters verbringen. Ich werde mir die ganze Zeit Sorgen um den Laden machen. Vor allem werde ich die ganze Zeit allein mit Bart sein.« Ihre Mundwinkel könnten gar nicht weiter unten sein. »Und ich mag Schnee noch nicht einmal.«

Ihr leicht panischer Tonfall erinnert mich an meinen ersten Urlaub mit Luc. Da habe ich zum ersten Mal seinen Pass und die offizielle Schreibweise seines Namens, nämlich »Luke«, gesehen. In der Folge habe ich dann herausgefunden, dass er sich Luc satt Luke nennt, um weniger streberhaft rüberzukommen. Wir sind für zwei Wochen mit seinen Eltern nach Madeira geflogen, weil er das jedes Jahr gemacht hat, bevor er mich kennenlernte. Obwohl Urlaub mit der Mutter auch nicht gerade cool ist. Ich habe nur deshalb nicht meinen Verstand verloren, weil ich mich mit Rum-Cocktails abgefüllt und dazu mein eigenes Körpergewicht an Honigkuchen gegessen habe. Dann hat die tickende Zeitbombe eines All-inclusive-Urlaubs mich eingeholt. In der zweiten Woche habe ich nur noch meine Reiseleggings tragen können. Man macht sich keine Vorstellung davon, wie sehr flauschige Jogginghosen bei dreißig Grad Hitze scheuern. Das Problem wird Jess natürlich nicht haben mit ihren weiten Marlene-Dietrich-Leinenhosen in Klosters, wo Minusgrade herrschen.

»Vielleicht hilft es, auch mal Zeit allein zu verbringen«, sage ich in Erinnerung daran, wie es mich gerettet hat, dass ich meine Nase in ein Buch vergrub. »Und vergiss nicht, Thermo-Leggings einzupacken!«

Jess trinkt ihre Margarita in einem Zug und greift sich noch ein Glas. »Gute Idee. Mein Problem ist, dass Bart so ein Plagegeist sein kann.«

Poppy lacht. »Mach dir keine Sorgen, Jess, wir kommen hier schon zurecht. Und auch wenn Bart dich manchmal piesackt, du teilst selber ganz gut aus. Außerdem seid ihr beiden Turteltäubchen unzertrennlich, seit ihr im September zusammengekommen seid.«

Im September hatten Jess und Bart endlich allen offiziell von ihrer Liaison erzählt, nachdem sie den Sommer mit heimlichen Verabredungen auf der Insel verbracht hatten, die zum Herrenhaus gehört. Aber wenn sie wirklich so unzertrennlich sind, wie Poppy sagt, dann kann ich Jess vielleicht doch einen guten Rat geben. Da sie sich ja schon so lange kennen und einiges nachzuholen haben, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Bart ihr an einem derart romantischen und abgelegenen Ort wie Klosters einen Antrag macht. Und für den Fall sollte Jess vorbereitet sein.

Ich hole tief Luft und senke dann, angesichts meines klugen Ratschlags, die Stimme. »Einen Rat habe ich: Falls Bart einen Ring zückt und dir einen Antrag macht, dann setz dir um Gottes willen den Ring schnell auf und nicke einfach nur. Ob du wirklich willst oder nicht, darüber kannst du später nachdenken.« Das kommt jetzt echt von Herzen. Mein Patzer letztes Jahr zu Weihnachten ist ein weitverbreitetes Geheimnis unter unseren Freunden in St. Aidan. Ich bin absolut sicher, dass die Leute jedes einzelne Detail kennen. »Wenn du Panik kriegst wie ich und auf deinen Skiern davonbraust, wirst du’s wahrscheinlich komplett versauen.« Ich habe das letzte Jahr damit verbracht, zu bereuen und mir mein altes Leben zurückzusehnen. Das wünsche ich meinen ärgsten Feinden nicht.

Einen Moment lang macht Jess den Eindruck, als würde sie gleich in die Luft gehen. »Ich und Ski? Ich bin doch kein Schneehase!« Sie schreit fast, und alle drehen ihre Köpfe zu uns. »Bart weiß, dass ich noch nicht einmal in die Nähe irgendwelcher Loipen, Abfahrten, Hügel oder sonst was gehe. Und Skihosen gehen gar nicht!« Ihre Stimme wird leiser, und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. »Après-Ski, das geht klar. Klar, geht das klar.« Jetzt schnurrt sie geradezu. Tja, Jess liebt Partys, wie man auch an diesem Abend sehen kann.

»Danke für den Hinweis, Hols.« Poppy und ich sehen uns über die insgesamt drei Gläser hinweg an. Selbstverständlich ist Jess auf das Skifahren angesprungen und ausgeflippt, nicht wegen des Heiratsantrags.

»Danke, Holly. Ich hatte gehofft, dass du mir helfen kannst. Deshalb hatte ich dich gefragt.« Jess schenkt mir ein warmes Lächeln. »Unser fester Hochzeitsfotograf Jules kommt heute Abend. Ich stelle euch vor. Er wird dir bestimmt gerne unter die Arme greifen, als Gegenleistung für diese Schätze, die du mir gegeben hast.«

Schnell entgegne ich: »Danke, aber das ist gar nicht nötig.« Der Superprofi Jules gehört zu den Menschen, denen ich aus dem Weg gehen möchte. Ich will auf gar keinen Fall, dass er denkt, ich komme ihm ins Gehege.

»Doch, doch.« Jess strahlt. »Die Wettervorhersage für morgen ist grauenhaft. Wie du weißt, habe ich das Haus nebenan übernommen, und das erste Stockwerk steht noch leer. Das wäre perfekt für dich, da kannst du drinnen ein paar Fotos mit deinem Pärchen schießen.«

Poppy hatte mir all die Jahre schon von Jess’ Überredungskünsten erzählt. Aber ich hätte nicht gedacht, dass ich so schnell unter ihre Räder gerate. »Nate und Becky wollen an den Strand, unabhängig davon, wie das Wetter wird.« Und obwohl ich das mit möglichst fester Stimme sage, habe ich den Eindruck, dass niemand mir zuhört.

»Wo waren wir stehen geblieben?« Was Jess betrifft, habe ich eben gerade nichts gesagt. »Ach, ja, wir warten auf Jules. Bis dahin … da hinten, das ist Lily, sie wird sich mit dir, Poppy und Sera zusammen um den Laden kümmern, während ich weg bin. Hat sie das nicht ganz wundervoll hier unten eingerichtet?«

»Ja, toll.« Ich sehe mich noch einmal in dem Raum um, mit der Einrichtung und der hübsch arrangierten Ware. Zwar sind mir die silbernen Sterne überall viel zu weihnachtlich, aber offensichtlich hat Lily ein Händchen für Dekorationen. Der Raum birst geradezu vor altmodischen Kaffeetischen, antiken Werbeschildern, Vintage-Möbeln und meterhohen Leuchtbuchstaben, die zusammengesetzt das Wort »Liebe« ergeben.

Komisch, man könnte hier überall Schnappschüsse machen, und die Bilder sähen aus wie bei meiner Arbeit. Die Ausstattung, die wir benutzen, ist genau wie die schönen Gegenstände hier. Die klügsten Leute in unserer Branche, wie Poppy in ihrem Beruf davor, entwickeln leckere neue Lebensmittel. Meine Aufgabe ist es dann, sie so abzulichten, dass sie derart köstlich aussehen und die Leute sofort losrennen, um sie zu kaufen.

Zum ersten Mal bekam ich eine Kamera im Rahmen eines Studentenprojekts in die Hand gedrückt, als wir Brot fotografieren sollten. Wir haben uns schlappgelacht, als der Dozent uns nachdrücklich ermahnte, die Brötchen so zu arrangieren, dass sie eine Spirale abbilden. Keiner von uns konnte eine Spirale entdecken. Aber anscheinend waren auf meinen Bildern Spiralen. Zu meinem Glück, weil ich in Sachen Geschmacksinnovationen den Nagel nicht gerade auf den Kopf traf. Mein Spinat-Toffee-Pudding hat die schlechteste Note in der Geschichte des Kurses erhalten. Aber nachdem ich zufällig die unsichtbaren Spiralen erwischt hatte, zählten meine missglückten Erdbeer-Blumenkohl-Kuchen nicht mehr. Was also mit Brot und Brötchen begann, endete mit meiner Laufbahn als Food-Fotografin.

Jess’ Augen strahlen vor Stolz, als sie auf die wunderschönen Platzkarten zeigt und die Lichterkette darüber. »Jedes Paar wünscht sich eine einzigartige Hochzeit. Lily lässt diese Träume wahr werden. Wo wir gerade von wahr gewordenen Träumen sprechen, ich will dir unbedingt das Studio nebenan zeigen.« Aha, innerhalb von zwei Minuten macht Jess aus einem leer stehenden Raum ein Studio. Typisch für sie, nach dem zu urteilen, was Poppy mir erzählt hat. »Oh, und da ist Jules. Juuules!« Jess ruft und winkt und haut uns fast um. Ein Mann, der einem Lifestyle-Magazin wie dem GQ entstiegen sein könnte, kommt auf uns zu. Er trägt sein Markenzeichen, einen rosa-blau-grün gestreiften Schal, den er sich um den Dreitagebart geschlungen hat, und sieht genau so aus, wie Poppy ihn mir beschrieben hat.

Jess scheint höchst zufrieden mit sich und der Welt zu sein. »Holly, das ist Jules, unser Starfotograf. Ihr werdet euch sicher viel zu erzählen haben. Ich hoffe, Sie können Holly ein wenig unter die Arme greifen und ihr ein paar Tricks und Kniffe verraten.«

Vor Scham würde ich jetzt am liebsten im Boden versinken. »Nett, Sie kennenzulernen, Jules. Vergessen Sie die Tipps und Tricks. Meine Hochzeitsfeiern sind so klein, als gäbe es sie fast gar nicht.« Ich setze ein Lächeln auf, und zum Glück muss ich ihm nicht die Hand geben, weil seine Hände in seinen Hosentaschen stecken.

Er sieht mich jetzt direkt an mit seinen Augen, die so blau und durchdringend sind, als wären sie mit Photoshop retuschiert. »Sie haben Ihre Kamera mitgebracht? Was für eine benutzen Sie?« Nach dem, was ich von Poppy weiß, ist ­Jules ebenso bekannt für seine überschwänglichen Umarmungen wie für seine fantastischen Fotos und seine ausgefallene Kleidung. Seine berühmte Strähne aber, die ihm immer in die Stirn fällt, liegt jetzt ganz starr da. Statt Überschwang spüre ich Eiseskälte.

Ich rede trotzdem weiter, egal, wie unangenehm die Situation ist: »Der Großteil meiner Ausrüstung ist von Nikon.« Man macht sich keine Vorstellung davon, wie viel es mich gekostet hat, die beste Ausrüstung zu beschaffen. Obwohl meine Speicherkarten im Vergleich zu den echten Profistücken winzig sind. Und auf wie viele Klamotten ich im Laufe der Jahre verzichtet habe, um zu sparen, damit ich mir die Ausrüstung leisten kann! Allein einige der Objektive kosten ein Monatsgehalt. Und das ist der Grund, warum ich ein Oberteil von New Look trage, das ich vor vier Jahren gekauft habe, und keinen Designer-Cashmere-Pulli und eine Jacke wie Jules, dessen Outfit bestimmt einen vierstelligen Betrag verschlungen hat.

Er rümpft die Nase und wirft sich mit einer schwungvollen Kopfbewegung das Haar zurück. »Aber Sie wissen schon, dass es bei guten Fotos nicht auf die Kamera ankommt, sondern auf den Menschen hinter dem Sucher«, sagt er, als seien das Neuigkeiten.

Ich nicke. »Schon klar.«

Ungerührt macht er weiter: »Ein guter Hochzeitsfotograf zeichnet sich dadurch aus, dass er – oder sie – gut mit Menschen umgehen kann.« Das Kräuseln seiner Lippen hat nichts mit einem Lächeln zu tun. »Hundert Gäste zu dirigieren, das muss man können. Und eine gewisse Ausstrahlung braucht man natürlich auch.«

Ich lasse das über mich ergehen und werfe einen Blick zu Poppy. Wir sehen uns an und verdrehen die Augen. Das, was er da sagt, hat kaum etwas zu tun mit den paar Freunden, die eine Strandparty feiern.

Jess schwenkt die Eiswürfel in ihrem Glas und scheint sich zu amüsieren. »Verstehe ich das richtig, dass du da ein Pro­blem siehst, Jules?«

Jules blickt auf und fixiert einen Punkt etwa einen Meter neben mir. »Wenn du mich fragst, ich habe kein gutes Gefühl bei Holly, kein bisschen.«

Ich lächle gezwungen. »Ja, danke, das ist sehr …« Hilfreich kommt mir nicht über die Lippen. »… sehr erhellend. Eine Expertenmeinung kann nie schaden.« Obwohl, jetzt, da er es sagt – wahrscheinlich liegt er goldrichtig. Bei der Arbeit verstecke ich mich immer hinter meiner Kamera. Unter Leuten bin ich eher schüchtern wie eine Maus. In meiner Familie war Freya diejenige, die gut mit Menschen konnte und die genug Elan für zwei hatte. Ich habe mich gern in ihrem Schatten aufgehalten und mich da versteckt. Seit ich sie verloren habe, hat sich das nicht geändert. Zumindest weiß ich jetzt, dass ich zuerst eine komplette Persönlichkeitsveränderung hinter mich bringen muss, wenn ich vernünftige Hochzeitsfotos schießen möchte.

Jules wirft sich seinen Schal über die Schulter und sieht Jess an. »Und wo wir gerade dabei sind und über Fotos reden, meine Antwort ist Ja.« Ihn als zugeknöpft zu bezeichnen wäre noch ein Kompliment.

Jess sieht ihn mit großen Augen an. »Antwort? Was war denn die Frage?«

Jules schnieft und sagt: »Danke, dass du mir das Vorkaufsrecht gibst. Ich nehme gerne den Raum im ersten Stock nebenan. Glückwunsch, Jess, du hast gerade einen Hausfotografen für dein Brides-by-the-Sea-Imperium angeheuert.«

Jess schüttelt den Kopf. »Du missverstehst das vollkommen, Jules. Hier geht es um einen Freundschaftsdienst, nicht um Verträge.« Sie sieht Poppy und mich an und verdreht die Augen. »Was den Raum im ersten Stock angeht, da lasse ich mir die Entscheidung noch offen.«

»Gut.« Die Art, wie Jules das sagt, verrät das Gegenteil. »Lass mich wissen, wenn du deine Entscheidung getroffen hast. Mein Angebot gilt nicht ewig. Und jetzt muss ich los.« Er wirbelt in seinem maßgeschneiderten Mantel herum und bahnt sich seinen Weg durch die Menge nach draußen.

Poppy verzieht das Gesicht. »Da hat es aber jemand eilig, um zum Playback-Karaoke zu kommen.«

Jess schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, Holly, keine Ahnung, was in ihn gefahren ist.«

Auch wenn Jess keine Ahnung haben mag, ist mir klar, warum Jules mich nicht auf Anhieb zu seinen besten Freunden zählt. Also sage ich zu seiner Verteidigung: »Vielleicht ist er nicht in Partylaune?« Das würde ich verstehen. Ehrlich gesagt, kann ich es Jules nicht übel nehmen, dass er verärgert ist, wenn man ihn bittet, jemandem Ratschläge zu erteilen, der ihm seine Kunden wegnehmen könnte. Er kann ja nicht wissen, dass das nicht meine Absicht ist.

»Der Arme«, sagt Jess mit mehr Mitgefühl als Verärgerung. »Er ist Einzelkind und lebt noch zu Hause. Wenn er seinen Willen nicht bekommt, dreht er an der Filmrolle, sozusagen. Ansonsten ist er ein grundsympathischer Typ.«

So wenig herzlich wie er war, bin ich wieder mal froh, Gegenstände zu fotografieren und keine Menschen. Außerdem bin ich erleichtert, dass ich nicht der einzige erwachsene Mensch ohne eigene Wohnung bin. Und ich könnte jubeln vor Freude, dass er so schnell wieder gegangen ist. Wenn ich Jules schon begegnen musste, dann war dieses Treffen gar nicht sooo schlecht.

Zur Feier des Anlasses exe ich meine beiden Drinks und strahle Poppy an. »Sollen wir uns jetzt eine Weihnachts-Margarita genehmigen?«

Sie grinst zurück. »So ist’s richtig. Nachher kommen Rafe, Bart und Immie. Mal sehen, wen ich dir in der Zwischenzeit vorstellen kann.«

Dafür, dass ich gar nicht auf die Party wollte, vergehen die nächsten Stunden wie im Flug. Das Lustige an Sekt-Cocktails ist, dass man sie so schnell kippt, dass man kaum mitzählen kann. Zu dem Zeitpunkt, als ich die Treppe nach oben gehen will – mit der Entschuldigung, dass ich nicht mit ins Jaggers komme, weil ich für das Fotoshooting morgen einen klaren Kopf brauche –, sind meine Beine total wackelig. Während ich durch den Flur laufe, mache ich meinen eigenen kleinen Nüchternheitstest. Ich starre auf meine Pumps mit dem Leopardenmuster, während ich in einer geraden Linie über den Holzfußboden schreite. Dabei sehe ich nicht, dass mir jemand entgegenkommt. Das bemerke ich erst, als ich frontal den in ein Jeanshemd gekleideten Oberkörper ramme.

»Mist! Tut mir leid …« Das kam wie aus der Pistole geschossen, so betrunken kann ich also gar nicht sein.

Die Jeanshose, auf die ich gerade hinabstarre, wirkt weich und ausgetragen und endet in abgewetzten Stiefeln. Dann sehe ich die Druckknöpfe des Jeanshemds, die sich über eine gut gebaute Brust spannen. Sosehr ich auf den Boden gestarrt habe, so sehr will ich jetzt die Knöpfe aufreißen. Das muss am Alkohol liegen. Dann sehe ich den Mistelzweig in der Hand meines Gegenübers. Ich blinzle und atme den Duft des Mannes ein und denke, ich träume. Fast will ich nachgeben und die Situation ausnutzen.

»Holly Rotbeerbäckchen? Warum bist du denn nicht auf der Party?«

Ich zucke zurück. »Rory?« Mit einem Schlag bin ich nüchtern. Ja, das macht mich schneller nüchtern, als es eine eiskalte Wasserwelle geschafft hätte. Weihnachtsglöckchen klingeln in meinen Ohren und Tannennadeln stechen mich, ich muss in den Weihnachtsbaum hinter mir getaumelt sein. »Was machst du denn hier?«

Seine Lippen zucken. »Ich werde immer zu den besten Partys eingeladen. Ich bin gerne unter den Gästen und prüfe, ob mein Sekt gut ankommt.« Jetzt lächelt er. »Nach deinem Zustand zu urteilen ist er gut angekommen und ihr habt alle ordentlich zugelangt.«

Jetzt bin ich nüchtern und entrüstet. »Welcher notorische Frauenheld kommt denn bitte schön mit einem Mistelzweig auf eine Party?« Ich könnte sterben, weil ich den eben noch so toll fand.

Er lacht. »Jemand, der sichergehen will, dass bei Jess im Laden alles an Ort und Stelle ist, bevor sie in den Urlaub fährt.« Er blickt auf den Mistelzweig in seiner Hand. »Ich bin nicht irgendein Frauenheld, sondern Jess’ Mistelzweiglieferant.«

Was hat ein Mistelzweig mit dem Verlauf von Bier und Sekt zu tun? Wenn ich das nicht verstehe, liegt das aber nicht am Alkohol.

»Dann willst du nicht …?«

»Unter der Treppe knutschen …?« Jetzt lacht er ein sehr tiefes Lachen. »Nur wenn du das extra bestellst. Für unsere Kunden tun wir alles, wirklich alles.« Sein Grinsen wird immer breiter.

»Klar …« Ich schüttele den Kopf, um meine Antwort als Unsinn abzutun und um mir Luft zuzufächern. »Schön für dich. Du hast bestimmt viele zufriedene Kunden und Kundinnen.« Ich rede Unsinn und sinke außerdem weiter rückwärts in den Tannenbaum. Die Nadeln federn wie ein Kissen, aber gleich werde ich das Gleichgewicht verlieren und fallen. Und dabei wahrscheinlich den Baum mit zu Boden reißen.

»Wir importieren die Mistelzweige aus der Normandie zusammen mit dem Winter-Cidre, als Extra für die Weihnachtsbestellungen. Das ist das, was unsere Kunden an Huntley and Handsome so schätzen.« Rory unterbricht seinen Werbespruch und sieht mich stirnrunzelnd an. »Alles in Ordnung, Holly Red?« Bevor ich antworten kann, legt er mir seinen Arm um den Rücken. Als Nächstes stehe ich wieder neben dem Baum und aufrecht genug, um zu protestieren.

»Kein Grund einzugreifen. Ich hatte alles im Griff. Trotzdem danke.«

Er blinzelt und schüttelt den Kopf. »Sicher. Und was ist mit den Treppen? Bis zum Dachboden ist es ein ganzes Stück.« Jetzt sehe ich leider auch seine Grübchen. »Wenn du Hilfe brauchst, jederzeit gerne. Normalerweise schleppe ich Bierfässer, da bist du ein Klacks.«

Woher weiß er, wo ich hinwill? Egal. Ich will nur schnell weg, sonst erwähnt er noch, dass das nicht das erste Mal wäre. Ich mache einen Schritt auf die Treppe zu und greife nach dem Geländer. Jetzt stehe ich schon viel sicherer. »Sind nur ein paar Stufen.« Weihnachten sei Dank trage ich flache Schuhe, keine Absätze. Von Rory nach Hause getragen zu werden soll mir nicht noch mal passieren. Und ich will mich auch nicht daran erinnern.

Da ertönt wieder sein Lachen. »Das wäre nicht das erste Mal. Ich meine ja nur.«

Abgesehen von den ganzen Christmosas, die ich geext habe, verfluche ich es jetzt erst recht, dass ich auf die Party gegangen bin. Ich könnte Rory den Hals umdrehen, dafür, dass er die Unverfrorenheit besitzt, die Vergangenheit zu erwähnen. Meine Wut hat immerhin den vorteilhaften Effekt, dass meine Beine wieder funktionieren. Auf dem ersten Treppenabsatz drehe ich um und sehe ihn von oben herab an. Jetzt müsste mir nur noch eine flotte Antwort einfallen. Aber ich bringe nur ein Winken zustande.

Von unten höre ich seine Stimme bis nach oben die Treppe hinauf: »Vorsicht, da oben! Bis bald, Rotbäckchen.«

Ich krieche ins Bett, und da fällt mir endlich eine flotte Antwort ein: »›Bald‹ kann in diesem Fall dauern, Kumpel.«

Ich hatte gute Gründe, nicht auszugehen. Jetzt habe ich noch bessere, dank Rory Sanderson.

3. Kapitel

Schneeflocken, Windjacken und

Yoga für Mütter

Sonntag, 3. Dezember

»Brides by the Sea«

»Tut mir leid, Leoparden habe ich nicht. Nur einen Affen, ein Zebra, einen Löwen und eine Katze.« Poppy zählt die Cupcakes auf, die sie gebacken hat, während Jess und ich ­unten im Laden beschäftigt waren. Selbstverständlich weiß Jess nicht, was ein Kater ist. Deshalb waren wir schon früh auf den Beinen. Wir haben mit dem ganzen Team im Sou­terrain klar Schiff gemacht und sind anschließend gleich die Termine in dem Kalender im Weißen Zimmer durchgegangen. Jess erklärt mir alles, was ich über die Bräute und die Buchungen im Dezember wissen muss – in einer Art Übersprunghandlung, denn eigentlich sind Sera, Poppy und Lily für den Laden verantwortlich. Aber mich lenkt das zum Glück von dem Probe-Fotoshooting für die Hochzeit ab oder genauer: von Luc. Und Jess lenkt es von ihrer Abreise ab.

Ich werfe einen Blick in die Dose mit den Cupcakes, die Poppy mir hinhält. Die perfekt verzierten Küchlein lassen mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. »Ich hätte gerne die orangefarbene Katze. Wer ist der Glückliche? Wer hat die bestellt?«

»Ich nehme den Löwen.« So zielstrebig, wie Jess sich einen Cupcake nimmt, scheint sie ihre Befürchtungen wegen des Urlaubs vergessen zu haben. Poppy hat mir immer noch nicht die Frage beantwortet.

»Mhmm, lecker! Auch der Guss!« Erst als ich die Augen öffne, das Papier zurückgerollt und in das süße Teilchen gebissen habe und mir den würzigen Zuckerguss auf der Zunge zergehen lasse, merke ich, dass Poppy zögert. »Isst du keinen, Pops?« Sie ist eine totale Naschkatze, selbst wenn sie nicht schwanger ist. Ich hätte wetten können, dass sie erst ­einen Schokoladenaffen und dann ein Zebra isst.

Sie rümpft die Nase und senkt den Blick auf ihren bauchfreien Pulli, unter dem sich eine nicht gerade kleine Kugel verbirgt. »Gestern habe ich schon keinen Muffin gegessen. Auf Befehl der Hebamme. Weniger Kohlenhydrate. Ich habe mit Schwangerschaftspilates angefangen. Und mit Yoga für Mütter.«

»Oh Gott.« Ich will nicht dramatisch klingen, aber es muss verdammt hart sein, neun Monate keinen Zucker und so viel Sport.

»Es ist ja nicht für immer.« Poppy runzelt die Stirn und zuckt mit den Schultern. »Aber ich will euch was anderes erzählen. Für wen der Kuchen ist.«

Aus dem Flur dringt das Geräusch der sich öffnenden Tür. Jess strahlt mich über ihren Löwen hinweg an. »Du hast da einen leckeren Fisch an der Angel, Holly. Poppy backt für den Besitzer von Huntley and Handsome. Ein netter Kerl. Er macht super Verträge mit uns, für den Prosecco …« Das klingt verdächtig wie das, was der Weihnachtsmann gestern erzählt hat.

Mein Mund bleibt offen stehen, halb im Abbeißen begriffen. Sie meint doch nicht etwa …? Rory? Ich schnappe ungläubig nach Luft. Ein Stückchen Teig gerät mir in die Luftröhre, und schon huste ich in meine Hand. Tränen steigen mir in die Augen, als ich nach Luft ringe. Alle, die sich schon mal verschluckt haben und diesen riesigen Nieser machen mussten, wissen, was Sache ist. Ich ringe um Luft und will auf gar keinen Fall den halb gegessenen Cupcake ausspucken und die exquisiten Brautkleider auf der Stange mit orangefarbenen Kuchenkrümeln besudeln.

Durch meine halb geschlossenen Augen sehe ich, wie Poppy auf mich zugestürzt kommt. Ich höre ein Rascheln wie Engelsflügel, und dann drückt sie mir Papiertaschentücher in die Hand. Ich niese und schnäuze mir die Nase. Die schönen Kleider sind gerettet. Jess grinst von einem Ohr zum anderen und macht dem Kronleuchter im Laden Konkurrenz.

Poppy legt mir die Hand auf die Schulter und sagt leise murmelnd: »Tut mir leid, Hols, die Geister der Vergangenheit. Ich weiß, dass dir das nicht gefällt. Rory Sanderson ist sehr früh dran, um seine Cupcakes abzuholen. Ich erkläre dir das alles später.«

Es ist meine Schuld. Ich hätte den Mumm haben sollen, ihr zu erzählen, dass ich bereits zweimal in ihn hineingerannt bin. Dann hätte Poppy mir das bestimmt früher erzählt. Wenigstens sitze ich auf einem überdimensionierten Sessel, auf dem üblicherweise die Brautmutter Platz nimmt, und kann ihn diesmal von hier oben aus hereinkommen sehen. Wegen des Verschluckens bin ich eh schon knallrot. Trotzdem jagen mir seine Schritte auf dem Boden eine Gänsehaut über den Rücken. Sagt man nicht, Angriff sei die beste Verteidigung? Guter Tipp.

Seine mir schrecklich bekannt vorkommenden, abgetragenen braunen Timberland-Stiefel betreten den Raum, und ich verzerre meinen Mund zu einem Lächeln. Schnell wische ich mir die letzten Kuchenkrümel von den Lippen und sehe auf den Punkt im Türrahmen, an dem sein Kopf erscheint. Und gehe zum Angriff über.

»Rory Sanderson, schon wieder. Und ich dachte, ich hätte dir gerade zum Abschied gewunken. Für die nächsten zwanzig Jahre.« Ich lasse mich in die Kissen zurücksinken und wappne mich für seine bissige Antwort. Aber die lässt auf sich warten.

Anstatt hereingestürmt zu kommen und auf seine selbstverliebte Art und Weise durch das Weiße Zimmer zu stolzieren, betritt Rory langsamen Schrittes den Raum.

Er beugt sich zu einer Seite, damit er die Hand eines kleinen Mädchens halten kann.

»Huch.« Ich bin mir nicht sicher, ob ich das nur denke oder ob ich es laut gesagt habe.

Dem hellen, seidigen Haar seiner Tochter nach zu urteilen ist Rorys Freundin vermutlich eine Blondine. Als ob ein Rockstar sich mit weniger zufriedengeben würde. Wenn sie den Schmollmund von ihrer Mutter geerbt hat, dann war ihm das Aussehen wichtiger als der Charakter. Ausnahmsweise trägt Rory nicht sein Dauergrinsen, sondern runzelt die Stirn. An seine schicke Wind- und Funktionsjacke gedrückt, hält er ein ziemlich großes Kleinkind.

Entgeistert sieht er mich über den Kopf des Säuglings hinweg an. »Holly, tja, hallo.« Mr. Sanderson macht plötzlich gar nicht mehr so einen selbstgefälligen Eindruck. Wenn seine Grübchen verschwinden, hat das den Nachteil, dass seine Wangen unter dem Kieferknochen noch kantiger aussehen.

Angesichts seiner Begleitung bedauere ich meine »überschwängliche« Begrüßung. Irgendwie sind diese kleinen Menschen ein Riesenschock, obwohl ich die Kindersitze in seinem Auto doch gesehen habe. Ich hätte mir zwar gewünscht, irgendetwas würde mich von Nate und Becky und Luc ablenken, aber bestimmt nicht das hier. Kinder haben die merkwürdige Wirkung, dass die Menschen um sie herum irgendwie sanfter und weicher werden. Rory sieht zwar nicht wie ein super entspannter Vater aus, aber die Kinder, die er hier anschleppt, nehmen ihm offenbar den Wind aus den Segeln. Jess ihrerseits hat auch nichts mehr übrig für Luftküsschen mit ihrem Lieblingsweindealer und Lieblingstyp von Huntley and Handsome. Auf ihrem Gesicht steht gleichermaßen Schrecken und Entsetzen, und sie verzieht sich schnell hinter ihren Tresen. Ich glaube, ich habe Jess nie so zügig den Rückzug antreten sehen. Das ist gar nicht ihr Stil.

Poppy ist die Einzige im Raum, die begeistert ist. Sie klatscht in die Hände und geht zu den dreien. »Willst du uns nicht vorstellen, Rory?« Mit glänzenden Augen sieht sie das kleine Mädchen an. Das liegt wahrscheinlich an den Schwangerschaftshormonen. »Wir haben nicht oft so aufregenden Besuch im Brautladen. Aber auf den Gutshof kommen häufig Kinder zu Besuch. Ich wette, du magst die Tiere dort auch.«

Ich frage mich, was sie damit bezweckt. Der Blick, den sie mir unter ihrer gerunzelten Stirn zuwirft, drückt gleichermaßen Sorge und Schuldbewusstsein aus.

Rory schüttelt den Kopf, als müsse er wach werden. »Ja, die Damen, das ist Gracie. Und das hier ist Eddie.«

Das Mädchen zupft ihm am Ärmel seiner freien Hand und flüstert: »Nein. Teddie!«

Rory grinst verlegen. »Stimmt. Mist. Gut, ihr habt sie gehört.« Selbst für einen Trottel wie Rory gibt das ein ziemlich erbärmliches Bild von einem ziemlich unbeteiligten Vater ab.

Autor

Jane Linfoot
Jane schreibt romantische Geschichten um lebenslustige Heldinnen mit liebenswerten Ecken und Kanten. Mit ihrer Familie und ihren Haustieren lebt sie in Derbyshire in einem kreativen Chaos. Sie liebt Herzen, Blumen, Happy Ends, alles, was alt ist und fast alles, was aus Frankreich kommt. Wenn sie nicht gerade Facebook unsicher macht...
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