Wenn der Duke erwacht

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Gestern noch Floristin – heute Verlobte eines Dukes? Seit Poppy dem Duke of Autenberry das Leben gerettet hat, hält alle Welt sie für seine zukünftige Gattin. Der Duke, der fortan im Koma liegt, kann das Missverständnis nicht aufklären. Und die Familie des Dukes ist so reizend zu ihr, dass Poppy wagemutig die Aufmerksamkeit genießt. Nur Struan MacKenzie, der Halbbruder des Dukes, ahnt, dass sie lügt. Vergeblich versucht sie, ihm aus dem Weg zu gehen: Das Verlangen zwischen ihr und dem rebellischen Schotten brennt lichterloh. Sein sinnlicher Kuss macht Poppy atemlos vor Leidenschaft – und vor Angst, was geschehen wird, wenn der Duke erwacht …


  • Erscheinungstag 11.03.2022
  • Bandnummer 138
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511131
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Mutter, die mich mit einer Kindheit gesegnet hat, in der sehr viel Raum für Träume blieb – ein Geschenk, das ich für alle Zeiten wertschätzen werde.

Selten, sehr selten offenbaren menschliche Enthüllungen die vollständige Wahrheit, in den meisten Fällen bleibt etwas im Ungefähren oder wird missverstanden.

Jane Austen: „Emma“

Das Ladenmädchen und der Duke

Sobald Poppy Fairchurch ihn erblickte, wusste sie es.

In dem Moment, in dem der Mann den Laden betrat, rauschte eine Welle tiefster Gewissheit durch sie hindurch und hob sie in die Höhe, als wäre sie eine Marionette an den Fäden eines Puppenspielers. Es war ihr erster Tag bei Barclay’s Fine Flowers.

Einen Augenblick lang erstarrte sie über den Farnen, die sie gerade fürs Schaufester arrangierte. Bei seinem Anblick wurde ihr der Mund ganz trocken. Offensichtlich sprach er regelmäßig in diesem Blumengeschäft vor. Der modische Schnitt seiner Kleidung und der Eifer, mit dem Mrs. Barclay hinter dem Tresen hervoreilte, um den Gentleman zu begrüßen, ließ keinen Zweifel daran, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Kunden handelte.

Selbst ohne Mrs. Barclays auffällige Liebedienerei hätte Poppy ihn mit den Augen verschlungen. Sie wusste, dass das weder damenhaft noch schicklich war, konnte sich aber nicht daran hindern, den Mann hingerissen anzugaffen. So etwas wie ihn hatte sie daheim auf dem Dorf nicht zu Gesicht gekriegt – das Nest Toadston-on-Mersey zeichnete sich nicht gerade durch einen Überfluss an jungen Gentlemen aus.

In seinem kastanienbraunen Haar glänzten goldene Strähnen, und seine Augen waren von so klarem Himmelblau, dass man selbst aus einem Meter Entfernung noch den dunkleren Kranz um seine Iris herum erkennen konnte. Allein seine elegante Aufmachung war eine deutliche Warnung, dass dieser Mann sich weit außerhalb ihrer Reichweite bewegte. Selbst wenn sie kein einfaches Ladenmädchen gewesen wäre. Selbst wenn er kein Kunde gewesen wäre. Sie hätte es besser wissen müssen. Sie hätte wissen müssen, dass das das einzig Richtige in dieser Situation war, sich von den eigenen hohen Erwartungen zu trennen und den Kopf aus den Wolken zu ziehen.

Aber Poppy Fairchurch war schon immer eine Träumerin gewesen.

Als er sie mit seinem atemberaubenden Lächeln bedachte, schlug ihr Magen einen Purzelbaum, und sie wusste, dass ihr Leben nie wieder so sein würde, wie es gewesen war.

Und so passierte es, dass Poppy sich an jenem siebzehnten Maimorgen, nur einen Monat nach ihrem zwanzigsten Geburtstag und zwei Tage, nachdem sie mit ihrer viel zu hübschen, viel zu geschwätzigen jüngeren Schwester, für die sie nun die einzige Erziehungsberechtigte war, in eine schäbige Herberge in der Chess Street gezogen war, unsterblich in den Duke of Autenberry verliebte.

1. KAPITEL

Poppy lebte für die wöchentlichen Blumenkäufe des Duke of Autenberry. Marcus. Sie kannte seinen Vornamen von den Kärtchen, die er unterschrieb und ihr dann reichte, um sie an den Sträußen zu befestigen. Der Name passte zu ihm. Ein starker römischer Name. Sie konnte ihn sich wunderbar auf einem Schlachtross vorstellen, wie er seine Männer in die Schlacht führte.

Sie fieberte jedem dieser Besuche entgegen, die für gewöhnlich auf einen Dienstag oder Mittwoch fielen. An jenen Tagen gab sie sich große Mühe mit ihrer Aufmachung, was allerdings nicht viel zu sagen hatte, wenn man bedachte, wie oft die Säume ihrer Röcke ausgelassen worden waren und wie viele Male sie ihre Sachen geflickt hatte. Tatsächlich war sie sogar dankbar für die gestreifte Schürze, die Mrs. Barclay ihr gegeben hatte, damit sie sie über ihrem Kleid trug. Die war zumindest frisch gestärkt.

Das Besondere am Duke war, dass er seine Blumen gern persönlich aussuchte. Dazu ließ er sich viel Zeit, sichtete sorgfältig die verfügbaren Arten. Zweifellos hätte er einen Diener mit dieser Aufgabe betreuen können, doch er zog es vor, es selbst zu erledigen. Weil er eben ein umsichtiger, fürsorglicher Gentleman war, der seine Aufmerksamkeiten gedankenvoll auswählte – auch wenn die Blumen oft an unterschiedliche Damen geschickt wurden.

Dafür verurteilte sie ihn nicht. Ein unverheirateter Gentleman durfte sich nach Herzenslust um die Damen bemühen. Und die scharten sich mit Sicherheit um einen attraktiven Aristokraten wie ihn. Er mochte ein Wüstling sein, aber konnte sie es ihm verübeln? Er hatte die Richtige eben einfach noch nicht getroffen. Sobald das geschah, würde er sich mit ihr niederlassen, und sie würden glücklich leben bis an ihr seliges Ende. Er war ein viel zu feiner Gentleman, um fremdzugehen. Davon war sie überzeugt. Und was sprach eigentlich dagegen, dass Poppy genau die Richtige für ihn war?

Eines Tages würden sie beide einen echten Moment erleben. Eines Tages würde er sie anschauen und dabei auch wirklich sehen. Nicht als Ladenmädchen, sondern als Mensch. Und in diesem Moment würde sie nicht über ihre eigene Zunge stolpern, sondern es tatsächlich fertigbringen, Wörter aneinanderzureihen, und zwar auf kluge und faszinierende Art.

Dann würde er sie als Frau mit einem warmen, großzügigen Herzen erkennen. Das musste er auch, denn sie wusste, dass sie nicht schön war. Wenn sie ihn mit ihrer Schönheit überwältigen könnte, dann hätte sie das bereits getan. Dieser Einschätzung haftete keinerlei Selbstverachtung an. Nur Selbsterkenntnis und Akzeptanz.

Das hieß natürlich nicht, dass sie hässlich war, oh nein. Ihr Gesicht war durchaus ansehnlich. Ihre Augen waren hübsch. Papa hatte das oft gesagt. Und selbst Edmond machte ihr zu verschiedenen Gelegenheiten Komplimente wegen ihrer Augen. Allerdings bezeichnete der Junge, den sie mal hatte heiraten wollen, sie auch neckend als dürr. Dürr, aber mit überaus üppiger Rückseite – natürlich hätte er niemals gewagt, Letzteres auch nur anzudeuten. Aber auch so war sie sich ihres ungünstig geformten Hinterteils bewusst. Zum Glück machte sich dieses Merkmal unter ihren Röcken nicht allzu sehr bemerkbar.

Ebenso gut wie ihre Schwächen kannte sie ihre Vorzüge. Sie war klug, von freundlichem Wesen und loyal. Als ihr auffiel, dass sie mit dieser Aufzählung den alten Lieblingsjagdhund ihres Vaters beschrieben hatte, unterdrückte Poppy eine unmutige Grimasse und fügte ein paar weitere Eigenschaften hinzu, die sie von einem Vierbeiner unterscheiden würden.

Sie war fleißig. Ließ niemals zu, dass die Verzweiflung sie überwältigte, auch nicht in den schlimmsten Momenten ihres Lebens – und davon hatte es in den letzten Jahren ziemlich viele gegeben. Als sie mit zwölf ihre Mutter an die Schwindsucht verlor. Als Papa nur ein Jahr später einen Reitunfall erlitt, von dem er sich nie wieder erholte. Er war langsam gestorben, unter Qualen, die sie niemandem wünschte, erst recht nicht ihrem angebeteten Vater.

Für Bryony war sie immer stark geblieben … und für sich selbst. Sie liebte ihre Schwester und würde alles für sie tun.

Das waren also ihre Stärken, und warum sollte Autenberry sie nicht eines Tages anschauen und erkennen, dass sie die Eine für ihn war? Das konnte durchaus passieren.

In ihrer Fantasie würde er unter dem Eindruck der plötzlichen Erkenntnis erst erstarren, sich dann im Laden umschauen und mit einer grandiosen Geste jede verfügbare Blume kaufen, natürlich nur für sie.

Die Vorstellung war etwas überspannt. Womöglich weit hergeholt.

Na schön, definitiv weit hergeholt. Aber das waren Träume oft, und Papa hatte sie stets dazu ermutigt, von großen Dingen zu träumen – um anschließend lächelnd in Erinnerungen an ihre Mutter zu schwelgen. Wenn er nie davon geträumt hätte, sie für sich zu gewinnen, behauptete er, dann wären Poppy und Bryony nie geboren worden.

Tatsächlich gab sie Papa die Schuld an ihrer eigenen blühenden Fantasie. Jeden Abend nach dem Essen hatte er ihr am Kamin aus „Gullivers Reisen“ und Chaucers „Canterbury Tales“ vorgelesen. Und Mama war auch nicht besser gewesen, jedenfalls nach dem wenigen, was Poppy noch von ihr wusste. Natürlich war Martha Smitton, Tochter eines Squires, durch und durch Romantikerin gewesen. Ansonsten hätte sie nicht alle Bequemlichkeiten und Privilegien des Landadels hinter sich gelassen, um mit Papa durchzubrennen und ihn entgegen den Wünschen ihrer Familie zu heiraten. Diese Geschichte hatte sie Poppy jeden Abend vor dem Schlafengehen erzählt, bis zu ihrem Tod.

Poppy glaubte an die Liebe, an Regenbögen und Kobolde. Romantische Grillen lagen ihr im Blut. Das Leben war kurz, das wusste sie, nachdem beide Elternteile viel zu früh gestorben waren. Das Leben war kostbar, und sie hatte nicht vor, es zu verschwenden.

Sie wollte daran glauben, dass eine wundervolle Romanze auf sie wartete. Auch wenn sie bis dahin den ganzen Tag im Blumenladen stehen und jede Nacht bei Kerzenlicht Nähaufträge erledigen musste, um sich und Bryony irgendwie durchzuschlagen. Aber eines Tages würde sich ihr Schicksal wenden.

Nur selten arbeitete Poppy allein im Geschäft. Wenn Mrs. Barclay nicht da war, dann hatte Jenny Dienst, die andere Verkäuferin. Sie starrte sie jedes Mal, wenn der Duke zugegen war, vielsagend an. Poppy war ziemlich sicher, dass das andere Mädchen von ihren Gefühlen wusste. Kein Wunder, schließlich konnte sie in seiner Gegenwart nichts anderes tun als zu gaffen und ungeschickt herumzuwuseln.

Als der Duke an einem Dienstagmorgen im Dezember vorbeikam, war sie daher froh, dass Mrs. Barclay anwesend war und ihr Jennys anzügliches Grinsen erspart blieb.

Mrs. Barclay begutachtete gerade eine frisch eingetroffene Lieferung Treibhaus-Blumen, als die Glocke über der Tür läutete und die Ankunft des Dukes signalisierte.

Natürlich begrüßte Mrs. Barclay ihn persönlich. Sie liebte es, mit Mitgliedern der Aristokratie Umgang zu pflegen – dass es regelmäßig dazu kam, war einer der Vorteile ihres Gewerbes. „Oh, Euer Gnaden.“ Sie knickste unbeholfen. „Wie schön, Sie zu sehen.“

Höflich neigte er den Kopf. „Guten Tag, Mrs. Barclay.“ Dann nickte er, wie immer der perfekte Gentleman, Poppy zu, ohne allerdings das Wort an sie zu richten. Wahrscheinlich hatte er ihren Namen vergessen.

„Womit können wir Ihnen heute dienen, Euer Gnaden? Tulpen? Diese hier sind gerade frisch eingetroffen. Sie sind selbst in einem so ungewöhnlich milden Winter wie diesem nur schwer zu bekommen, auch aus den Treibhäusern, aber Sie können immer darauf zählen, dass Barclay’s welche für Sie vorrätig hat, Euer Gnaden.“

Nachdenklich betrachtete er die Blüten. „Ich glaube nicht.“ Er hob den Kopf und schaute sich um. Sein Blick blieb an Poppy hängen – oder vielmehr an den beiden Zitronenbäumchen neben ihr. „Die sind sehr hübsch.“

Er kam auf sie zu, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, blieb vor Poppy stehen und beugte sich vor, um den Duft der Zitronen einzuatmen. Da die jungen Bäume fast so groß wie sie selbst waren, befand sich seine schöne, kühn geschwungene Nase dabei ganz nah an ihrer Schulter. Prompt verweigerten Poppys Lungen ihren Dienst.

Verdammt, er roch gut.

„Hätten Sie die gern?“, brachte sie mühsam heraus. Mrs. Barclay, die sah, dass der Duke in guten Händen war, wandte sich wieder den gerade eingetroffenen Blumen zu.

„Ja.“ Er nickte. „Ich denke, ich nehme alle beide.“

„Sehr schön.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Möchten Sie sie liefern lassen, Euer Gnaden, oder …“

„Ja.“ Er zog eine Karte aus seiner Tasche und schob sie ihr zu. „An diese Adresse. Und könnten Sie ein Schleife oder Ähnliches um die Stämme binden?“ Er machte eine unbestimmte Geste.

Sie nickte und tastete hektisch nach den Spulen mit den Bändern. „Selbstverständlich, Euer Gnaden.“

Der Duke bedachte sie mit seinem atemberaubenden Lächeln. „Großartig.“ Dann schaute er prüfend durchs Fenster auf die Straße und vergaß sie.

Enttäuschung breitete sich in ihrer Brust aus, während sie ungeschickt mit den Bändern hantierte. Was erwartete sie denn? Dass er sie mit seiner ungeteilten Aufmerksamkeit überschütten würde? Sie hatte nichts auch nur ansatzweise Kluges oder Amüsantes von sich gegeben.

Denk nach, Poppy. Sei geistreich.

Nachdem sie jeden der schlanken Stämme mit einer grün-gelb gestreiften Schleife versehen hatte, trug sie den Geschäftsvorgang in Mrs. Barclays Hauptbuch ein, damit die Kosten von dem Guthaben des Dukes abgezogen werden konnten.

„So, das hätten wir“, verkündete sie etwas zu überschwänglich. Du schießt übers Ziel hinaus, Poppy. Reiß dich zusammen.

Sie räusperte sich und versuchte es noch mal. „Bitte sehr, Mylord.“ Sie nahm eine Karte vom Tresen und reichte sie ihm, damit er eine persönliche Notiz verfassen konnte. Dabei streiften ihre Finger seine, und ihr Puls beschleunigte sich. Er neigte den Kopf und kritzelte, gänzlich ungerührt von dem Körperkontakt, eine kurze Nachricht, die er ihr dann zurückreichte.

„Die Bäume werden heute Nachmittag geliefert“, versicherte sie.

„Sehr gut.“ Er tippte gegen die Krempe seines Huts. „Bis zum nächsten Mal.“

Mrs. Barclay rief ihm einen Abschiedsgruß zu, dann verließ er den Laden.

Poppy schlenderte nach vorn und spähte an den Blumenkübeln im Schaufenster vorbei nach draußen, um ihm nachzuschauen. Sie konnte nicht anders. Mrs. Barclay war mit anderen Dingen beschäftigt, und der Anblick seiner hochgewachsenen Gestalt auf dem Gehweg war einfach zu verlockend.

So früh am Tag war die Straße noch nicht sehr belebt. Poppy war so absorbiert von ihren Fantasien, er könnte plötzlich stehen bleiben, herumwirbeln und in einem Moment der Erleuchtung ihren Blick suchen, dass sie nicht sofort bemerkte, wie er stehen blieb, um mit jemandem zu reden.

Sie riss sich mit Mühe von Autenberrys Anblick los und musterte den Fremden, der vor ihm stand.

Der Mann überragte selbst den Duke, ein wahrer Riese, bestimmt fast einen Meter neunzig groß. Unter seinem Überzieher zeichneten sich breite Schultern ab. Auffallenderweise trug er trotz der bitteren Kälte keinen Hut, als ob der Winter ihm nichts anhaben könnte. Sein goldblondes Haar war ein seltener Lichtblick an diesem trüben, nebligen Morgen.

Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Vielleicht war er schon mal im Laden gewesen. Er sah gut aus, wenn auch längst nicht so schön wie Autenberry. Obwohl er wie ein Gentleman gekleidet war, umgab ihn etwas Raues. Eine gewisse Derbheit, die sie an die Männer erinnerte, die in den Docks arbeiteten. Das Gesicht wie aus Granit gehauen. Kantiger Kiefer. Harte Augen. Ein brutaler Zug um die schmalen Lippen. Dies war kein Mann, dem man in die Quere kommen wollte. Der Gedanke schoss ihr ganz unvermittelt durch den Kopf, und sie unterdrückte einen leichten Schauder, bevor sie den Blick wieder auf ihren geliebten Duke richtete – genau in dem Moment, in dem Autenberry zum Schlag ausholte und seine Faust in das Gesicht des Fremden schmetterte.

Das krachende Geräusch vibrierte förmlich durch die Luft und drang bis an ihre Ohren, obwohl sie sich im Inneren des Ladens befand. Hastig schlug sie die Hände vor den Mund, um ihren verstörten Aufschrei zu ersticken. Der große Mann taumelte unter der Wucht des Schlags einen Schritt zurück und erstarrte für eine gefühlte Ewigkeit in der Poppy das Herz einen Schlag lang aussetzte, und ihr buchstäblich der Atem stockte.

Dann stürzte er sich mit der Schnelligkeit einer Sprungfeder auf Autenberry, verpasste ihm seinerseits einen heftigen Hieb. Der Duke wankte und hatte keine Zeit, sich von dem Treffer zu erholen, bevor der Fremde schon wieder über ihn herfiel.

Nicht bereit, tatenlos zuzuschauen, wie der Duke zu Brei geprügelt wurde, stürmte Poppy aus dem Laden.

Sie war nicht die Einzige, die den Kampf bemerkte. Eine kleine Menschenmenge versammelte sich um die Streithähne. Zwei Reiter hielten ihre Pferde an und saßen ab. Nicht, um dem Treiben Einhalt zu gebieten, sondern um zuzugucken und anzufeuern. Der Inhaber des Kurzwarenladens nebenan eilte mit einer gaffenden Kundin nach draußen, um zu verfolgen, wie die beiden Männer wilde Schläge austeilten, bei denen die Zuschauer zuckten und aufschrien.

Mrs. Barclay kam ebenfalls auf die Straße und umfasste Poppys Arm. „Was um alles in der Welt geht hier vor?“, rief sie.

„Dieser Mann da hat den Duke belästigt“, erwiderte Poppy, auch wenn das nicht ganz stimmte. Sie wusste, dass der Duke als Erster zugeschlagen hatte, war aber sicher, dass der andere ihn provoziert haben musste.

„Das ist ja schrecklich!“, schrie Mrs. Barclay, als der Duke den Fremden mit einem harten Kinnhaken gegen die weiße Mauer des Kurzwarenladens schleuderte, den Besitzer des Geschäfts nur knapp verfehlend. Der rundliche Mann sprang mit bemerkenswerter Gewandtheit aus dem Weg.

Kopfschüttelnd betastete der Fremde seine blutige Lippe und starrte dann auf seine rot verschmierten Finger. In seinen Augen blitzte etwas auf, bei dem sich Poppy der Magen nervös zusammenzog. Der Anblick seines eigenen Bluts brachte ihn offensichtlich noch mehr in Rage. Er stieß sich von der Mauer ab, stürzte sich erneut auf den Duke und boxte ihn in den Magen.

Beide Männer fielen auf die Straße, in einem Wirbel aus Körpern und Gliedmaßen.

„Aufhören!“, schrie sie – die Einzige hier, die Wert darauf zu legen schien, dass dem Ganzen ein Ende gemacht wurde. Die Menge der Zuschauer schien nur noch anzuwachsen, immer mehr Leute strömten aus den Läden, um das Spektakel zu beobachten.

Autenberry und der Fremde rollten miteinander durch den Staub, heftig aufeinander einprügelnd, wo immer ihre Fäuste trafen. Es war unmöglich zu sagen, wer die Oberhand hatte. Sie schienen ebenbürtige Gegner zu sein und schlugen mit einer Brutalität zu, die Polly dazu brachte, ihre Zähne so fest zusammenzubeißen, dass ihr der Kiefer schmerzte.

Sie drehte sich zu dem Kurzwarenhändler um. „Tun Sie doch etwas!“

Hilflos hob er die Schultern, ohne seinen Blick von dem fesselnden Schauspiel zweier Männer, die einander umbrachten, loszureißen.

Nicht Autenberry. Nicht mein Duke.

Sie befreite sich aus Mrs. Barclays Griff und rannte zu drei Gentlemen hinüber, die den Kampf verfolgten, Ratschläge riefen und Wetten über den Ausgang platzierten.

„Bitte“, flehte sie. „Tun Sie etwas!“

Einer von ihnen starrte sie ungläubig an. „Ich mache der Sache bestimmt kein Ende! Ich habe auf den Großen gesetzt.“

Kopfschüttelnd näherte sie sich der Straße, eine Hand am Kragen ihres Kleides, den sie verzweifelt zerknitterte.

Besagter großer blonder Mann schaffte es, sich aufzurappeln. Er hob ein Bein und trat dem Duke gegen die Brust, stieß ihn erneut zu Boden.

Poppy sah rot.

Mit einem Aufschrei sprang sie den Mann von hinten an und umklammerte seinen Rücken mit Armen und Beinen.

„Was zum Teufel …“ Er wirbelte im Kreis herum, doch sie hielt sich so an ihm fest, wie sie das immer bei Papas Schwein gemacht hatte, wenn es wieder mal aus dem Koben ausgebrochen und in Mrs. Wolfstons Garten geflüchtet war.

Poppy umschlang den harten Körper des Mannes und drückte zu, fest entschlossen, nicht loszulassen.

„Sind Sie verrückt geworden, Frau?“, brüllte der Mann und packte ihre Handgelenke, die auf seinen Schultern lagen. Sie keuchte unter seinem gnadenlosen Griff. Er war viel stärker als Papas Schwein – und wollte sie unbedingt loswerden.

Ihr Gewicht brachte ihn ins Taumeln, sie fürchtete, sie würden zusammen zu Boden gehen und sein schwerer Körper würde sie zerquetschen. Doch er fing sich wieder und wankte mit ihr auf die Ladenzeile zu. Sie glaubte, Mrs. Barclay ihren Namen schreien zu hören, wagte aber nicht, den Kopf zu drehen, um sich zu vergewissern, sondern konzentrierte sich weiter darauf, sich an ihrem Opfer festzuhalten.

Wieder wirbelte er im Kreis, versuchte, sie abzuwerfen. Sie schrie, packte eine Handvoll seines Haars und zog daran, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte und seitwärts in die Mauer zwischen Barclay’s und dem Kurzwarengeschäft krachen ließ. Er stieß ein wüstes Schimpfwort aus, und sie fühlte einen stechenden Schmerz in der Seite. Das würde einen schönen Bluterguss geben.

Keuchend lehnte er an der Wand, als ob er einen Moment brauchte, sich zu erholen. Er hatte die größte Wucht des Aufpralls abbekommen. Gut.

Sie ließ sich an seinem hochgewachsenen Körper nach unten gleiten und trat einen Schritt zurück, bebend wie Espenlaub. Keuchend strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Dann musterte sie ihren Gegner von oben bis unten. Dafür musste sie den Kopf in den Nacken legen. Er war viel zu groß. Er war viel zu … viel.

Schmerzlich grimassierend umfasste er seinen Arm und hielt ihn eng an seine Seite gepresst.

Sie stemmte die zitternden Hände in die Hüften. „Hoffentlich ist er gebrochen! Sie haben nichts anderes verdient.“

„Verdammte Hexe“, wetterte er mit schottischem Akzent, den sie vorher gar nicht bemerkt hatte. Seine Augen sprühten Gift, sein Blick durchbohrte sie förmlich. Die breite Brust hob und senkte sich unter raschen Atemzügen. „Das hier geht Sie nichts an, Mädel. Verschwinden Sie.“

Natürlich konnte er nicht reden wie eine normale Person. Stattdessen klang er wie jemand, der Walnüsse mit den Zähnen knackte und jeden Morgen in einem eiskalten Fluss badete. Wild und primitiv. Ein echter Höhlenmensch.

„Passen Sie auf!“ Mrs. Barclays Warnruf lenkte ihre Aufmerksamkeit von dem schottischen Heiden ab.

Sie folgte dem Blick ihrer Arbeitgeberin zur Straße, wo der Duke Mühe hatte, auf die Beine zu kommen. Immer wieder schüttelte er benommen den Kopf. Doch das war nicht alles, was Poppy sah.

Eine Kutsche ratterte auf ihn zu. Schnell.

Ihr sank das Herz in die Hose. Es war einer jener Momente, über die sie in Büchern gelesen hatte oder von denen Menschen erzählten, die Schreckliches erlebt hatten.

Die Zeit schien stillzustehen.

Sie sah die Kutsche. Die durchgehenden Pferde mit ihrem dampfenden Atem und den wilden Augen. Und den Duke, hilflos, außerstande, ihnen auszuweichen, direkt in ihrem Weg.

Nein nein nein nein nein.

Sie dachte nicht nach, reagierte nur, rannte mitten auf die Straße, wo der Duke sich gerade unsicher aufgerichtet hatte, als Poppy sich mit voller Kraft gegen ihn warf und ihn aus der Gefahrenzone schubste.

Dann starrte sie entsetzt auf die Kutsche, die nun auf sie zu ratterte. Kälte breitete sich in ihr aus, und sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Verdammt!

Dann prallte ein schweres Gewicht gegen sie, und sie flog, einen gellenden Schrei ausstoßend, durch die Luft und aus dem Weg der herannahenden Kutsche.

Auf der anderen Seite der Straße ging er zu Boden, und die Kutsche donnerte in einem Getöse aus Hufgeklapper und Räderrattern an ihr vorbei. Harte Arme schlangen sich um sie, der Körper ihres Retters federte sie ab und dämpfte ihren Aufprall.

Die Pferde wieherten aufgebracht, während der Kutscher sich hart in die Leinen legte, um sie endlich zum Stehen zu bringen.

Poppy richtete sich halb auf, um ihren Retter anzuschauen.

„Sie!“

Der stämmige Schotte funkelte sie finster von unten her an, das Gesicht vor Schmerz verkniffen. „Fühlen Sie sich frei, wann immer es Ihnen passt, von mir herunterzusteigen. Sie sind schwerer, als Sie aussehen.“

„Oh!“ Hastig rappelte sie sich auf. Noch immer hielt er seinen Arm umklammert. Er war verletzt. Sie empfand einen Anflug von Mitgefühl, bis ihr wieder einfiel, dass er selbst die Schuld an seinem Zustand trug. Nichts von alldem hier wäre passiert, wenn er keine Prügelei mit ihrem Duke vom Zaun gebrochen hätte …

Der Gedanke an Autenberry lenkte ihren Blick zu der Stelle, an die er gestürzt war. Mehrere Leute scharten sich inzwischen um ihn. Sie raffte ihre Röcke, rannte auf die immer größer werdende Gruppe zu und schob sich durch die Menge, um einen Blick auf ihn zu erhaschen.

Als sie ihn noch immer hingestreckt am Boden liegen sah, schnappte sie entsetzt nach Luft. Seine Augen waren geschlossen, und er war so leichenblass, als ob alles Blut aus seinem Körper herausgesickert wäre.

Einen Moment lang stand sie wie vom Donner gerührt da und starrte auf den Duke hinunter, während der Rest der Welt um sie herum versank.

Bitte, bitte, lass ihn nicht tot sein.

2. KAPITEL

Plötzlich drängten sich verschiedene Personen an ihr vorbei und brachten sie zurück in die Wirklichkeit. Ein Mann kauerte sich neben den Duke und legte zwei Finger an seinen Hals, um den Puls zu prüfen. „Er lebt“, verkündete er.

Tief atmete sie durch, und die Anspannung in ihren Schultern legte sich etwas. Der Mann, der ihren Duke gerade als lebend erklärt hatte, nahm seine Mütze ab und schaute ehrfürchtig zu ihr hoch. „Alle Achtung, Miss, Sie sind für ihn vor diese Kutsche gesprungen!“

Geistesabwesend nickte sie, vor lauter überwältigenden Gefühlen war ihr die Kehle ganz eng.

„Und hat sich dabei selbst fast umgebracht“, ergänzte eine tiefe Stimme.

Sie erkannte den Akzent und wandte den Kopf. Die Menge öffnete sich für den finsteren Schotten, der sie jedoch kaum anschaute. Stattdessen richtete sich der Blick seiner moosgrünen Augen eindringlich auf den Duke. „Lebt er?“

„Er ist nicht tot.“ Ihre Stimme klang nicht wie ihre eigene. Sie schluckte und versuchte, sie zurückzugewinnen. „Was er aber nicht Ihnen zu verdanken hat.“

„Sie sind auch nicht tot“, erwiderte er in seinem harschen Ton. „Und das verdanken Sie mir.“

Der Mann, der noch immer seine Mütze umklammert hielt, riss die Augen auf. „Sie haben sie gerettet, Sir! So was habe ich noch nie gesehen!“ Er schaute zwischen ihnen hin und her. „Sie sind beide Helden!“

Unbehaglich trat Poppy von einem Fuß auf den anderen. Der Gedanke, dass dieser Mann ein Held sein könnte, gefiel ihr gar nicht. Schließlich war er der Bösewicht in diesem kleinen Drama. Sie ignorierte die leise Stimme in ihrem Kopf, die ihr in Erinnerung rief, dass er sie eben aus dem Weg einer heranpreschenden Kutsche gestoßen hatte. Und dass der Duke als Erster zugeschlagen hatte. In ihren Augen war der stämmige Schotte der Übeltäter. Er musste den Duke of Autenberry zum Angriff provoziert haben.

„Sie haben ihm das Leben gerettet!“, rief Mrs. Barclay und tätschelte Poppy stolz die Schultern.

Poppy nickte knapp. „Mal sehen, wie lange das vorhält, wenn wir ihn nicht aus dieser Kälte herausholen und ordentlich versorgen.“

Der Mann deutete mit seiner Mütze auf eine in der Nähe stehende Droschke. „Ich kann ihn bringen, wohin Sie wollen.“

„Also denn. Sehen wir zu, dass wir ihn hier wegkriegen!“, befahl der Schotte, als ob er das Sagen hätte. Was für eine Frechheit!

Seine Worte zeigten sofortige Wirkung. Der Droschkenkutscher und ein anderer Gaffer hoben den bewusstlosen Duke hoch und trugen ihn zu dem wartenden Gefährt. Dass alle diesem Fremden so bedingungslos gehorchten, machte Poppy wütend. Es war, als trüge er keine Schuld an dem, was passiert war. Lag es nur daran, dass er ein Mann war? Noch dazu ein gut gekleideter Gentleman?

Sie bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick und trat nah an ihn heran. „Sie haben hier schon genug getan, Sir“, zischte sie ihm ins Ohr. Ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, was sie unausgesprochen in der Luft hängen ließ. Verschwinden Sie, auf der Stelle.

Er schaute sie an – oder vielmehr durch sie hindurch, jedenfalls fühlte es sich so an. Sein kalter, gefühlloser Blick bohrte sich förmlich in sie hinein, ließ ihr die Brust eng werden und raubte ihr den Atem.

Und dann, als hätte sie nichts Bedeutendes zu ihm gesagt, als besäße sie keinerlei Bedeutung, drehte er sich um, ohne sie einer Antwort zu würdigen, und ging zu der Droschke. Noch immer wirkte er viel zu gebieterisch, sogar mit seinem zerbeulten Gesicht, seiner blutigen Lippe und dem eng an seine Seite gepressten Arm. Einen flüchtigen Augenblick lang fragte sie sich, ob er es bereute, ihr das Leben gerettet zu haben.

„Sie sollten Seine Gnaden begleiten, Poppy“, flüsterte Mrs. Barclay ihr verschwörerisch zu. „Stellen Sie sicher, dass er auf schnellstem Wege nach Hause und in die Obhut seiner Bediensteten gelangt.“ Der Blick ihrer dunklen Augen war auf den Schotten geheftet. Offenbar vertraute sie dem Fremden nicht so bereitwillig wie alle anderen. „Der Duke ist einer unserer besten Kunden. Da müssen wir sehr beflissen sein.“

Poppy widerstand der Versuchung, sie daran zu erinnern, dass es nach üblichen Standards schon als überaus beflissen gelten musste, sein Leben gerettet zu haben. Nicht zuletzt deshalb, weil sie Mrs. Barclays Bedenken aus vollem Herzen teilte. Der Duke sollte nicht allein gelassen werden, bevor er der Obhut seiner Bediensteten überantwortet werden konnte.

Sie nickte und schaute zu der Kutsche, in die sie gerade den Duke legten. Autenberry. Er war noch nicht außer Gefahr. Bitte stirb nicht.

„Ja, ja, natürlich, Mrs. Barclay.“ Aus schmalen Augen starrte sie auf den Rücken des Schotten, der Anstalten machte, zum Duke in die Droschke zu steigen.

Oh nein, das kam gar nicht infrage!

Die beiden Männer hatten sich gerade einen brutalen Faustkampf geliefert. Woher sollte sie wissen, dass er nicht beabsichtigte, dem Duke in dieser Kutsche vollends den Garaus zu machen? Vielleicht beabsichtigte er ja, ihn hinter geschlossenen Türen mit seinem Mantel zu ersticken? Oder einfach eine seiner gigantischen Pfoten zu nutzen, um ihm die Kehle zuzudrücken? Man durfte ihn unter keinen Umständen mit Seiner Gnaden allein lassen, so viel stand fest. Sie würde das nicht zulassen. Sie konnte es nicht zulassen. Auf gar keinen Fall würde sie den Duke der Gnade dieser Bestie überlassen. Selbstverständlich musste sie ihn begleiten.

„Warten Sie!“ Sie raffte ihre Röcke und reckte gleichzeitig das Kinn, in der Hoffnung, hochmütig und sittsam zu erscheinen. Sie mochte nicht von hoher Geburt sein, aber ihre Mutter war adelig gewesen, und ihr Vater hatte sie zu Würde und Selbstachtung erzogen. Diese Lektionen kamen ihr in diesem Moment sehr zugute. „Ich komme mit.“

Er starrte sie an. Eins seiner Augen war rot und geschwollen, auf bestem Wege zu einem Veilchen. Außerdem tropfte noch immer Blut aus seiner aufgeplatzten Lippe, aber trotz allem schaffte er es, imposant zu wirken und kein bisschen schwach oder verwundbar, wie sich wohl jeder andere Mensch in seinem Zustand gezeigt hätte. Widerstrebend räumte sie ein, dass er durchaus attraktiv war. Zumindest würden einige Frauen ihn so sehen. Aber nicht Poppy! „Das ist nicht nötig“, erwiderte er knapp.

„Oh, das glaube ich aber schon.“ Sie schob sich an ihm vorbei und kletterte ohne Hilfe in die Droschke, fest entschlossen, ihn nicht ohne sie abfahren zu lassen, und überzeugt davon, dass er genau das tun würde, wenn sie ihm auch nur die geringste Chance dazu bot.

Er folgte ihr in das Innere des Gefährts. Da der Duke auf die gegenüberliegende Bank gebettet worden war, setzte der Schotte sich direkt neben sie, sodass sein muskulöser Schenkel sich an ihrem rieb. Die unerwünschte Nähe ließ sie zurückzucken.

Als er begann, die Tür zuzuziehen, legte sie ihm eine Hand an den Arm, um ihn daran zu hindern. „Hingegen sehe ich nicht die Notwendigkeit, dass Sie uns begleiten.“

„Tatsächlich nicht?“, fragte er ruhig.

„Nein. Tatsächlich nicht.“

„Ich schätze mal, dass es ziemlich viel gibt, was Sie nicht sehen, Miss“, gab er zurück mit dieser tiefen, grollenden Stimme, die wohl typisch für ihn war.

Ermutigt von dem Vertrauen, das Mrs. Barclay in sie setzte, und verärgert über die Geringschätzung, mit der er sie behandelte, setzte sie sich aufrechter hin und drehte sich auf ihrem Sitz, um ihn besser anfunkeln zu können. Sie würde ihren besten Kunden beschützen! „Sie können von Glück sagen, dass ich nach allem, was Sie sich heute geleistet haben, nicht nach der Wache schicken lasse. Sie steigen jetzt sofort aus.“ Herrisch deutete sie auf die Tür.

„Wie schnell Sie vergessen haben, dass ich Ihr Leben gerettet habe. Zählte das nicht ebenfalls zu den Dingen, ich mir heute geleistet habe?“

Sie neigte bestätigend den Kopf. „Und dafür danke ich Ihnen, aber das spielt keine Rolle, wenn es sich um das Wohlergehen des Dukes handelt.“

Wieder versuchte er, die Tür zu schließen.

Sie versetzte seinem harten Unterarm einen Stoß, bemüht, sich nicht von den kräftigen Sehnen unter dem Stoff seines Überrocks ablenken zu lassen.

„Ich gehe nirgendwohin“, fuhr er sie an. „Ich habe jedes Recht, hier zu sein.“

„Tatsächlich?“

„Tatsächlich“, bekräftigte er spöttisch. „Immerhin bin ich sein Bruder.“

Seine Behauptung war so absurd, dass sie schnaubend mit den Augen rollte. „Ha! Sehr amüsant.“

Unter seinem todernsten Blick gefror ihr das Blut in den Adern. Du liebe Zeit! Er scherzte keineswegs.

Sie schaute von ihm zum Duke und wieder zurück und bemerkte zum ersten Mal, dass die beiden Männer eine gewisse Ähnlichkeit hatten. Oh, nein! Plötzlich wurde ihr ganz mulmig zumute. Dieser Mann war der Bruder des Dukes. Sie starrte auf ihre Hand, die noch immer seinen Arm umklammert hielt. Oh, nein

Hastig gab sie ihn frei und ließ sich ins Polster zurücksinken. „Oh.“

Er schlug die Tür zu und klopfte an das Dach der Kutsche, die sich sofort in Bewegung setzte. Poppy schluckte an dem Kloß, der sich plötzlich in ihrer Kehle gebildet hatte. Es versetzte ihr einen Stich, einräumen zu müssen, dass er vielleicht wirklich hierhergehörte. Mehr als sie.

Autenberry hatte einen Bruder.

Es fühlte sich falsch an, dass sie von dieser sehr wesentlichen Tatsache seines Lebens nichts gewusst hatte … während sie ihn doch angeblich so leidenschaftlich verehrte. Schmerzlich berührt schloss sie die Augen und schüttelte voller Selbstekel den Kopf.

Ich wusste nicht, dass er einen Bruder hat.

Natürlich wusste sie das nicht. Sie wusste überhaupt nichts über ihn. Oh, sie redete sich gern ein, dass sie unglaublich viel über ihren kostbaren Duke wusste, aber das war alles Teil einer Fantasie, die nur in ihrem Kopf existierte.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Anwesenheit des Schotten zu akzeptieren. „Na schön“, murmelte sie ergeben.

Verstohlen musterte sie ihn. Wie hatte ihr die Familienähnlichkeit bloß entgehen können? Sie gab dem Chaos ihres ersten Aufeinandertreffens die Schuld.

Einer seiner Mundwinkel zuckte, als müsste er ein Lächeln unterdrücken. „Na schön“, wiederholte er und klang dabei so verdammt selbstzufrieden, dass sie sich nur noch törichter vorkam.

Sie schaute zum Duke hinüber und dann wieder zu seinem Bruder, der neben ihr saß. Dabei rutschte sie so weit es ging zur Seite und reckte den Hals, um ihn gründlich in Augenschein nehmen zu können.

Er war … finster. Das war das erste Wort, das ihr zu ihm einfiel, obwohl sein Haar so goldblond war. Doch es war nicht seine äußere Erscheinung, die diesen Eindruck hervorrief. Die Finsternis strömte aus seinem Inneren. Als er Autenberry mit brutaler Gewalt verprügelt hatte, wirbelte sein Überzieher so selbstverständlich um seine glänzend polierten Stiefel, als ob Straßenkämpfe die natürlichste Sache der Welt für ihn wären. Weil sie das vermutlich auch waren.

Allein durch seine riesige Statur unterschied er sich von anderen Gentlemen des ton. Schon bevor er den Mund geöffnet hatte, um mit diesem Akzent zu sprechen, der sich auf ihrer Haut wie das Kratzen eine Hermelinpelzes anfühlte, war ihr klar gewesen, dass er anders war.

Der Überrock saß wie angegossen auf seinen breiten Schultern, und seine dominante Präsenz schien die gesamte Kutsche auszufüllen. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu den großen, kräftigen Händen, die er auf seinen Knien gefaltet hatte. Sie sahen aus, als könnte er damit Felsbrocken zertrümmern. Trotz seiner Gentleman-Fassade wirkte er eher wie jemand, der im Hafen arbeitete. Ihn umgab eine Rauheit, eine Schärfe, die seine elegante Kleidung Lügen strafte.

Sie schreckte überrascht zusammen, als ihr klar wurde, dass er sie ebenfalls musterte. „Sie starren“, bemerkte er.

„Sie auch.“

„Ich versuche schlicht und ergreifend herauszufinden, warum Sie hier sind. Was haben Sie mit Autenberry zu tun?“

Sie wich ein Stück zurück. „Was ich mit ihm zu tun habe?“

Er beugte sich so weit zu ihr, dass sie selbst im Halbdunkel der Droschke die Linien um seinen Mund erkennen konnte. Es mochten Lachfältchen oder Grübchen sein, allerdings bezweifelte sie, dass er sich oft in heiterer Stimmung befand.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er kam ihr zuvor. „Sind Sie seine Paramour?“

Hitze schoss in ihre Wangen. „Seine was?“

„Paramour. Das heißt Geliebte, Mätresse …“

„Ich weiß, was es heißt“, fauchte sie. Sie sprach drei Sprachen, sie kannte die Bedeutung des Begriffs Paramour. Unwillkürlich richtete ihr entsetzter Blick sich auf den Duke, als könnte der die empörende Frage seines Bruders mitgehört haben.

„Sie scheinen sehr an seinem Wohlergehen interessiert zu sein. Immerhin haben Sie Kopf und Kragen für ihn riskiert.“

„So was nennt man sich um einen Mitmenschen sorgen“, gab sie hitzig zurück und schüttelte den Kopf. „Man geht nun mal gewisse Risiken für Menschen ein, die man mag.“

„Gewisse Risiken?“ Er schnaufte höhnisch. „Sie mögen ihn so sehr, dass Sie Ihren eigenen Tod riskiert haben. Denn dazu wäre es gekommen, wenn ich nicht zur Stelle gewesen wäre.“ Er starrte sie aus verengten Augen an.

Sie ließ sich seine Behauptung durch den Kopf gehen und musste schlucken, denn bei näherer Betrachtung hatte er recht. Sie hätte heute sterben können. Das sollte ihr zu denken geben. Schließlich ging es nicht nur um sie. Da war noch ihre Schwester. Sie konnte Bryony nicht allein in dieser Welt zurücklassen.

Sie befeuchtete sich die Lippen und unternahm noch einen Versuch, sich zu erklären. „Ich schätze ihn …“

„Offensichtlich“, unterbrach er sie. Sein Blick war scharf wie geschliffenes Glas.

„Das heißt nicht, dass ich … dass er und ich …“

„Miteinander schlafen?“, vollendete er den Satz.

Wieder begann ihr Gesicht zu glühen. War sie in einem Albtraum gefangen? „Sie sind abscheulich.“

„Nach meiner Erfahrung ist Liebe die Voraussetzung dafür, sich vor eine fahrende Kutsche zu werfen, um einen anderen Menschen zu retten. Oder zumindest die Einbildung, jemanden zu lieben.“ Er wedelte wegwerfend mit einer Hand, um seiner Skepsis bezüglich dieser speziellen emotionalen Befindlichkeit Ausdruck zu verleihen. „Nicht, dass ich jemals verliebt gewesen wäre, ob nun echt oder nicht.“

„Oder nicht?“, wiederholte sie ungläubig. Der Mann war ebenso zynisch wie abscheulich.

„In der Tat. Schwärmerei wird oft mit Liebe verwechselt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Aber in welcher Form auch immer, dieses Gefühl bringt die Leute dazu, sich aufzuführen wie …“ Er legte den Kopf zur Seite, als müsste er über die genaue Bezeichnung nachdenken. „… Idioten.“

„Idioten“, fuhr sie auf. „Liebe ist idiotisch?“

„Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, Liebe bringt die Leute dazu, sich aufzuführen wie Idioten. Offensichtlich lieben Sie ihn.“

Poppy atmete tief durch und strich mit zitternden Fingern über ihre gestärkte Schürze. Sie wusste nicht, was beleidigender war – dass er sie für die Mätresse des Dukes hielt oder für eine Idiotin. „Sie sind ein merkwürdiger Mensch.“

„Man hat mir schon Schlimmeres an den Kopf geworfen.“ Er rückte seine langen Beine zurecht, wobei sich der ihr zugewandte Schenkel gegen ihre Röcke presste. Wie von der Tarantel gestochen zuckte sie zurück.

„Das kann ich mir vorstellen.“

Es war, als ob er die ganze Luft im Inneren der Kutsche aufsaugen und ihr wegnehmen würde, sodass sie kaum atmen konnte und ihr die Brust ganz eng wurde. Dieser Mann brachte sie aus der Fassung. Sein bloßer Anblick beschleunigte ihren Puls, seine Worte jagten ihr das Blut unbehaglich schnell durch die Adern.

Es war ein durch und durch unsicheres Gefühl. Schwindelerregend. Tatsächlich war ihr sogar ein bisschen übel. Jedenfalls war es kein bisschen so wie die angenehme Wärme, die sie in Gegenwart des Duke of Autenberry empfand. Aber nicht jeder Mann konnte so eine angenehme Wärme erzeugen. Das sollte sie auch gar nicht erwarten. Diese Wärme sollte den wenigen außergewöhnlichen Männern vorbehalten sein.

Der Gedanke lenkte ihren Blick erneut zum Duke. Zu Marcus, dessen Wimpern wie dunkle Schatten auf seinen bleichen Wangen ruhten. Er war das Einzige, was in diesem Moment zählte. Und nicht sein unerträglicher Bruder.

3. KAPITEL

Struan hoffte, dass er nicht tot war.

Mord wäre schon schlimm genug gewesen, aber den eigenen Bruder umbringen? Struan hatte in seinem Leben schon viele Sünden auf sich geladen … viele unverzeihliche Dinge getan, aber bislang gehörte Brudermord nicht dazu.

Zugegeben, er verabscheute den Mistkerl auf der Sitzbank gegenüber, aber er wollte seinen Tod nicht auf dem Gewissen haben. Nicht, dass er ihn direkt vor die Kutsche gestoßen hätte. Streng genommen war er nicht mal derjenige gewesen, der als Erster zugeschlagen hatte, aber das spielte keine Rolle. Er hatte sich nach Autenberrys Hieb mit größter Bereitwilligkeit in den Kampf gestürzt.

Seine Mutter hätte Marcus’ Verhalten nicht gutgeheißen, hätte nicht auf ihn, Struan, herabgelächelt. Sie hatte gewollt, dass Struan sein Glück fand. In Frieden lebte. Konflikte vermied. Das war ihr letzter Wunsch gewesen, wortreich geäußert auf dem Sterbebett.

Ich weiß, ich hab dir nicht alles gegeben, was ich dir hätte geben sollen. Ich dachte, dein Vater wäre ein anständiger Mann, aber da war ich schief gewickelt. Du hättest mehr verdient. Eine bessere Ma und einen besseren Da. Ein besseres Leben. Jetzt geh und hol es dir, Sohn. Du verdienst es. Sei glücklich.

Die Frau neben ihm schaute ihn an, als ob er eine Art Ungeziefer wäre – sie betrachtete ihn gewiss nicht als jemanden, der irgendetwas Gutes verdiente. Ganz offensichtlich glaubte sie, sein Bruder wäre eine Art Halbgott. Sie wäre nicht die Erste gewesen, die diesem Irrtum unterlag. So ungefähr jeder in der Stadt dachte, dass Autenberry so angenehm und erfreulich war wie Kirschlikör.

Als Struan vor einem Jahr nach London gezogen war, hatte er diskrete Erkundigungen eingeholt, sogar regelmäßig Lokale und andere Orte aufgesucht, die sein Halbbruder frequentierte. Alles, um einen Blick auf den Sohn zu erhaschen, den ihr Vater gewollt hatte. Reine Neugier, sonst nichts. Ganz gewiss sehnte er sich nicht nach einer Verbindung mit einem seiner wenigen lebenden Verwandten.

Gleich nach seiner Ankunft hatte er feststellen müssen, dass sein Vater tot war. Eine Enttäuschung, wie er sich unumwunden eingestand. Nun würde er niemals jenen süßen Moment erleben, in dem er seinem Erzeuger Auge in Auge gegenüberstehen würde. Er hatte sich viele mögliche Szenarien für diese erste Begegnung vorgestellt. Wie sie auf einem Ball oder einer Soiree übereinander stolpern würden. Oder im Club des Dukes, zu dem sich Struan umgehend Zutritt verschafft hatte. Es gab nichts, was man nicht für Geld kaufen konnte, selbst die Mitgliedschaft bei White’s war für den richtigen Preis zu haben. Vor allem, wenn man wie Struan Schuldscheine von einigen der meistbewunderten und bedeutendsten Männer Englands besaß, von Männern, die – anders als er selbst – nicht wussten, wann man aussteigt. Von Männern, die immer weiterspielten, bis sie alles verspielt hatten. Ihr Vermögen, ihren Landbesitz, die Kleider, die sie am Leibe trugen.

Seit dem Tod seiner Mutter hatte Struan ein Vermögen angehäuft. Es begann mit Würfelpartien in finsteren Seitengassen. Selbst ohne ordentliche Schulbildung besaß er ein untrügliches Gespür für Zahlen und wie man sie blitzschnell so addieren und bewegen konnte, dass sie Sinn ergaben. Im Unterschied zu den meisten anderen Dingen im Leben waren Zahlen verlässlich. Sie betrogen einen niemals.

Dieses Talent half ihm, entgegen aller Wahrscheinlichkeit bei Pferdewetten und anderen Glücksspielen abzuräumen. Mit zwanzig war er den finsteren Seitengassen entwachsen. Er gewann Pferde und Phaetons, einmal sogar ein Paar Kängurus. Schon bald folgten Ländereien und Herrenhäuser. Mit zweiundzwanzig gewann er seine erste Spielhölle, und von da an wuchs sein Imperium ständig weiter. Neben Häusern und Landbesitz in Schottland erwarb er Anwesen in den Cotswolds und im Lake District.

Wie durch Zauberhand öffneten sich Türen, die ihm zuvor verschlossen gewesen waren, und er begann, sich Begegnungen mit seinem Vater auszumalen. Er stellte sich vor, wie er seinem Erzeuger zeigte, was ohne seine Hilfe aus ihm, dem ungewollten Sohn, geworden war. Um seine Rache noch mehr zu versüßen, hatte er in diesen Fantasien eine hochgeborene Gattin an seiner Seite – eine Frau, die nicht nur wegen ihres Rangs heiß begehrt war, sondern auch wegen ihrer Schönheit. Und plötzlich war sein Ehrgeiz geweckt.

Als er nach London kam, hatte er ein klares Ziel vor Augen: die attraktivste, blaublütigste englische Rose zu heiraten, die er finden konnte, und sie seinem Vater unter die Nase zu reiben. Er würde dafür sorgen, dass der alte Autenberry den Tag verfluchte, an dem er ihn verleugnete und einen niederen Bastard nannte.

Nachdem er feststellen musste, dass sein Vater tot war, verfolgte er sein Vorhaben mehr oder weniger aus Gewohnheit weiter, als könnte er den Mann noch im Grab erreichen und ihm beweisen, dass er sich damals geirrt hatte – dass Struan Mackenzie jemand war, auch wenn der Duke of Autenberry sich weigerte, ihn als Sohn anzuerkennen.

Die Kutsche überfuhr eine leichte Spurrille, und das Mädchen streckte rasch die Hand nach Autenberrys Schulter aus, um zu verhindern, dass er von der Sitzbank rutschte. Angesichts ihrer Fürsorglichkeit Autenberry gegenüber verzog Struan unwillkürlich den Mund.

Sie war ein wildes kleines Ding. Keine Schönheit, aber durchaus reizvoll. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob sein allerliebster Bruder mit ihr schlief. Immerhin gab es nur wenige weibliche Wesen, denen der Kerl nicht an die Wäsche gegangen war.

Dieses Mädchen hatte tatsächlich die Frechheit besessen, ihn anzugreifen. Er wog zweimal so viel wie sie, könnte sie mit einer Hand zerquetschen, und doch war sie über ihn hergefallen, als ob sie ihm gewachsen wäre. Womit hatte sein Bruder sich bloß ihre unerschütterliche Loyalität verdient? Struan unterdrückte ein abfälliges Schnauben. Diese Frage konnte er sich leicht selbst beantworten. Autenberry besaß ein Händchen für das schönere Geschlecht.

Verstohlen musterte er ihre schlanke Gestalt unter dem Kleid, das definitiv bessere Tage gesehen hatte. Er wusste, dass sein Bruder eher üppige Frauen bevorzugte, und davon war sie weit entfernt.

Als sie sicher sein konnte, dass ihr Patient nicht von der Sitzbank rollen würde, lehnte sie sich wieder zurück. „Sie sehen ein bisschen so aus wie er“, räumte sie missmutig ein. „Jetzt erkenne ich es auch.“

„Ich weiß.“ Ihm selbst war die Ähnlichkeit bei ihrem ersten Aufeinandertreffen aufgefallen. Sie mochten einander gleichen, doch für ihren Vater war Marcus derjenige gewesen, den er für sich beanspruchte, in den er regelrecht vernarrt war. Ein Gefühl, das offenbar auf Gegenseitigkeit beruht hatte, zumindest deutete die rasende Wut, mit der sein Bruder bereits bei jener ersten Begegnung reagiert hatte, darauf hin.

Der junge Duke verabscheute Struan. Er war davon überzeugt, dass der andere nichts anderes im Sinn hatte, als die restlichen Autenberrys zu vernichten, und war, wie ein besorgter Bärenvater, wild entschlossen, seine Familie zu beschützen. Um fair zu sein, konnte Struan ihm diesen Impuls nicht vollkommen verübeln. Wäre die Situation umgekehrt gewesen, hätte er womöglich genauso empfunden. Wenn er noch irgendwen auf der Welt gehabt hätte, der sich um sein Wohlergehen scherte. Aber so jemanden gab es nicht. Er hatte niemanden.

Wieder beugte sie sich vor, als könnte sie nicht widerstehen, und strich dem Duke mit ihren schlanken Fingern sanft eine Haarsträhne aus der Stirn. Bei dieser zärtlichen Geste zog sich irgendetwas in Struans Brust schmerzlich zusammen.

Natürlich war sie vernarrt in ihn. Autenberry war ein Duke. Und er sah gut aus. Abgesehen davon war er auch noch charmant. Das sagte jeder. Bestimmt gab es nicht allzu viele gut aussehende charmante Dukes. Da musste man es wohl als bittere Ironie bezeichnen, dass der bewusstlose Mann, den sie so offensichtlich anhimmelte, nur Augenblicke zuvor Struans tote Mutter als Hure und ihn selbst als Lügner beschimpft hatte, bevor er ihm einen Boxhieb ins Gesicht versetzte. Trotz ihrer auffallenden Ähnlichkeit wollte Autenberry weiterhin so tun, als ob sein Vater kein Ehebrecher gewesen wäre und keinen Sohn gezeugt und einem Leben in Armut überlassen hätte.

Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er mit seinem Halbbruder aneinandergeraten war, doch ihre Auseinandersetzungen waren von Mal zu Mal heftiger geworden. Der junge Duke glaubte, dass Struan auf Geld aus wäre. Als ob Struan nicht genug eigenes Vermögen besäße. Er hätte Autenberrys gesamten Besitz zweimal kaufen können – seine Ländereien, seine Häuser, seine Dienstboten, seine modische Garderobe, alles. Das wäre ein Klacks für ihn gewesen.

Autor

Sophie Jordan
<p>Geschichten über Drachen, Krieger und Prinzesssinnen dachte Sophie Jordan sich schon als Kind gerne aus. Bevor sie diese jedoch mit anderen teilte, unterrichtete sie Englisch und Literatur. Nach der Geburt ihres ersten Kindes machte sie das Schreiben endlich zum Beruf und begeistert seitdem mit ihren eigenen Geschichten. Die New-York-Times-Bestsellerautorin lebt...
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