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Marcus Weatherton, Duke of Autenberry, traut seinen Augen nicht: In einem Dorf im schottischen Nirgendwo wird eine Frau versteigert! Um der Schönheit in Not zu helfen, überbietet Marcus alle anderen. Zu spät erfährt er, dass er dadurch die junge Alyse nicht etwa befreit hat – sondern geheiratet! Und seine frischgebackene Ehefrau will nur eins: ihn schnellstens wieder loswerden. Auch für Marcus ist es undenkbar, seiner Familie die völlig unstandesgemäße und überraschend widerspenstige Alyse als Duchess zu präsentieren. Während sie einen Plan schmieden, um die Ehe für ungültig erklären zu lassen, entdecken Marcus und Alyse jedoch unverhofft eine Gemeinsamkeit: ihre geradezu magnetische Anziehung füreinander …


  • Erscheinungstag 21.03.2023
  • Bandnummer 148
  • ISBN / Artikelnummer 9783751517706
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

In welchem der hungrige Wolf erwacht …

Marcus, der fünfte Duke of Autenberry, erwachte ruckartig, mit dem Gesicht in Pferdemist.

Zumindest ging er davon aus, dass es sich bei dem geruchsintensiven Zeug um das Verdauungsprodukt eines Pferdes handelte. Um ihn herum wieherten einige der besagten Tiere, außerdem hatte er einen Gutteil seines Lebens in den Stallungen verbracht. Er kannte den Gestank von Pferde-Exkrementen.

Als er sich hochstemmte, spaltete ihm ein intensiv pochender Schmerz fast den Schädel. Was zum Teufel war ihm passiert?

Er wischte mit dem Jackenärmel über sein Gesicht, setzte sich aufrecht hin – und fand sich plötzlich im Mittelpunkt kritischer Aufmerksamkeit wieder. Diverse Augenpaare starrten ihn durch die Schlitze zwischen den Holzlamellen der Stalltür an. Vermutlich gehörten sie Kindern, denn die Augen befanden sich ungefähr auf einer Höhe von eineinhalb Metern, außerdem sprachen seine Beobachter mit hohen, schrillen Stimmen. Wobei dieser Eindruck natürlich auch seinem überempfindlichen Gehör geschuldet sein konnte.

„Was glaubst du, wann wacht er auf?“

„Och, er is’ jetzt schon seit Stunden inner Pferdekacke!“

„Nich’ vor morgen. Wenn mein Pa trinkt, schäft er tagelang.“

„Groß isser, was?“

„Guten Morgen“, grüßte er betont munter, wobei er sich bemühte, den ihn umgebenden Gestank nicht allzu tief einzuatmen.

Die Augen blinzelten.

„Och, was redet der komisch!“, rief eine dünne Stimme.

„Ihr könnt mir nicht vielleicht sagen, wo ich bin?“, erkundigte er sich, warf einen prüfenden Blick auf seine Kleidung und zuckte peinlich berührt zusammen. An seiner einst makellosen Jacke klebte eine ordentliche Portion Pferdemist.

Seine Frage rief einen mehrstimmigen Kicheranfall hervor.

„Du weißt nich’, wo du bist?“, krakeelte ein Kind ziemlich rüpelhaft. „Was für’n Trottel biste denn?“

„Ein spektakulär trotteliger“, murrte er und rappelte sich auf, den stechenden Kopfschmerz ignorierend.

Noch mehr Kichern.

Er machte einen taumelden Schritt auf die Tür zu. Die Kinder auf der anderen Seite rannten kreischend weg, wobei der Rhythmus ihrer trampelnden Füße zum hämmernden Takt unter seiner Schädeldecke passte. Vorsichtig versuchte er, den Riegel zurückzuschieben. Ohne Erfolg. Die Tür war von außen versperrt.

„War ja klar“, murmelte er und lehnte sich an die Wand, dankbar für die Stütze. Dann wühlte er in seiner Innentasche nach einem Taschentuch, wischte sich Heureste und Mistklumpen aus dem Gesicht und fragte sich, wie er so tief hatte sinken können. War es wirklich so weit mit seinem Leben gekommen?

Jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern, schon jemals in einer derart würdelosen Situation geschlafen zu haben. Er war schon an allen möglichen Orten aufgewacht, aber stets in einem Bett oder auf einem Sofa. Einmal, in der Schule, war er am Schreibtisch eingeschlafen, weil er noch bis spät nachts gelernt hatte.

Dies hier war eine schändliche Premiere.

Schwere, schleppende Schritte näherten sich. Diesmal, nahm er an, handelte es sich nicht um ein Kind. Er hörte Schlüssel klappern, ein Kratzen, dann schwang die Tür weit auf.

Kleine dunkle Augen musterten ihn aus einem breiten, flachen Gesicht heraus. „Sie sind wach“, stellte der Kerl dümmlich fest.

„Dem ist so“, bestätigte er milde, kratzte an seinen juckenden Bartstoppeln und betrachtete seine Stiefel, deren schimmernder Hochglanz längst verblasst war. Sein Kammerdiener daheim in London wäre entsetzt, doch ihm erschien das matte Erscheinungsbild sehr passend. Er fühlte sich genauso wie seine Stiefel. Dumpf und staubig.

„Dachte mir, eine Nacht eingesperrt zu sein, würd’ Ihnen den Wind aus ’n Segeln nehmen.“

Aha. Man hatte ihn also eingekerkert. Für irgendein Vergehen, an das er sich partout nicht erinnern konnte.

Erneut schaute er sich um, nachdem er den Stall nun zutreffend als Gefängnis identifizieren konnte. Er entsann sich, dass er (gestern?) an einem Wirtshaus in irgendeinem abgelegenen Dorf haltgemacht hatte.

An den Namen des Dorfs konnte er sich nicht erinnern. Er war auf seiner Reise nach Norden durch so viele dieser Orte gekommen, dass sie miteinander verschwammen.

Fragend starrte er seinen Gefängniswärter an. „Dürfte ich mich nach meinem Verbrechen erkundigen?“

„Sie können sich nich’ erinnern?“ Der Mann wischte über seine rote Knollennase. „Sie haben praktisch den Schankraum vom alten Alvin zertrümmert, als John Smithy Einwände gegen ihren Umgang mit Rovena äußerte.“

„Rovena?“ Der Name klang vertraut. Er wedelte mit den Fingern vor seiner Stirn herum, als könnte das nähere Details heraufbeschwören. „So eine Schwarzhaarige?“

„Aye.“ Der Mann nickte.

Das Serviermädchen war nicht schüchtern gewesen. Als sie ihm sein Abendessen brachte, hatte sie sich ohne Umstände neben ihm niedergelassen, und ihre gierigen Pfoten machten kurzen Prozess mit dem Verschluss seiner Breeches, um sich unter dem Tisch eifrig an seinem Schwanz zu schaffen zu machen.

Ein in der Nähe sitzender Kerl hatte Anstoß an Rovenas enthusiastischen Aufmerksamkeiten genommen. Vielleicht war das ja John Smithy gewesen.

An das, was danach kam, konnte Marcus sich beim besten Willen nicht erinnern.

„Wenn ich mich recht entsinne, ging es eher um Rovenas Umgang mit mir.“

Der beleibte Mann brach in Gelächter aus. „Nennen Sie’s, wie Sie wollen. Der Büttel schickt mich, um Sie freizulassen. Er hat den Schaden, den Sie verursacht haben, schon aus Ihrem Geldbeutel beglichen. Sie können von Glück sagen, dass Sie genug dabeihatten, sonst hätten sie Ihre Schulden abarbeiten müssen.“

Damit warf der Knecht des Büttels Marcus seinen Geldbeutel zu. Er fing ihn auf, bevor er im Dreck landete. „Ich soll Sie anweisen, umgehend auf Ihr Pferd zu steigen und den Ort zu verlassen. Wir hab’n heute Markttag. Da is’ sowieso viel los, und wir können nich’ gebrauchen, dass Ihresgleichen hier rumlungert und noch mehr Ärger macht.“

Seinesgleichen?

Wenn es nicht so unverschämt wäre, könnte es direkt lustig sein. Er war ein verdammter Duke, und sie behandelten ihn wie einen gemeinen Vagabunden. Zugegeben, sie waren sich seiner gesellschaftlichen Stellung nicht bewusst, und er mochte auch gerade nicht seine reinlichsten oder feinsten Gewänder tragen – es empfahl sich nicht, als Alleinreisender mit Reichtum zu protzen –, aber sie mussten doch erkennen, dass er von nobler Herkunft war. Das Ganze war überaus verstörend.

„Keine Sorge. Ich lasse Ihr Kuhdorf mit Vergnügen hinter mir.“ Er richtete sich auf und zog seine Jacke zurecht. „Richten Sie Ihrem Büttel meinen Dank für seine warmherzige und großzügige Gastfreundschaft aus.“

Offensichtlich verwirrt kratzte der Mann über seine glänzende Glatze.

Marcus machte sich nicht die Mühe, den Inhalt seines Beutels zu überprüfen, auch wenn der sich erheblich leichter anfühlte als zuvor. Er hatte Geld im Stiefelabsatz und im Futter seines Mantels versteckt. Selbst unter den gegebenen Umständen war er nicht so dumm, ohne eine gesunde Portion Respekt vor den örtlichen Wegelagerern allein in den nördlichsten Zipfel des Landes zu reisen.

Er trat aus dem Stall und wurde eiligst zu seinem wartenden Pferd geführt. Sein Wallach wirkte frisch und ebenso ungeduldig wie er, diesen Ort zu verlassen.

Ein verschüchterter Jugendlicher reichte ihm die Zügel. Marcus nickte ihm knapp zu und schwang sich dann ohne Aufsteigpodest in den Sattel.

Ohne sich noch einmal nach dem Stall umzublicken, in dem er über Nacht eingekerkert worden war, lenkte er sein Pferd in das geschäftige Dorf, wild entschlossen, es auf seiner Rückreise links liegen zu lassen. Was ihn betraf, so war dieses grässliche Kaff verflucht, und es galt, den Ort und seine Bewohner künftig um jeden Preis zu meiden.

Alyse lief in der kleinen Dachkammer auf und ab. Immer wieder kehrte ihr Blick zu der schmalen Pritsche unter dem winzigen Giebelfenster zurück. Sieben Jahre lang hatte sie in diesem Bett geschlafen, durch das Fenster in den Nachthimmel gestarrt, die Sterne gezählt und die Wanderung des Mondes verfolgt, während sie auf den Tag wartete, an dem ihr Leben endlich ihr selbst gehören würde.

Heute Abend würde es beginnen. Heute Nacht würde sie woanders schlafen.

Sie hatte ihr Bett wie jeden Morgen gemacht, die graue Wolldecke ordentlich unter die Matratze gesteckt und das dünne Kissen genau mittig platziert. Es war mittlerweile so abgenutzt, dass sich dort, wo ihr Kopf sieben Jahre lang geruht hatte, eine dauerhaft eingedrückte Mulde befand.

Vielleicht würde sie in ihrem neuen Zuhause ein dickes, weiches Daunenkissen haben. Aber im Grunde spielte es keine Rolle. Sie würde mit einer Decke auf dem blanken Boden vorliebnehmen, um von hier wegzukommen. Um endlich von diesem Ort befreit zu sein.

Sie ging zum Fenster und spähte in den Garten hinunter. Mr. Beard wartete in der Kutsche auf sie, fest eingemummelt in seinen Mantel, um sich vor der Kälte zu schützen. Seine kräftigen, schwieligen Hände spielten nervös mit den Leinen. Offensichtlich fieberte er dem Aufbruch ebenso sehr entgegen wie sie, und sie war ziemlich sicher, dass diese Eile mit der Witwe McPherson zu tun hatte. Mr. Beard und die Witwe waren einander nach dem Tod von Mr. McPherson ziemlich nahegekommen. Das Einzige, was sie daran hinderte, einander noch näher zu kommen, war Alyse.

Ein letztes Mal ließ sie den Blick durch den kleinen Raum unter der Dachschräge schweifen. Sie hatte diese Kammer lange Zeit mit den Beard-Kindern geteilt. Als sie hier angekommen war, im zarten Alter von fünfzehn Jahren und noch immer niedergedrückt von der Trauer um ihren geliebten Papa, hatten sechs ungestüme Kinder um ihre Aufmerksamkeit und Fürsorge gebuhlt. Alyse war verantwortlich für sie gewesen, während Mr. Beard seine Farm bestellte.

Jetzt wohnten nur noch drei der Geschwister hier, und auch sie waren den Kinderschuhen mittlerweile entwachsen. Die Jungen arbeiteten mit ihrem Vater auf dem Hof. Sie konnten nun für sich selbst sorgen. Der Rest hatte geheiratet und war weggezogen.

Sie hatte ihren Zweck erfüllt, man brauchte sie hier nicht länger. Von jetzt an würde sie nur ihren eigenen Zwecken dienen.

Alyse atmete tief durch. Sie fühlte sich leichter als seit Jahren. Das war es nun also. Sie war fast frei. Nur noch eine Sache musste erledigt werden.

Sie ergriff die kleine Reisetasche, die ihre gesamte weltliche Habe enthielt. Ein Nachthemd. Zwei weitere Kleider. Kamm, Bürste und Handspiegel mit Perlmutt-Besatz, die einst ihrer Mutter gehörten. Die Taschenuhr ihres verstorbenen Vaters. Die Eheringe ihrer Eltern. Ein paar Haarbänder. Und die Stammbibel mit den Aufzeichnungen der Familiengeschichte. Das war alles, was von den Bells geblieben war, der einzige Beleg dafür, dass sie je existiert hatten. Nun ja, und natürlich Alyse.

Sie wandte sich von dem kleinen Giebelfenster ab, ging aus dem Zimmer und die schmalen, unregelmäßigen Stufen hinunter.

Unten wartete Nellie auf sie, ein Baby auf der Hüfte balancierend und mit derselben Frage, mit der sie Alyse die ganze Woche lang gelöchert hatte. „Bist du dir ganz sicher?“

„Ja“, beharrte sie. „Das war immer die Übereinkunft zwischen mir und deinem Vater.“

Unmutig runzelte Nellie die Stirn. „Das macht es nicht richtig.“

Doch diese Sache, so grässlich sie auch schien, heute durchzuziehen war die einzige Möglichkeit, ihr Leben in den Griff zu bekommen.

Sie hatte auf diesem Moment hingelebt. Selbst unter den größten Herausforderungen – und sich tagein, tagaus um sechs lebhafte Kinder zu kümmern durfte mit Fug und Recht als Herausforderung gelten – war sie stark geblieben, mit einem Lächeln auf den Lippen. Weil sie wusste, dass dieser Tag kommen würde. Und mit ihm die Freiheit.

Beruhigend drückte sie Nellies Hand. Nellies kleine Tochter beugte sich vor und griff nach Alyses Haaren, zerzauste ihre hart erarbeitete Frisur.

Am Anfang, nachdem Alyse zu den Beards gestoßen war, hatte Nellie sie verabscheut. Mrs. Beard war erst vor ein paar Monaten gestorben, und das Letzte, was Nellie damals wollte, war jemand, der den Platz ihrer Mutter einnahm. Ihre Vergeltungsmaßnahmen hatten nicht auf sich warten lassen. Ein Frosch in Alyses Stiefel. Ein Riss in ihrem guten Sonntagskleid. Schnell war sie dazu übergegangen, ihre wenigen wertvollen Dinge zu verstecken, aus Angst, Nellie könnte sie zerstören.

Bei dem Gedanken, wie sehr sich das geändert hatte, wurde ihr noch heute ganz warm ums Herz. Mittlerweile war Nellie so etwas wie eine kleine Schwester für Alyse, auch nachdem sie geheiratet hatte und nun mit ihrer stetig wachsenden Familie am anderen Ende des Dorfes wohnte.

„Yardley wird dort sein“, versicherte sie Nellie.

Die rieb sich schnaubend über ihren angeschwollenen Bauch. „Yardley.“ Sie verdrehte die Augen. „Was weißt du wirklich von ihm, Alyse?“

„Als Kinder waren wir sehr enge Freunde.“ Sie waren in Collie-Ben zusammen aufgewachsen und unzertrennlich. Papa war noch gesund gewesen, als Yardley seine Heimat verließ, um zur Marine zu gehen. Doch zuvor hatten sie Schwüre ausgetauscht. Er würde für sie zurückkommen.

Sie schrieben einander. Er berichtete von seinen Reisen. Sie erzählte ihm von der Heirat mit Mr. Beard, die ihr Papa für sie arrangiert hatte. Das schreckte ihn nicht ab. Er bekräftigte sein Versprechen, für sie zurückzukehren. Und das hatte er nun getan.

Sie würden zusammen sein. Ein Leben teilen. In London wohnen. Er würde sich bei dem Cousin seines Vaters verdingen, der eine Geflügelzucht in Seven Dials betrieb. Sie würde Arbeit als Näherin oder sogar Zofe finden. Sie hätten eine gemeinsame Zukunft und wären frei. Das war das Allerwichtigste.

Sie hatten für diesen Tag geplant, und nun war er endlich gekommen. Mr. Beard hatte zugestimmt.

„Aye“, erwiderte Nellie unbeeindruckt. „Vor einer Ewigkeit. Damals war er ein Junge. Er ist lange zur See gefahren. Leute ändern sich.“

„Wir haben eine Abmachung“, beharrte Alyse.

„Er ist erst seit ein paar Wochen wieder zu Hause. Du weißt nicht, was für ein Mann er heute ist, und willst dich trotzdem an ihn binden.“ Verzagt schüttelte sie den Kopf. „Ich würde das an deiner Stelle nicht tun.“

Alyse verzichtete auf die Feststellung, dass ihre Möglichkeiten begrenzt waren. Yardley war die beste Option. Ihr blieb keine andere Wahl. Aber es war ihre Wahl.

Freie Entscheidungen waren alles, was zählte. Bis jetzt war ihr Leben ohne jegliche Entscheidungsfreiheit verlaufen. Sich für Yardley zu entscheiden bedeutete Freiheit. Sie nahm die Dinge in die eigene Hand. Sie hatte das, was nun kam, selbst gewählt. Ihr Schicksal würde nicht länger von anderen bestimmt werden.

Yardley würde sie von hier wegbringen. Sie würde endlich die Welt sehen und dieses gottverlassene Nest hinter sich lassen.

„Mach dir keine Sorgen, alles wird gut, Nellie. Du wirst schon sehen.“

Doch Nellies Stirnfalten vertieften sich nur noch. „Ich hoffe, du hast recht. Du verdienst gute Dinge.“

Alyse umarmte das Mädchen. Nein, die Frau, korrigierte sie sich, als sie Nellies Babybauch zwischen sich spürte. Das kleine Mädchen, das sie praktisch aufgezogen hatte, wurde demnächst zum zweiten Mal Mutter.

Es war definitiv höchste Zeit für Alyse, ihr eigenes Leben zu leben. Glücklicherweise war Mr. Beard derselben Ansicht und würde ihr keine Steine in den Weg legen.

Als könnte Nellie ihre Gedanken lesen, flüsterte sie ihr ins Ohr: „Pass bloß auf, dass du nicht ein Gefängnis gegen ein anderes eintauschst.“

Alyse löste sich von ihr. „Kommst du zum Markt, um dich zu verabschieden?“

Nellie schüttelte den Kopf. „Nay. Das kann ich nicht mit ansehen.“ Sie schniefte und blinzelte die plötzlich aufsteigenden Tränen weg. „Es sei denn, du willst mich da. Wenn du darauf bestehst, dann …“

„Nay. Geh nach Hause.“

„Du schreibst mir, nicht wahr?“, bat Nellie eindringlich. „Ich könnte nicht ertragen, nicht zu wissen …“

„Mach ich“, versprach Alyse. „Ich werde dich an all meinen künftigen Abenteuern teilhaben lassen.“

Nellie lächelte unsicher. „Aye.“ Sie nickte. „Hoffentlich. Jetzt ab mit dir.“

Alyse nickte. „Ja. Ich will Yardley nicht warten lassen.“

Sie öffnete die Tür, trat über die Schwelle und hielt ihr Gesicht in die kalte Morgensonne. Yardley hatte lange genug gewartet.

Sie beide hatten lange genug gewartet.

2. KAPITEL

In welchem sich die Taube auf die Freiheit vorbereitet …

Das Dorf platzte aus allen Nähten. Markttage lockten stets Menschen aus der Umgebung an. Gefährte aller Art verstopften die Straße. Wenn Alyse einen Arm ausstrecken würde, könnte sie vermutlich den Kutschbock eines überaus aufgebracht wirkenden Mannes berühren, der einen Kartoffelkarren lenkte. Händler boten lautstark ihre Waren an. Kinder bahnten sich kreischend ihren Weg zwischen Menschen und Pferden hindurch. Frauen tratschen, angelegentlich über Stoffballen gebeugt. Männer diskutierten bei Humpen voller Ale oder Glühwein über die kommende Ernte.

Während sie im Schneckentempo vorankamen, riskierte Alyse einen Seitenblick. Mr. Beard starrte stoisch nach vorn. Das war nicht weiter ungewöhnlich. In den sieben Jahren ihrer Ehe hatten sie nur wenige Worte gewechselt, bei denen es ausschließlich um ihre Pflichten oder die Kinder ging.

Suchend musterte sie die Gesichter der Leute, an denen sie vorüberkamen, in der Hoffnung, Yardley zu entdecken.

Natürlich sah sie ihn nicht. Sie schüttelte sich innerlich und wischte ihre plötzlich schweißfeuchten Handflächen an ihrem Rock ab. Natürlich würde er auf dem Marktplatz warten. Auf sie warten, wie er es versprochen hatte.

Mr. Beard kutschierte sie, soweit es ging – bis ans Ende der Straße. Dann hielt er an, stieg mit knackenden Knien vom Bock, band die Pferde fest, kam um die Kutsche herum auf Alyses Seite und streckte ihr auffordernd die Rechte entgegen.

Sie ergriff seine raue, schwielige Pranke und stieg ebenfalls aus. Als ihr Blick auf ihre abgetragenen Stiefel fiel, zuckte sie peinlich berührt zusammen. An den Zehen war das Leder praktisch durchgescheuert. Die bittere Kälte drang ihr bis tief in die Knochen.

Immerhin würden sie und Yardley nach Süden reisen. Dort sollte es nicht gar so kalt sein. Vielleicht hielten die Stiefel ja noch eine Weile durch. So lange, bis sie und Yardley Arbeit hatten und sich ein neues Paar für sie leisten konnten.

Mr. Beard nahm ihre Reisetasche und führte Alyse am Ellbogen durch die Menge.

Das Dorf kam ihr jetzt noch bevölkerter vor, sie hatte so viele Menschen im Blickfeld. Obwohl sie nicht unbedingt klein war, konnte sie nicht über das Meer aus Köpfen hinwegblicken.

Allerdings hörte sie den Auktionator, Mr. Hines, laut und deutlich, wie er die Vorzüge einer Stute hervorhob, die zum Verkauf stand. Prächtig für die Zucht! Äußerst stramm! Sie könnte sogar dein Gewicht tragen, John, und wir wissen alle, was du so wegspachtelst!

Die Menge grölte vor Lachen über den Scherz auf Kosten des korpulenten Dorfschmieds.

Alyse verzog das Gesicht und weigerte sich, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass er sie mit ähnlichen Worten anpreisen würde. Doch sie war sich durchaus im Klaren darüber, was sie erwartete. Sie wusste, wie es funktionierte. Der Auktionator würde über sie reden, als ob sie irgendein Objekt wäre, das den Besitzer wechselte. Denn genau das war sie bei dieser Gelegenheit. Eine schwer zu ertragende Erkenntnis, aber nichtsdestotrotz wahr.

Sie atmete tief durch. Das Ergebnis war alle Demütigungen wert.

Bratenduft stieg ihr in die Nase, und ihr Magen knurrte, was sie daran erinnerte, dass sie ihr Frühstück aus geröstetem Brot und Käse kaum angerührt hatte. Das war kaum überraschend, schließlich waren ihre Nerven zum Zerreißen angespannt, seit Mr. Beard ihr zugestimmt hatte, dass es an der Zeit wäre, ihre Ehe aufzulösen.

Oder vielmehr: seit er ihnen beiden zugestimmt hatte. Tatsächlich wirkte er erleichtert, als Yardley und Alyse mit dem Vorschlag auf ihn zukamen, das Arrangement zu beenden, das ihr Vater für sie ausgehandelt hatte.

Aufmerksam musterte sie die Gesichter, an denen sie auf dem Weg zum Mittelpunkt des Platzes vorüberkamen, konnte Yardley aber nicht sehen, keine Spur von seinem strohblonden Schopf entdecken. Er hatte sich nicht sehr verändert über die Jahre. Dasselbe Haar. Dieselben weichen, jungenhaften Züge. Sogar dieselbe Vorliebe für Lutscher. Er hatte immer einen im Mund.

Es war irgendwie tröstlich zu wissen, dass die Zeit ihm nicht viel anhaben konnte. Er war immer noch Yardley, ihr liebster Kindheitsfreund, der versprochen hatte, zurückzukommen und sie zu heiraten.

Natürlich würde er direkt vor dem Podest warten, vermutlich mit genauso vielen Schmetterlingen im Bauch wie sie.

Auf dem Weg über den Marktplatz spürte sie das Gewicht zahlloser Blicke. Hocherhobenen Hauptes starrte sie zurück, mit gerecktem Kinn und aufgesetztem Lächeln. An dem, was sie heute tat, war nichts Beschämendes. Sie befreite sich einfach nur aus einer Situation, in die sie durch die Umstände hineingezwungen worden war.

Sie erkannte die Witwe McPherson im Kreise ihrer Freundinnen. Das Rudel verfolgte begierig jeden Schritt, mit dem Alyse und Mr. Beard sich dem Podest näherten.

Es war kein Geheimnis. Die Dorfbewohner wussten, was heute passieren würde, und waren in Scharen gekommen, um sich das Spektakel anzuschauen, konnten offensichtlich nicht erwarten, bis es losging. Vor allem Mrs. McPherson, die seit dem Tod ihres Mannes keinen Hehl aus ihrem Interesse an Mr. Beard machte. Ständig war sie auf seinem Hof aufgetaucht, um Kuchen vorbeizubringen und Alyse böse Blicke zuzuwerfen.

Alyse reckte den Hals, um einen Blick auf Yardley zu erhaschen. Doch sie sah nur ihre Nachbarn, die sich um das Podest drängten, um die beste Aussicht auf das Geschehen zu haben. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Wo war Yardley?

Sie warteten neben dem Podest, bis Hines den Verkauf der Stute abgeschlossen hatte.

Während der Besitzer und der Käufer vortraten, um den Kaufbrief zu unterzeichnen, stieg Hines, der sie erspäht hatte, ein paar Stufen vom Podest herab. „Ah, Mr. Beard. Sie sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Ich fragte mich schon, ob Sie Ihre Meinung vielleicht geändert haben.“

Bei diesen Worten warf Mr. Beard einen Seitenblick auf die Witwe McPherson. Die Frau starrte zurück, ohne mit der Wimper zu zucken, und doch kommunizierten die beiden stumm und unmissverständlich miteinander.

Mr. Beard hatte keine andere Wahl. Wenn er eine Zukunft mit der Witwe wollte, dann musste das hier heute erledigt werden. Es gab kein Zurück mehr. Und Alyse wollte auch gar keinen Rückzieher machen. Sie hatte ihre letzte Nacht in diesem Giebelzimmer verbracht. Mit aufsteigender Panik hielt sie erneut nach Yardleys vertrautem blondem Kopf Ausschau.

Warum machte er sich nicht bemerkbar, wenn er hier war? Er musste doch wissen, dass sie unruhig sein würde, bis sie ihn sah.

„Mr. Beard“, flüsterte sie. „Ich kann Yardley nicht entdecken.“

Stirnrunzelnd ließ Mr. Beard seinen Blick über die Menge schweifen.

„Yardley McRoy?“, fragte Hines, der ihre Bemerkung gehört hatte.

„Aye.“ Beard nickte und kratzte seinen grauhaarigen Kopf.

„Oh, den hab ich heute Morgen wegreiten sehen, kurz bevor die Menge eintraf.“ Der Auktionator wandte sich ab, um mit dem Verkäufer und dem Käufer der Stute zu reden, so beiläufig, als hätte er soeben keine erschütternde Nachricht erteilt. Als ob Alyses gesamte Welt nicht bis in die Grundfesten erschüttert worden wäre.

Das Herz rutschte ihr in die Hose. Yardley war weggeritten?

Das ergab keinen Sinn. Sie schüttelte den Kopf.

„Was haben Sie da gesagt?“ Mr. Beard zupfte an Hines Ärmel, um seine Aufmerksamkeit zu erringen.

Hines schaute sie an. „Aye, auf der Straße nach Süden. Er ist geritten, als wäre der Teufel hinter ihm her. Ich musste zur Seite springen, um nicht überrannt zu werden.“

Ihr wurde glühend heiß, dann eiskalt, während die Bedeutung dieser Worte langsam in ihr Bewusstsein sickerte.

Nach Süden. Richtung London.

Ohne sie.

Er hätte sie mitnehmen sollen. Er hatte versprochen, mit ihr in London ein gemeinsames Leben aufzubauen. Sie würden beide Arbeit finden, und sie würde mehr von der Welt sehen als diese winzige Ecke hier. Ihr Leben würde endlich wirklich anfangen.

Und er hatte zugestimmt.

Doch nun war er weg.

Die Erkenntnis breitete sich in ihr aus wie ein schreckliches Gift, das durch ihr Blut strömte. Er hatte sie verlassen. Zurückgelassen, um versteigert zu werden, an irgendeinen Mann, dem danach war, für sie zu bieten.

Sie kämpfte die aufsteigende Welle der Panik nieder, holte tief Luft und befahl sich, ruhig zu bleiben. Das würde zwar nichts ändern, aber sie konnte jetzt nicht auch noch Panik gebrauchen.

„Mr. Beard.“ Sie packte seinen Arm. „Wir können nicht damit weitermachen …“

„Alyse.“ Er legte seine Hand auf ihre. Seine Miene war schmerzerfüllt. Sie wartete, starrte den Mann an, der der Freund ihres Vaters gewesen war. Ihren Ehemann, wenn auch nur auf dem Papier.

Er hatte sie nach dem Tod ihres Vaters aufgenommen und geheiratet, damit sie ein Dach über dem Kopf hatte. Als Gegenleistung kümmerte sie sich um seine Kinder und seinen Haushalt. Sie kochte für ihn. Wusch seine Wäsche. Es war ein erträgliches Arrangement. Fair. Und eine Lösung für ihrer beider Probleme, damals. Nicht für die Ewigkeit gedacht.

An diese Gewissheit hatte sie sich geklammert in all der Plackerei und Einsamkeit. Es war nicht für immer. Irgendwann würde es vorbei sein.

Ihnen beiden war stets klar gewesen, dass ihre Verbindung zeitlich begrenzt war. Dass der Tag kommen würde, an dem sie ihre Ehe in beiderseitigem Einvernehmen beenden würden. Die einzigen Voraussetzungen waren, dass die Kinder alt sein mussten, um für sich selbst zu sorgen, und dass sie einen anderen Mann fand, der sie heiratete. Jemanden wie Yardley.

Eine Scheidung kam nicht infrage, ebenso wenig wie eine Annullierung. Sie hatten nicht die Mittel für so etwas. Leute aus Collie-Ben ließen sich nicht scheiden und beantragten keine Annullierungen. Der einzige Weg, eine Ehe zu beenden, war durch Tod … oder durch das hier.

Jemand musste sie Mr. Beard abkaufen.

Mr. Beard starrte sie an, Entschlossenheit im Blick.

Wieder wallte die Panik in ihr auf. Dieser Jemand hätte Yardley sein sollen.

„Er ist nicht hier“, sagte sie. „Wir können das heute nicht durchziehen.“

Sie durfte nicht an irgendeinen Fremden verkauft werden. Mr. Beard konnte nicht von ihr erwarten, sich in ein so ungewisses Schicksal zu stürzen. Das verstieß gegen ihre Übereinkunft.

Mr. Beard schaute über seine Schulter zu Mrs. McPherson, die sie aus schmalen Augen beobachtete.

Dann sah er Alyse an und hob hilflos die Schultern. „Es tut mir leid, dass Yardley nicht hier ist, aber ich kann nicht mehr länger warten, Alyse.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, bitte. Sie haben meinem Vater versprochen …“

„Ich habe deinem Vater versprochen, dass ich dir ein Dach über dem Kopf gebe“, erwiderte er schroff. „Ich habe versprochen, dich zu ernähren und zu kleiden und zu beschützen. Und das habe ich sieben Jahre lang getan.“

Hastig redete sie weiter auf ihn ein. Sie musste ihn überzeugen, bevor es zu spät war und sie auf dieses Podest gezerrt wurde. „Und jetzt wollen Sie mich an einen Wildfremden verschachern? Glauben Sie, dass das dem Versprechen gerecht wird, dass Sie meinem Vater auf seinem Sterbebett gegeben haben?“

Hines erhob die Stimme. „Komm schon. Es ist höchste Zeit.“ Er kam die restlichen Stufen herunter, offensichtlich bereit, sie auf das Podest zu eskortieren.

Flehend starrte sie ihren Ehemann an, Hoffnung brannte in ihrem Herzen. Sie hatte seiner Familie sieben Jahre lang gut gedient. Gewiss würde er sie nicht auf diese Weise betrügen.

Wieder schaute Beard zur Witwe herüber.

Mrs. McPherson spürte offenbar, dass etwas nicht stimmte. Sie kam näher, ihr gigantischer Busen teilte die Menge wie der Bug eines Schiffes. Ihr scharfer Blick wanderte zwischen ihnen hin und her. Sie verschränkte die Arme vor ihrer üppigen Brust und hob beide Augenbrauen auf eine Weise, die man nur als Drohung verstehen konnte.

Seufzend wandte Mr. Beard sich Alyse zu. „Es tut mir leid. Ich bin kein junger Mann mehr. Ich habe keine Zeit zu verschwenden. Du bist noch jung. Du hast dein ganzes Leben vor dir.“

Ein ganzes Leben, dass er auf einer Auktion an irgendeinen Mann versteigern wollte.

Ein ganzes Leben, gebunden an einen Wildfremden.

An einen Mann aus dieser Menge hier, der sie benutzen und missbrauchen konnte, wie es ihm gefiel.

Erschüttert starrte sie Mr. Beard an.

War er verrückt? Konnte er nicht sehen, dass er sie zu einem elenden Dasein verurteilte?

Langsam schüttelte sie den Kopf. Nein. Das war nicht das, worauf sie all die Jahre so geduldig gewartet hatte. Dafür hatte sie nicht die Schinderei und Einsamkeit ertragen. „Nein“, sagte sie.

Doch niemand hörte sie. Ihre Stimme, kaum mehr als ein Krächzen, ging unter im Lärm der tobenden Menge, die danach gierte, dass das nächste Objekt unter den Hammer kam – sie.

Hines war bei ihr angekommen, sein fetter Bauch presste sich an ihre Seite. „Lass uns nicht mehr herumtrödeln. Die Nachricht vom Ehefrauen-Verkauf hat ziemliche Wellen geschlagen, und die Leute wollen endlich was zu sehen kriegen.“

Kein Wunder. Der Brauch war nicht verbreitet. Selbst in abgelegenen ländlichen Gebieten wie diesem wurden nur noch sehr selten Ehefrauen versteigert. Die Meute gierte nach dem ungewöhnlichen Spektakel.

Resignation breitete sich in Alyse aus.

Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie keine Träne vergossen. Sie hatte genug um ihn geweint während der Monate seiner Krankheit. Sie hatte ihn mehr geliebt als alles andere auf der Welt, und nichts konnte Schrecklicher sein, als ihn zu verlieren.

Nicht mal das hier.

Als das grobe Seil sich um ihren Hals legte, zuckte sie zusammen. Auch das gehörte zum Brauch. Die Ehefrau an den Strick zu legen. Als wäre sie nichts anderes als ein Vieh auf der Weide. Als könnte sie weglaufen.

Ein ersticktes Lachen entfuhr ihr. Wohin sollte sie fliehen? Yardley war nicht hier. Er würde auch nicht kommen. Sie musste sich von diesem Traum lösen und auf die Gegenwart konzentrieren, einen kühlen Kopf bewahren und sich für das Kommende wappnen. Trotzig reckte sie das Kinn, um Haltung bemüht.

Vielleicht würde es ja gar nicht so schlimm werden.

Schließlich konnte sie schlecht als Nicht-Frau von Mr. Beard weiterleben. Der heutige Tag bedeutete das unwiderrufliche Ende ihrer Verbindung. Das war doch immerhin etwas. Das war wichtig.

Die zwischenzeitliche Demütigung durch diese Auktion wäre bald vorbei.

Und dann wirst du die Frau von jemand anderem sein.

Sie unterdrückte einen Schauder. Diese beängstigende Vorstellung drohte sie zu überwältigen. Du schaffst das schon. Du schaffst immer alles. Du wirst einen Weg finden. Mach einen Plan. Einen Fluchtplan, wenn nötig.

Sie war eine vernünftige Person. Es brachte nichts, panisch zu werden, bevor sie wusste, was sie erwartete.

Ungeduldig zog Hines an dem Seil, um sie in Bewegung zu setzen. Der raue Hanf rieb an ihrer Haut. Sie stolperte, streckte eine Hand aus, um ihren Sturz abzufangen, und landete halb auf den grob gehauenen Holzstufen.

Mr. Beard griff nach ihrem Ellbogen, um sie hochzuziehen, doch sie entriss ihm ihren Arm und funkelte ihn finster an. „Lassen Sie das.“

Diese Befriedigung würde sie ihm nicht gönnen. Er würde diesen Tag nicht in dem Bewusstsein beenden, ihr in irgendeiner Weise behilflich gewesen zu sein. Nicht nach sieben Jahren. Nicht, nachdem er sein Versprechen gebrochen hatte.

„Nun komm schon“, blaffte Hines und schaute auf sie herab, als wäre sie ein lästiges Kind, das nicht mit den Erwachsenen mithalten konnte.

Sie rappelte sich hoch, straffte die Schultern und hob das Kinn. Sie würde diese Stufen aus eigener Kraft hinaufgehen. Niemand würde sie da hochzerren.

Der Auktionator nickte zufrieden und drehte sich um. Das Ende des Seils noch immer in der Hand, erklomm er die restlichen Stufen zum Podest. Die Schlinge um ihren Hals verengte sich, der Strick straffte sich wie eine lange Leine.

Sie folgte Mr. Hines zum Mittelpunkt des Podests. Von hier oben wirkte der Marktplatz größer. Überall waren Leute. Gesichter starrten zu ihr hoch, mit gierigen Blicken. Hier waren mehr Menschen versammelt, als sie je auf einem Haufen gesehen hatte.

In Alyses Kehle bildete sich ein riesiger Klumpen. Lass sie deine Angst nicht spüren.

Sie würde das hier überleben, wie sie auch alles andere überstanden hatte. Sie würde es durch diesen Tag schaffen.

3. KAPITEL

Der hungrige Wolf erspäht die Taube …

Das Schicksal hatte sich gegen ihn verschworen, um ihn in diesem stinkenden Nest festzuhalten.

Marcus lenkte sein Pferd über die Dorfstraße, vorbei an Kutschen, flitzenden Kindern und Karren voller dampfender Fleischpasteten, blutroter Bücklinge und gebratener Schweinshaxen.

Mehrere Male war er gezwungen anzuhalten. Sein Wallach Bucephalus warf ungeduldig den Kopf. Ganz offensichtlich hasste er es, hier eingepfercht zu sein, wollte davonpreschen. Gefühle, die Marcus bestens nachvollziehen konnte. Schließlich war das der Grund, warum er auf dieser Reise war, warum er London mitten im Winter verlassen hatte. Er fühlte sich eingepfercht. Erstickt. Umgeben von Leuten, die er plötzlich nicht mehr ausstehen konnte – eingeschlossen sich selbst.

Beruhigend tätschelte er Bucephalus’ Hals. „Immer mit der Ruhe, alter Junge. Wir sind gleich draußen in der Freiheit. Ich weiß, ich kann’s auch kaum noch erwarten.“

Er richtete sich wieder im Sattel auf, zupfte am Kragen seines Mantels und verzog angeekelt das Gesicht, als ihm sein eigener Gestank in die Nase stieg. Wie weit war es wohl zum nächsten Dorf? Er brauchte dringend ein Bad. Heute Nacht, schwor er sich, würde er in einem Bett schlafen. Vorzugsweise einem mit luxuriöser, daunengefüllter Matratze und knisternd sauberen Laken.

Der Verkehr wurde dichter, und Marcus musste erneut anhalten. Er erhob sich in seinen Steigbügeln, um herauszufinden, welche Ursache der plötzliche Stau hatte.

Aber er konnte nichts sehen außer einer riesigen Ansammlung von Menschen, die alle in dieselbe Richtung schauten und ihm den Rücken zuwandten, während sie weiter vorwärtsdrängten, offenbar in dem Mühen, einen besseren Blick auf irgendetwas zu erhaschen, was sich da vorne abspielte.

Seufzend schaute er hinter sich und überlegte, ob es nicht einfacher wäre, umzukehren und einen anderen Weg aus dem Dorf heraus zu suchen.

Eine korpulente Frau mit einem Gesicht, das ihn an die Bulldogge seines ehemaligen Schuldirektors erinnerte, schob sich durch das Gedrängel, ohne die geringste Rücksicht auf etwaige Hindernisse wie beispielsweise Marcus und Bucephalus, dem sie im Vorbeihasten eine Hand auf den Rumpf legte.

„Was soll denn der Trubel?“, rief er zu ihr herunter.

Sie hielt kurz inne und deutete nach vorn, wobei ihre diversen Kinne in Bewegung gerieten. „Wissen Sie das nicht? Auf dem Marktplatz gibt’s eine Auktion.“

In diesem Moment ging ein Raunen durch die Menge, und vom Marktplatz her drangen Schreie.

„Es geht los!“ Sie vergaß ihn und warf ihre bemerkenswerte Masse in den Wust aus Menschen und Karren, wild entschlossen, sich einen Weg zu bahnen.

So ein Aufruhr wegen einer Auktion?

Er warf noch einen Blick hinter sich. Wenn er umkehrte, müsste er sich gegen den Strom bewegen, was die Fortbewegung eher noch erschweren würde. Da war es wohl besser, weiterzureiten und sich um den Marktplatz herum zu manövrieren.

Neugierig, was eine solche Aufregung unter den Dörflern verursachen könnte, trieb er sein Pferd an. Vielleicht wurde ja eine zweiköpfige Ziege versteigert, dachte er belustigt.

Als er den Markt erreichte, hielt er an. Die Leute rempelten sich gegenseitig an, schienen es aber nicht zu bemerken. Aller Augen waren auf die Vieh-Verschläge am anderen Ende des Platzes gerichtet.

Marcus folgte den Blicken, um endlich herauszufinden, was diese Bauern so unterhaltsam fanden.

Vor den Verschlägen war ein Podest errichtet worden. Marcus’ Aufmerksamkeit richtete sich auf ein einzelnes Individuum, das auf diesem Podest stand.

Es handelte sich um eine Frau, die einen Strick um den Hals trug, dessen Ende ein Mann festhielt, der laut ins Publikum brüllte.

„… noch in ihrer Blüte. Das Mädel wird in diesen kalten Nächten und kommenden Wintern eine feine Bettgefährtin abgeben!“

Fassungslos schaute Marcus zu.

Selbst Bucephalus hörte auf, mit dem Vorderhuf über den Boden zu scharren, als spüre er, dass gerade etwas Bemerkenswertes vor sich ging.

Es war undenkbar, dachte er schockiert. Sie verkauften sie.

Sie verkauften eine Frau. Einen Menschen.

„Ich habe das Ehrenwort ihres Mannes, dass sie so rein ist wie an dem Tag, als sie zu ihm kam“, fuhr der Auktionator fort. „Das Mädel ist unberührt und wartet auf einen guten Mann, der sie einreitet. Nun, wer wird das sein? Höre ich ein Gebot?“

Die Leute kicherten und reckten die Hälse, um zu sehen, ob irgendwer den Anfang machen würde.

„Was stimmt denn nicht mit ihr?“, brüllte ein Mann.

Der Auktionator ignorierte den spöttischen Einwurf und pries seine Ware weiter an. „Eine jungfräuliche Braut, ungepflügt und zum Besamen bereit, wenn einer von euch guten Männern willens ist, den Preis zu zahlen.“

„Vier Pfund“, schrie einer.

Der Auktionator stöhnte und stieß abwehrend eine Hand in die Luft. „Vier Pfund ist eine Beleidigung für so ein feines Mädchen! Wir haben hier eine voll erblühte Jungfrau, trainiert darin, einen Haushalt zu führen! Höre ich acht? Acht Pfund!“

Marcus würde niemals von sich behaupten, ein besonders prinzipientreuer Mensch zu sein. Sein bisheriges Leben war alles andere als tugendhaft verlaufen. Er war hart im Nehmen, aber angesichts dieser schäbigen Aktion überrollte ihn eine Welle des Ekels.

Diese Bauern, die doch angeblich das Salz der Erde darstellten, schienen gänzlich frei von lästigen Skrupeln zu sein. Dasselbe Dorf, das sich genötigt sah, ihn für welche Ordnungswidrigkeit auch immer in den Kerker zu werfen, hatte keinerlei Bedenken, eine Frau wie ein Stück Vieh zum Kauf anzubieten. Die Menschen waren allesamt Heuchler, wie Marcus nur allzu gut wusste. Sein eigener Vater hatte der Welt ein nobles Gesicht gezeigt und ein gänzlich anderes Leben geführt. Ein gänzlich anderes unehrenhaftes Leben.

Wie um die Verkommenheit des Vorgangs zu bekräftigen, brüllte jemand: „Zeig uns ihre Titten. Wir haben das Recht zu sehen, was uns angeboten wird.“

Der Auktionator runzelte tadelnd die Stirn und deutete mit einem mahnenden Zeigefinger in die Richtung des Zwischenrufers. „Hüte deine Zunge, Liner! Das hier ist ein ordentliches Geschäft. Noch ein vulgäres Wort von dir und ich lasse dich einsperren, kapiert?“

Die Drohung schien Wirkung zu zeigen, jedenfalls hörte man nichts mehr von Liner.

Der Auktionator fuhr fort, die Tugenden der Frau zu preisen, wies auf ihre Jugend und ihre Kochkünste hin. „Das Mädel ist kräftig und für jede Feldarbeit geeignet! Ihr braucht nicht zu fürchten, dass sie zimperlich ist und Angst hat, sich die Finger schmutzig zu machen.“ Er packte einen ihrer Arme und hielt ihn hoch. „Diese kleinen Hände tragen die Schwielen harter Arbeit.“

Marcus musterte die Frau. Sie stand aufrecht neben dem Auktionator – kein hängender Kopf, kein gesenkter Blick. Sie starrte aufmerksam in die Menge, als ob sie nach etwas suchte. Aber nach was? Hilfe? Einen Fluchtweg? Dafür schien es zu spät zu sein.

Wie konnte es angehen, dass ein Mann seine Frau verkaufte? Das war Sklaverei, schlicht und einfach. Und wie kamen diese Dörfler dazu, derlei zu unterstützen? Er kam sich vor, als wäre er in einer anderen Dimension gelandet, wo alle möglichen bizarren Dinge existierten. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn Elfen an ihn vorübergetänzelt wären.

„Können wir auf sie bieten, Pa?“, bettelte ein in der Nähe stehender Junge und zupfte seinen Vater am Mantel.

Der Mann schaute erst seinen Sohn an, dann das Mädchen auf dem Podest. „Nein, Kleiner. So viel können wir nicht bezahlen.“

Marcus konnte sich nicht mehr beherrschen. „Ist das ein übliches Vorgehen?“, fragte er den Mann.

Der musterte ihn kritisch und rümpfte die Nase, ein deutlicher Hinweis, dass Marcus in der Tat wie ein Misthaufen roch. Doch der Schnitt seiner Kleidung und das edle Pferd, auf dem er saß, bewogen den Mann, respektvoll seinen Hut zu ziehen. „Eine Ehefrauen-Versteigerung, meinen Sie?“

„Davon habe ich noch nie etwas gehört.“

„Oh, aye. Nicht mehr sehr gebräuchlich, aber immer noch eine Möglichkeit für Männer, ihre Frauen loszuwerden. Ich hab so was schon mal vor vielen Jahren gesehen. Das war eine ältere Frau damals.“ Er nickte in Richtung der schlanken Person auf dem Podest. „Nicht so jung wie die da. Die wird einen guten Preis erzielen.“ Wehmütig beäugte er das Mädchen. Mittlerweile waren die Gebote auf neun Pfund gestiegen. Neben dem Auktionator stand ein alter Mann. Ihr Ehemann? Warum sollte er den Wunsch hegen, eine so junge Gattin loszuwerden?

Die Stimme des Auktionators dröhnte über die versammelte Menge hinweg, um die Männer dazu zu animieren, tiefer in die Tasche zu greifen. Die Schaulustigen johlten zustimmend.

„Gentlemen! Was denkt ihr euch bloß, euch diesen Leckerbissen durch die Lappen gehen zu lassen?“ Er stand jetzt direkt hinter ihr, packte sie an den Schultern und zwang sie, einen Schritt nach vorn zu machen.

Beim Anblick seiner fetten Pranken auf dem Mädchen drohte Marcus’ Magen zu rebellieren. Trotz ihrer zur Schau gestellten Stärke war sie dünn. Sie würde schnell zerbrechen, wenn sich ein rücksichtsloser Grobian auf sie stürzte – eine Beschreibung, die auf ziemlich viele Männer in der Menge zutraf.

Der Auktionator schlug ihren Mantel zurück, um mehr von ihrem Körper zu zeigen, der jedoch unter einem sackartigen Wollkleid weitgehend verborgen blieb. Hastig griff sie nach den Mantelaufschlägen, um sich erneut zu bedecken, wobei sie den Auktionator finster anfunkelte.

Unwillkürlich musste Marcus lächeln. Sie hatte Feuer. Doch dann verblasste sein Lächeln. Wie lange würde es nach diesem schrecklichen Tag dauern, bis das Feuer in ihr erlosch? Nachdem ihre Persönlichkeit von einem Mann, der sie gekauft hatte, als wäre sie eine Zuchtstute, zerquetscht wurde wie Ungeziefer unter seinem Stiefelabsatz? Wie lange würde es dauern, bis jegliche Flamme in ihrem Herzen erstickt war?

„Das ist ein guter Körper“, tönte der Auktionator. „Sie wird einem Mann zahllose Söhne gebären, die auf seinem Hof oder in seinem Geschäft arbeiten können. Mit zweiundzwanzig hat sie noch viele fruchtbare Jahre vor sich! Trotzdem ist sie kein unerfahrenes Ding, sie kann auf den Feldern schaffen, den Haushalt versorgen und sich um Kinder kümmern.“ Er zwang sie dazu, sich im Kreis zu drehen. Sie geriet leicht ins Stolpern, als wären ihre Schuhe zu groß für sie.

„Aber kann sie einen Schwanz lutschen?“, rief jemand.

Schallendes Gelächter erhob sich. Verärgert stampfe der Auktionator mit einem Fuß auf. „Welcher Schurke war das?“

„Hütet eure Zungen!“, rügte ein gebeugter alter Mann mit Vikarskragen. „Solche unzüchtigen Sprüche lasse ich nicht durchgehen!“

Fassungslos schüttelte Marcus den Kopf. Die Versteigerung als solche störte den Geistlichen also nicht? Solange dabei keine vulgären Worte fielen?

Das Mädchen stand jetzt wieder frontal zur Menge. Ihr Gesicht war knallrot.

Als Marcus in dieses Gesicht starrte, musste er an seine Schwestern Clara und Enid denken, die sicher in London lebten. Denen es an nichts fehlte, die verhätschelt und behütet wurden, Tee im Salon tranken, Ausritte im Park unternahmen oder in vornehmen Geschäften einkauften. Er hoffte, dass das immer so bleiben, dass diese dunkle Seite des Lebens sie nie so gnadenlos einholen würde wie dieses arme Wesen hier.

Die Gebote stockten, und der Auktionator wirkte unzufrieden. „Nun kommt schon, Leute. Soll so ein feines Geschöpf wirklich für schäbige dreizehn Pfund den Besitzer wechseln?“

„Warum hast du sie nicht eingeritten, Beard?“, wollte ein Zwischenrufer wissen. „Warst du nicht Kerl genug für die Aufgabe oder hat die Kleine sich angestellt?“

Der alte Mann errötete.

„Schluss damit!“, brüllte der Auktionator.

„Halt die Klappe, MacDunn, oder ich rede mal mit deiner Mam!“, drohte eine untersetzte Matrone.

Autor

Sophie Jordan
<p>Geschichten über Drachen, Krieger und Prinzesssinnen dachte Sophie Jordan sich schon als Kind gerne aus. Bevor sie diese jedoch mit anderen teilte, unterrichtete sie Englisch und Literatur. Nach der Geburt ihres ersten Kindes machte sie das Schreiben endlich zum Beruf und begeistert seitdem mit ihren eigenen Geschichten. Die New-York-Times-Bestsellerautorin lebt...
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