Zauber der Gezeiten

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Vier bezaubernde Romane voller Liebe - so unendlich wie das Meer …

Susan Wiggs - Das Cottage am Willow Lake:
Miranda hat den Krebs besiegt! Doch sie hat sich verändert: Findet ihr Mann sie noch anziehend? Spontan entschließt sie sich zusammen mit ihrer Familie Urlaub in einem Cottage am Willow Lake zu machen. Gibt ihr diese Reise neue Hoffnung?

Linda Lael Miller - Ein Liebhaber wie Tony:
Ein Sturm verwüstet ihr Haus! Ausgerechnet Tony, ihr
Exmann, hilft Sharon - und erinnert sie an all die
glücklichen Stunden, die sie auf der verträumten Insel
erlebt haben. Hat ihre Ehe eine zweite Chance?

Cindy Gerard - Mit Charme und Champagner:
Es treibt Grant in den Wahnsinn, dass Rachael in auf Abstand hält! Aber der erfolgsverwöhnte Millionär zieht alle Register, um Rachael zu erobern - inklusive romantischen Segeltörns …

Lori Wilde - Im süßen Rausch der Sinne:
Eigentlich ist Wyatt ist nach Idyl Island gefahren, um Kiaras Weinfirma auszuspionieren. Jedoch hat er nicht damit gerechnet, dass er den Reizen von Kiara erliegen würde. Nun muss er sich entscheiden: Geld oder Liebe!


  • Erscheinungstag 01.08.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783956494437
  • Seitenanzahl 300
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Zauber der Gezeiten

Susan Wiggs

Das Cottage am Willow Lake

 

Linda Lael Miller

Ein Liebhaber wie Tony

 

Cindy Gerard

Mit Charme und Champagner

 

Lori Wilde

Im süßen Rausch der Sinne

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:

Homecoming Season

Copyright © 2006 by Harlequin Books S.A.

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Used-To-Be Lovers

Copyright © 1988 by Linda Lael Miller

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Tempting The Tycoon

Copyright © 2003 by Cindy Gerard

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Intoxicating

Copyright © 2011 by Laurie Vanzura

erschienen bei: Harlequin Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz; Thinkstock/Getty Images, München

ISBN eBook 978-3-95649-443-7

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Susan Wiggs

Das Cottage

am Willow Lake

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Constanze Suhr

1. KAPITEL

Das weiße Papierhemd raschelte, als Miranda Sweeney auf dem Untersuchungstisch herumrutschte und die beiden Enden zusammenzog, um sich zu bedecken. „Einfach so? Es ist vorbei?“

Dr. Turabian ließ entschlossen den Metallrollcontainer zuschnappen. „Na ja, wenn Sie fünfundzwanzig Bestrahlungen, neun Monate Chemo und zwei Operationen als ‚einfach so‘ bezeichnen wollen, schon.“ Er nahm seine Brille ab und schob sie in die Brusttasche seines Arztkittels. „Die Testergebnisse könnten nicht besser sein. Alles ist so verlaufen, wie wir gehofft und geplant hatten. Bis auf die tägliche Einnahme Ihrer Immuntoxine müssen Sie nichts weiter tun.“

Miranda blinzelte überwältigt von dieser Information. „Ich bin … ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Erwartete man von ihr eine bestimmte Reaktion? Vielen Dank, Doktor, ich liebe Sie?

„Sie brauchen auch nichts zu sagen. Ich denke, Sie werden herausfinden, dass gesund zu werden um vieles leichter ist, als krank zu sein.“ Er grinste. „Jetzt gehen Sie. Lassen Sie Ihr Haar wieder wachsen. Und in drei Monaten kommen Sie wieder und berichten mir, wie gut es Ihnen geht.“

Er ließ sie allein. Das Geräusch, mit dem die schwere Tür zum Behandlungsraum zufiel, klang wie ein Seufzer. Bevor Miranda sich anzog, musste sie immer wieder an das kurze Gespräch mit dem Arzt denken.

Sie sind durch.

Ich bin durch.

Steck die Gabel rein, sie ist durch.

Nach einem solchen Jahr konnte Miranda kaum glauben, dass es möglich war, mit einer Krebserkrankung jemals fertigzuwerden. Die Krankheit hätte auch dich fertigmachen können, sagte sie sich, und dann würdest du jetzt wie ein wächsernes Verbrechensopfer in einem Krimi auf dem Seziertisch liegen.

Hör auf damit, schalt sie sich. Endlich hatten ihr die Worte des Arztes einmal keine Gänsehaut eingejagt – keine Tabletten gegen Übelkeit oder Gels oder Vorsichtsmaßnahmen nach der Operation. Nichts dergleichen. Sein Rat war so einfach wie beängstigend. Zieh dich an, und mach mit deinem Leben weiter.

Sie riss sich das Papierhemd vom Körper und knüllte es zwischen den Händen zu einem kleinen festen Ball zusammen. Dann zielte sie damit auf den Abfallkorb. Da, nimm!

Als sie die Hand nach ihrem BH ausstreckte, der am Kleiderhaken hing, schoss ihr ein allzu vertrautes unangenehmes Ziehen durch den rechten Arm. Diese postoperativen Symptome schienen nie aufzuhören, obwohl ihr Arzt und der Chirurg beteuerten, dass dieses Prickeln und die Taubheit irgendwann verschwunden wären.

Dieses Irgendwann war nun angeblich eingetroffen.

Sie sagte sich, sie sollte eigentlich herzhaft lachen, in den Krankenhausfluren tanzen, jeden küssen, der ihr begegnete, und aus voller Kehle singen: Ich werde überleben! Unglücklicherweise fühlte sie sich überhaupt nicht danach. Vielleicht war die Information noch nicht ganz angekommen, denn im Moment kam sie sich einfach nur hohl und erschöpft vor, wie ein Opfer eines Schiffsunglücks, das an Land geschwommen war. Sie hatte überlebt, aber der Kampf gegen die Krankheit hatte alles aus ihr herausgesaugt. Er hatte sie vollkommen verändert. Und diese neue Frau, diese mutige Überlebende, wusste nicht so richtig, was sie mit sich anfangen sollte.

Sie drehte sich zum Spiegel um und betrachtete ihren Körper, der ihr immer noch fremd vorkam, als würde er nicht mehr ihr gehören. Vor einem Jahr war sie eine einigermaßen attraktive Achtunddreißigjährige gewesen, zufrieden mit ihrer 36er-Konfektionsgröße und – okay, sie konnte es ruhig zugeben – ziemlich stolz auf ihr langes kastanienbraunes Haar. Während der Behandlungsmonate hatte sie sich allerdings angewöhnt, jeden Blick in den Spiegel zu vermeiden. Trotz all der ernsthaften Beteuerungen ihrer Freunde, der Familie, des Behandlungsteams und der Selbsthilfegruppe hatte sie nie gelernt, sich mit dem abzufinden, was darin zu sehen war.

Einige würden sagen, sie habe ihre rechte Brust und ihr Kopfhaar verloren. Doch Miranda fand, dass die Bezeichnung „verloren“ nicht ganz zutraf. Sie wusste genau, wohin ihr Haar verschwunden war – verteilt auf den Kopfkissen, im Ausfluss der Dusche, in den Zinken ihres Kamms, überall auf den Autositzen und dem Sofa. Ausgefallenes Haar war ihr in ihrem Kielwasser überallhin gefolgt. Ihr Ehemann Jacob war sogar eines Nachts mit einer ihrer kastanienbraunen Haarsträhnen im Mund aufgewacht. Innerhalb von einigen wenigen Tagen hatte ihre Kopfhaut zu kribbeln begonnen. Dann hatte es gebrannt, und die Haare fielen aus. Verloren waren sie keinesfalls. Sie hatten sich nur von ihr gelöst. Sie hatte sie in einer Einkaufstüte gesammelt und in den Mülleimer geworfen.

Was das andere betraf, das sie „verloren“ hatte – ihre Brust –, nun, sie wusste ebenfalls verdammt gut, wohin diese verschwunden war. Während der Operation war das Gewebe sehr sorgfältig verpackt und ins Krankenhauslabor geschickt worden, damit es in der Pathologie analysiert werden konnte. Die Diagnose wurde von jemandem gefällt, den sie nie gesehen hatte, jemand, den sie auch nie kennenlernen würde. Jemand, der die Besiegelung ihres Schicksals ordentlich in ein Formular eingetragen hatte: invasives duktiles Karzinom im ersten Stadium, Tumorgröße 1,5 cm, Knoten 15 negativ.

Sie konnte sich glücklich schätzen, da sie eine Kandidatin für eine TRAM-Flap-Brustrekonstruktion war, die gleich nach der Mastektomie folgte. Ein weiteres chirurgisches Team übernahm die Brustrekonstruktion und benutzte dafür Gewebe aus ihrem Unterbauch. Sie hatte sich bemüht, diese Rekonstruktion ihrer Brust leicht zu nehmen, glaubte, wenn sie keine große Sache daraus machte, würde es auch keine große Sache werden. Obwohl ihre Beraterin und die Selbsthilfegruppe sie dazu ermutigt hatten, sich einzugestehen, dass ein wichtiger, charakteristischer Teil von ihr verschwunden war, dass sich ihr Körper für immer verändert hatte, war sie dem ausgewichen. Sie behauptete, dass sie noch nie besonders stolz auf ihre Brüste gewesen wäre. Sie waren einfach … da gewesen. Größe 70 B. Und nach der Operation waren sie immer noch da gewesen, nur dass die rechte aus Zellgewebe ihres Unterbauchs geformt worden war, etwas, das sie gern abgegeben hatte. Und diese tätowierte Brustwarze war äußerst interessant. Wie viele Frauen konnten so etwas schon vorweisen?

Miranda wusste, sie sollte jetzt vor Erleichterung und Dankbarkeit in Tränen ausbrechen, aber sie wollte sich immer noch nicht im Spiegel betrachten. Die rekonstruierte Brust schien leicht schief geraten, und auch wenn die Farbe und Temperatur der Haut genauso war wie die ihrer anderen Brust, konnte sie dort nicht das Geringste spüren. Nichts, nada. Und ihr Bauchnabel war ein Stück zur Seite gerutscht.

Wenn es nach ihrer Selbsthilfegruppe ginge, müsste sie in den Spiegel blicken und dort eine Überlebende sehen. Eine erstaunliche Frau, deren Schönheit von innen heraus leuchtete. Eine Frau, die glücklich war, am Leben zu sein.

Miranda lehnte sich vor und sah genau hin. Wo war diese Frau?

Immer noch versteckt da drinnen, dachte sie. Ihre umwerfende Persönlichkeit wollte einfach nicht rauskommen und spielen.

Nach einer schmerzlichen Zeit, in der ihr Kopf kahl gewesen war, begann ihr Haar wieder zu sprießen. Ebenso ihre Augenbrauen und Wimpern. Unglücklicherweise sah dieser dünne Flaum von Härchen bisher nur komisch aus. Sie befürchtete, dass es in weißlichem Grau nachwuchs. Aber es war ihr richtiges neues Haar, das wie weiche Kükenfedern wirkte, als wäre sie gerade aus dem Ei geschlüpft. Ihr Teint war blass, und in ihren Augenwinkeln zeigten sich winzige Fältchen. Das Weiße in ihren Augen sah gelblich aus. Noch immer verbarg sie sich hinter Hüten, Schals und Perücken. Sie wollte nicht aussehen wie eine Krebspatientin, obwohl sie ja genau das war. Nein, stimmt nicht, sagte sie sich. Eine Krebsüberlebende, keine Patientin mehr.

Miranda wandte sich ab, nahm den BH und zog ihn an, schlüpfte in ihre Leinenkakihose und die Bluse. Es nervte sie, das Ziehen zu spüren, wenn sie sich ein Hemd über den Kopf streifte. So als wollte ihr Körper sie jedes Mal daran erinnern, dass man an ihr herumgeschnitten, genäht und sie verändert hatte und es nichts gab, was sie dagegen tun konnte. Sie schlang sich den buttergelben Pullover über die Schultern und knotete die Ärmel locker zusammen. Es war inzwischen nicht mehr so kühl wie am Morgen. Mit Nachdruck setzte sie ihren Hut auf. Heute war es ein Sonnenhut aus Leinen, den sie mehr aus praktischen als dekorativen Gründen ausgewählt hatte.

Sie packte all ihr Zeug zusammen – Handtasche, Handy, Schlüssel – und lief durch den inzwischen vertrauten Klinikflur mit den blassen Wänden. Die waren mit besänftigenden Indianerkunstwerken geschmückt, und besänftigende New-Age-Musik erklang aus den Lautsprechern an der Decke. Wie immer eilten alle geschäftig mit Krankenakten über den Gang oder in einen der Untersuchungsräume. Und wie immer erhielt sie von jedem, dem sie begegnete, ein etwas zerstreutes, aber ehrliches, aufmunterndes Lächeln.

Das Wartezimmer war eine andere Geschichte. Die Patienten dort schienen jeden Kontakt zueinander zu vermeiden, während sie in Magazinen lasen oder die Nachrichten auf ihren Smartphones abriefen. Es sah fast so aus, als wollten sie die anderen im Raum auf keinen Fall ansehen, als fürchteten sie, etwas in deren Blick zu erkennen, was sie nichts anging – Hoffnung oder Verzweiflung oder eine Mischung von beidem.

Miranda wusste, dass niemand der dort Wartenden wissen konnte, dass sie die Praxis endgültig verließ. Sie würde in den nächsten drei Monaten nicht zurückkommen – und wenn, dann nur zu einer Routineuntersuchung. Trotzdem verspürte sie das merkwürdige Schuldgefühl einer Überlebenden, als sie den Raum zum letzten Mal durchquerte – vorbei an dem sprudelnden Tischspringbrunnen, der Grünpflanze, die seit ihrem ersten Besuch hier die doppelte Größe erreicht hatte, dem Zeitschriftenregal.

Sie trat ins strahlende Sonnenlicht eines warmen Spätsommernachmittags hinaus. Im ersten Moment war es so hell, dass Miranda sich blinzelnd umblickte, als hätte sie die Orientierung verloren. Sie zog ihre Sonnenbrille hervor und setzte sie auf. Die Welt wurde wieder sichtbar. Seattle war im September unvergleichlich schön, mit warmen, sonnigen Tagen, unglaublich klarem Himmel und kühlen Nächten, in denen bereits der Herbst in der Luft zu spüren war. Das heutige wunderbare Wetter reizte die normale Stadtbevölkerung dazu, draußen vor den Cafés zu sitzen, an kühlen Getränken zu nippen und das Gesicht in die Sonne zu halten.

Vom Krankenhaus hier oben auf dem First Hill – aufgrund der Mengen an Hospitälern und Ärztezentren in dieser Gegend auch als „Pillenberg“ bekannt – sah sie bis hinunter zum Hafen, über die geschäftige Innenstadt, die chaotischen Schnellstraßen und die charakteristische Spitze der Space Needle, die sich über der Elliott Bay erhob. Weiter in der Ferne bot sich die typische Aussicht von Seattle – der tiefblaue Puget Sound, durchzogen von üppig begrünten Inseln und Meerarmen, der Horizont von Bergketten umgrenzt, die aussahen wie mit einer blauweißen Sahnehaube auf der Spitze versehen. Egal ob man hier geboren war, so wie Miranda, oder neu zugezogen, der Puget Sound war für jeden ein atemberaubender Anblick.

Eine Autohupe ertönte, und Miranda wich erschrocken auf den Bürgersteig zurück. Sie war so von der Aussicht fasziniert gewesen, dass sie gar nicht auf die Ampel geachtet hatte. Sie wartete pflichtschuldigst auf das kleine grüne Männchen, das ihr anzeigte, wann es sicher war, weiterzugehen. Das wäre eine unglaubliche Ironie des Schicksals, sich von einem Bäckereilieferwagen umfahren zu lassen, nachdem man eine schwere Krankheit wie Krebs bekämpft hatte.

Miranda lief den halben Block bis zur Bushaltestelle und studierte die Abfahrtzeiten. Der Bus, mit dem sie nach Queen Anne kam, wo sie wohnte, würde erst in einer halben Stunde kommen.

Sie setzte sich auf eine Bank, zog ihr Handy hervor und wählte Jacobs Nummer.

„Hallo, du Umwerfende“, begrüßte ihr Mann sie.

„Ich wette, das sagst du zu allen Frauen.“

„Nur wenn ich deinen speziellen Klingelton vernehme, Schatz.“

„Du hast deine Fahrstimme“, bemerkte sie.

„Was ist das genau?“

Sie lächelte. „Ich kann immer genau hören, wann du unterwegs bist. Dann hast du deine Fahrstimme.“

Er lachte. „Was gibt es denn?“

„Ich komme gerade von Dr. Turabian.“

„Geht es dir gut?“ Das war natürlich seine automatische Reaktion in letzter Zeit. Jacob hatte diese ganze Krebsgeschichte einen Höllenschrecken eingejagt. Fairerweise musste man sagen, dass ein Mann in seinem Alter nicht gerade damit rechnete, eine junge Frau im Kampf gegen eine lebensbedrohende Krankheit zu begleiten. Jacob schien sogar im Umgang mit ihr verängstigt, wagte kaum, sie zu berühren, als befürchtete er, sie dabei zu verletzen. Anfangs hatte er Miranda zu allen Arztterminen begleitet – zu den Tests, den Behandlungen, den folgenden Untersuchungen. Er war wunderbar gewesen und hatte seine Panik immer zu verbergen versucht. Doch für Miranda bedeutete es nur noch mehr Stress, ihn bei seinen schmerzlichen Anstrengungen zu beobachten. Irgendwann fand sie es einfacher, allein zu gehen oder eine ihrer Freundinnen mitzunehmen. Zuerst hatte Jacob sich dagegen gesträubt – Ich begleite dich, daran kannst du mich nicht hindern –, aber schließlich hatte er ihren Wunsch mit einem fast verschämt erleichterten Gesichtsausdruck akzeptiert.

„Es war mein letzter Behandlungstag“, erinnerte sie ihn. „Alles verlief wie erhofft. Die Werte waren in Ordnung, alles zu Dr. Turabians Zufriedenheit.“ Sie holte tief Atem. Die Luft war so kühl und frisch, dass es fast wehtat. „Ich bin durch.“

„Was heißt das, ‚du bist durch‘?“

„Na durch, durch und fertig.“ Sie lachte auf, und ihr eigenes Lachen klang in ihren Ohren fremd, so als würde eine Tür mit rostigen Angeln geöffnet. „Er will mich erst in drei Monaten wieder sehen. Das ist alles ziemlich merkwürdig. Ich weiß gar nicht, was ich mit mir anfangen soll. Als könnte ich mich überhaupt nicht daran erinnern, was ich vor meiner Krankheit gemacht habe.“

„Na ja.“ Jacob klang ebenfalls leicht verwirrt. Als hätte er Angst, das Falsche zu sagen. „Wie fühlst du dich denn?“

Sie wusste, was er tatsächlich fragen wollte. „Wann kannst du wieder arbeiten?“ Die Freistellung von ihrem Job hatte definitiv eine schmerzliche finanzielle Einbuße für sie bedeutet. Obwohl sie eine leichte Verärgerung verspürte, konnte sie es ihm nicht übel nehmen. Während dieser ganzen Tortur hatte er die Familie über Wasser gehalten, zwischen Job und zusätzlicher Hausarbeit jongliert, damit sie sich auf ihre Behandlung konzentrieren konnte. Die hatte ihr so viel Kraft genommen, dass sie gar nichts anderes mehr tun konnte. Aufgrund seiner Arbeit im Getränkeverkauf an große Supermarktketten war er ständig unterwegs. Er verdiente lediglich eine Provision und bekam kein Grundgehalt, sodass jeder Verkauf zählte. Und ihr Bankkonto konnte weiß Gott alle Einzahlungen gebrauchen. Die Raten für ihr Haus hatten sie unter der Voraussetzung eingeplant, dass sie ein Doppelverdienerhaushalt waren.

„Mir geht es gut, denke ich.“ Eigentlich fühlte sie sich, als hätte sie einen Marathonlauf hinter sich und überquerte gerade die Ziellinie, ohne dass irgendjemand dabei war, der es beobachtete. Die Welt war noch immer dieselbe. Der Verkehr rollte wie üblich über den Berg, Boote und Lastkähne durchquerten den Sund, Fußgänger kamen vorbei, ohne zu ahnen, dass sie gerade ihre Krebstherapie beendet hatte und noch lebte, sodass sie jedem davon erzählen konnte.

„Das ist gut“, sagte Jacob. „Ich bin so froh.“

Sie beobachtete eine Taube, die auf dem Bürgersteig herumtrappelte und mit dem Schnabel Brotkrümel aufpickte. „Ich auch. Ich lasse dich jetzt lieber in Ruhe. Sehen wir uns heute Abend?“

„Ich versuche, nicht zu spät zu kommen. Ich liebe dich, Schatz.“

„Ich liebe dich auch.“ Sie steckte das Handy zurück in die Tasche und dachte über die Angewohnheit nach, sich gegenseitig ihrer Liebe zu versichern, etwas, das sie inzwischen gedankenlos taten. Nachdem sie von der Diagnose erfahren hatte, war es für sie obligatorisch gewesen, ihrem Mann und den Kindern jedes Mal „Ich liebe dich“ zu sagen, wenn sie sich verabschiedeten. Angesichts ihrer eigenen Sterblichkeit war ihr schmerzlich klar geworden, dass jeder Abschied für immer sein könnte. Obwohl ihre Prognose gut gewesen war, wollte sie sichergehen, dass jeder in ihrer Familie täglich ihr „Ich liebe dich“ hörte. Im Laufe der Zeit hatte sich allerdings durch die Gewohnheit und ständige Wiederholung der Sinn der Worte verflüchtigt. Heute schien das „Ich liebe dich“ nichts weiter zu bedeuten als „Bis später“.

Während sie in ihrer Tasche nach der Busfahrkarte kramte, fand sie eine Notiz, die sie selbst auf ein Stück Papier geschrieben hatte. In ihrer Selbsthilfegruppe hatten einige darauf geschworen, dass man sich Leitsätze und positive Gedanken aufschreiben und in der Hosen- oder Handtasche aufbewahren sollte, wo man immer ab und zu darauf stieß. Miranda erkannte zwar ihre Handschrift sofort, konnte sich aber beim besten Willen nicht daran erinnern, es jemals aufgeschrieben zu haben. Auf dem Zettel stand: „Du kannst den heutigen Tag nicht zurückholen. Also sieh zu, dass du das Beste daraus machst.“

Ein weiser Spruch, sicher, aber daraus ging nicht wirklich hervor, was das Beste sein sollte. Hieß es, sich mit Freunden und der Familie zu beschäftigen? Fremden zu helfen? Ein richtig gutes Kunstwerk zu kreieren? Sie hätte sich deutlicher ausdrücken sollen. Sie faltete den Zettel zusammen und schob ihn ins Portemonnaie zurück.

Die Umgebung der Bushaltestelle war nicht sehr aufregend – Lorbeerbüsche, Astern und Stiefmütterchen. Die Pflanzen waren winterfest und beständig, wenn auch ein bisschen langweilig. Miranda liebte das Gärtnern, aber sie war dabei ziemlich anspruchsvoll geworden. Eins der Dinge, die sie sich während der Behandlung fest vorgenommen hatte, war, dass sie mit der Gartenarbeit wieder anfangen würde.

In der Ferne glitten die Fährboote vor dem blauen Hintergrund durch den Puget Sound auf dem Weg zwischen den Inseln Richtung Westen. Ein Tourist flog mit dem Fallschirm über Elliott Bay, und Miranda verzog die Lippen zu einem leichten Lächeln. Was für eine wundervolle Sache, hoch über dem glitzernden Wasser zu schweben, darüber der große Schirm in Regenbogenfarben, der sich wie eine bunte Blüte vor dem endlos blauen Himmel ausbreitete. Von Weitem war der am Motorboot befestigte Haltestrick des Parasailing-Schirms unsichtbar, sodass es tatsächlich wirkte, als würde die Person frei fliegen.

Miranda hatte so etwas noch nie gemacht. Vielleicht sollte sie es irgendwann mal probieren. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, dann auf den Fahrplan. Vielleicht sollte sie es jetzt sofort versuchen.

Ach, komm, du verpasst deinen Bus, sagte sie sich.

Es wird immer ein anderer Bus kommen. Aber du wirst den heutigen Tag nicht noch einmal erleben, wie eine weise Frau mal aufgeschrieben hatte.

Miranda stand auf, schob sich den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter und ging los. Da der Weg bergab führte, war es nicht anstrengend. Sie hatte wohl die perfekte Geschwindigkeit gewählt, denn jede Fußgängerampel schaltete gerade auf Grün, wenn sie sich näherte. Es war ein Gefühl, als würde die ganze Innenstadt sie dazu ermuntern weiterzugehen.

Als sie einen Fußgängerüberweg zum Hafen überquerte, musste sie wie üblich an einer Anzahl von Obdachlosen vorbeigehen. Wie alle anderen Passanten wandte sie den Blick ab. Doch auch ohne hinzusehen, hatte sie das Bild genau vor Augen – vor sich hin dämmernde Menschen in zerlumpter Kleidung, all ihre Besitztümer in einem Einkaufswagen oder einem Rucksack verstaut. Die meisten von ihnen hatten vor sich einen alten Becher für Kleingeld stehen, einige mit ungelenker Handschrift ein Blatt mit „Für übriges Kleingeld“ oder einfach „Gottes Segen“ beschrieben.

Miranda hielt den Blick wie immer geradeaus gerichtet. Wenn man so tat, als würde man sie nicht sehen, waren sie auch nicht richtig da. Doch das funktionierte bei ihr nicht, und sie verspürte das gleiche Schuldgefühl wie jeder andere angesichts dieser Menschen. Sie sagte sich, dass es Unterkünfte gab, bei denen Obdachlose Hilfe suchen konnten, sie mussten nur dorthin gehen. Und natürlich wusste jeder, dass man ihnen kein Geld geben sollte. Das gaben sie dann nur für Bier aus.

Na und? ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Und wenn sie das bisschen Geld nun für Bier ausgaben? Das war vielleicht alles, was sie noch davon abhielt, zum Ende des Piers zu laufen und sich vom Sund verschlucken zu lassen.

Sie ging langsamer und zog ihre Brieftasche heraus. Da waren fünf Obdachlose in regelmäßigen Abständen voneinander auf der Brücke verteilt wie Wachposten. Sie hatte nicht viel Bargeld dabei, aber sie gab alles weg, jeden Cent, und versuchte, die Münzen gerecht auf die fünf zu verteilen. Zwei von ihnen flüsterten ein Dankeschön, während die anderen nur nickten, als wären sie zu erschöpft, um zu sprechen. Aber das war Miranda egal. Sie tat dies hier nicht, um Dank zu ernten.

Als sich in ihrer Brieftasche kein Bargeld mehr befand, steckte sie sie in die hintere Hosentasche und ging weiter Richtung Hafen. Unten am Alaska Way, einer geschäftigen Straße entlang der Küste, von der viele Piers abgingen, traf sie auf eine weitere Obdachlose, die auf einer Obstkiste saß und ein Schild hielt, auf dem „Keine Wohnung, brauche Hilfe“ stand.

Miranda zögerte kurz, dann schaute sie die Frau an. „Ich habe mein ganzes Bargeld unter den Leuten auf der Marion-Street-Brücke verteilt“, gestand sie.

„Ist schon okay. Dann haben Sie heute einen guten Tag.“

Miranda nahm den buttergelben Sweater von den Schultern. „Können Sie den gebrauchen?“ Es war ein Designerstück von Nordstrom aus feinmaschiger Sea-Island-Baumwolle. Der Pullover war ein Geschenk von ihrer Schwiegermutter gewesen, die glaubte, dass kein Problem so groß war, dass man es nicht mit einem Sweater von Nordstrom lösen könnte.

„Sicher doch, Lady, wenn Sie sich davon trennen können.“

„Das macht mir nichts aus.“ Sie reichte der Frau den Pullover.

„Oh, der ist aber weich. Danke.“ Die schwielige Hand der Frau zitterte, als sie mit den Fingern über den Stoff strich.

„Nichts zu danken.“ Spontan öffnete sie ihre Handtasche und nahm alle persönlichen Gegenstände heraus – Handy, Schlüssel, eine Pillendose – und verteilte sie in ihren Hosentaschen. Übrig blieben nur die üblichen Dinge – eine Packung Taschentücher, ein Kamm, ein Lippenstift, ein Taschenrechner, eine winzige Taschenlampe.

„Die können Sie vielleicht auch gebrauchen“, sagte sie.

Bei dem Angebot runzelte die Frau die Stirn. „Das ist eine schöne Tasche“, sagte sie etwas misstrauisch.

Sie hatte einen guten Geschmack. Das war ein weiteres Geschenk ihrer Schwiegermutter gewesen, von Dooney & Bourke, das sie sicher ein paar Hundert Dollar gekostet hatte.

„Ich habe noch so eine zu Hause.“

„Sie sind aber nicht von der Mission, oder?“, erkundigte sich die Obdachlose. „Mit denen hab ich’s schon probiert, aber das funktioniert nicht.“

„Ich bin nicht von der Mission, sondern einfach nur … hier vorbeigekommen.“

Die Frau sah immer noch etwas skeptisch aus.

Miranda hörte das Horn der Fähre, eine Seemöwe kreischte. Im Nacken spürte sie die leichte Brise, die sanft am Rand ihres Sonnenhuts zupfte. Automatisch hielt sie den Hut fest, damit er nicht wegflog. Doch statt ihn fester auf den Kopf zu drücken, umfasste sie die Krempe.

Tief einatmen, sagte sie sich, dann zog sie den Hut vom Kopf. Jetzt hatte sie sich vor der Welt entblößt. Jeder, der sie ansah, würde wissen, dass sie eine Krebspatientin war. Auch nach so langer Zeit fühlte sie sich unsicher. Sie wollte jedem, der ihr zuhörte, erklären, dass sie mehr als eine Patientin war. Eine Ehefrau, Mutter, Mitarbeiterin, Freundin. Doch wenn einem das Haar ausfiel, die Fingernägel brachen und die Wimpern verschwanden, sahen die Leute nichts anderes mehr. Nur eine Krebspatientin.

Eine Überlebende, korrigierte sie sich in Gedanken, während sie der Frau den Hut reichte. Heute war sie eine Krebsüberlebende.

Die Obdachlose nahm ihn und schenkte Miranda ein kleines Lächeln. „Jetzt haben Sie einen schönen Tag.“

Als Miranda sich von ihr entfernte, verspürte sie ein merkwürdig leichtes Gefühl, so befreit, als würde sie bereits schweben. Sie hoffte inbrünstig, dass die Parasailing-Firma auch Kreditkarten annahm.

Natürlich tat sie das. Jeder nahm Kreditkarten. Wahrscheinlich auch die Obdachlosen.

Miranda hatte gerade ihr ganzes Geld weggegeben, doch das reichte ihr noch lange nicht. Aus einer unbekümmerten Laune heraus buchte sie einen Parasailingflug über Elliott Bay. Der Mann, der ihr in die Ausrüstung half, gab ihr kurz Instruktionen. „Da brauchen Sie gar nichts zu tun. Einfach nur entspannen und den Wind den Rest machen lassen. Sie können sogar Ihre Straßenkleidung anbehalten. Sie werden garantiert nicht nass.“

Die alte Miranda, die Miranda, die ihrer eigenen Sterblichkeit nie in die Augen geblickt hatte, wäre vollkommen verängstigt gewesen. Doch jetzt empfand sie angesichts des Risikos und der Gefahr nichts Besonderes. Sie fragte sich, ob ihr rechter Arm mit der Ausrüstung schmerzen würde, beschloss aber, sich nicht darum zu kümmern. Sie hatte in letzter Zeit Schlimmeres ertragen.

„Klingt gut.“ Sie biss die Zähne zusammen, als er ihr die Riemen unter der Brust befestigte. Ob er wusste, dass die eine rekonstruiert war? Und warum zum Teufel war das wichtig? Sei doch nicht albern! schalt sie sich.

Der Mann und sein Partner lenkten das Boot in die Bucht hinaus, das neben den Fähren und Lastkähnen winzig wirkte. Miranda positionierte sich unter deren Anleitung auf der Plattform, wartete, bis der Fallschirm sich im Wind aufblähte und stieg. Dann ließen die Männer sie vom hinteren Teil des Boots hinunter. In der ersten Sekunde ging sie ein bisschen in die Tiefe und streifte die Wasseroberfläche mit ihren nackten Füßen. Sie sog scharf die Luft ein und machte sich auf die Eiseskälte des Puget Sound gefasst. Dann riss der Wind den Schirm in die Höhe, der schnell in die Lüfte stieg, wie ein Drachen an der Schnur.

Nachdem sie kurz verblüfft aufgekeucht hatte, verstummte Miranda und ließ sich einfach hängen, ohne einen Ton von sich zu geben. Während ihrer Krebsbehandlung hatte sie gelernt, alles gleichmütig und schweigend zu ertragen. Sie war absolut still gewesen, als Radiologen und Onkologen sie untersucht hatten. Still, als die Chirurgen sie begutachteten und ihr mit Markern Linien auf die Haut zeichneten. Still, während sie auf dem Bestrahlungstisch lag und das gefährliche Licht auf ihren Körper gerichtet war. Still, während die Maschine die unsichtbaren Strahlen in ihre Haut brannte, die mit Bläschen und Rissen reagierte.

Sie konnte gut stillhalten. Und jetzt war sie bereit, alles hinter sich und sich vom Wind wegtragen zu lassen.

Sie sah das, was die Seemöwen sahen: die dunklen, mysteriösen Gebilde unter Wasser, Gruppen von Seelöwen, die sich auf Navigationsbojen sonnten, Containerschiffe und Segelboote, das Glitzern des Sonnenlichts auf der Wasseroberfläche. Sie spürte den kühlen Wind in ihrem Haar – oder dem, was da heranwuchs. Es wurde von der Brise wie ein Federkleid zerzaust.

Dann lachte sie laut und wünschte, Jacob und die Kinder könnten sie jetzt sehen, schwebend wie ein Drachen an der Schnur über der Stadt mit den hohen skelettartigen orangefarbenen Kränen in den Werften; ein krasser Gegensatz zu dem Hintergrund der wunderbaren Szenerie des Mount Rainier. Vielleicht würde sie das Zehndollarfoto kaufen, das die beiden im Boot von ihr beim Aufstieg gemacht hatten. Wie oft bekam man schon ein Foto von sich in der Luft schwebend? Dennoch war der Gedanke, ein Foto für Jacob und die Kids mit nach Hause zu nehmen, ein bisschen deprimierend. Sie hatte dieses wahnsinnige Erlebnis allein gehabt. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal etwas mit der Familie zusammen unternommen hatten.

Sie zeigte den beiden im Boot das Okay-Zeichen mit den Daumen, als die sie gekonnt wieder an Deck zogen und mit ihr zum Dock zurückfuhren. An Land druckte einer der beiden das Foto von seiner Digitalkamera aus und reichte es ihr. Sie griff in ihre Hosentasche, um das Portemonnaie herauszuziehen.

„Das geht aufs Haus“, sagte er.

Sie schob die Brieftasche wieder zurück. „Danke.“

Die Leute waren immer besonders nett zu Krebspatienten, hatte sie festgestellt. Sie warfen einen Blick auf den kahlen Kopf, die gesplitterten Nägel, die bleiche, aufgequollene Haut und bekamen es mit der Angst zu tun. Gnade Gott, dass mir das passiert. Nett zu Krebsopfern zu sein war für sie vielleicht wie eine Art Schutzimpfung. So hatte sie selbst auch gedacht, bevor sie Mitglied im Krebsklub geworden war. Inzwischen hatte sie gelernt, diese Freundlichkeit in welcher Form auch immer zu akzeptieren, sowohl von Freunden als auch von Fremden.

Miranda bedankte sich noch einmal bei dem Mann. Sie würde das Foto aufbewahren, um es hervorzuholen und sich diesen merkwürdigen Moment noch einmal anzusehen – ein Bild von sich selbst frei in der Höhe schwebend, allein vor dem blauen Himmel.

Sie musste einen Geldautomaten suchen. Miranda lief vom Hafen bergauf und nahm die Harbor Steps. Von dort ging sie Richtung Pike Place Market. Auf der Treppe kam sie nur langsam voran, noch etwas, das sie an ihrer Krankheit frustrierte. Noch vor einem Jahr war sie eine viel beschäftigte, tatkräftige Frau mit beschwingtem Schritt gewesen, der alles gelang – sie hatte zwei großartige Kinder, einen liebevollen Ehemann, einen soliden, wenn auch langweiligen Job. Sie war stolz darauf gewesen, wie viel sie an einem einzigen Tag schaffte. Innerhalb von einer Stunde kam sie aus einem Firmenkonferenzraum zum Fußballfeld und dann gleich danach nach Hause, um das Abendessen zu kochen.

Nun brachte eine dumme Treppe sie außer Atem.

Das würde ab sofort anders werden, beschloss sie.

Miranda straffte die Schultern und hob das Kinn. Heute war ein großer Tag. Sie sollte das gebührend würdigen.

Auf dem Pike Place Market voller Marktbesucher, Touristen, Küchenchefs, Musiker und Lieferanten kaufte sie die Zutaten für ein Festessen – frischen Spargel aus der Region und Morcheln, gelbe Kartoffeln und weißen Wildlachs, laut dem redseligen Fischverkäufer in einem schmierigen gelben Kittel frisch vom Boot. Und Garnelen als Vorspeise.

Sie stellte sich vor, wie sie mit ihrer Familie an einem wunderschön gedeckten Tisch saß. Sie hatten einen Grund zum Feiern. Dies war ein ganz besonderer Tag.

Als sie mit ihren Paketen vom Markt kam, blieb sie an einer Reihe von Blumenständen von Großhändlern stehen. Große verzinkte Stahleimer mit Dahlien, Phlox, Rosen in allen denkbaren Schattierungen. Dieser Farbenrausch war wie eine kleine Feier.

Miranda ging das Herz auf, und sie atmete den Duft der Pflanzen tief ein. Blumen waren lange ihre Leidenschaft gewesen. Sie besaß großes Talent im Kultivieren und Arrangieren von Blumen. Dieses Hobby, so wie alles andere in ihrem Leben, war während ihrer Krankheit ins Abseits gerückt. Erst als sie den Blumenstand sah, wurde ihr klar, wie sehr sie diese Beschäftigung vermisst hatte.

Sie bestellte beim Verkäufer eine Auswahl – Gerbera, Chrysanthemen, duftende Schafgarbe, violetten Strandflieder, Goldrutenastern, Hypericum-Beeren und Eukalyptus. Das sollte ihr Gewinnerstrauß werden, beschloss sie – eine farbenfrohe, elegante Bestätigung, dass sie ihre Behandlung überstanden hatte und bereit war, mit ihrem Leben weiterzumachen.

Auf dem Weg zur Bushaltestelle jonglierte sie mit ihren Paketen und wählte Jacobs Nummer erneut.

„Ich war beim Parasailing.“

„Was?“

Er hatte wieder seine Fahrstimme. Mit den Verkehrsgeräuschen im Hintergrund wurde ihr klar, dass es wohl nicht der richtige Moment war, um es zu erklären. „Ich mache heute etwas ganz Besonderes zum Abendessen“, sagte sie.

„Ich wollte dich ins Restaurant einladen“, erwiderte er.

„Das ist lieb von dir, aber ich hatte gerade Lust, selbst etwas zusammenzustellen, und das ist wahrscheinlich für die Kinder sowieso besser. Andrew hat Fußballtraining bis halb fünf, und Valeries Job im Theater geht um acht los. Also … um halb sieben?“

Er zögerte. Sie hörte aus diesem Zögern eine Menge Zweifel heraus. Inzwischen konnte sie sein Schweigen weitaus besser deuten als seine Worte.

„Du kommst heute später nach Hause“, sagte sie.

„Ich kann ein paar Sachen verschieben …“

„Gute Idee.“ Normalerweise passte sie sich den Anforderungen seines Jobs an, aber heute wollte sie ihn bei sich haben. „Ruf mich später an, und sag mir, welche Zeit dir recht ist.“

„Ich werde nicht zu spät kommen“, versprach er.

„Ruf mich einfach an. Bis später.“

Mein Mann ist wundervoll, sagte sie sich. Im vergangenen Jahr hatte er sich immer und immer wieder bewiesen. Eines der größten Opfer, das er gebracht hatte, war, sein Arbeitspensum zu vergrößern, als sie sich von ihrem Job bei Urban Ice, einem Lieferanten von losem Eis für Großbetriebe, freistellen ließ. In manchen Wochen hatte Jacob achtzig Stunden absolviert, sich niemals beschwert und immer getan, was getan werden musste. Trotz ihrer Gesundheitsvorsorge wurden nicht alle medizinischen Behandlungen wie die Mastektomie von der Versicherung abgedeckt. Dazu gehörte die Brustrekonstruktion, was Miranda für eine grausame Ironie hielt. Innerhalb von Stunden nach der Diagnose hatten sie bereits ihren Eigenanteil erreicht. Das Geld der Krankenversicherung deckte nicht die Hypotheken, dafür war ihr Einkommen eingeplant. Auch die Lebensmittel waren nicht darin enthalten, Haushaltskosten oder Schulkleidung für Kinder. Und ganz sicher kein Gleitflug oder die zwanzig Dollar für die Schnittblumen, die sie gerade gekauft hatte.

2. KAPITEL

Miranda stieg an der Ecke aus dem Bus und ging den halben Block bis zu ihrem Haus. Sie liebte die Wohngegend, ein Ort reich an Historie mit einer bunten gemischten Nachbarschaft. Die Queen Anne lag auf dem höchsten Berg von Seattle und bot den besten Blick über die Stadt und den Sund. Hier standen moderne Apartmenthäuser und dazwischen alte Villen, die vor langer Zeit für Holz- und Eisenbahnbarone errichtet worden waren. Die abwechslungsreiche Sweeney’s Street verströmte eine heimelige Atmosphäre. Bungalows aus der Arts-and-Crafts-Ära wurden durch Gärten aufgelockert, die auf den winzigsten Fleckchen Erde gediehen, Steingärten und Betonstufen führten hinauf zu einladend begrünten Veranden.

Sie und Jacob hatten ihr Haus sofort geliebt, als sie es vor sechs Jahren zum ersten Mal gesehen hatten. Es gab sogar genug Platz für einen Garten und ein Gewächshaus im hinteren Teil des Grundstücks, etwas, von dem Miranda schon immer geträumt hatte. Sie wand sich innerlich, als sie an den Zustand ihres Gartens dachte. Er war das Erste, was sie nach der Diagnose vernachlässigt hatte.

Sie freute sich, ihr normales Leben wieder aufzunehmen, ihr Haus in Ordnung zu halten, in ihrem Garten zu pflanzen, ihre Finanzen in den Griff zu bekommen. Dieses Haus war das absolute Limit dessen, was sie sich leisten konnten. Als Miranda sich von der Arbeit hatte freistellen lassen, hatte sie Jacob vorgeschlagen, es zu verkaufen und sich eine preiswertere Bleibe zu suchen. Davon hatte er jedoch nichts wissen wollen. Sie nahm an, dass der Verkauf des Hauses für ihn bedeutet hätte, sich einzugestehen, dass sie nicht wieder gesund werden und jemals wieder arbeiten würde. Doch das hätte er niemals zugegeben.

Sie war dankbar für seine standhafte Weigerung gewesen, sich von dem Haus, das sie so liebte, zu trennen. Doch zu Anfang des kommenden Jahres würde ihre Hypothekenrate wieder angepasst werden, und die Kosten würden explodieren. Sie erschauerte, als sie an die Summe dachte, die sie dann jeden Monat aufbringen mussten.

Aber nicht heute, ermahnte sie sich. Heute würde sie sich darüber nicht den Kopf zerbrechen. Nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte und eingetreten war, schaute sie sich im Haus um. Aus irgendeinem Grund sah sie es mit neuen Augen. Nichts hatte sich verändert, trotzdem fühlte sie sich hier wie eine Fremde. Die Stille wurde nur durch das rhythmische Ticken der Uhr in der Diele unterbrochen. Vier Uhr nachmittags. Ihr blieb noch reichlich Zeit, um das Dinner auf den Tisch zu bringen.

Im vergangenen Jahr hatte sie gelernt, die Dinge einfach zu halten. Wenn sie überhaupt die Mühe auf sich genommen hatte, etwas zu kochen – was selten vorgekommen war –, hatte sie es meist vermieden, sich komplizierte Gerichte vorzunehmen.

„Was habe ich denn mit mir angefangen?“, fragte sie sich laut.

Dann nahm sie die Blumen, die sie gekauft hatte, suchte ein paar Vasen und Schalen heraus, griff nach der Blumenschere und machte sich an die Arbeit. Sie hatte fast vergessen, wie tröstlich und befriedigend es war, Blumen zu arrangieren, etwas, das sie von ihrer Großmutter gelernt hatte.

In ihrer Selbsthilfegruppe hatten alle immer wieder betont, wie wichtig es wäre, während der Behandlung die Dinge zu tun, die man gern tat. Für Miranda bestand das Problem darin, überhaupt etwas genießen zu können, wenn ihr nach der Chemotherapie übel war und sie nur noch wie ein Fötus zusammengerollt dalag. Oder wenn sie sich fast die Haut hätte abziehen wollen, die nach den Verbrennungen durch Bestrahlung brannte. An manchen Tagen hatte sie nichts anderes tun können, als sich von einem Moment zum nächsten zu schleppen.

Es ist vorbei, erinnerte sie sich. Du bist durch.

„Mom?“

Miranda hätte fast die Schüssel fallen lassen, die sie in der Hand hielt. „Andrew. Ich habe dich gar nicht reinkommen gehört.“

Ihr elfjähriger Sohn warf seinen Rucksack auf die Bank an der Hintertür. „Ich wollte leise sein.“

„Das ist dir wirklich gut gelungen. Du bist ja ein geborener Superspion.“

Er setzte sich und schnürte seine Fußballschuhe auf. Sie beobachtete ihn mit einer Mischung aus unglaublicher Liebe und schmerzlichem Bedauern. Vor nicht allzu langer Zeit war er normalerweise mit lautem Gepolter nach Hause gekommen und hatte gerufen: „Ich bin da! Ich bin am Verhungern!“

Eins der Medikamente, die sie hatte nehmen müssen, verursachte Kopfschmerzen und ließ sie hypersensibel auf laute Geräusche reagieren. Deshalb hatte sie ihn gebeten, nicht zu trampeln und nicht zu schreien. Es schien, als wäre die ganze Familie ein Jahr lang auf Zehenspitzen durchs Haus gelaufen und hätte sich nur flüsternd verständigt.

„Wie geht es dir denn, Kumpel?“, erkundigte sie sich und stieg auf die Trittleiter, um eine Salatschüssel herunterzuholen. Eine weitere Einschränkung – postoperativ: Sie konnte ihren Arm nur bis auf Schulterhöhe anheben. Das war vor Monaten gewesen, aber ein leicht unangenehmes Gefühl gab es immer noch. Sie hatte sich angewöhnt, einen Hocker zu benutzen, jemanden um Hilfe zu bitten oder das Ganze von vornherein sein zu lassen.

„Okay.“ Er stellte seine mit Grasflecken übersäten Sportschuhe beiseite und schenkte ihr ein kurzes Lächeln, bevor er aufstand.

Ihr zog sich das Herz zusammen vor Liebe. Wie groß er im Verlauf des vergangenen Jahres geworden war! Wie hübsch! Wenn sie sein Gesicht genau betrachtete, konnte sie immer noch ihren kleinen Jungen darin erkennen. Seine Haut war babyweich mit einer Menge Sommersprossen auf der Nase. Die Wangen zeigten noch immer eine kindliche Rundlichkeit, die aber bald verschwunden sein würde. Während des Wachstums würde sein Gesicht länger, schmaler und reifer werden.

Komm zurück, hätte sie am liebsten zu dem kleinen Jungen gesagt. Ich bin noch nicht bereit, dich gehen zu lassen. Es tat weh, dass sie so viel versäumt hatte, während sie krank gewesen war. Es tat weh, so viele Fußballspiele und Schultreffen verpasst zu haben oder einfach nur Spaziergänge in den Park oder Runden von Minigolf und Paintball am Wochenende.

Sie wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab und ging um den Küchentresen herum, um ihn fest zu umarmen. Er reagierte angespannt und zurückhaltend, der Junge, der ihr sonst so stürmisch in die Arme gefallen war und sich liebevoll an sie geklammert hatte. Eines Tages hatten sie ihm die Mutter weggenommen, und die Frau, die zurückkam, hatte keine Haare mehr gehabt, ein aufgedunsenes Gesicht und Schläuche in der Brust. Sie war so empfindlich und schwach gewesen wie eine alte Frau und hatte nach Radiacare-Gel gerochen. Für lange Zeit war es das Ende von stürmischen Umarmungen gewesen.

Sie küsste ihn auf den Kopf. Er duftete so … golden. Wie ein Spätsommersonnenstrahl, frisches Gras und nach dem merkwürdig unschuldig riechenden Jungenschweiß. „Bald wirst du größer sein als ich“, sagte sie, als sie ihn wieder losließ. „Wahrscheinlich schon nächste Woche.“

„Nee.“ Er ging zum Spülbecken, um sich ein Glas Wasser einzuschenken.

Sie bemerkte, wie er sich in der Küche umschaute, in jede Ecke sah, nur nicht zu ihr. Das war noch so eine Angewohnheit, die er im Laufe der Zeit entwickelt hatte – und nicht nur Andrew. Ihre beiden Kinder hatten sich abgewöhnt, sie anzusehen. Sie konnte es ihnen nicht verübeln. Es war beängstigend, ihre Mutter so krank zu sehen. Sie war keine von diesen Krebspatientinnen gewesen, wie man sie in den Filmen im Abendprogramm sehen konnte. Die mit Fortschreiten der Krankheit immer zarter und schöner wurden. Sie hatte ein fleckiges, geschwollenes Gesicht bekommen und Schatten unter den Augen. Als ihr das Haar ausfiel, entblößte es einen Schädel, der merkwürdig durchfurcht statt glatt war. Andrew war knapp zehn Jahre alt gewesen, als die Diagnose gestellt worden war. Es hatte ihn erschreckt, wie radikal seine Mutter sich verändert hatte, und er hatte sich angewöhnt, nicht hinzusehen.

„Wir essen heute Abend zusammen“, kündigte sie an. „Wir vier.“

„Okay“, erwiderte er.

„Ich habe gute Neuigkeiten.“

Das ließ ihn erstaunt aufblicken. Er war es anscheinend so gewohnt, von ihr immer nur schlechte Nachrichten zu hören, dass dies eine Überraschung darstellte. Seine Schwester Valerie hatte sich irgendwann überhaupt nicht mehr erkundigt, wie es ihr ging. „Heute hat mir Dr. Turabian gesagt, dass ich durch bin. Keine weiteren Behandlungen mehr.“

„Hey, das ist cool, Mom. Du bist geheilt.“

Sie lächelte ihn an. Das Wort „geheilt“ war ein bisschen heikel. Ihre Ärzte und das Behandlungsteam tendierten eher dazu, „krebsfrei“ zu sagen oder Werte und Messungen aus den Laboren wiederzugeben. Aber sie würde nun bei Andrew keine Haarspalterei betreiben.

„Rate mal, was ich heute gemacht habe“, sagte sie.

„Was denn?“

„Ich war in der Elliott Bay zum Parasailing.“

Endlich sah er sie an. Sah sie richtig an. Und in seinem Blick stand die Frage, ob sie den Verstand verloren hätte. „Echt?“

„Echt. Das war unglaublich. Du hättest mich sehen sollen. Es sah aus, als wenn ich der Schwanz von einem Drachen wäre.“ Sie holte das Foto heraus und zeigte es ihm.

„Das bist du?“ Er studierte die winzige am Himmel hängende Figur auf dem Bild. „Cool.“

Er schien nicht besonders aufgeregt. Vielleicht beeindruckt, aber nicht aufgeregt. Das erinnerte Miranda daran, dass ihr Sohn es lieber hatte, wenn die Dinge vorhersehbar waren. Herkömmlich. Es machte keinen Unterschied, dass sie sich im einundzwanzigsten Jahrhundert befanden. Trotz aller sozialen Fortschritte in dieser Welt wünschten sich kleine Jungs ihre Mütter konventionell und unauffällig. Sie sollten in der Küche Kekse backen, Stöckelschuhe tragen und eine gerüschte Schürze. Woher nehmen sie nur diese Vorstellungen? fragte sie sich. Andrew hatte nie ein Fünfzigerjahre-Hausmütterchen gehabt. Sie besaß noch nicht mal eine Schürze. Auf welchem Planeten gab es solche Frauen?

Sie zerzauste ihm das Haar. „Keine Angst, ich werde nicht verrückt. Nach meinem Arzttermin hatte ich beschlossen, ein bisschen zu feiern, und wollte etwas Ungewöhnliches machen.“

„Okay.“

Er machte sich auf den Weg zum Arbeitszimmer, und sie hörte kurz darauf das Geräusch des angeschalteten Computers. In letzter Zeit war Andrew von einem ziemlich aufwendig gestalteten PC-Spiel besessen, das sich Adventure Island nannte. Seine Leidenschaft für dieses Spiel hatte sich im vergangenen Jahr entwickelt. Miranda verstand nicht alle Einzelheiten, aber soweit sie das sagen konnte, erlaubte ihm das Programm, seine eigene Welt am Computer zu erschaffen und mit Personen seiner Vorstellung zu besetzen.

Miranda erkannte ganz klar die Motivation hinter dieser Handlung. Andrew hatte sich einen Raum erschaffen, den er vollkommen unter Kontrolle hatte. Seine Welt war ein idyllischer Ort, wo jeder Junge ein Haustier hatte, Väter früh genug von der Arbeit kamen, um im Garten Ball zu spielen, und wo die Mütter nicht den ganzen Tag schliefen oder sich übergaben oder weinten und in die Notaufnahme gebracht werden mussten, weil sie hohes Fieber bekamen. In Andrews perfekter Welt banden sich die Mütter bunte Schürzen um ihre Barbiepuppenkörper, sangen fröhliche Lieder, halfen bei den Hausarbeiten und backten Kekse.

Träum weiter, Junge, dachte sie und stellte im Radio ihren geliebten Oldiesender ein. „Ain’t No Mountain High Enough“ wurde gerade gespielt, und sie stimmte mit ein, sang laut und schleuderte den Salat, während sie sich im Rhythmus wiegte. Früher hätte Andrew vielleicht mitgemacht. Er mochte Oldies auch und konnte ganz gut singen.

Unglücklicherweise war es zu spät, um ihn von seinem virtuellen Utopia wegzureißen. Obwohl sie mit der Radiomusik mitträllerte, verspürte Miranda einen leichten Stich des Bedauerns. Bevor er diesem Spiel verfallen war, hatte ihr Sohn viel mehr Zeit mit ihr verbracht, mit seinen Freunden und vor allem mit seiner besten Freundin der Welt, der Familienhündin Gretel.

Die große liebevolle Bernhardinerhündin war im selben Jahr geboren wie Andrew, und sie waren zusammen aufgewachsen. An Andrews erstem Tag im Kindergarten hatte Gretel sich unter seinem Bett verkrochen und sich geweigert hervorzukommen, bis er nach Hause zurückgekehrt war. Zusammen hatten sie endlos lange gespielt – Fangen und Gretels Lieblingsspiel: Retten. Andrew hatte so getan, als hätte er sich verlaufen und wäre verletzt, und sie schleppte ihn in Sicherheit. Es war eine der perfektesten Freundschaften des Lebens – ein kleiner Junge und sein treuer Hund.

Eine Schicksalswendung von unglaublicher Grausamkeit brachte es mit sich, dass Gretel vor ein paar Monaten gestorben war. An Krebs.

Miranda und Jacob hatten versucht, Andrew zu erklären, dass es einfach nur ein schmerzhafter Zufall war, dass zehn Jahre für Gretel als eine Bernhardinerhündin ein hohes Alter waren und dass an Krebs zu erkranken nicht immer bedeutete, daran zu sterben. Andrew hatte gesagt, er würde es verstehen, doch manchmal glaubte Miranda, dass er das nur behauptet hatte, damit sie und Jacob nicht mehr darüber redeten. Sie hatte ihm vorgeschlagen, einen neuen Welpen zu holen, aber das hatte Andrew nur wütend gemacht.

„Warum soll ich denn einen neuen Hund haben, wenn der auch stirbt?“

„Denk an all die Liebe, die Gretel in dein Leben gebracht hat“, war Mirandas Antwort gewesen.

„Ich weiß nur, wie sehr ich sie vermisse.“

Miranda hatte das Thema nicht weiterverfolgt. Um die Wahrheit zu sagen, hatte sie befürchtet, dass ein junger Hund mehr Zeit und Energie erforderte, als sie aufbringen konnte. Sie hatte sich gesagt, dass sie mit Andrew noch einmal darüber reden würde, wenn es ihr besser ginge. Bald, dachte sie. Bald würden sie in einem Familienmeeting darüber sprechen müssen.

Was hatte sie gewöhnlich getan, bevor sie ihre Diagnose erhalten hatte? Sie konnte sich kaum daran erinnern. Es schien ihr, als wenn dieses Leben einer anderen Frau gehört hätte, einer Frau, die wie in einem Geschwindigkeitsrausch Familie und Arbeit gemeistert hatte und von einem vollgepackten Tag zum nächsten gehetzt war.

Nie wieder, dachte Miranda, während sie den Lachs würzte und auf einem Backblech in den Ofen schob. Sie hatte während ihrer Krankheit viel verloren, aber zumindest eines gewonnen: genug Weisheit, um zu erkennen, dass eine Frau, ob gesund oder krank, nicht so durchs Leben hetzen sollte, sondern sich auf die Dinge konzentrieren, die am wichtigsten waren – ihre Familie und Freunde. Ihre Leidenschaften, ihre Träume. Vorausgesetzt, dass sie nicht vergessen hatte, was diese Träume waren.

Eine Stunde später war das Abendessen so weit, doch ihre Familie nicht. Das Telefon klingelte, es war Jacob. „Es tut mir so leid“, sagte er. „Ich bin in einem Verkaufsmeeting mit dem Vize der West Sound Grocery stecken geblieben. Er hat seine Bestellung ständig erhöht, da konnte ich schlecht aus dem Meeting verschwinden.“ In Jacobs Stimme schwang ein Lächeln mit, als er hinzufügte: „Seinetwegen konnte ich viermal so viel Provision machen wie üblich. Es hat sich rausgestellt, dass er auch ein Fliegenangler ist.“

Sie konnte sich nicht erinnern, wann Jacob das letzte Mal zum Angeln gewesen war. „Na dann … gratuliere. Versuch, nach Hause zu kommen, bevor das Essen zu kalt geworden ist.“ Was hätte sie sonst sagen sollen?

Sie fühlte sich hin und her gerissen, als sie auflegte. Auf der einen Seite kam er zu spät nach Hause, und sie konnte mit Recht darüber verärgert sein. Andererseits verspätete er sich, weil er seine Familie ernährte, während Miranda mit ihrer Krankheit zu tun hatte.

Die zuschlagende Hintertür riss sie aus ihren Gedanken. „Hallo du“, sagte sie zu ihrer Tochter. „Ich hoffe, du hast Hunger.“

Valerie, fünfzehn, mürrisch und wunderbar, schüttelte ihre schwarze Jeansjacke ab. „Muss arbeiten“, sagte sie kurz angebunden. „Ich hab versprochen, heute früh zu kommen.“

Miranda sank das Herz. „Wie früh?“

„In einer halben Stunde.“

„Valerie. Schenk deiner Familie ein bisschen Zeit.“

Ihre Tochter ließ den Blick aus ihren schönen blauen Augen, die fast vollständig von einer Kruste kohlschwarzen Make-ups verschattet waren, durch den Raum schweifen. „Ich sehe keine Familie.“

„Setz dich bitte“, sagte Miranda resolut. „Ich hole Andrew.“

Sie fand ihren Sohn starr wie eine Statue vor dem Bildschirm sitzend. Das hingerissen dem Bildschirm zugewandte Gesicht war in das blaugraue Licht des Computers getaucht. Er schien sich überhaupt nicht zu bewegen, nur seine Hand auf der Maus rührte sich und steuerte das Geschehen auf dem Display.

„Abendessen, Kumpel“, sagte sie.

Keine Reaktion.

„Deine Schwester ist zu Hause, Dinner steht auf dem Tisch, und es ist Zeit zu essen“, versuchte sie es erneut.

„Kann jetzt nicht“, erklärte er, ohne aufzublicken. „Noch eine Minute.“

„Tut mir leid, das geht nicht. Schalte alles auf Stand-by oder was immer du dafür tun musst, und wasch dir die Hände.“

„Aber wenn ich jetzt aufhöre, verliere ich das ganze …“

„Andrew. Wenn du jetzt nicht Schluss machst, verliere ich etwas, das nichts mit Daten zu tun hat.“

Er stieß einen gequälten Seufzer aus, sicherte den Spielstand und stand auf, um sich die Hände zu waschen.

Miranda bemühte sich, eine fröhliche Stimmung zu verbreiten, als sie sich an den Tisch setzte. „Seht doch bloß, ein hausgemachtes Essen. Wann hatten wir denn so was zum letzten Mal?“

„Danke“, sagte Valerie und begann zu essen. Dabei warf sie einen Blick auf die Uhr über dem Herd.

„Ich weiß, dass das vergangene Jahr für euch ziemlich hart war“, sagte Miranda. „Ich hoffe, dass es von jetzt an wieder besser geht, Val. Der Arzt hat mir heute meine Entlassungspapiere gegeben. Keine Behandlungen mehr.“

Valerie begann langsamer zu kauen. Dann schluckte sie und nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. „Das ist also was Gutes, oder?“

„Es ist sehr gut. Ich werde noch etwas einnehmen, um das Wiederauftreten von Krebs zu verhindern, und muss mich alle drei Monate durchchecken lassen, dann alle halbe Jahre und so weiter. Ansonsten bin ich eine freie Frau.“

„Gut, da bin ich froh.“ Valerie begann wieder zu kauen.

Miranda betrachtete sie nachdenklich. Valeries Reaktion auf die Brustkrebserkrankung ihrer Mutter war kompliziert gewesen. Eine Kombination aus größtem Entsetzen, dem Gefühl, verraten worden zu sein, Wut und Groll. Schließlich ein ambivalentes Gefühl. In ihrem Alter konnte sie schon begreifen, dass ihre Mutter sterblich war. Und sie war intelligent genug, um sich ihr eigenes Risiko, daran zu erkranken, ausrechnen zu können.

Während Andrew sich in seine virtuelle Welt zurückzog, ging Valerie nach draußen auf der Suche nach einem Leben weit entfernt von ihrer Familie. Jedes der beiden Kinder suchte für sich den Rückzug, und Miranda konnte es ihnen nicht verübeln, auch wenn es wehtat. Valerie fand ihre Flucht und Ablenkung im Ruby Shoebox, ein Filmtheater für anspruchsvolle alte Filme im flippigen Ortsteil Capital Hill. Es war ihr erster richtiger Job. Sie hatte als Platzanweiserin angefangen und sich zur Kassiererin hochgearbeitet. Dort an jedem Freitag- und Samstagabend zu jobben machte sie unglaublich glücklich. Soweit Miranda das sagen konnte, hatte Valerie dabei auch einen ganz neuen Freundeskreis um sich versammelt – ältere Kids, die Zigaretten rauchten, Baskenmützen und Doc Martens trugen. Innerhalb von Monaten hatte Miranda beobachten können, wie sich ihre strahlende, fröhliche Tochter zu einer Fremden entwickelte. Sie kümmerte sich nicht mehr um ihre besten Freundinnen Megan und Lyssa und ignorierte Pete, den Nachbarsjungen, in den sie seit der sechsten Klasse verschossen war. Die alte Valerie war immer noch irgendwo da drinnen, aber Miranda hatte keine Ahnung, wie sie die wieder hervorlocken könnte. Sie wünschte, sie wüsste, wie sie Valerie wieder an die Dinge heranführen könnte, die sie so gern zusammen unternommen hatten. Die Bräuche, die sie früher gepflegt hatten und die inzwischen im Laufe der Ereignisse verloren gegangen waren.

Viel zu lange war sie hilflos gewesen, zu geschwächt von der Therapie, um sich richtig um ihre Kinder zu kümmern. Oh ja, sie war sehr wütend darüber gewesen. Sie hatte die Krankheit verflucht, weil sie aus ihr eine praktisch nicht vorhandene Mutter gemacht hatte.

„Ich möchte noch was sagen“, kündigte sie in einem Tonfall an, der Aufmerksamkeit forderte. „Wir müssen wieder eine Familie werden. Jetzt wo meine Therapie zu Ende ist, will ich daran arbeiten.“

„Ja, sag das mal Dad“, entgegnete Valerie.

„Das werde ich.“ Miranda konzentrierte sich wieder auf ihren köstlichen weißen Lachs und den frischen Salat. Endlich, endlich könnte sie das Essen wieder genießen, ohne den merkwürdigen metallischen Geschmack im Mund, der von ihren Medikamenten kam. „Ich habe mir den Schulplan angesehen“, erklärte sie leichthin. „In ein paar Wochen findet die Jahresabschlussfeier statt.“

Homecoming und alles, was damit zusammenhing, war in Valeries Schule eine große Sache und für die Sweeneys besonders. Das Spiel war nur eine Komponente von einem ganzen durchfeierten Wochenende. Ehemalige Schüler von überallher wurden eingeladen, die ihre sorgfältig aufbewahrten Sportjacken anzogen und Fähnchen schwenkten, die sie als Regionalchampions auswiesen, die öfter als andere Schulen in Washington gesiegt hatten. Valerie und Andrew waren mit den Geschichten darüber aufgewachsen, wie Jacob und Miranda sich auf dem Homecoming-Ball ihrer Highschool kennengelernt hatten. Das war 1986 gewesen, als sie beide im Abschlussjahrgang gewesen waren. Der Rest war, wie es so schön hieß, Geschichte.

„Das habe ich auch gehört.“ Valerie spießte mit der Gabel eine Kartoffel auf. „Ich habe nicht vor, hinzugehen, also freu dich nicht zu früh.“

„Was soll das heißen, du gehst nicht hin? Jeder geht zum Homecoming.“

„Ich aber nicht.“ Sie sah ihrer Mutter in die Augen und wich ihrem Blick nicht aus.

Das reichte Miranda, um sich wieder an das Desaster der letzten Homecoming-Feier zu erinnern. Für Valerie, die gerade neu auf die Highschool gekommen war, bedeutete das, an ihrem ersten Schulball teilzunehmen. Sie war schrecklich aufgeregt gewesen, weil sie von genau dem richtigen Jungen eingeladen worden war – Pete. Sie hatte das perfekte Kleid und die perfekt dazu passenden Schuhe ausgesucht und freute sich auf den perfekten Abend. Dann erfuhr sie, dass Mirandas Mastektomie für den Tag des Balls angesetzt worden war.

Miranda hatte sie gedrängt, trotzdem zu feiern, aber Valerie hatte sich geweigert. „Wie könnte ich denn?“, hatte sie gefragt und das Homecoming-Wochenende im Krankenhaus verbracht. Zusammen mit ihrem Vater saß sie während der gesamten Operation und der schrecklichen Wartezeit danach im Besucherraum. Während ihre Freunde auf dem Ball tanzten, beobachtete Valerie, wie ihre Mutter zu einer kranken Fremden wurde. Es war nicht alles glatt verlaufen. Es hatte Komplikationen gegeben. Und für Valerie bestand nun eine schreckliche Verbindung zwischen Homecoming-Feier und Krankheit und Sorge.

Alles in allem war es wahrscheinlich das fürchterlichste Wochenende in Valeries jungem Leben gewesen. Hier war sie nun ein Jahr später, eine andere Person, eine düstere Rebellin, die selten lächelte, sich verschlossen und misstrauisch gab und sich von Dingen fernhielt, die Mädchen in ihrem Alter liebten – Schule und Sport, mit Freundinnen herumzuhängen und sich auf Ereignisse wie den Homecoming-Ball zu freuen.

„Ich hoffe, du überlegst es dir noch anders“, sagte Miranda. „Ich verspreche dir, dass es dieses Jahr keine Krise geben wird.“

„Hab einfach keine Lust“, sagte Valerie. „Keine große Sache.“

Natürlich war es eine große Sache, das wusste Miranda genau, und Valerie auch. Irgendwo gefangen in dieser zynischen Fremden gab es das Mädchen, das gern im Dekorationsteam mitmachen und sich von Pete zum Tanzen einladen lassen würde. Das hätte Valerie zwar sofort geleugnet, aber Miranda wusste, dass es so war. Manchmal wollte sie diese bleiche Fremde mit den schwarzen Haaren gern schütteln und fragen: „Was hast du mit meiner Tochter angestellt?“

Sie nahm an, dass es Momente gab, in denen Valerie das Gleiche mit ihr machen wollte. Denn Miranda, die Mutter, die sie gehabt hatte, war ebenfalls verschwunden. Im vergangenen Jahr hatte es viele Situationen gegeben, wo Miranda in den Spiegel geschaut und eine Frau gesehen hatte, die ihr fremd war. Wenn sie sich selbst nicht wiedererkannte, wie sollte sie es dann von ihren Kindern erwarten?

„Warum nennt man das denn Homecoming?“, wollte Andrew wissen.

„Das ist eine Tradition. Vor langer Zeit wollten Schulen, dass ihre ehemaligen Schüler zurückkommen, um mit ihnen gegen ihren größten Sportrivalen anzutreten.“

Eine Hupe ertönte draußen. „Das ist meine Mitfahrgelegenheit“, sagte Valerie. „Ich muss los. Gegen elf bin ich wieder da.“ Sie sprang auf, trug ihren Teller zum Spülbecken und schnappte sich ihren Rucksack. „Ich habe mein Handy dabei, meine Hausaufgaben in der Schule gemacht, und jemand bringt mich wieder nach Hause.“ Sie ratterte die Antworten herunter, bevor Miranda die Fragen stellen konnte. „Ihr braucht nicht aufzubleiben und auf mich zu warten.“

Sie rauschte in ihren schwarzen Jeansklamotten und den Netzstrümpfen davon und hinterließ Schweigen. Normalerweise war Miranda eine Mutter gewesen, die die Initiative ergriff, das Leben ihrer Kinder regelte und immer den Überblick behielt. Sie war entschlossen, diese Kraft und Ausdauer wiederzuerlangen, um diese Rolle erneut zu übernehmen. Sie hoffte nur, dass es noch nicht zu spät war.

Jacob rief ein weiteres Mal an, um ihr zu sagen, dass er auf der Brücke 520, einer Pontonbrücke, die über den Lake Washington führte, im Stau steckte. Miranda stellte sein Essen beiseite, um es später für ihn in der Mikrowelle aufzuwärmen. Andrew belud den Geschirrspüler, ohne dass sie ihn darum bitten musste. Einer der wenigen Aspekte ihrer Krankheit, die sie begrüßte, war, dass der kleine Junge seine Pflichten nun ohne zu nörgeln übernahm. Obwohl es Momente gab, in denen sie fast wünschte, er würde sich mal wieder beschweren, nur um sich daran zu erinnern, dass er sie brauchte.

„Vielen Dank, du guter Kumpel“, sagte sie, als er die Maschine einschaltete.

„Nichts zu danken. Ich bin im Arbeitszimmer.“

Das war der Code für „Ich werde jetzt an meinen Computer in meine virtuelle Welt verschwinden, wo ich alles unter Kontrolle habe“.

Die Familientherapeutin, bei der sie gewesen waren, hatte lange mit ihr darüber gesprochen, wie sich häufig die Familiendynamik während einer schweren Krankheit veränderte. Das war ein natürlicher Prozess, der gewisse bekannte Stadien durchlief. Es gab Dinge, die Miranda einfach geschehen lassen musste, um sich auf das Gesundwerden konzentrieren zu können. Vieles von ihrer mütterlichen Betreuung musste sie aufgeben. Sie hatte nicht von einem Tag zum anderen darauf verzichtet. Es war ein schrittweiser Prozess des Rückzugs gewesen. Und sie würde ihn nicht über Nacht wieder rückgängig machen können, das war ihr klar. Als sie das endlich begriffen hatte, wusste sie, dass sich ihre ganze familiäre Struktur vollkommen verändern würde.

Während sie die Küche aufräumte, stieß sie auf einen Packen Informationsmaterial, den ihr der Therapeut mitgegeben hatte. Es gab viele Wege, eine Rehabilitation zu begleiten: Selbsthilfegruppen, Chatrooms im Internet und Mitteilungsblätter, Möglichkeiten, sich mit anderen Frauen auszutauschen, die wie Miranda der beängstigenden Aufgabe ins Auge sahen, ins normale Leben zurückzukehren.

Das Schwierigste war bei Weitem, wieder mit ihrer Familie vertraut zu werden. Miranda hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte. Bei Jacob, der seine Absolution suchte, indem er sein Arbeitspensum verdoppelte? Bei Valerie, die sich zu einem wütenden, distanzierten Teenager entwickelt hatte? Oder bei Andrew, der kaum über den Wortschatz verfügte, um seine tiefsten Ängste auszudrücken?

Sie stellte das Radio wieder an, gerade rechtzeitig, um den letzten Refrain von „Girls Just Wanna Have Fun“ zu hören. Die Musik hob ihre Laune, zumindest ein bisschen. Sie sagte sich immer wieder, dass sie einen Grund zum Feiern hatte und nicht zu viel auf einmal erwarten sollte.

Aber das tat sie. Sie wollte alles. Sie wollte ihr Leben zurück. Sie wünschte sich, dass ihre Tochter zum Homecoming-Ball ging, dass ihr Sohn mit seinem Fahrrad um den Block raste und Achselpupsen in der Badewanne übte. Sie wünschte sich, dass ihr Ehemann sie mit mehr als verzweifelter Liebe in den Augen ansah. Sie wollte Leidenschaft in seinem Blick erkennen. Oder was auch immer. Im Moment wäre sie schon froh, wenn er einfach zum Essen nach Hause käme.

3. KAPITEL

Jacob kam bei Sonnenuntergang nach Hause. Er sah gleichzeitig abgearbeitet, besorgt und atemberaubend gut aus. Mirandas Ehemann hatte ein wundervolles Gesicht mit den Zügen eines fröhlichen Jungen, der nie erwachsen wurde. Das hatte sie normalerweise gesehen, wenn sie ihn anschaute. Jetzt war tatsächlich jede Spur von Jungenhaftigkeit aus seinen Zügen verschwunden, er war durch die vielen Sorgen gealtert.

Im Moment hatte er ein „Entschuldige, ich bin zu spät“-Lächeln aufgesetzt und trug einen riesigen ausladenden Blumenstrauß mit Astern und Chrysanthemen in der Hand. Normalerweise bedeutete es, Eulen nach Athen zu tragen, wenn man Miranda Blumen brachte. Doch seit sie den Garten so vernachlässigte, waren frische Schnittblumen eine Rarität im Haus.

„Sieht ja aus, als wäre mir schon jemand zuvorgekommen“, sagte er mit Blick auf die Blumen, die sie vom Markt mitgebracht hatte.

„Das war ich“, gestand sie. „Ich habe sie mir selbst gekauft.“

„Ich habe auch Champagner dabei.“ Immer noch den Blumenstrauß in der Hand, beugte er sich zu ihr hinunter und gab ihr einen flüchtigen Kuss. Zu flüchtig. Gerade genug, um seinen Geschmack zu erahnen, die Form seiner Lippen zu spüren und ein kurzes Aufflackern dessen, was einmal die Leidenschaft gewesen war, die sie geteilt hatten. Wie so vieles andere hatte die Krankheit die Intimität ihrer Ehe zerstört. Miranda hatte nach der Operation eine lange Zeit der Erholung benötigt. Während der Bestrahlungstherapie hatte sie nicht einmal das Gewicht von Kleidung auf der Haut ertragen können, ganz zu schweigen von der Berührung, den Lippen ihres Mannes. Oft hatte sie sogar nachts bei einer Bewegung vor Schmerz aufgeschrien, wenn sich die Bettdecke verschoben hatte. Mehrere Tage während der folgenden Chemotherapie war sie zu gar nichts mehr in der Lage gewesen – und ganz sicher nicht zu Zärtlichkeiten mit ihrem Ehemann.

Er hatte sich während all dieser Zeit großartig verhalten. Besser als großartig.

Zu großartig.

Sie vermisste die Tage, bevor die Krankheit ausgebrochen war, wenn er beschwingt von der Arbeit kam, sie in die Arme zog und leidenschaftlich küsste. Oder wenn er sich hinter sie stellte, sobald die Kinder nicht da waren, an ihrem Nacken knabberte und ihr anzügliche Vorschläge ins Ohr flüsterte. Es war frustrierend für Miranda, dass sie sich so lebhaft an all das erinnern konnte, aber keine Ahnung hatte, wie sie dies alles zurückholen, wie sie wieder zu dieser sorglosen sexy Frau werden sollte.

Miranda wärmte sein Abendessen in der Mikrowelle auf und setzte sich zu ihm an den Tisch. Sie prosteten sich mit einem gekühlten Champagner zu, und sie genoss das prickelnde schäumende Gefühl am Gaumen. Jacob aß mit fast übertriebenem Appetit, schloss genießerisch die Augen und schwärmte dermaßen, dass sie lachen musste.

„Hast du es den Kindern schon erzählt?“, fragte er.

„Ja, habe ich. Sie schienen ein bisschen unterwältigt. Ich glaube, sie trauen dem Frieden nicht so ganz und denken, ich würde ihnen was vormachen. Sie scheinen sich nicht vorstellen zu können, dass ich gesund bin und bleibe.“

„Ach, komm, sie werden schon dran glauben.“

„Sie werden es lernen.“

Er sah sie an, sah sie wirklich an, lange. Trotz all der Veränderungen im vergangenen Jahr kannte Jacob sie sehr genau, bis in ihre tiefsten, intimsten Winkel, die auch die Krankheit nicht hatte zerstören können. „Was macht dir Sorgen?“

Sie goss sich ein zweites Glas Champagner ein. „Andrew ist von diesem Cyberspiel oder was immer das ist vollkommen besessen, und Valerie hat angekündigt, nicht zum Homecoming-Ball zu gehen.“

„Klingt ziemlich gewöhnlich für mich.“

„Nichts in dieser Familie ist mehr gewöhnlich, und das betrifft uns beide genauso.“

„Miranda …“

„Ich war zu erschöpft, um mich richtig damit zu befassen, aber jetzt bin ich wieder auf dem Weg in die Normalität. Und zwar in jeder Hinsicht. Du weißt, dass ich recht habe.“

„In jeder Familie gibt es Probleme. Wir haben das letzte Jahr überstanden. Dann werden wir alles andere auch schaffen.“ Er schob seinen Stuhl zurück. „Und das war das beste Dinner, das ich seit … vielleicht überhaupt jemals gegessen habe. Wirklich.“

Sie lächelte. „Gewöhn dich aber lieber nicht daran. Heute hatte ich Lust und Energie, und bei City Fish gab es frischen Lachs.“

„Auf jeden Fall vielen Dank. Das war ein echter Genuss.“ Er räumte den Tisch ab und spülte das Geschirr. So wie Andrew schien ihm diese anstandslose Übernahme von Hausarbeiten das Erringen eines guten Karmas zu bedeuten. Als würde sein gutes Benehmen Miranda dabei helfen, die Krankheit zu überwinden.

Dafür verspürte sie eine große Liebe und Dankbarkeit. Sie stand ebenfalls auf und ging zu ihm hinüber, um ihn zu umarmen. Er drehte sich so abrupt um, dass aus ihrer Zärtlichkeit ein kurzer, peinlicher Zusammenstoß wurde. „Entschuldige“, sagte er. „Ich mache mich besser mal an die Arbeit.“ Er zeigte auf seine Aktentasche, in der sich sein Laptop, der tyrannische BlackBerry und sein Übertragungsmodul für seine 48-Stunden-Erreichbarkeit aus aller Welt befanden. Er konnte auf Knopfdruck Bestellungen durchgeben und dafür sorgen, dass man sich zuverlässig und sofort um die Bedürfnisse seiner Kunden kümmerte. „Ich muss ein paar Bestellungen bearbeiten und alles für das große regionale Treffen morgen vorbereiten. Also, ich meine, wenn du mich nicht mehr brauchst.“

Wenn du mich nicht mehr brauchst. Miranda konnte sich nicht vorstellen, ihn nicht mehr zu brauchen, aber natürlich war das nicht so gemeint. Soweit es ihn betraf, hatte er sein Abendessen gehabt, alles aufgeräumt und somit seine Pflichten erfüllt.

„Ist schon okay“, sagte sie. Nicht weil es okay war, sondern weil sie das schon aus Gewohnheit sagte.

Er gab ihr einen flüchtigen Kuss und zog sich wieder zurück. „Danke noch mal für das wunderbare Essen, Schatz. Und gratuliere, dass du alles überstanden hast. Du bist die erstaunlichste Frau auf dem ganzen Planeten.“

Doch offensichtlich nicht erstaunlich genug, um ihn von seinen E-Mails und der Vorbereitung einer PowerPoint-Präsentation ablenken zu können. Bei dem Gedanken fühlte sie sich klein und unbedeutend. Sie verfluchte seinen Job, der ihn davon abhielt, sich mit ihr zu beschäftigen.

Sie erledigte irgendwelche anfallenden Hausarbeiten und brachte einen Stapel frischer Wäsche in Andrews Zimmer. Dort setzte sie sich aufs Bett und sah sich um. Ihr Sohn befand sich am Scheideweg zwischen einer Kindheit mit Spielzeugautos und Actionfiguren und einer mit Musik gefüllten und vom Telefon dominierten Pubertät. Offensichtlich bildeten Computerspiele die Brücke zwischen beiden Lebensphasen.

Sie ordnete ein paar Dinge in seinem Zimmer und stieß dabei auf einen Stapel überfälliger Bücher aus der Leihbücherei – „Die Enzyklopädie der Hunde“, „Der Familienhund“, „Wie erzieht man einen Hund richtig?“, „Das Welpenbuch“. Ausschließlich Lektüre über Hunde und Hundeerziehung. Für einen Jungen, der geschworen hatte, niemals wieder einen Hund haben zu wollen, schien er an dem Thema sehr interessiert. Dann ging sie ins Arbeitszimmer, wo er wie gewöhnlich vollkommen vom Computerbildschirm in Anspruch genommen wurde, ständig mit der Maus klickte und die Grafiken auf dem Bildschirm veränderte, wobei sich verschiedene Kästen mit Optionen öffneten.

„Hallo, Kumpel.“

„Hallo, Mom.“

„Wie wär’s, wenn du für heute mit dem Spiel eine Pause einlegst?“

„Das ist nicht so einfach. Ich muss einen Punkt finden, an dem ich aufhören kann.“

„Nicht schon wieder“, sagte sie in warnendem Ton. Sie hätte es natürlich ganz einfach mit einem Knopfdruck beenden können. Das erschien ihr jedoch kleinlich und war nicht gerade die richtige Lösung für das Problem. Außerdem, ob es ihr nun gefiel oder nicht, die Computerspiele waren Andrews ständige Begleiter gewesen, als sie zu krank gewesen war, um das zu tun, was Mütter gewöhnlich taten. „Also dann“, sagte sie und zog sich einen Stuhl an den Schreibtisch, „finden wir zusammen einen Punkt.“

Er warf ihr einen misstrauischen Blick zu.

„Wirklich, ich meine es ehrlich“, beteuerte sie. „Mich interessiert das.“

Es war ein Simulationsspiel. Obwohl er sein Bestes tat, um ihr die Story zu erklären und wie alles funktionierte, fand Miranda es ziemlich kompliziert. Sie hatte mehr oder weniger verstanden, worum es ging, dass eine Familie in einem gefährlichen Dschungel nach einem Schatz suchte. Beide Elternteile hatten Superkräfte und trugen ein Spezialabzeichen, das sie in irgendeiner Prüfung erworben hatten. Diese Abzeichen, wie Andrew erklärte, machten sie unsterblich.

„Hey, wo kann ich mich für so ein Abzeichen bewerben, das diese Frau da hat?“, scherzte Miranda.

„Sie musste ein Monster töten und einen Schatz aus seinem Nest stehlen.“

Miranda nickte und studierte die Mutter auf dem Bildschirm, die aussah wie eine Mischung aus Angelina Jolie und Mrs Doubtfire. Der Ehemann war ein Terminator, natürlich, das Vorbild für alle Cyberväter. Die beiden Jungen in der Familie besaßen ebenfalls besondere Fähigkeiten. Dann gab es noch einen Hund, einen jungen, ewig gesunden Hund.

„Sie sollten die Nacht in der Höhle verbringen“, schlug sie vor.

„Geht nicht.“ Er klickte mit der Maus und ließ sie weiterziehen. „Tollwütige Fledermäuse.“

„Und wenn sie die Meerenge mit diesem Boot überqueren?“

„Zu riskant. Jedes Mal wenn sie in ein Boot oder Flugzeug steigen, gibt es ein Unwetter.“ Er beschloss, das Spiel damit zu unterbrechen, indem er seine Familie Unterschlupf in einem Baumhaus hoch über dem Dschungel finden ließ.

„Das gefällt mir“, sagte Miranda, während sie beobachtete, wie die Spielcharaktere sich bequem auf den Ästen niederließen, wo sie sofort einschliefen. „Ich finde es super, wenn man sich durch einen unbewohnten Dschungel bewegt und plötzlich auf ein bequemes Baumhaus direkt über sich stößt, wenn man einen Platz zum Übernachten sucht.“

„Sehr komisch.“

Sie wurde wieder ernst. Für sie war der Grund für seine Besessenheit mit diesen Simulationsspielen kristallklar. Andrew selbst wusste es wahrscheinlich auch. In seiner Computerwelt hatte er alles unter Kontrolle. Außer den Monstern würde dort niemand sterben.

An diesem Abend verbrachte Miranda ein bisschen Zeit im Garten hinter dem Haus, inspizierte die alten Blumenbeete, die normalerweise um diese Zeit im Jahr so wundervoll blühten. Obwohl die Sommertage bereits kürzer wurden, war es noch immer hell, und über das fleckige Gras und die überwucherten Beete fielen lange Schatten.

Sie fand eine Blumenschere, die draußen im Regen liegen geblieben war. Sie war eingerostet, aber ein bisschen schnitt Miranda damit an den weit ausgeschossenen Rosenbüschen herum. Selbst die zäheste Pflanze bräuchte Zeit, um sich nach einem Jahr der Vernachlässigung wieder zu erholen. Ein paar von den besonders empfindlichen Gewächsen waren bereits aufgrund fehlender Pflege eingegangen. Vielleicht war es gut, dass der Sommer dem Ende entgegenging. Der Garten würde demnächst in den Winterschlaf fallen und im nächsten Frühjahr dann in einem besseren Zustand erwachen. Vergangenes Jahr um diese Zeit hatte sie die Gartenarbeit absichtlich links liegen lassen, weil sie immer daran denken musste, dass sie die nächste Blütezeit im Frühjahr nicht mehr erleben könnte. Nun konnte sie wieder an die Zukunft denken und verspürte dabei einen Hoffnungsschimmer.

Obwohl sie vorgehabt hatte, an ihren Pflanzen zu arbeiten, legte sie die rostige Schere schnell wieder beiseite und ging zurück ins Haus. Ein ständiges Müdigkeitsgefühl begleitete sie, etwas, an das sie bereits gewöhnt war und das sie mit Freuden bald hinter sich gelassen haben würde. Um halb zehn war sie praktisch schon am Schlafen und schaffte es nicht mehr, den internationalen Teil der Tageszeitung zu lesen.

„Ich gehe nach oben“, sagte sie zu Jacob.

„Ich warte noch auf Valerie.“

Am Fuß der Treppe zögerte sie. Sie wusste, wenn sie Jacob darum bat, mit ihr nach oben zu kommen, würde er das tun. Schließlich hatten sie etwas zu feiern. Aber sie war einfach nur müde – und er, den Blick stirnrunzelnd auf den Computerbildschirm gerichtet, in seine Arbeit vertieft.

Außerdem war ihr Liebesleben so gut wie nicht existent. Niemand von ihnen hatte das beabsichtigt, und sie hatten sich bemüht, ihr leidenschaftliches Zusammensein nicht aufzugeben. Sie war nicht besonders wild darauf, Jacob ihre rekonstruierte Brust zu präsentieren, doch sie wusste, wenn sie es weiterhin vermied, würde es nur noch schwieriger werden. Als sie ihm das Resultat kurz nach der Operation gezeigt hatte, hatte er die Brust spielerisch ausgetestet.

Jacob hatte all die richtigen Dinge gesagt: Für mich bist du schön; du bist immer noch die aufregendste Frau, die ich kenne; ich liebe alles an dir, besonders deine Tapferkeit.

Sie liebte ihn für seine Aufrichtigkeit, seine Treue. Doch gleichzeitig hatte sie sich bei dem Wunsch ertappt, wieder so auszusehen wie zu ihrer Hochzeit – beide zweiundzwanzig und frisch von der Uni.

Miranda war hin und her gerissen. Einerseits wollte sie ihn einladen, mit nach oben zu kommen, und ihn andererseits vertieft in seine Arbeit zurücklassen.

Sie entschied sich für einen Kompromiss. „Weck mich, wenn du ins Bett kommst.“

4. KAPITEL

Am nächsten Tag war sie mit ihrem Chef von Urban Ice verabredet, wo sie seit Andrews Einschulung gearbeitet hatte. In Seattle war der Verkauf von losem Eis und Kühlräumen für kommerzielle Betriebe ein wenig bekanntes, aber wichtiges Geschäft. Dank der regionalen und der Alaska-Fischindustrie gab es einen unerschöpflichen Bedarf an Eis.

Sie klopfte an Martys Bürotür und trat ein. Er hatte gerade Besuch von einem ihrer Lieblingskunden, Danny Arviat, ein Ureinwohner aus Sitka, Alaska. Sie scherzten ständig, dass sie sogar an Eskimos Eis verkaufen würde.

„Hey, da ist ja die Eiskönigin“, sagte Danny, stand auf und gab ihr zur Begrüßung die Hand.

„Ja, da bin ich.“ Sie lächelte, und Marty umarmte sie. „Wenn das nicht gute Zeiten sind …!“

„Ich wollte gerade gehen“, sagte Danny. „Es war schön, Sie wiederzusehen, Miranda.“

„Mich freut es auch.“

Marty wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Gratuliere zu Ihren guten Neuigkeiten. Wir haben Sie vermisst.“ Ihr Boss hatte nicht ungeduldig reagiert, als sie zu krank gewesen war, um zu arbeiten, und um eine zeitlich unbegrenzte Freistellung gebeten hatte. Von Beginn ihres Martyriums an hatte er nie Druck auf sie ausgeübt. Einer der wenigen Vorteile, wenn man krank wurde, war, herauszufinden, wie viel Freundlichkeit es im Leben gab. Menschen hatten ihr geholfen, Verständnis gezeigt oder sie einfach nur getröstet.

„Ich habe Sie alle auch vermisst.“ Irgendwie, dachte Miranda. Sie war gern mit ihren Kollegen zusammen gewesen, und ihre Firma hatte sie während ihrer Krankheit unterstützt. Es war mehr, als viele Leute von sich sagen konnten. Wenigstens hatte sie eine Arbeit gehabt.

Trotzdem war es kein Job, den sie jeden Tag voller Eifer angegangen war. Sie arbeitete dort, weil es sicher und vorhersehbar war, nicht weil sie es so wahnsinnig gern tat.

„Sie wissen, dass ich immer gesagt habe, dass es ohne Sie hier nicht dasselbe ist …“, begann Marty.

„Oh, oh.“ Sie beobachtete seine Haltung, die verkrampften Schultern. „Warum lässt mich das nur Unangenehmes ahnen?“

Er nahm seine Brille ab und rieb sich die Schläfen. „Miranda, Sie erinnern sich wahrscheinlich, dass die Geschäfte nicht so gut liefen. Unsere Bilanzen sehen nicht so erfreulich aus.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie mich nicht zurückhaben wollen?“ Ihr zog sich der Magen zusammen.

„Natürlich wollen wir Sie zurückhaben. Aber … wir haben unser Budget bis zum Ende des Quartals vorgeplant und …“ Er schüttelte den Kopf, sein freundliches Gesicht war von Sorgenfalten durchfurcht. „Was ich sagen will, ist, wir können Sie erst wieder zum nächsten Quartal einstellen. Wenn Sie in der Zwischenzeit etwas Besseres gefunden haben, hätte ich dafür Verständnis.“

„Ach so.“ Sie war überrascht, dass sie fast so etwas wie Erleichterung empfand. „Verstehe.“

„Hören Sie, wenn Sie etwas brauchen …“

„Mir geht es gut, Marty, danke. Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen.“

Sie verließ das Büro in der Innenstadt mit einem äußerst … zwiespältigen Gefühl. Sie war nicht gerade begeistert davon, Jacob zu berichten, dass sie nicht gleich wieder anfing zu arbeiten. Andererseits war sie nicht unbedingt traurig darüber, dass ihre Pause noch ein bisschen verlängert wurde.

Eine gute Aussicht war, dass sie ihre beiden besten Freundinnen zum Kaffee treffen würde. Sophie Bellamy, Lucy Rosetta und Miranda waren während des Studiums an der Universität von Washington Zimmergenossinnen gewesen und hatten seitdem immer engen Kontakt zueinander gehalten. Als Miranda die First Avenue entlangging, erhaschte sie im Vorbeigehen einen Blick auf sich in einer Schaufensterscheibe. Wer ist diese Frau? fragte sie sich. Es war ihr immer noch nicht klar.

Sie hatten sich im Café Lucia verabredet, einer Espressobar in italienischem Stil, die Lucy gehörte. Das Lokal befand sich in einer Fußgängerzone mit Kopfsteinpflaster neben dem Markt. Unterwegs machte sie an einem Blumenstand halt, um ein kleines Sträußchen für Lucy mitzunehmen.

Das starke Aroma von importiertem Lavazza-Kaffee empfing sie zusammen mit dem Gurgeln und Zischen der Espressomaschine. Zwei der sechs Tische mit Majolika-Platten im Café waren besetzt. Miranda ging zum Tresen und blieb vor einer Auswahl von Sfogliatelle und Biscotti stehen.

„Du siehst beschäftigt aus“, sagte sie.

„Immer.“ Lucy Rosetta strahlte, als sie hinter dem Tresen hervorkam und Miranda umarmte. „Ich mache uns einen Kaffee.“

Miranda fühlte sich in Lucys Gesellschaft sofort besser. Lucy wusste genau, was wichtig für sie war. Wenn eine Freundin hereinkam, ließ sie alles stehen und liegen. Sie brachte ein Tablett mit zwei Cappuccinos und Biscotti, und sie setzten sich zusammen an einen Tisch. Lucy hatte diesen besonderen Platz als sorgenfreie Zone deklariert. In der Mitte neben der Blumenvase stand ein kleines Schild, auf dem das Wort „Sorgen“ durchgestrichen stand.

„Sophie hat gerade angerufen“, sagte Lucy. „Sie kommt ein bisschen später.“

„Das ist schon in Ordnung. Lass mich mal die Blumen in die Vase stellen.“ Miranda blickte sich im Lokal um. „Ich werde sie auf die ganzen Tische verteilen.“

„Das musst du doch nicht“, sagte Lucy.

„Es dauert dreißig Sekunden“, versicherte ihr Miranda, die für jeden Tisch ein kleines Bouquet zusammenstellte. „Sieh doch, wie anders das schon aussieht.“

„Du hast recht, wie immer“, sagte Lucy. „Ich wünschte, ich hätte auch so ein Händchen dafür wie du.“

Sophie Bellamy kam hereingerauscht und gesellte sich zu ihnen, bepackt wie üblich mit ihrem Aktenkoffer, einer Hand- und einer Einkaufstasche. Es gab einen Wirbel von Umarmungen und Hallos, und Sophie bestellte das Übliche, einen doppelten Espresso.

Die drei waren ein buntes Trio, doch ihre Unterschiedlichkeit sorgte für eine lebendige Freundschaft. Lucy, die kreative Bohème, hielt sich weiter fest an ihrem Traum, das Café zu führen. Sophie verfolgte eine abwechslungsreiche, hoch dotierte Berufskarriere. Miranda hatte den traditionellen Weg mit Ehe, Kindern und einem Eigenheim mit weißem Gartenzaun gewählt. Sie pflegten scherzhaft zu sagen, wenn sie ihrer aller Lebensläufe zusammenstellten, hätten sie eine Frau mit einem perfekten Leben, die ihre Träume auslebte.

Vergangenes Jahr hatten sie diese humorvolle Bemerkung nicht mehr geäußert. Das Jahr, in dem Miranda krank wurde, Sophies Ehe auseinanderbrach und Lucy eine zweite Hypothek aufnehmen musste, um das Café am Laufen zu halten. Wenn man ihre Leben jetzt zusammennehmen würde, hätten sie die perfekte Dr.-Phil-Show.

Miranda stand auf und umarmte ihre Freundin. „Ich freue mich so, dass du da bist.“

„Leider nicht lange. In zwei Stunden fliege ich nach New York.“ Sophies Anwaltspraxis für internationales Recht hatte ihr einen Fall übertragen, für den sie alle zwei Wochen nach Seattle pendelte. „Aber erzähl mir bitte was Schönes. Das brauche ich jetzt.“

„Ich habe meine Therapie beendet“, verkündete Miranda. „Der Arzt hat mir gestern praktisch meine Entlassungspapiere überreicht. Ich kann mich wieder in den Wettlauf des Lebens einreihen.“

Lucy strahlte. „Das ist ja fantastisch – oder etwa nicht?“

„Ganz schön fantastisch. In absehbarer Zukunft bin ich eine freie Frau.“

Lucy brach plötzlich in Tränen aus. Sie schlug sich eine Serviette vor das Gesicht. „Tut mir leid“, sagte sie.

„Schon okay“, versicherte Miranda ihr. „Ich bin noch viel zu betäubt, um zu heulen. Wahrscheinlich hole ich das später nach. Das Verrückte ist“, gestand sie, „jetzt, wo ich nicht mehr gegen den Krebs ankämpfen muss, weiß ich gar nicht, was ich mit mir anfangen soll.“

„Alles, was du willst, natürlich“, sagte Lucy mit einer weit ausholenden Handbewegung.

„Der Gedanke gefällt mir, aber das ist nicht so einfach. Im vergangenen Jahr ist meine Behandlung mein Lebensinhalt geworden. Jetzt, wo es vorbei ist, habe ich überhaupt kein Leben mehr.“

„Ach Schätzchen“, meldete sich Sophie. „Du stehst einfach unter Schock, aber das ist doch wundervoll. Deine Therapie ist durch. Du hast dein Leben zurück.“

„Ja und nein. Ich kann das letzte Jahr nicht einfach ignorieren und so tun, als wäre nie was gewesen. Ich habe mich verändert. Meine … Ehe ist nicht mehr dieselbe. Unsere Familie ist eine andere als vorher.“ Da, sie hatte es gesagt. Sie hatte ihre tiefsten Ängste laut ausgesprochen, diese Furcht, die fast bedrohlicher war als die Krankheit.

„Dann fang wieder von vorn an und verändere alles“, sagte Lucy wie selbstverständlich. „Das ist die beste Gelegenheit.“

„Es ist ja nicht so, dass vorher alles total perfekt war“, gestand Miranda. „Jacob war nicht sehr oft zu Hause, die Kinder hatten ihre Höhen und Tiefen, ich hatte die üblichen Probleme bei der Arbeit.“

„Und jetzt hast du die Chance, dein Leben noch besser zu gestalten als vorher“, betonte Sophie.

Lucy nickte bestätigend. „Sie hat recht, Miss Miranda, du Wundermädchen. Was wirst du mit dem Rest deines Lebens anstellen?“

„Das liebe ich so an euch.“ Miranda nahm einen Schluck von ihrem Cappuccino. „Ihr macht es nicht zu kompliziert. Du lebst deinen Traum aus, Lucy. Als wir an der Uni waren, hast du immer getönt, du willst ein Café haben wie das Gambrinus in Naples. Und so ist es.“

„Danke, dass du das sagst. Ich muss aber noch ganz schön viel tun, damit man dieses Lokal hier mit dem Gambrinus vergleichen kann.“

Miranda fühlte sich so viel besser in Gesellschaft ihrer Freundinnen. Sie war dankbar, dass die beiden hier waren, ihr zuhörten und mit ihr plauderten, obwohl Lucy wahrscheinlich im Café tausend Dinge zu erledigen hatte und Sophie ihr Flugzeug erreichen musste. Sophie war andauernd beschäftigt, immer unterwegs. Nach dem College hatte sie ein Jurastudium absolviert und war an die Ostküste gezogen. Dort hatte sie geheiratet, zwei Kinder bekommen und war Partnerin in einer Anwaltskanzlei geworden – das perfekte Leben.

Vergangenen Sommer hatte sie sich scheiden lassen.

Wie immer sah Sophie wunderschön aus und wie die erfolgreiche Businessfrau, die sie war. Doch Miranda wusste, dass ihre Freundin noch immer unter der Einsamkeit und den Veränderungen nach der Trennung von ihrem Mann litt. „Wie geht es dir und den Kids?“, erkundigte sie sich. Sophies Kinder Daisy und Max waren ungefähr in dem Alter wie Valerie und Andrew.

„Gut, denke ich. Daisy bewirbt sich eifrig bei den Universitäten für kommenden Herbst. Max hat inzwischen schon ein bisschen besser lesen gelernt. Sie sind traurig wegen der Scheidung. Welches Kind wäre das nicht?“ Ihr Gesicht hellte sich etwas auf. „Zum Columbus Day werden wir übers Wochenende vier Tage wegfahren. Ich nehme sie mit in die Catskills zu diesem unglaublichen Haus, das meinen Exschwiegereltern gehört.“ Sie nippte an ihrem Cappuccino. „Manchmal vermisse ich die Bellamys mehr als Greg.“

Miranda hörte die Verletztheit in Sophies Stimme, als sie die Eltern ihres Exmannes erwähnte. Da sie selbst kaum Familienangehörige besaß, hatte Sophie ein enges Verhältnis zu ihnen aufgebaut. „Das wundert mich nicht, dass du sie vermisst.“

„Mehr, als ich mir jemals vorgestellt hätte. Und sie sind immer noch so herzlich zu mir.“ Sie blinzelte, um die aufsteigenden Tränen zu vertreiben.

Lucy schob ihr die Platte mit den Biscotti hinüber. „Ach Sophie. Es gab nur eins, was dich unglücklicher gemacht hat, als von Greg geschieden zu sein. Das war die Ehe mit ihm.“

„Stimmt.“ Sophie kämpfte sichtlich gegen ihre trübe Stimmung an. Sie rührte mit einem Biscotto in der Tasse.

„Du hast den Namen deines Mannes behalten“, stellte Lucy fest.

„Kannst du mir das verübeln mit einem Geburtsnamen wie Wiener? Außerdem habe ich unter dem Namen meinen beruflichen Erfolg aufgebaut und die Partnerschaft gegründet. Bellamy steht auf meinem Briefkopf. Mit dem Namen habe ich ja keine Probleme. Das Problem war meine Ehe.“

Miranda hatte das Gefühl, als würde sich ein Schatten über ihr Herz legen.

„Süße, was ist los?“, erkundigte sich Lucy.

Miranda starrte auf ihre Hände, die sie in den Schoß gelegt hatte. Diese Frauen kannten sie zu gut. Sie atmete tief durch und berichtete ihnen, was letzte Nacht passiert war – oder besser gesagt, was nicht passiert war. „Er meint, ich hätte so fest geschlafen, deshalb wollte er mich nicht stören.“

Lucy betrachtete sie nachdenklich. „Wie fühlst du dich deshalb?“

Miranda schüttelte den Kopf. „Ich fühle mich wie eine Verräterin, dass ich mich überhaupt beschwere. Ich meine, Jacob war die ganze Zeit über einfach großartig. Aber ich möchte, dass wir wieder ein Paar sind, nicht Patientin und Krankenpfleger.“

„Obwohl er ja einen sehr süßen Krankenpfleger abgibt“, betonte Lucy.

„Du solltest es ihm sagen“, riet ihr Sophie. „Setz dich mit ihm zusammen, sieh ihm in die Augen, und erkläre ihm, was du brauchst und möchtest. Und wenn ihr schon dabei seid, kannst du ihn auch gleich fragen, was er braucht und möchte. Du könntest über seine Antworten überrascht sein.“

„Das gefällt mir“, witzelte Lucy. „Wie kommt es, dass du so weise bist, Sophie?“

Sie lächelte traurig. „Wenn Greg und ich uns daran gehalten hätten, wären wir vielleicht noch verheiratet. Es ist immer leichter, in Bezug auf die Eheprobleme anderer weise zu sein, weil man selbst nicht dafür arbeiten muss.“ Sie tätschelte Lucys Hand. „Du bist hier eigentlich die Schlaue, weil du Single geblieben bist.“

„Wie kommt es dann bloß, dass ich mich gar nicht so schlau fühle?“ Lucy schloss mit einer weit ausholenden Handbewegung das ganze Café ein. „Ich habe das Lokal vor zehn Jahren eröffnet. Ich weiß, dass ihr beide der Meinung seid, ich würde meinen Traum leben. Aber die Wahrheit ist, dass ich gerade mal so über die Runden komme. Dummerweise lernt man beim Träumen nicht, wie man sich um Kleinigkeiten wie die Bilanzen kümmert.“

„Ach Lucy.“ Miranda war entsetzt. Das war noch etwas, das sie während ihrer Krankheit vernachlässigt hatte. Immer gezwungen, sich auf ihre Therapie zu konzentrieren, war sie eine schlechte Freundin gewesen. „Läuft das Geschäft nicht besser?“

„Ich muss etwas verändern.“

„Was zum Beispiel?“

„Ich werde mir den Gewerberaum mit jemandem teilen müssen, das heißt die Hälfte des Cafés vermieten. Die Miete bringt mich um, deshalb habe ich diesen Entschluss gefasst.“

„An wen vermieten?“, wollte Sophie wissen.

„Gute Frage. Ich habe mir da ein paar Möglichkeiten überlegt – ein Buch- und Zeitschriftenladen würde gut passen. Karten und Schreibwaren. Wolle vielleicht oder Quilts.“ Sie warf einen Blick auf die Blumen, die Miranda auf den Tischen verteilt hatte. „Hey, vielleicht ein Blumenladen.“

Als Miranda jünger gewesen war, hatte sie sich immer vorgestellt, in ihrem Körper eine Stimmgabel zu haben. Eine, die anfing zu summen, wenn der richtige Ton angeschlagen wurde. Das Gefühl hatte sie jetzt. Bei Lucys Worten spürte sie eine Vibration in ihrem Innern. Doch sie hatte sich abgewöhnt, darauf zu hören. „Ich wünschte, ich könnte dir helfen.“

„Ach, ich brauche keine Hilfe, sondern eine richtige Geschäftspartnerschaft. Bis zum Ende des Jahres halte ich noch durch. Aber im Januar muss was passieren. Ich hoffe, die richtige Person kommt einfach mal durch die Tür hereingelaufen – wumm!“

Miranda lächelte. „Was stellst du dir vor? Einen Kaffee- und Zeitungsstand?“

„Davon gibt es Dutzende.“

„Ein Kaffee-Musikladen?“

„Da ist einer nicht mal einen halben Block entfernt.“

Autor

Linda Lael Miller
<p>Nach ihren ersten Erfolgen als Schriftstellerin unternahm Linda Lael Miller längere Reisen nach Russland, Hongkong und Israel und lebte einige Zeit in London und Italien. Inzwischen ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt – in den weiten „Wilden Westen“, an den bevorzugten Schauplatz ihrer Romane.</p>
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