Collection Baccara Band 374

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NICHT LÜGEN - LIEBEN! von SIMS, JANICE
Können diese Augen lügen? Sobald Tennison West sie ansieht, spürt Lana brennendes Begehren. Der Filmemacher ist so ganz anders als ihr betrügerischer Ex! Doch nach einer leidenschaftlichen Nacht entdeckt sie, dass auch Tennison nicht der ist, für den sie ihn hielt …

DIE MACHT DER SINNLICHKEIT von GATES, OLIVIA
Sinnliche Funken sprühen zwischen Milliardär Rafael Salazar und der unbekannten Schönen, die plötzlich im Ballsaal seiner Villa auftaucht. Mit unerklärlicher Macht fühlt er sich zu ihr hingezogen. Aber kaum hat er sie verführt, erfährt er: Sie ist die Tochter seines Feindes!

SO STILLST DU MEIN VERLANGEN von GERARD, CINDY
Prinzessin Anna ist unerreichbar für den bürgerlichen Unternehmer Gregory Hunt. Das hat sie ihm nach ihrer heimlichen Kurzaffäre klargemacht. Trotzdem zögert er nicht, als sie jetzt seine Hilfe braucht. Nur wie soll er das Verlangen stillen, das Anna immer noch in ihm weckt?


  • Erscheinungstag 06.12.2016
  • Bandnummer 0374
  • ISBN / Artikelnummer 9783733724320
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Janice Sims, Olivia Gates, Cindy Gerard

COLLECTION BACCARA BAND 374

JANICE SIMS

Nicht lügen – lieben!

Endlos lange Beine, glänzend rotbraune Locken und goldgesprenkelte Augen: Lanas Schönheit lässt den Undercover-Agenten Tennison alles andere als kalt. Und ehe er sichs versieht, steckt er mitten in einer heißen Affäre mit ihr. Doch Vorsicht! Je näher er der Ex des gesuchten Betrügers kommt, umso größer ist die Gefahr, dass sie seine wahre Identität entdeckt!

OLIVIA GATES

Die Macht der Sinnlichkeit

Eliana hat noch nie einen Mann wie Rafael Salazar getroffen – geheimnisvoll, mächtig, unwiderstehlich! Sie weiß, dass der Selfmade-Milliardär getrieben ist von etwas Dunklem. Trotzdem kann sie seiner magischen Anziehung nichts entgegensetzen und gerät immer mehr in seinen sinnlichen Bann. Da muss sie plötzlich fürchten, selbst Spielball seiner Rache zu sein …

CINDY GERARD

So stillst du mein Verlangen

Ausgerechnet ihre einstige große Liebe Gregory Hunt! Der texanische Unternehmer ist der Einzige, den Prinzessin Anna um Hilfe bitten kann, als sie verfolgt wird. Jetzt sieht sie ihn zum ersten Mal seit Jahren und fühlt sie sich sofort wieder zu ihm hingezogen. Aber neben ihrer adligen Herkunft steht nun auch noch Annas Geheimnis zwischen ihnen …

1. KAPITEL

„Willst du dein Leben zurück?“, fragte Grant Robinson und schaute Lana Corday unbeirrt in die großen braunen Augen.

Lana schluckte und blickte nach unten. Grant war ihr Anwalt und einer der wenigen Männer, denen sie noch vertraute. Wie üblich war er tadellos gekleidet und trug einen maßgeschneiderten Anzug. Er saß hinter seinem großen Schreibtisch aus edlem Kirschholz, doch Lana war zu aufgebracht, um sich ebenfalls zu setzen.

Grant konnte sehen, dass sich in Lanas Innerem ein Kampf abspielte. Er betrachtete ihr Gesicht, die feinen Sommersprossen auf ihrem geraden Nasenrücken. Ihr Gesicht konnte vielleicht nicht im klassischen Sinne als schön bezeichnet werden, doch ihre weit auseinanderstehenden dunklen Augen und der wohlgeformte Mund mit den vollen Lippen waren unbestreitbar sehr anziehend.

Wie Lana wohl im Bett ist? fragte Grant sich. Ein vollkommen unangebrachter Gedanke, schließlich war er ihr Anwalt. Doch er war auch ein Mann! Mit ihrer braun gebrannten Haut, den goldgesprenkelten Augen und den schulterlangen rotbraunen Haaren, die sie ihrem irischen Urgroßvater zu verdanken hatte, war Lana eine verdammt erotische Frau.

Lana seufzte und lief zu dem großen Panoramafenster, von dem aus sich ein fantastischer Blick auf die Bucht von San Francisco und die Golden Gate Bridge bot. San Francisco war immer schon die Stadt ihrer Träume gewesen. Sie liebte das Museum of Modern Art. Und sie genoss es, die Fisherman’s Wharf entlangzuschlendern und den Spaziergang mit einem Abendessen bei Alioto’s zu beschließen. Doch jetzt hatte die Stadt ihren Reiz für sie verloren.

Sie wandte sich zu Grant um. Er blickte sie an, einen fragenden Ausdruck auf seinem attraktiven Gesicht. Mit einer frustrierten Geste fuhr er sich durch das dichte dunkle Haar, das an den Schläfen schon leicht ergraute. Grant seufzte. „Was sagst du, Lana? Er hat dich verlassen. Es wird Zeit, dass du dir das endlich eingestehst.“

„Er ist zusammen mit seinem Boot in die Luft geflogen. Er hat mich nicht verlassen. Er ist gestorben“, erwiderte Lana. Noch immer hielt sie an der Überzeugung fest, dass Jeremy tot und nicht der Kriminelle war, für den Grant und verschiedene andere Leute, unter anderem auch das FBI, ihn hielten.

Wieder sah Lana auf die Bucht hinunter und dachte an den schicksalhaften Tag vor sechs Monaten, als Jeremy sie zum Abschied geküsst hatte, bevor er zu ihrer gemeinsamen Jacht gegangen war, um aufs Meer hinauszufahren. „Nur ein paar Stunden, um einen klaren Kopf zu bekommen, Liebling“, hatte er leichthin gesagt, bevor er für immer aus ihrem Leben verschwunden war.

Minuten später war sie den Steg, der an ihr Wassergrundstück angrenzte, in Richtung des Bootshauses entlanggehetzt. Entsetzt hatte sie auf die noch rauchenden Trümmer geblickt, die von der Jacht übriggeblieben waren und nun, kaum fünfzig Meter vom Liegeplatz entfernt, auf den Wellen trieben. Die Jacht war explodiert, kurz nachdem Jeremy losgefahren war.

„Es gibt keinen Beweis, der für Jeremys Anwesenheit an Bord spricht. Glaub mir, wenn er tatsächlich an Bord der Jacht gewesen wäre, hätten die Gerichtsmediziner wenigstens DNA-Spuren gefunden. Zwei Tage später hätte er vor Gericht gestanden und sich gegen Unterschlagungsvorwürfe verteidigen müssen – dann wäre er wahrscheinlich für sehr lange Zeit hinter Gittern verschwunden. Und das wollte er nicht. Deshalb hat er die Jacht so manipuliert, dass sie in die Luft flog, und ist abgehauen. Wahrscheinlich hat er gehofft, dass er die Behörden so davon überzeugen könnte, dass er tot ist.“

Trotzig schüttelte Lana den Kopf. Sie umklammerte das goldene Medaillon, das sie um den Hals trug. Ein Geschenk von Jeremy. „Nein, er hat mich geliebt. Das hätte er mir niemals angetan. Er muss tot sein.“

Nicht zum ersten Mal erlebte Grant dieses Verhalten. Die verlassene Ehefrau, die sich nicht eingestehen will, auf einen Betrüger hereingefallen zu sein. Die immer noch loyal an ihm hängt und hofft, dass sich alles als ein Irrtum herausstellen wird.

Und Lana Cordays Mann war ein besonderes Kaliber: Er wurde beschuldigt, fast eine halbe Milliarde Investorengelder in die eigene Tasche gewirtschaftet zu haben. Geld von Investoren, die an ihn geglaubt hatten. Viele von ihnen hatten ihm ihre ganzen Ersparnisse anvertraut und dann alles verloren, was sie sich mit harter Arbeit für den Ruhestand zurückgelegt hatten. Seitdem Jeremy angeblich mit seiner Jacht in die Luft geflogen war, war es den Ermittlungsbehörden gelungen, einen kleinen Teil des zur Seite geschafften Geldes wieder aufzuspüren. Der Großteil war allerdings immer noch unauffindbar.

Lana schien jedoch weiterhin glauben zu wollen, dass ihr Ehemann tot war und nur aus diesem Grund nicht vor Gericht erscheinen und der Welt beweisen konnte, dass er nicht der Bösewicht war, als den die Presse ihn darstellte.

Doch durch ihre Verbindung zu ihm wurde auch Lanas Ruf in Mitleidenschaft gezogen. Bevor die ersten Anschuldigungen gegen ihren Mann laut wurden, war Lana als Innenarchitektin sehr erfolgreich gewesen. Jetzt sprang ihr eine Kundin nach der anderen ab. Jeremys Vermögen war eingefroren worden, und Lana hatte nichts, bis auf das bisschen Ersparte aus der Zeit vor ihrer Ehe und das, was sie verdiente.

Allerdings reichte das inzwischen fast nicht einmal mehr, um ihre Rechnungen zu bezahlen.

Grant wies auf den Ledersessel, der vor seinem Schreibtisch stand. „Setz dich, Lana, und hör mir zu.“ Er beobachtete sie, als sie sich hinsetze. Sie trug ein cremefarbenes, ärmelloses und figurbetontes Kleid, das ihr bis zu den wohlgeformten Knien reichte und ihren schlanken Körper betonte. Ihr Stil war klassisch und gleichzeitig lässig.

Lana überschlug die Beine und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Grant fiel auf, dass sie seit ihrem letzten Treffen schmaler geworden war. Lana war immer schon schlank und athletisch gewesen und hielt sich durch Laufen, Hanteltraining und Yoga in Form. Jetzt befürchtete Grant jedoch, dass sie es mit dem Training übertrieb. Es schien ihm fast, als ob sie so versuchte, vor ihren Problemen davonzulaufen.

Grants Stimme wurde ganz sanft. „Ich habe die Scheidungspapiere aufgesetzt, Lana. Du brauchst nur noch zu unterschreiben. Wir sind seit vielen Jahren befreundet. Wir waren sogar schon Freunde, bevor du Jeremy kennengelernt hast, wenn ich das erwähnen darf. Ich würde es dir nicht vorschlagen, wenn ich nicht sicher wäre, dass du so deine finanziellen Probleme lösen kannst.“

„Ich habe dich nicht darum gebeten, Scheidungspapiere aufzusetzen!“, rief Lana aufgebracht. Sie blitzte ihn wütend aus ihren braunen Augen an.

„Hör mich erst zu Ende an“, bat Grant. „Wenn du dich von Jeremy scheiden lässt, signalisierst du deutlich, dass du dich von ihm und dem, was er getan hat, distanzierst. Sieh es doch mal von der praktischen Seite. Das Haus und alles andere von Wert ist von der Regierung beschlagnahmt worden. Du wohnst in einer Einzimmerwohnung. Du hast fast keine Kunden mehr. Du kannst doch nicht von nichts leben. Ich weiß, dass du gut zurechtgekommen bist, bevor du Jeremy getroffen hast, und ich weiß, dass du das auch wieder schaffen wirst. Aber nicht, solange du weiterhin mit ihm in Verbindung gebracht wirst. Du musst ein klares Zeichen setzen, wenn du dein Leben zurückhaben willst.“

Lana erhob sich abrupt. Ihr standen die Tränen in den Augen. „Ich muss darüber nachdenken“, entgegnete sie in einem bestimmten Tonfall.

„Tu das“, entgegnete Grant immer noch ganz sanft. „Aber ich möchte noch eine letzte Sache sagen. Hör auf, dich selbst zu bestrafen. Du hast abgenommen und dir die Haare abgeschnitten. Außerdem denke ich, dass du es mit dem Laufen übertreibst. Habe ich recht?“

Grant blickte in ihr gequältes Gesicht, während er die Antwort abwartete. Er wusste, dass er einen Nerv getroffen hatte.

„Nur dadurch bin ich nachts müde genug, um überhaupt einzuschlafen“, murmelte sie zu ihrer Verteidigung. „Ich will kein Schlafmittel nehmen.“

„Und das ist gut so. Aber ich bitte dich auch, zu Hause in den Spiegel zu gucken und dich zu fragen, weshalb du dir das antust – für einen Mann, der dich nicht verdient hat. Du stammst aus einer starken Familie. Ich weiß noch, wie du mir erzählt hast, dass dein Vater eine ganze Familie gerettet hat, nachdem deren Boot in der Nähe von Pea Island gesunken ist. Was würde er sagen, wenn er dich so sieht?“

Grant konnte sehen, wie sehr dieser Gedanke Lana aus der Fassung brachte.

„Hast du deinem Vater überhaupt erzählt, was du gerade durchmachst?“

„Er weiß nur das Nötigste“, gab Lana zu. „Er hat mir gesagt, dass ich nach Hause kommen soll.“

„Warum tust du nicht genau das?“

„Weil ich auf mich selbst achtgeben kann.“ Sie nahm ihre Jacke. „Danke, Grant. Ich muss jetzt gehen.“

Lana zog die Jacke über. Es war zwar bereits März, und der Frühling war angebrochen, doch morgens war es noch recht frisch.

„Warte nicht zu lange mit der Entscheidung. Warum unterschreibst du nicht und fährst dann für ein paar Monate zu deinem Dad? Wenn du zurückkommst, bist du wieder frei und kannst dein Leben neu beginnen.“

Auf dem Weg zu den Aufzügen hallten Grants letzte Worte noch in Lanas Kopf nach. Sie lachte leise in sich hinein. Grant war so ein Optimist. Als ob es so einfach wäre, ihr Leben wieder neu zu beginnen. Wie sollte das gehen, nachdem sie herausgefunden hatte, dass die Liebe ihres Lebens ein Krimineller war? Vielleicht wirkte sie nach außen wie die trauernde Witwe, aber ihr Vater hatte keine Närrin großgezogen.

Von klein auf hatte sie mit Booten zu tun gehabt, schließlich war ihr Vater von Beruf Fischer. Sie kannte die Jacht in- und auswendig und wusste, dass ein Boot nicht einfach so in die Luft flog. Nein, jemand hatte es manipuliert. Der Brandexperte hatte gesagt, dass es ein Leck an der Benzinleitung gegeben hatte.

Aber Lana wusste genau, dass die letzte technische Kontrolle, die nur wenige Wochen vor der Explosion stattgefunden hatte, nichts dergleichen ergeben hatte. Außerdem wurde die Jacht regelmäßig von einem Mechaniker gewartet, und Lana hätte die Hand für ihn ins Feuer gelegt. Als er von den Beamten befragt wurde, hatte er geschworen, dass das Boot bei der letzten Kontrolle in einwandfreiem Zustand gewesen war.

Lana vermutete, dass absichtlich jemand die Benzinleitung manipuliert hatte. Und wer konnte es anderes sein als Jeremy? Aber weshalb nur? Bei der Erkenntnis, dass es Jeremy gewesen sein musste, hatte sie zum ersten Mal Verdacht geschöpft. Auf einen Schlag fielen ihr verschiedene Gelegenheiten ein, bei denen Jeremy sich seltsam verhalten hatte.

Lana stieß sie wieder ein bitteres Lachen aus, doch diesmal war sie nicht allein.

Der Mann, der mit ihr im Fahrstuhl nach unten fuhr, sah sie irritiert an.

Lana blickte ihn an. „Entschuldigen Sie, ich musste gerade an was Komisches denken“, erklärte sie, um Verständnis heischend. Eher, um nicht anzufangen zu weinen, dachte sie.

Warum hatte Jeremy seinen Tod vorgetäuscht? Weil er schuldig war, natürlich. Jeremy war ein verdammter Betrüger, und wenn Lana nicht so blind vor Liebe gewesen wäre, hätte sie sich nie so lange täuschen lassen.

Nach der Explosion war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Jeremy konnte jeden um den Finger wickeln, ganz gleich ob Mann oder Frau. Irgendwie gelang es ihm, dass man ihm alles von sich erzählte, während er gleichzeitig kaum etwas über sich selbst preisgab.

Jeremy hatte behauptet, ein Waisenkind ohne Familie zu sein. Eine weitere seiner Lügen, wie sich später herausstellte.

Als Lana auf der Straße vor dem Gebäude stand, in dem sich Grants Büro befand, sah sie auf die Armbanduhr. Mist, ich muss mich beeilen, dachte sie. Sie hatte einen Termin mit einer potenziellen neuen Kundin in einem Café nur wenige Häuserblöcke entfernt und wollte nicht zu spät kommen.

Sie war erst ein paar hundert Meter gelaufen, als ihr Telefon klingelte.

„Ja, hallo?“, antwortete sie fragend.

„Mrs. Corday? Hier spricht Gia Burrows. Wir haben gleich einen Termin.“

„Hallo, Mrs. Burrows, sind Sie schon im Café? Ich bin gleich da.“

„Ja, es tut mir leid, darum geht es. Sorry, dass ich so kurzfristig anrufe, aber ich muss leider absagen.“

„Oh! Ist etwas dazwischengekommen?“

„Äh, es tut mir wirklich leid, aber wir haben uns jetzt doch für jemand anderen entschieden.“

„Ach.“ Lana konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. „Darf ich fragen, weshalb Sie Ihre Meinung geändert haben?“

Die Frau am anderen Ende der Leitung zögerte einen Moment. „Es tut mir wirklich leid. Ich finde Ihre Arbeit wirklich toll, aber meine Schwiegereltern, die uns die Renovierung finanzieren … Also, mein Schwiegervater hat viel Geld verloren, weil er in eines der Projekte Ihres Mannes investiert hat …“

„Oh, das verstehe ich natürlich. Es tut mir sehr leid.“

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, steckte Lana das Telefon in ihre Handtasche und blieb stehen. Verdammt, sie hatte fest mit diesem Auftrag gerechnet! Nein, so kann es nicht weitergehen, dachte sie.

Entschlossen machte Lana kehrt und holte das Telefon wieder aus der Tasche. Grant hatte recht, es war an der Zeit, dass sie ihr Leben wieder zurückbekam.

„Hey, Lana“, begrüßte Grant sie gleich nach dem ersten Klingeln.

„Hast du gerade was zu tun?“, fragte Lana ohne Umschweife.

„Ja, aber in einer halben Stunde hätte ich Zeit für dich“, erwiderte Grant leicht überrascht.

„Toll, dann komme ich vorbei und unterzeichne die Papiere.“

„Prima, dann bis gleich“, sagte Grant, erfreut darüber, dass seine Worte offenbar doch etwas bewirkt hatten.

Lana legte auf. Zum Teufel mit dir, Jeremy! Wie konntest du mich nur in diese Lage bringen? Sieh bloß zu, dass du mir nie wieder unter die Augen kommst, weil ich dann für nichts garantieren kann!

2. KAPITEL

Tennison Isles hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, die Treppen zu seinem Büro hochzulaufen, anstatt den Fahrstuhl zu nehmen. Seine Arbeitszeiten machten es fast unmöglich, jeden Tag ins Fitnessstudio zu gehen, aber als Spezialagent beim FBI musste er darauf achten, körperlich in Topform zu sein. Als er schließlich im dreizehnten Stockwerk angekommen war, stieß er fast mit seinem Boss Josh Kagen zusammen.

Kagen war Mitte vierzig, durchschnittlich groß und stämmig. Der fast zwei Meter große Ten war fünfunddreißig und überragte seinen Boss um gut einen Kopf. Tens Körper war nicht nur vom Treppensteigen gut durchtrainiert und kräftig. Regelmäßiges Laufen und fast fünfundzwanzig Jahre Kampfsport taten ihr Übriges dazu.

„Ten, genau Sie habe ich gesucht. Haben Sie schon von dem Corday-Investoren gehört, der versucht hat, sich in seinem 1965er Mustang umzubringen? Zum Glück hat seine Frau ihn noch rechtzeitig gefunden und die Garagentür geöffnet.“

Ten nickte und lief neben Kagen her in Richtung Büro.

„Schrecklich für die Familie“, sagte Ten. „Und auch für die Witwe von Jeremy Corday. Sie war bestimmt froh, dass sich die Wellen etwas gelegt hatten, und jetzt ist der Fall um ihren verschwundenen Mann wieder überall in der Presse.“

Diejenigen, die an dem Fall arbeiteten, nannten Lana Corday nur „die Witwe“, auch wenn sie eigentlich davon ausgingen, dass Jeremy Corday noch am Leben war.

Kagen öffnete die Tür zu seinem Büro und forderte Ten mit einer Handbewegung dazu auf, ihm zu folgen. Er ließ sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken und fuhr sich frustriert durch das schon schütter werdende braune Haar. „Ich habe das Gefühl, dass wir überhaupt keine Fortschritte machen. Wir haben immer noch keine Spur von ihm. Nichts. Er ist unauffindbar, genauso wie das Geld. Das Geld muss irgendwo auf einem Konto in den Staaten liegen. Wahrscheinlich direkt vor unserer Nase, hier in San Francisco. Was ist, wenn seine Frau etwas weiß oder sie ohne ihr Wissen den Schlüssel zu dem Versteck hat? Leider haben wir nichts aus ihr herausbekommen können.“

Ten gehörte zu dem Team, das Lana Corday während der vergangenen sieben Monate überwacht hatte. Er kannte ihr Leben in- und auswendig. Wusste, wann sie morgens aus dem Haus ging, wie häufig und lange sie laufen ging, mit wem sie sich traf und an welchen Projekten sie gerade arbeitete. Wenn Jeremy Corday versucht hätte, sie zu kontaktieren, hätte Ten davon gewusst. Auch ihre Anruflisten waren völlig unauffällig. Keine Anrufe von einem untergetauchten Ehemann.

„Vielleicht ist er wirklich tot“, schlug Ten vor, auch wenn er das nicht wirklich glaubte.

„Der Mann ist viel zu gerissen, um wirklich tot zu sein“, entgegnete Kagen, ohne zu zögern. Grimmig sah er Ten an. „Wir müssen irgendeinen Weg finden, um die Ratte aus ihrem Versteck zu locken.“

Natürlich hatte auch Ten schon darüber nachgedacht, wie ihnen das gelingen könnte. Bevor er sich zurückhalten konnte, weil Kagen seine Idee vielleicht für zu weit hergeholt oder absurd halten könnte, räusperte er sich und sagte: „Ich glaube nicht, dass wir in San Francisco an Corday rankommen. Das Risiko, entdeckt zu werden, ist viel zu hoch für ihn. Aber wenn die Witwe woanders wäre, zum Beispiel auf den Outer Banks, wo ihr Vater lebt, folgt die Ratte vielleicht dem Köder.“

„Und wie stellen Sie sich das vor? Wollen Sie zu ihr hingehen und ihr vorschlagen, dass sie uns dabei hilft, ihrem Mann eine Falle zu stellen? Selbst wenn sie nicht in seine schmutzigen Geschäfte verwickelt war und ihr langsam dämmert, was für ein Schwein sie geheiratet hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie dazu bereit wäre.“

„Nein, sie vielleicht nicht. Aber ihr Vater ist vermutlich kein großer Fan von Corday“, warf Ten ein.

Ten sah das Interesse in Kagens Augen aufblitzen. „Was haben Sie sich also vorgestellt?“, fragte Kagen erwartungsvoll.

„Ich könnte Mr. Braithwaite aufsuchen und ihm erklären, was wir vorhaben. Wenn seine Tochter tatsächlich etwas in Besitz hat, das mit dem versteckten Geld zu tun hat, befindet sie sich vielleicht in Gefahr. Ich nehme ihr ab, dass Jeremy Corday ihr nie einen Schließfachschlüssel oder etwas Ähnliches gegeben hat, aber vielleicht hat er etwas unter ihren persönlichen Sachen versteckt, von dem sie gar nichts weiß. Wir müssen sie beschützen. Das könnte ein Argument für den Vater sein.“

Kagen war zufrieden. „Einverstanden. Versuchen wir’s.“

„Verdammt!“, fluchte Aaron Braithwaite, als er sein Kajak unter großen Anstrengungen auf den Strand zog. Was hatte er sich dabei gedacht, Bowser mit zum Fischen rauszunehmen? Der zwei Jahre alte Labrador war so aufgeregt gewesen, als Aaron den großen Rotbarsch aus dem Wasser gezogen hatte, dass er versuchte, nach ihm zu schnappen, als Aaron ihn gerade vom Haken losmachen wollte. Aaron hatte das Gleichgewicht verloren, und sie waren beide im Wasser gelandet. Zum Glück war das Boot noch nicht weit vom Ufer entfernt und Aaron geübt darin, das Kajak wieder aufzurichten. Schnell hatte er Bowser und dann sich selbst wieder hineingehievt. Nur der Fisch war unwiederbringlich verloren.

„Nächstes Mal bleibst du zu Hause“, schimpfte Aaron Bowser aus, der schwanzwedelnd zu ihm aufsah. Der Hund winselte, als er gescholten wurde.

Aaron lachte. „Du fühlst dich ungerecht behandelt? Na ja, du warst ja nicht derjenige, der uns beide retten musste.“

Bowser winselte wieder und leckte Aaron die Hand.

„Ist gut, ich weiß, dass es dir leidtut. Lass uns reingehen und uns aufwärmen.“ Obwohl es ein schöner Julimorgen war, lag die Temperatur knapp unter sechzehn Grad, und es wehte ein kräftiger Wind.

Aaron lief auf sein dreistöckiges Haus zu, das nur ungefähr fünfzig Meter vom Strand entfernt lag. Das grau gestrichene Gebäude mit den weißen Fenster- und Türrahmen hatte schon viele Stürme erlebt, und mit seinen vielen Terrassen und runden Fensteröffnungen sah es fast wie ein Schiff aus, das an Land gespült worden war.

Aaron lächelte. Als er noch ein Fischer gewesen war, hätte er sich ein solches Haus niemals leisten können, doch inzwischen war er ein erfolgreicher Romanautor und führte ein komfortables Leben. Jedes Mal, wenn er darüber nachdachte, wie viel Glück er hatte, fiel ihm seine einzige Tochter ein, mit der es das Leben gerade weniger gut meinte.

Am liebsten hätte er sie gezwungen, zu ihm nach Hause zu kommen, doch Aaron kannte seine Tochter gut genug, um zu wissen, dass sie ebenso stur war wie er selbst und er nur das Gegenteil bewirkt hätte.

Und das war seine eigene Schuld. Nachdem seine Frau Mariette bei einem Unfall gestorben war, als Lana gerade acht Jahre alt war, hatte Aaron seine Tochter bewusst zur Unabhängigkeit erzogen. Es war immer seine größte Angst gewesen, dass ihm etwas zustoßen könnte und er seine Tochter allein und hilflos zurücklassen würde. Also hatte Aaron dafür gesorgt, Lana zu einer starken und autonomen Persönlichkeit zu erziehen. Er hatte ihr alles beigebracht, was er über das Leben und die Natur wusste, und er war es auch gewesen, der sie mit dem Sport in Berührung gebracht hatte.

Lana war eine erstklassige Läuferin und körperlich extrem fit. Sie wusste alles über den Fischfang und kannte sich mit Booten aus. Außerdem hatte Aaron sie schon als Kind mit der Flora und Fauna von Pea Island, der Insel der Outer Banks, auf der sich sein Haus befand, vertraut gemacht. Lana hätte, wenn nötig, alleine in der Wildnis überleben können. Doch diese schmutzige Geschichte mit Jeremy Corday war etwas anderes als eine körperliche Herausforderung. Aaron konnte sehen, wie sehr Lana darunter litt. Noch nie hatte er sich in den zweiunddreißig Jahren, seitdem sie auf der Welt war, solche Sorgen um sie gemacht.

„Mr. Braithwaite?“

Aaron war so in Gedanken versunken, dass er den großen, breitschultrigen Mann, der vor den Stufen seines Hauses stand, gar nicht bemerkt hatte.

Der Mann trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte.

Aaron ließ seinen Blick nach unten zu den Schuhen des Mannes wandern. Schwarze, glänzend polierte Halbschuhe. Ein Mann von der Regierung, folgerte er. Als Erstes dachte er an seine Steuererklärung. Nein, das konnte es nicht sein. Aaron war eine ehrliche Haut und hatte noch nie versucht, das Finanzamt zu betrügen.

Der Mann nahm seine dunkel getönte Sonnenbrille ab und blickte ihn freundlich an. „Sie sind doch Aaron Braithwaite, oder?“

Aaron lachte. „Ja, wenn mich nicht alles täuscht, bin ich das.“

Bowser lief auf den Fremden zu und knurrte leise. Doch das Knurren wirkte nicht feindselig, vielmehr schien der Hund dem Fremden die Frage zu stellen, wer er sei. Der Mann streckte Bowser die Hand hin. Bowser schnüffelte daran, schien den Mann für gut zu befinden und leckte seine Hand. Der Mann strich ihm über den Kopf.

„Schöner Labrador“, bemerkte der Fremde.

„Es gibt diesen alten Blues-Song, in dem es heißt, fass meine Frau und meinen Hund nicht an“, sagte Aaron. „Da ich keine Frau habe, mit der Sie sich noch bekannt machen könnten, darf ich Sie bitten, sich vorzustellen?“

„Oh, tut mir leid“, sagte der Mann und lächelte. „Ich bin Tennison Isles, FBI.“

„FBI oder Finanzamt“, murmelte Aaron. „War ja klar. Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?“

Ten zeigte Aaron seine Marke und seinen Ausweis.

Nachdem Aaron alles einer genauen Überprüfung unterzogen hatte, blickte er Ten an. „Was will das FBI von mir?“

„Ihre Hilfe“, erwiderte Ten.

„Kommen Sie rein“, forderte Aaron, der von Natur aus neugierig war, den Agenten auf.

Eine Viertelstunde später, nachdem Aaron sich trockene Kleider angezogen und Bowser abgetrocknet hatte, saßen sich die Männer über zwei Tassen starken schwarzen Kaffees gebeugt im geräumigen Wohnzimmer gegenüber.

„Ich höre“, eröffnete Aaron das Gespräch.

Ten erklärte Aaron, wie er dem FBI helfen konnte. Aaron hörte ihm gespannt zu. Nachdem Ten seine Ausführungen beendet hatte, wartete er gespannt auf Aarons Reaktion.

Zu seiner großen Überraschung antwortete Aaron schließlich: „Mein Arzt versucht schon seit geraumer Zeit, mich dazu zu überreden, mein Herz im Krankenhaus mal richtig durchchecken zu lassen. Ich sehe keinen Grund, der dagegen spricht, das jetzt mal zu tun.“

Es war ein Geniestreich von Aaron, Gladys den Anruf machen zu lassen. Jeder in Dare County kannte Gladys’ Talent für Melodramatik. Allein der Klang ihrer angsterfüllten Stimme reichte aus, um Lana zu überzeugen, umgehend nach Hause zu kommen.

Gladys sagte ihr, dass ihr Vater im Krankenhaus in Kitty Hawk läge. Es war in der Umgebung das nächste Krankenhaus, in dem es eine kardiologische Abteilung gab.

Lana kannte Gladys Easterbrook, seitdem sie ein kleines Kind war, und hatte keinen Anlass, ihr zu misstrauen. Trotzdem versuchte sie, ihren Vater auf dem Handy zu erreichen. Das Handy war ausgeschaltet.

Lana rief sofort beim Flughafen an und buchte den nächsten Flug nach Hause.

3. KAPITEL

Am Mittag des folgenden Tages kam Lana am Norfolk International Airport an. Sobald sie gelandet war, hielt sie Ausschau nach Gladys Easterbrook. Lana hatte versucht, die ältere Dame davon abzuhalten, den ganzen Weg zum Flughafen rauszufahren, um sie abzuholen. Lana konnte ebenso gut einen Mietwagen nehmen und direkt zum Krankenhaus fahren. Doch Gladys war nicht davon abzubringen gewesen.

„Mrs. Lana Braithwaite-Corday?“, hörte sie eine männliche Stimme hinter sich fragen.

Lana drehte sich um und blickte in das Gesicht eines attraktiven Riesen. Seine Haut war karamellbraun, und seine Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz aussahen. Er hatte hohe Wangenknochen, ein markantes Kinn und glattrasierte Haut. Das dichte dunkelbraune Haar war sehr kurz geschnitten, sodass man seine schöne Kopfform sah.

Für einen kurzen Moment stellte Lana sich absurderweise vor, wie er wohl als kleiner Junge ausgesehen haben mochte. Wenn seine Mutter ihm nicht das Haar geschnitten hatte, mussten ihm die Haare in dicken Locken bis auf die Schultern gefallen sein.

Der Mann trug Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt mit dem Emblem der University of Virginia auf der Vorderseite. Nachdem Lana ihn in seiner ganzen Pracht bewundert hatte, war ihr erster Gedanke: Oh, nein! Bitte nicht auch noch hier Reporter! Er hatte zwar keinen Anzug an und trug auch kein Mikrofon bei sich, aber er war zweifelsohne fernsehtauglich.

Brüsk eilte sie an ihm vorüber in Richtung Ausgang, den Riemen ihrer Umhängetasche fest umklammert und mit der anderen Hand ihren kleinen Rollkoffer hinter sich herziehend. „Verschwinden Sie, ich habe der Presse alles gesagt, was ich zu sagen hatte.“

„Ihr Vater hat mich gebeten, Sie abzuholen“, rief der Fremde ihr hinterher. „Miss Gladys macht der Rücken zu schaffen.“

Lana hielt inne, wandte sich um und sah ihn überrascht an. Sie wusste, dass Gladys wirklich oft Rückenbeschwerden hatte. „Wer sind Sie?“

„Tennison West“, erwiderte Ten und streckte ihr seine große Hand entgegen. „Ich bin Regisseur und mache einen Dokumentarfilm über Ihren Vater.“

Lana schüttelte ihm kurz die Hand und sah ihn weiter prüfend an, als könne sie so feststellen, ob ihm zu trauen sei.

„Haben Sie einen Führerschein?“, fragte sie misstrauisch.

Ten zeigte ihr den Führerschein, der bestätigte, dass er Tennison West hieß und in Washington, D. C., lebte. Das Bureau hatte ihm eine neue Identität verschafft. Sie hatten sogar eine Webseite für ihn programmieren lassen, auf der man sich angeblich von ihm gemachte Dokumentarfilme ansehen konnte.

Allerdings hatten sie ihn nicht auf Lana vorbereitet. Ten fühlte sich fast etwas verunsichert von ihren prüfenden Blicken. Bisher hatte er sie nur auf Fotos oder Videoaufnahmen gesehen. Natürlich hatte er auch die Berichte gelesen, die die Kollegen, die er mit ihrer Überwachung betraut hatte, erstellt hatten. Ihr jetzt so nah zu sein, den zarten Duft ihres blumigen Parfums wahrzunehmen, war jedoch etwas vollkommen anderes. Er konnte die Wärme ihres Körpers förmlich spüren und konnte nichts gegen das kribbelnde Gefühl, das ihn auf einmal erfüllte, unternehmen.

Trotzdem versuchte er, es zu unterdrücken. Er war nur hier, weil ihm plötzlich der Gedanke gekommen war, dass man ihr möglicherweise sofort folgen würde, sobald sie auf den Outer Banks ankam. Deshalb musste er sie so früh wie möglich abfangen. Ten brauchte jetzt seine gesamte Aufmerksamkeit und konnte es sich nicht erlauben, sich von seinen Gefühlen ablenken zu lassen.

„Komisch“, bemerkte Lana, als sie ihm seinen Führerschein zurückgab. „Dad hat Sie gar nicht erwähnt, als wir das letzte Mal miteinander telefoniert haben. Seit wann arbeiten Sie denn an dem Film mit ihm?“

Ten schenkte ihr ein warmes Lächeln. „Um ehrlich zu sein, hat er noch gar nicht unterschrieben. Ich bin hergekommen, um ihm zu erklären, was ich vorhabe. Dann ist er plötzlich ohnmächtig geworden, und ich habe ihn direkt in die Notaufnahme gefahren.“

Lana sah ihn entsetzt an. „Was machen wir dann noch hier? Wir brauchen noch ganze zwei Stunden bis Kitty Hawk!“

Sie lief los zum Ausgang, dicht gefolgt von Ten. „Er hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen. Warten Sie, haben Sie kein Gepäck?“, rief er ihr hinterher.

Lana hielt nicht einen Moment inne. „Nein, kein Gepäck. Ich hatte es eilig. Wo steht Ihr Wagen?“ Jetzt hatte sie nicht die Zeit, dem Fremden zu erklären, dass im Haus ihres Vaters ein ganzer Schrank voller Kleidung von ihr hing. So musste sie bei ihren häufigen Besuchen zu Hause nie viel Zeit mit Packen vergeuden.

Ten überholte Lana und griff nach ihrer Hand. „Erlauben Sie?“

Hand in Hand liefen sie im Dauerlauf zu dem schwarzen SUV, den Ten auf dem Besucherparkplatz geparkt hatte. Ten hielt Lana die Tür auf und half ihr beim Einsteigen, bevor er zur Fahrerseite ging und sich ans Steuer setzte.

Als er den Anlasser betätigte, wandte er sich zu ihr. „Es gibt keinen Grund, in Panik auszubrechen. Ich habe zufällig gehört, wie der Arzt Ihrem Vater gesagt hat, es sei nur eine leichte Herzrhythmusstörung. Nichts Ernstes oder Lebensbedrohliches.“

Das war neu für Lana. Soweit sie wusste, hatte ihr Vater nie an gesundheitlichen Problemen gelitten. Er war zweiundsechzig und ging fast jeden Tag laufen. Er hatte nie geraucht und trank in Maßen. Sein einziges Laster war seine Vorliebe für Meeresfrüchte, die viel Cholesterin hatten. Der Mann war verrückt nach Garnelen und Hummer; davon konnte er nie genug bekommen.

Als sie vom Parkplatz fuhren, bemerkte Ten einen kleinen Mann mit dicken Dreadlocks, der sie mit seinem Handy fotografierte. Ten war zufrieden. Der Mann war ihm schon vorher aufgefallen, während er auf Lana wartete. Der Mann wartete offenbar auch auf jemanden aus der Maschine aus San Francisco. Als Lana ankam und der Mann sie bemerkte, hatte er sie umgehend fotografiert. Unbemerkt hatte Ten seinerseits ein Foto von dem Mann gemacht.

„Haben Sie das gesehen?“, fragte Lana.

„Was denn?“, fragte Ten beiläufig.

„Der Typ da hat uns gerade fotografiert. Warum wohl?“ Der Mann, der sie fotografiert hatte, war nachlässig bekleidet mit einer schmuddeligen Jeans, ehemals weißen Turnschuhen und einem ausgeblichenen Pullover. Er sah fraglos nicht aus wie der typische Reporter. Und Lana bildete sich auch nicht ein, so interessant zu sein, dass ihr abgehalfterte Paparazzi folgten. Außerdem würden selbst die eher eine Profikamera verwenden als ihr Handy, oder?

„Haben Sie den Typen vorher schon mal gesehen?“ Ten beobachtete, wie der Mann in einen alten Toyota Corolla stieg. Er merkte sich das Nummernschild.

„Nein“, antwortete Lana müde.

„Sind Sie berühmt?“, fragte Lana und warf ihm einen Blick von der Seite zu.

Ten lachte. „Überhaupt nicht. Ich arbeite hinter der Kamera. Und wie steht’s mit Ihnen?“

Lana sah ihn misstrauisch an. Wenn er sich gründlich über ihren Vater informiert hatte, bevor er einen Film über ihn machte, musste er dann nicht wissen, dass dessen einzige Tochter mit einem der größten Betrüger des Jahrhunderts verheiratet war? Doch vielleicht gestand sie Jeremy auch zu viel Bedeutung zu. In San Francisco galt er als Staatsfeind Nummer eins, aber wie viele Leute mochten weltweit von ihm gehört haben?

„Das kann ich nicht behaupten“, erwiderte Lana trocken.

„Vielleicht fotografiert er einfach gern schöne Frauen“, bemerkte Ten.

Lana lachte laut auf. „Jetzt werden Sie nicht lächerlich!“

„Schön und bescheiden noch dazu“, sagte Ten bewundernd.

„Gucken Sie lieber auf die Straße, Sie Schmeichler“, entgegnete Lana gespielt streng, obwohl er sie mit seinem Kompliment entspannt und zum Lachen gebracht hatte. Und wie gut es getan hatte, mal wieder zu lachen.

„Zu Befehl, Ma’am“, antwortete Ten gutmütig und konzentrierte sich aufs Fahren.

Der Verkehr vom Flughafen bis zur Bundesstraße war stockend, aber sobald sie die Auffahrt zur Bundesstraße genommen hatten, hatten sie freie Fahrt. Sie erreichten Kitty Hawk ohne weitere Umstände.

„Hübsche kleine Stadt“, bemerkte Ten anerkennend. „Und fast kein Verkehr.“

„Sind Sie zum ersten Mal hier?“, fragte Lana neugierig und lächelte ihn an.

„Ich habe schon oft mit Ihrem Vater telefoniert, aber ich bin zum ersten Mal hier auf den Outer Banks.“

„Na, dann sollte ich Ihnen einige wichtige touristische Informationen nicht vorenthalten“, sagte Lana neckend. „Kitty Hawk ist eine hübsche Kleinstadt mit circa dreitausenddreihundert Einwohnern. Besonders in den Sommermonaten zieht sie viele Touristen an. Die Strände hier sind sehr sauber und schön.“

„Das lässt sich vermutlich über fast alle Strände der Outer Banks sagen. Die Gegend sieht so aus, als ob die Natur fast unberührt von Menschenhand geblieben sei.“

Lana lachte leise. „Ja, vielen Bewohnern der Outer Banks ist daran gelegen, dass möglichst alles so bleibt, wie die Natur es geschaffen hat. Wenn hier irgendwelche Bauunternehmer mit großen Plänen ankommen, um mehr Touristen anzuziehen, haben sie es schwer. Außerdem tut die Natur selbst ihr Übriges, um die Outer Banks sauber zu halten. Neue Straßen werden hier überschwemmt, Brücken vom Meer wieder eingerissen. Das Leben hier ist manchmal ganz schön hart, aber wie Dad immer sagt, als Einheimischer muss man tough sein.“

Ten bemerkte den stolzen Klang, den ihre Stimme angenommen hatte. Wie sie nie aufhörte zu strahlen, wenn sie über ihre geliebte Heimat sprach. Wenn Lana ihr zuhause so liebte, was hatte sie so lange davon abgehalten zurückzukehren?

Weshalb hatte das FBI zusammen mit ihrem Vater einen Plan aushecken müssen, um sie dazu zu bringen, hierherzukommen?

„Ihr Vater hat mir erzählt, dass Sie in San Francisco leben“, fragte Ten jedoch, anstatt das zu fragen, was er eigentlich wissen wollte.

„Ja, mein Ma… Ja, ich wohne jetzt seit mehr als zehn Jahren dort.“ Sie schien plötzlich draußen etwas entdeckt zu haben, das ihr Interesse weckte, und sah aus dem Fenster.

Schweigend fuhren sie weiter. Ten ließ die Bemerkung über ihren Mann unkommentiert. Es stand ihm nicht zu, weiter in ihr Privatleben einzudringen, als es der Auftrag erforderte. Lana tat ihm leid, und jetzt, nachdem er sie kennengelernt hatte, glaubte er noch weniger als zuvor, dass sie in Jeremy Cordays illegale Machenschaften verwickelt war.

Vom Stadtzentrum aus war es nur noch ein kurzer Weg bis zum Sentara Albemarle Medical Center, und als sie das Krankenhaus schließlich erreicht hatten, hielt Ten vor dem Eingang.

„Gehen Sie schon mal rein. Ich suche einen Parkplatz und treffe Sie drinnen.“

Der Blick ihrer wunderschönen braunen Augen brachte ihn fast zum Schmelzen. „Danke, Mr. West, aber wenn Sie noch woanders hinmüssen, komme ich jetzt auch gut allein zurecht.“

„Das kommt nicht infrage, Mrs. Corday. Ich warte gerne auf Sie, um Sie nach Hause zu fahren. Ich habe Ihrem Vater versprochen, auf Sie aufzupassen, und ich halte meine Versprechen.“

Lana wusste nicht, was sie sagen sollte. Ein hilfsbereiter Mann, der seine Versprechen hielt?

Jetzt hatte sie allerdings nicht die Zeit, um mit ihm zu diskutieren. Ihr Vater brauchte sie.

„In Ordnung“, gab sie nach. Sie stieg aus, schloss die Wagentür hinter sich und eilte ins Innere des Krankenhauses.

Ten blickte ihr für einen Moment nach, als sie graziös durch die großen automatischen Glastüren schritt. Sein Herz, das wie wild angefangen hatte zu schlagen, als Lana ihn anlächelte, hatte sich noch nicht wieder beruhigt.

Ten stieß einen leisen Pfiff durch die vollen Lippen aus, als er auf den Parkplatz fuhr. „Himmel, das wird kein leichter Auftrag.“

„Gehen Sie ruhig weiter laufen“, sagte Dr. Sanjay Khan freundlich zu Aaron. „Aber übertreiben Sie es nicht. In Ihrem Alter sind ein paar Kilometer genug. Ich muss Ihnen nicht einmal ein Medikament verschreiben. Die Herzrhythmusstörungen sind sehr leicht. Sie nehmen einfach regelmäßig Aspirin ein, und ich möchte, dass Sie auf Ihren Cholesterinspiegel achten.“

Aaron lag vor dem Arzt auf dem Bett, den Kopf in der Armbeuge abgestützt, und lachte leise. „Doc, Sie haben aber nicht vor, mir meine Butter zu verbieten, oder? Wo soll ich meinen Hummer dann eintunken?“

Dr. Khan lachte auch. „Butter und Hummer, jetzt verstehe ich. Ab heute heißt es Olivenöl und Lachs.“

„Ich kann beides nicht ausstehen“, beschwerte sich Aaron.

„Dann gewöhnst du dich besser daran“, sagte Lana, die ins Zimmer getreten war. Sofort lief sie zu ihrem Vater und küsste ihn auf beide Wangen, bevor sie Dr. Khan freundlich begrüßte.

„Sie müssen Lana sein“, entgegnete dieser. „Ihr Vater hat Sie schon erwartet.“

„Ja“, antwortete Lana freundlich. Dann blickte sie liebevoll zu ihrem Vater. „Wie geht es ihm, Doktor?“

Aaron wollte etwas sagen, doch Lana hieß ihm zu schweigen. Aaron gehorchte. Er war so glücklich, sie zu sehen, dass es ihm nichts ausmachte, dass sie ihn, wie üblich, herumkommandierte.

Dr. Khan erklärte ihr geduldig, wie es um Aaron stand und dass am folgenden Morgen noch weitere Testergebnisse erwartet würden. Als Lana das Gefühl hatte, alles erfahren zu haben, was sie wissen musste, bedankte sie sich bei dem Arzt, der sich von ihnen verabschiedete.

Als Lana allein mit ihrem Vater war, fiel sie ihm um den Hals und hielt ihn lange fest im Arm. Dann erhob sie sich und sah ihn an. „Ich habe dich vermisst.“ Tränen stiegen ihr in die Augen, obwohl sie versuchte, sie zu unterdrücken.

Aaron drückte ihr die Hand. „Es geht mir gut, Sweetheart. Du weißt, dass mich nichts so leicht aus der Bahn wirft.“

„Ich weiß“, erwiderte sie und versuchte, optimistisch zu klingen. „Aber je älter ich werde, desto mehr wird mir bewusst, dass du auch nicht jünger wirst. Und der Gedanke ist beunruhigend. Was soll ich nur tun, wenn dir etwas zustößt?“

Abgesehen von ihrem Vater hatte Lana kaum Familie. Ihre kinderlose Tante Dorothy, die Schwester ihrer Mutter Mariette, lebte in Florida, und Lana sah sie nur selten. Ihr Vater war der letzte der Braithwaites in North Carolina. Er und Mariette hätten gerne noch weitere Kinder gehabt, doch Lana war ihr einziges Kind geblieben.

Lana hätte gerne Kinder mit Jeremy gehabt, doch er hatte sie immer auf später vertröstet. Jeremy sagte, er wolle die ersten fünf Jahre der Ehe gerne mit ihr als Paar genießen. Vor die Wahl gestellt, ob sie jetzt lieber Jeremy zurückhaben wollte oder ein Kind von ihm, hätte Lana sich für das Kind entschieden. Nur weil Jeremy sich als unzuverlässig und verlogen entpuppt hatte, hieß das nicht, dass sein Kind dadurch weniger wert gewesen wäre. Lana hätte ihr Kind über alles geliebt.

„Du bist erst zweiunddreißig. Du hast noch genug Zeit, um Kinder zu kriegen und mich zum Großvater zu machen“, erinnerte Aaron sie und funkelte sie vergnügt an.

Lana lachte. „Falls du es noch nicht mitbekommen hast, mein Ehemann ist auf der Flucht, und ich habe die Scheidung eingereicht.“

„Wie ich dir schon am Telefon gesagt habe, halte ich das für eine weise Entscheidung.“ Er klopfte neben sich aufs Bett, und Lana setzte sich hin. „Lana, etwas so Schreckliches, wie du es erlebt hast, lässt man nur hinter sich, indem man nach vorne schaut. Bevor du Jeremy getroffen hast, hattest du Pläne. Einige von deinen Plänen hast du Jeremy zuliebe hintangestellt. Mutter zu werden gehörte auch dazu. Jetzt ist Jeremy nicht mehr da, und du kannst den Rest deines Lebens so gestalten, wie es dir gefällt. Wir können das Verhalten der anderen nicht kontrollieren. Wir können nur unsere Reaktion darauf kontrollieren.“

„Und selbst das ist schon schwierig.“

„Ist dir schon mal aufgefallen, dass die wichtigen Dinge im Leben immer schwer zu erreichen sind? Das ist so, weil Gott möchte, dass du seine Geschenke im Leben erkennst und wertschätzt, wenn sie dir begegnen.“

Lana sah ihren Vater konsterniert an. „Willst du etwa sagen, dass das, was ich erlebt habe, ein Geschenk ist?“

„Immerhin weißt du jetzt, was für eine Art Mann du geheiratet hast. Stell dir vor, du wärst zwanzig Jahre mit ihm zusammen gewesen und hättest es erst dann erfahren.“

„Es tut jetzt schon verdammt weh.“

„Natürlich tut es das, aber irgendwann werden sie ihn finden, und du wirst ihm sagen, dass er zur Hölle gehen soll, und dann gehst du deinen Weg weiter. Du bist stärker, als du denkst.“

Lana wusste, dass ihr Vater recht hatte. Nachdem sie sich eingestanden hatte, dass Jeremy seinen Tod nur vorgetäuscht hatte und untergetaucht war, hatte sie sich wochenlang dafür bestraft, so leichtgläubig gewesen zu sein und ihre Liebe einem Mann geschenkt zu haben, der sie nicht verdiente. Wenn sie Jeremy jetzt wiedersehen würde, würde sie ihn in der Luft zerreißen, so wütend war sie.

Lana lächelte ihren Vater an. „Und wie steht es mit deiner Gesundheit und dem ersten Krankenhausaufenthalt in deinem Leben? Ist das auch ein Geschenk?“

Aaron grinste breit. „Du bist nach Hause gekommen, oder?“

Lana verdrehte die Augen. „Du musst immer recht haben, oder?“

„Immer, Sweetheart.“

Lana erhob sich und sah sich im Krankenzimmer um. Blumen standen auf jeder verfügbaren Oberfläche. „Deine Frauen?“, witzelte sie und deutete mit dem Kopf auf die Sträuße.

„Tja, weißt du …“, entgegnete Aaron und fuhr ohne jede Bescheidenheit fort, „Was soll ich sagen? In meiner Altersklasse gibt es einfach einen Frauenüberschuss. Irgendjemand muss sich doch dieser armen Frauen annehmen.“

Lana ging im Raum umher und las einige der an die Blumensträuße angehefteten Grußkarten. Sie waren tatsächlich alle von verschiedenen Frauen. Einige der Namen kannte sie, andere waren ihr jedoch unbekannt. Einer fiel ihr besonders ins Auge. Es war eine Karte von Miss Ellen Newman, Lanas ehemaliger Englischlehrerin aus der Highschool.

„Miss Newman, Daddy? Du triffst dich mit Miss Newman?“ Es gelang ihr nicht, die Überraschung in ihrer Stimme zu verbergen.

„Sie ist eine attraktive Frau“, erwiderte Aaron. „Und wir haben verschiedene gemeinsame Interessen.“ Vieldeutig zog er die Augenbrauen hoch, was Lana zu einem Stöhnen veranlasste.

„Ich will nichts von Miss Newmans verschiedenen Interessen hören“, bekräftigte sie eilig.

„Ich wollte doch nur sagen, dass sie auch gern fischen geht.“

„Worauf ich wetten würde“, entgegnete Lana trocken. Sie blickte ihn an, nachdem sie eine weitere Karte gelesen hatte: Gute Besserung, Tiger! Die Karte war unterzeichnet von jemandem, dessen Namen sie noch nie gehört hatte.

„Vielleicht solltest du in Zukunft nicht nur die Finger von Butter und Hummer lassen“, stellte sie lachend fest.

„Bevor ich die Ladies aufgebe, verzichte ich eher auf die Schalentiere“, gelobte Aaron humorvoll.

4. KAPITEL

Ten wartete schon auf Lana, als sie aus dem Krankenzimmer kam. Lana blickte auf, als er plötzlich vor ihr stand, scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht. Sie lächelte ihn an, und ihr fiel auf, dass sie vollkommen vergessen hatte, ihren Vater über den gut aussehenden Mann auszufragen. Sie hätte gerne gewusst, was Aaron von ihm hielt.

„Oh, Mr. West. Da sind Sie ja. Aber Sie müssen wirklich nicht auf mich warten, ich kann ebenso gut allein nach Hause fahren.“

„Wollen wir das jetzt wirklich noch einmal diskutieren?“, fragte Ten und schenkte ihr ein Lächeln, das Grübchen in seine Wangen zauberte. Lanas Herz tat einen kleinen Hüpfer. Wie konnte man nur so unverschämt gut aussehen und dabei noch so charmant sein. Oh, Mann, beruhige dich! rief sie sich zur Ordnung. Andererseits war es nicht wirklich verwunderlich, dass dieses Prachtexemplar von einem Mann sie gehörig durcheinanderbrachte. Schließlich hatte sie in den vergangenen Monaten nicht gerade viel Kontakt zu Männern gehabt. Jedenfalls nicht, seitdem Lana sie für den letzten Dreck hielt.

Da ihr Gerechtigkeitssinn es ihr verbot, ihre Wut auf Jeremy an Tennison West auszulassen, wollte sie nicht zickig sein, und sie beschloss, ihm seinen Willen zu lassen. Die gemeinsame Autofahrt würde sie nicht umbringen.

Lana lief in Richtung der Aufzüge, und Ten lief wie selbstverständlich neben ihr her. „Wie geht’s Ihrem Dad?“

„Macht schon wieder Witze. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich fast denken, dass er seine Krankheit nur vorgetäuscht hat, um mich nach Hause zu locken. Jedenfalls würde ihm das ähnlich sehen.“

Ten zuckte kurz zusammen. Doch er konnte sich keine Schuldgefühle erlauben. Es war gut möglich, dass sie durch Lanas Anwesenheit endlich herausbekommen würden, wo diese Ratte Jeremy Corday sich versteckte.

Ten verzog das Gesicht. Was war das denn jetzt? Bisher hatte er Jeremy Corday lediglich als einen Verdächtigen in einer FBI-Ermittlung betrachtet, ohne dass irgendwelche persönlichen Gefühle involviert waren. Und auf einmal bedachte er ihn mit abwertenden Bezeichnungen? Vielleicht war es deshalb, weil Ten vorher noch mit keinem Opfer von Corday in persönlichem Kontakt gestanden hatte. Je länger er mit Lana zu tun hatte, desto mehr tat sie ihm leid und desto stärker fühlte er sich zu ihr hingezogen.

Ten sah Lana fragend an. „Sie machen Witze, oder? Müsste er so weit gehen, um Sie dazu zu bringen, nach Hause zu kommen?“

Kurz befürchtete er, es übertrieben zu haben. Lana starrte ihn für einen scheinbar endlosen Moment schweigend an. Dann seufzte sie. „Sie wollen einen Film über meinen Dad machen, daher will ich auf keinen Fall etwas sagen, was nachher darin auftaucht. Ich bin sicher, Sie verstehen das.“

Die Aufzugtüren öffneten sich. Ten und Lana warteten, bis diejenigen, die aussteigen wollten, an ihnen vorübergegangen waren, bevor sie selbst den Fahrstuhl betraten. Sie waren allein. Ten drückte den Knopf, der den Aufzug in die Lobby brachte. „Ich bin gerade nicht bei der Arbeit“, versicherte er ihr. „Ich gebe Ihnen mein Versprechen als Journalist und, noch entscheidender, als ehrenhafter Mensch, dass alles, was Sie mir erzählen, unter uns bleibt.“

Lana lachte leise. „Jetzt drehen wir uns im Kreis. Ich kenne Sie nicht gut genug, um Ihnen zu vertrauen, selbst wenn Sie mir Ihr Wort geben.“ Lanas Bedarf an charmanten Männern war ausreichend gedeckt. Das hatte sie Jeremy zu verdanken.

„Warum erzählen Sie mir nicht stattdessen etwas über sich?“, fragte sie herausfordernd.

Ten zuckte die Schultern, als sei dies ein Leichtes. „Was wollen Sie wissen?“

„Nur das Wichtigste.“

„Okay. Ich bin fünfunddreißig, Single und wohne in Washington, D. C., aber geboren bin ich in Virginia.“ Ten legte die Hand auf die Brust. „Ich habe die University of Virginia besucht und da meinen Abschluss in Literaturwissenschaft gemacht.“

„Literatur?“ Lana zog die fein geschwungenen Brauen hoch. „Kann man damit was anfangen?“

„Gute Frage“, erwiderte Ten. „Aus genau dem Grund habe ich meine Liebe für den Film zum Beruf gemacht. Ich interessiere mich für Bücher und Schriftsteller. Das ist mein Spezialgebiet.“

„Und Ihre Eltern? Sind die auch so verrückt nach Büchern und Schriftstellern wie Sie?“

„Eigentlich nicht. Warum?“, fragte er neugierig.

„Haben sie Sie nicht Tennison nach dem Dichter Tennyson genannt?“

Ten lachte. „Das ist eine komische Geschichte. Lassen Sie mich damit beginnen, dass meine Eltern wirklich verrückt nach Kindern sind.“

Lana fing an zu lachen. Auf einmal war ihr ein verrückter Gedanke gekommen, weshalb seine Eltern ihn Tennison genannt hatten, aber sie konnte es kaum glauben. „Nein …“, unterbrach sie ihn. „Bitte erzählen Sie mir nicht, dass Sie der zehnte Sohn sind. Ten wie zehn und son wie Sohn … Tennison?“

„Ich bin nicht der zehnte Sohn, aber ich bin tatsächlich ihr zehntes Kind. Und zum Glück auch das letzte. Meine Eltern haben sechs Söhne und vier Töchter. Ich bin das Nesthäkchen.“

Lana liefen vor Lachen die Tränen die Wangen herunter. „Es tut mir leid, wenn ich unsensibel bin, aber allein der Gedanke, dass Ihre Eltern Sie Tennison genannt haben, weil Sie ihr zehntes Kind sind … das ist so … süß.“

„Da haben Sie sich noch mal gut aus der Affäre gezogen“, entgegnete Ten und fiel in ihr Lachen mit ein. „Aber ich glaube, dass Ihre Interpretation zu wohlwollend ist. Meine Vermutung ist, dass ihnen nach neun Kindern, von denen zwei Zwillingspärchen sind, schlicht die Namen ausgegangen sind. Mich Tennison zu nennen war eine gute Möglichkeit, nicht zu vergessen, dass ich der Zehnte bin.“

Lana wischte sich die Tränen von den Wangen. „Sind Ihre Geschwister alle noch am Leben?“

„Ja. Und meine Eltern auch. Sie können mir glauben, wenn wir ein Familientreffen haben, kommen eine ganze Menge Leute zusammen.“

„Wie viele Nichten und Neffen haben Sie?“

„Beim letzten Zählen waren es siebenundzwanzig“, entgegnete Ten, ohne zu zögern. „Ich bin der Einzige von uns, der keine Kinder hat.“

„Sie können sich glücklich schätzen, eine so große Familie zu haben“, sagte Lana und lächelte ihn an.

Als sie in der Lobby ankamen, entdeckte Ten den Mann, der ihnen schon vom Flughafen gefolgt war. Er saß im Wartebereich und tat so, als sei er in die Zeitschrift, die er vor sich hielt, vertieft.

Ten wandte den Blick schnell ab, um Lanas Aufmerksamkeit nicht auf den Mann zu lenken. Vorhin hatte Lana den Mann sofort bemerkt, und Ten wollte nicht, dass sie ihn dabei erwischte, wie er den Mann beobachtete. Dann wäre er ihr eine Erklärung schuldig.

„Darf ich Sie jetzt also nach Hause fahren?“

Doch bevor Lana antworten konnte, ertönte hinter ihnen ein schriller Schrei. Als sie sich umdrehten, stand eine kleine Frau hinter ihnen. „Lana!“

Ten traute seinen Ohren kaum, als auch Lana anfing zu kreischen. „Bobbi Lee!“

Die beiden Frauen fielen sich umgehend in die Arme, und ihre freudigen Schreie hallten laut in der Lobby wider.

„Ich habe schon gehört, dass du in der Stadt bist“, sagte Bobbi Lee, deren hübsches Gesicht vor Freude und Zuneigung strahlte.

Sie war fast zwei Köpfe kleiner als Lana und hatte eine sehr weibliche Figur. Ihr langes schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, und sie trug grüne Krankenhauskleidung und weiße Turnschuhe.

Nachdem Bobbi Lee sie aus ihrer Umarmung entlassen hatte, nahm Lana sie in Augenschein. „Was sehe ich da? Hast du einen neuen Beruf?“ Als sie ihre alte Freundin und Cheerleader-Kollegin zuletzt gesehen hatte, war sie Rezeptionistin bei einem Zahnarzt gewesen.

„Ich bin jetzt seit einem Jahr staatlich geprüfte Krankenschwester“, erklärte Bobbi Lee stolz.

„Herzlichen Glückwunsch“, erwiderte Lana freudig. „Gefällt es dir?“

„Ja, ich liebe den Job.“ Dann fiel Bobbi Lees Blick auf Ten. „Oh, tut mir leid, ich wollte euch nicht stören.“

„Bobbi Lee Erskine, das ist Tennison West.“

Bobbi Lee und Ten begrüßten sich. „Stimmt, ich habe schon gehört, dass Sie einen Film über Mr. Aaron machen wollen.“

Willkommen in der Kleinstadt, dachte Ten. Ich bin erst vor drei Tagen angekommen und schon Gesprächsstoff.

„Eigentlich soll es ein Dokumentarfilm werden“, fügte Lana erklärend hinzu.

„Na ja, du weißt ja, dass Miss Gladys es mit den Einzelheiten nicht so hat“, erwiderte Bobbi Lee und lachte. „Momma arbeitet immer noch für sie, und Miss Gladys versorgt sie mit allen Neuigkeiten. Und wenn Mom sie mir dann weitererzählt, kommt die Geschichte manchmal ein bisschen anders an.“

„Wie geht es Miss Louise?“

„Längst über das Rentenalter hinaus und immer noch keine Lust, endlich in Rente zu gehen“, witzelte Bobbi Lee. Dann wurde ihr Gesicht ernst. „Ich habe gehört, dass Mr. Aaron sein Herz untersuchen lässt. Ich will dich nicht aufhalten, wenn du zu ihm willst.“

„Nein, das tust du nicht. Ich war schon bei ihm. Wir wollten gerade wieder wegfahren. Zum Glück geht es ihm gut.“

„Das freut mich“, sagte Bobbi Lee nachdrücklich. „Ich wollte auch gerade nach Hause fahren. Soll ich dich mitnehmen?“

„Danke, das ist lieb von dir, Bobbi Lee, aber ich habe schon eine Mitfahrgelegenheit“, entgegnete Lana bedauernd.

Ten, der den Mann, der ihnen gefolgt war, beobachtete, war dankbar für die Gelegenheit, die sich durch Bobbi Lees Angebot unerwartet auftat. Wenn Lana mit ihr nach Hause fahren würde, könnte er dem Unbekannten folgen und herausfinden, wer er war. Er zögerte nicht einen Moment. „Ist schon gut. Fahren Sie mit Bobbi Lee. Ich rufe Sie später an, falls Sie noch etwas brauchen. Ich wohne bei Miss Gladys. Ich bin also gleich um die Ecke.“

„Okay“, antwortete Lana zögernd. Sie war immer noch nicht sicher, ob sie Ten wirklich trauen konnte, aber er schien in Ordnung zu sein. „Danke, dass Sie mir geholfen haben.“

„Es war mir ein Vergnügen“, beteuerte Ten, bevor Lana und Bobbi Lee zum Ausgang gingen. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und tat so, als ob er seine Mailbox abhörte.

Sobald Lana und Bobbi Lee das Gebäude verlassen hatten, legte der Mann die Zeitschrift weg und verließ ebenfalls das Krankenhaus. Ten folgte ihm.

Zu Tens Überraschung folgte der Mann jedoch nicht Bobbi Lees sportlichem SUV, sondern nahm mit seinem Toyota Corolla Kurs in Richtung des Zentrums von Kitty Hawk. Kaum fünfzehn Minuten später parkte er seinen Wagen vor einem alten Gebäude, das, soweit Ten sehen konnte, drei unterschiedliche Gewerbe beherbergte: einen Kosmetiksalon, einen Friseur und ein Detektivbüro. Ten beobachtete, wie der Mann ausstieg und die Tür des Detektivbüros aufschloss. Ich wette, er ist sein einziger Angestellter, dachte Ten.

Anstatt anzuhalten, fuhr Ten gleich weiter nach Hatteras Island, wo der Rest seines Teams unweit des Braithwaite-Anwesens in einem Hotel untergebracht war. Ten selbst wohnte in Gladys Easterbrooks Bed and Breakfast, sodass er, falls nötig, zu Fuß zu dem Haus der Braithwaites gelangen konnte. Während sein Team den Privatdetektiv überprüfte, würde er ein Auge auf Lana haben.

Jeden Abend vor dem Einschlafen legte Lana ihr Medaillon ab und betrachtete die Fotos, die sie hineingetan hatte. Es waren Bilder ihrer Eltern. Ihre Mutter auf der rechten und ihr Vater auf der linken Seite.

Als Jeremy ihr das schwere Goldmedaillon zu ihrem fünften Jahrestag geschenkt hatte, hatte er ein Foto von sich und ein Foto von ihnen beiden, das bei ihrer Hochzeit aufgenommen worden war, hineingelegt. Doch seitdem er verschwunden war, hatte Lana die Fotos herausgenommen.

Sie legte das Medaillon außer zum Duschen und Schlafen nie ab. Als sie das Gesicht ihrer Mutter betrachtete, durchströmte Lana ein warmes Gefühl. Genau wie sie selbst war Mariette nicht im klassischen Sinne schön gewesen. Doch ihre ausdrucksvollen braunen Augen und ihr herzliches Lächeln waren wunderschön. Lana hatte beides von ihr geerbt.

Sie legte das Medaillon auf den Nachttisch und machte es sich im Bett bequem. Bowser, dem es verboten war, auf dem Bett zu schlafen, suchte sich ein Plätzchen auf dem Boden direkt am Fuße des Bettes. Lana gähnte und knipste das Licht aus. „Gute Nacht, mein Lieber“, murmelte sie, und Bowser antwortete ihr mit einem leisen Winseln.

Es machte Lana nichts aus, allein in dem großen Haus zu sein. Bowser war bei ihr, und außerdem hatte ihr Vater eine erstklassige Alarmanlage installiert, die sie eingeschaltet hatte, bevor sie nach oben ins Schlafzimmer gegangen war.

Nur wenige Minuten nachdem sie sich hingelegt hatte, war Lana tief und fest eingeschlafen.

Kurz nach drei Uhr morgens wurde Lana von Bowsers unterdrücktem Knurren geweckt. Sie riss die Augen auf und sah sich im Schlafzimmer um. Es war stockfinster. Als sie die Hand ausstreckte, um die Nachttischlampe anzuschalten, fühlte sie, statt wie erwartet den Schalter zu finden, den Arm von jemandem. Lana schrie entsetzt auf, warf sich auf die entgegengesetzte Seite des Bettes und sprang aus dem Bett. Bowser war schon auf den Beinen und verfolgte denjenigen, den sie versehentlich berührt hatte. Lana hörte schwere Schritte die Treppe hinunterhasten. Sofort schaltete sie das Licht an und blickte sich überall im Zimmer um. Die obere Schreibtischschublade, wo sie ihren Schmuck aufbewahrte, war geöffnet, aber ansonsten schien alles unberührt.

Sie hörte Bowsers Bellen von unten. Die Vernunft riet ihr, den Eindringling nicht zu verfolgen. Heutzutage waren Einbrecher viel dreister als früher. Sie hatte Geschichten von Einbrechern gehört, die einfach die Haustür eintraten und ganze Familien brutal misshandelten.

Stattdessen griff Lana zum Hörer des Telefons, das auf dem Nachttisch stand. Als sie das Freizeichen hörte, atmete sie erleichtert auf. Wenigstens hatte der Einbrecher nicht daran gedacht, die Telefonleitung zu kappen. Hastig wählte sie die 911 und meldete den Einbruch, während sie gleichzeitig versuchte zu hören, was unten vor sich ging.

Auf einmal ging ihr etwas Seltsames auf. Komisch, warum habe ich nichts gehört? Warum ist die Alarmanlage nicht angegangen? fragte sie sich. Wenn Bowser nicht geknurrt hätte, hätte sie wahrscheinlich gar nichts mitbekommen. Das konnte nur bedeuten, dass der Eindringling den Sicherheitscode der Alarmanlage kannte. Aber wie war er an den Code gekommen?

Die Frau am anderen Ende der Leitung sprach einen starken Südstaatendialekt und wies sie an, die Schlafzimmertür von innen abzuschließen. Die Polizei würde in weniger als fünf Minuten vor Ort sein. Lana fragte sich, weshalb sie nicht selbst auf den Gedanken gekommen war, die Tür abzuschließen, und folgte den Anweisungen der Frau.

Sie sprach mit der Frau in der Einsatzzentrale, bis sie die Polizeisirenen vor dem Haus hörte. „Sie sind da.“

„Gut“, erwiderte die Frau. „Bleiben Sie noch dran. Der Einbrecher hat die Haustür höchstwahrscheinlich aufgelassen, als er geflüchtet ist.“

Die Frau hatte recht. Ungefähr dreißig Sekunden später klopfte ein Polizist von außen an die Schlafzimmertür.

„Miss Corday, ich bin Officer Edwards. Ich bin beim Hatteras Islands Police Department. Man hat uns einen Einbruch gemeldet. Geht es Ihnen gut?“

In der Zwischenzeit war Gladys ungefähr einen Kilometer weiter den Strand runter aufgestanden, um sich ein Glas Wasser aus der Küche zu holen. Als sie zufällig aus dem Fenster blickte, sah sie das Blaulicht des Polizeiwagens, der in Richtung der Braithwaites raste. Da Gladys ihren Mann, der an Einschlafproblemen litt, nicht wecken wollte, ging sie stattdessen zu Tens Zimmer und klopfte an seine Tür.

Schlaftrunken wankte Ten mit nichts als seinen Boxershorts bekleidet zur Tür und öffnete sie. Sein halbnackter Zustand brachte Gladys für einen kurzen Augenblick außer Fassung, aber sie hatte sich schnell wieder im Griff. Ten wettete darauf, dass wohl eine ziemlich lange Zeit vergangen war, seit sie einen nackten Männerkörper wie seinen vor sich gehabt hatte. „Bei Aarons Haus ist irgendwas los“, platzte sie heraus. „Die Polizei oder ein Krankenwagen, ich hab’s nicht genau erkennen können.“

Ten brauchte keine weitere Aufforderung. Sofort war er hellwach. „Ich gehe sofort nachsehen“, sagte er hastig und schloss die Tür, um sich so schnell wie möglich anzuziehen. Zwei Minuten später sprintete er den Strand entlang.

Gladys ging auf die Terrasse und sah ihm nach. „Meine Güte, was für ein Mann!“ Sie lachte laut auf.

So schnell er konnte, lief Ten zum Haus der Braithwaites. Zwei Streifenwagen waren vor der Eingangstür geparkt. Insgesamt waren vier Polizisten anwesend. Zwei standen auf der Veranda und versuchten anscheinend herauszufinden, wie der Eindringling ins Haus gelangt war. Die anderen beiden waren im Haus und befragten Lana.

Als Lana aufblickte und Ten erkannte, konnte er sehen, wie erleichtert sie war, jemanden zu sehen, der ihr vertraut war. „Tennison. Ich hatte ganz vergessen, dass Sie bei Miss Gladys übernachten.“

Ten war überrascht, als sie Trost suchend auf ihn zukam, und noch mehr überraschte es ihn, wie natürlich es sich anfühlte, sie in den Arm zu nehmen.

Die Polizisten sahen ihn misstrauisch an.

„Alles in Ordnung. Er wohnt bei meiner Nachbarin ein paar Häuser weiter am Strand“, erklärte Lana. „Sie führt ein Bed and Breakfast. Ich kenne ihn.“

Der leitende Beamte erläuterte Ten kurz, was vorgefallen war, und fragte dann, ob Ten jemandem begegnet sei, als er zum Haus gerannt war.

„Nein. Ich habe niemanden gesehen“, entgegnete Ten bedauernd.

„Haben Sie das Zuschlagen einer Autotür oder einen Motor starten gehört, nachdem der Eindringling geflohen ist?“, fragte Officer Edwards Lana.

Lana schüttelte den Kopf.

„Wahrscheinlich hat er seinen Wagen außer Hörweite abgestellt“, vermutete Ten. „Wenn Lana ihn erst gehört hat, als er in ihrem Schlafzimmer war, wollte er möglichst keinen unnötigen Lärm machen.“ Er blickte sich um. „Und da es kein Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen gibt, muss der Einbrecher den Code für die Alarmanlage kennen, wie Lana schon vermutet hat.“

Officer Edwards zwirbelte ein Ende seines buschigen schwarzen Schnurrbarts. „Wer außer Ihnen und Ihrem Vater kennt den Code?“

Darauf wusste Lana keine Antwort. Sie bezweifelte, dass ihr Vater den Code einer seiner Freundinnen gegeben hatte. Das hätte ihm überhaupt nicht ähnlich gesehen. „Am besten, Sie sprechen mit meinem Vater, Officer. Ich bin nur zu Besuch hier.“

Officer Edwards seufzte resigniert. Offenbar hatte er auf mehr Anhaltspunkte gehofft, um die Ermittlungen fortführen zu können. „Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment“, bat er und ging nach draußen, um mit den anderen Kollegen zu sprechen. Der zweite Officer folgte ihm.

Als die Polizisten draußen waren, fragte Ten: „Sind Sie sicher, dass nichts fehlt?“

Wie automatisch griff Lana nach ihrem Hals, um ihr Medaillon zu berühren. Sofort bemerkte sie sein Fehlen. „Mein Medaillon!“ Sie rannte nach oben, von Ten gefolgt.

Als sie ihr Medaillon auf dem Nachttisch fand, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus. „Gott sein Dank, es ist noch hier“, sagte sie und ließ es in die Tasche ihres Morgenmantels gleiten.

Dann gingen sie wieder nach unten, wo Officer Edwards schon auf sie wartete. „Miss Corday …“, sagte er ernst, „… wir konnten kein Anzeichen dafür finden, dass sich der Einbrecher gewaltsam Zutritt verschafft hat. Bisher müssen wir also davon ausgehen, dass er den Code für die Alarmanlage kannte. Sind Sie ganz sicher, dass Sie die Alarmanlage aktiviert haben, bevor Sie schlafen gegangen sind?“

„Ja, ganz sicher.“

„Ihr Vater ist ein erfolgreicher Schriftsteller. Bei dem Eindringling könnte es sich um einen verwirrten Fan handeln. Jedenfalls handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Einbrecher. Der Täter war gut vorbereitet. Aber wir werden ihn finden. Bis wir ihn gefunden haben, sollten Sie sich allerdings nicht allein im Haus aufhalten. Haben Sie einen Ort, wo Sie in Sicherheit sind, bis wir ihn gefunden haben?“

„Officer …“, fiel Ten ein. „Mrs. Corday wird sich nicht allein hier aufhalten. Ich bleibe bei ihr.“

Der Polizist blickte zu Lana, um zu sehen, ob sie mit Tens Vorschlag einverstanden war. Lana nickte. „Danke, Officer. Mit Bowser und Mr. West fühle ich mich sicher.“

Bowser stand neben ihr und wedelte wie zur Bestätigung mit dem Schwanz. Lana strich ihm über den Kopf.

Officer Edwards blickte zu Bowser hinunter und lächelte. „Einen schönen Hund haben Sie da.“ Lana hatte ihm vorher berichtet, wie Bowser den Einbrecher aus dem Haus gejagt hatte.

Lana brachte Officer Edwards zur Tür und bedankte sich bei den anderen Polizisten. Dann schloss sie die Haustür, verriegelte sie und aktivierte wieder die Alarmanlage.

Lana wandte sich zu Ten um. „Ich kann jetzt auf keinen Fall schlafen. Haben Sie Lust, einen von Dads alten Filmen zu gucken?“

Sie setzten sich auf die Couch im Wohnzimmer und sahen Imitation of Life in der Version von 1934 mit Louise Beavers und Claudette Colbert. Wie immer bei diesem Film heulte Lana sich die Seele aus dem Leib.

Lana machte Popcorn und holte jedem ein Corona, das Lieblingsbier ihres Vaters. Lana trank so gut wie nie und hoffte, dass der Alkohol sie schläfrig machen würde, aber Tens Gesellschaft war so angenehm, dass sie nach dem ersten Bier gar nicht müde war.

Hinter vorgehaltener Hand stieß sie leise auf. „Entschuldigung.“

„Bitte, Lana. Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen“, witzelte Ten. „Sind alle Südstaatenschönheiten so vornehm?“

„Südstaatenschönheit? Mein Vater hat bestimmt keine Südstaatenschönheit großgezogen. Aber wo wir gerade von Manieren sprechen, finden Sie nicht, dass wir Du zueinander sagen könnten?“

Ten grinste. Der Schlagabtausch begann ihm Spaß zu machen. Sie lagen beide ausgestreckt auf der fast zweieinhalb Meter langen Couch, sodass ihre Füße sich berührten. Ten trug Socken und Lana war barfuß. Sie war immer noch nur mit ihrem Morgenmantel bekleidet. Darunter trug sie nichts als ein knappes Nachthemd. Der Mantel aus dickem Baumwollstoff reichte ihr jedoch bis über die Knie und enthüllte nichts Unziemliches. Trotzdem genoss Ten die Aussicht auf Lanas wohlgeformte Unterschenkel. Bisher hatte er Lana nur in Jeans zu Gesicht bekommen.

„Gerne! Und als was hat dein Daddy dich großgezogen?“, fragte Ten und zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Ich glaube, dass er eigentlich gern einen Sohn gehabt hätte. Er hat mir Schwimmen und Fischen beigebracht und gezeigt, wie man mit einem Gewehr umgeht. Außerdem hat er mich gelehrt, hart zu sein, selbst in Momenten, in denen ich am liebsten wie ein Baby geheult hätte.“

„Du hörst dich an wie Tucker Brady.“

Lana setzte sich aufrechter auf das Sofa und sah ihn auf einmal mit anderen Augen. Tucker Brady war der Lieblingsheld ihres Vaters aus seinen Büchern. Tucker war in den Outer Banks geboren und aufgewachsen und hatte von seinem Vater gelernt, wie man von dem, was die Natur zu geben hat, überleben kann und sich mutig jedem Hindernis entgegenstellt. Tucker war Detektiv in New York, der auf das, was er in den Outer Banks gelernt hatte, zurückgriff, um Kriminelle in der Stadt zu fangen.

„Du hast die Tucker-Brady-Bücher gelesen?“

Ten lachte. „Natürlich habe ich die gelesen. Hätte ich deinen Dad sonst gefragt, ob ich einen Dokumentarfilm über ihn machen darf, wenn ich kein echter Fan wäre?“

„Wahrscheinlich nicht“, gab Lana zu. „Ich treffe nur nicht oft Männer, die lesen.“

„Ist das ein Pluspunkt?“, fragte Ten neckend.

„Das wäre einer, wenn ich nicht zufällig eine verheiratete Frau wäre“, erwiderte Lana, um den Flirtversuch von Ten im Keim zu ersticken.

„Verstehe“, sagte Ten. Sein Blick blieb an ihrem Ringfinger hängen. „Sobald ich dich gesehen habe, ist mir aufgefallen, dass du keinen Ehering trägst. Ich nenne dich nur Mrs. Corday, weil dein Vater mir gesagt hast, dass du verheiratet bist.“

Lana ließ sich wieder auf die Couch sinken und seufzte. „Das ist eine lange Geschichte. Und eine, die diesen – von dem Einbruch mal abgesehen – sehr schönen Abend ziemlich versauen würde.“

Ten lächelte. Er freute sich, dass Lana langsam auftaute und ihn als Freund zu betrachten begann. „Ich will dich ja nicht aushorchen. Wenn du mir nicht erzählen magst, weshalb du den Ring nicht trägst, ist das vollkommen okay.“

Lana sah ihm in die Augen. „Ich trage ihn nicht, weil ich nicht mal weiß, wo mein Mann sich gerade aufhält. Wenn du die ganze Geschichte erfahren willst, musst du nur den Namen Jeremy Corday googeln.“

Ten würde nicht so tun, als ob er nicht wüsste, wer Jeremy Corday war. Wenn er sich im Vorfeld nicht gründlich über Aaron Braithwaite und seine Familie informiert hatte, bevor er ihn aufsuchte, um einen Film über ihn zu machen, würde er einen ziemlich lausigen Journalisten abgeben.

„Mach dir keine Sorgen, Lana“, sagte er sanft. „Ich weiß, wer Jeremy Corday ist, und ich glaube kein Wort von dem, was die Presse über dich verbreitet hat.“

Lana wirkte nicht im Geringsten überrascht von seinem Geständnis. Sie blickte ihm immer noch unverwandt in die Augen. „Irgendwie habe ich geahnt, dass du die ganze Zeit schon Bescheid wusstest.“

„Wie bist du darauf gekommen?“, fragte er vorsichtig.

„Du hast mich so angesehen … so mitfühlend. Fast mitleidig.“

Autor

Cindy Gerard

Als Cindy Gerard anfing, ihr erstes Manuskript zu schreiben, wollte sie vor allem eins: es auch beenden. Der Gedanke, es zu verkaufen, kam ihr viel später. Und erst, als sie einen Verlag gefunden hatte, der es veröffentlichen wollte, wurde ihr klar, dass es nicht bei diesem einen Werk bleiben würde....

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Olivia Gates
Olivia Gates war Sängerin, Malerin, Modedesignerin, Ehefrau, Mutter – oh und auch Ärztin. Sie ist immer noch all das, auch wenn das Singen, Designen und Malen etwas in den Hintergrund getreten ist, während ihre Fähigkeiten als Ehefrau, Mutter und Ärztin in den Vordergrund gerückt sind.
Sie fragen sich jetzt bestimmt –...
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