Love & Hope Edition Band 6

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3 Romane von JILL LYNN

ZEIT ZU LIEBEN ZEIT, ZU VERZEIHEN?

Bei der Rückkehr in ihren Heimatort trifft Addie ihre erste große Liebe Evan wieder. Als er ihr bei der Renovierung ihrer kleinen Pension hilft, verliebt sie sich erneut in ihn. Doch verzweifelt fragt sie sich: Wird er ihr je vergeben, wenn sie ihm ihr Geheimnis gesteht?


GIB DIE HOFFNUNG NIE AUF!

Das Glück der kleinen Honor ist alles, was zählt! Nur deshalb duldet Pflegemutter Charlie den Besuch von deren Onkel Ryker. Bis ungeahnte Gefühle in Rykers Nähe erwachen. Erfüllt sich etwa ausgerechnet mit dem wilden Cowboy doch noch ihre größte Sehnsucht – eine Familie?


MEIN HERZ SOLL DEIN ZUHAUSE SEIN

Als Ivy nach einem Unfall mit ihren Drillingen in Colorado strandet, überlässt Rancher Finn Brightwood ihr vorübergehend seine Ferienwohnung. Ein Fehler? Ivy erinnert ihn an seine Ex, die ihm einst das Herz brach. Trotzdem möchte er sie bald nicht mehr gehen lassen …


Leseprobe

Jill Lynn

LOVE & HOPE EDITION BAND 6

Jill Lynn

1. KAPITEL

Evan Hawke betrachtete schon lange keinen speziellen Ort mehr als sein Zuhause. Aber die Stadt Westbend in Colorado, in der er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, wollte ihm offenbar etwas anderes beweisen. In der Main Street schien die Zeit ebenso stehen geblieben zu sein wie in den Rocky Mountains, die sich beeindruckend wie eh und je hinter der Stadt erhoben. Alles sagte: Vertraut. Bekannt. Willkommen zurück! Doch seine innere Stimme hielt dagegen: Bleib lieber auf Abstand!

Er betrat Herbert’s Hardware Store, den großen Baumarkt, und vergaß für einen Moment, dass Belay, seine Golden-Retriever-Hündin, ihm wie immer dicht hinter seinem linken Bein folgte. Das war das Bein, an dem er vom Knie abwärts eine Prothese trug, die es ihm erlaubte, halbwegs normal durchs Leben zu gehen …

Erst jetzt entdeckte er das Schild mit dem Hinweis, dass Tiere im Baumarkt nicht gern gesehen waren, und da Belay kein Hilfshund war, musste sie draußen warten. Natürlich konnte er sehr gut ohne sie gehen, aber er genoss nun mal ihre Begleitung. Früher hatte Evan gar nicht gewusst, wie sehr er Belay brauchte! Bis sie einfach so in sein Leben geplatzt war, nachdem sie die Prüfung als Führungshund nicht bestanden hatte …

„Komm, Bel.“ Es waren gut zehn Grad, und die Sonne schien. Auch wenn es am Vortag noch einmal Schnee gegeben hatte, war es für Belay kein Problem, draußen zu bleiben. Evan musste sich nie Sorgen darum machen, dass sie jemanden belästigte. Eigentlich traf eher das Gegenteil zu – die Menschen ließen Belay nicht in Ruhe. Sie war einfach ein zu freundliches, zu schönes Tier, als dass Kinder und Erwachsene einfach so an ihr hätten vorbeigehen können.

Er fand ein trockenes Plätzchen für sie unter der Markise. „Platz!“ Belay gehorchte, sah ihn aber aufmerksam an für den Fall, dass er seine Meinung änderte. Vorsichtshalber band er ihre Leine an einem Fahrradständer fest. „Ich bin gleich zurück. Warte.“

Sie senkte enttäuscht die Nase – pikiert wie ein Model beim Schönheitswettbewerb, das schon in der Vorrunde ausscheiden musste.

Im Baumarkt war es so warm, dass Evan seine gefütterte Jacke aufknöpfte. Er schnappte sich einen Wagen und schob ihn durch die Gänge, bis er zu den Fliesen kam, die er für das Haus seiner Mom brauchte. Herbert’s hatte keine große Auswahl an Farben oder Formen, aber Evan fand, was er suchte. Er und sein Bruder Jace hatten die Reparaturarbeiten, die sie durchführen wollten, vorher gemeinsam durchgesprochen. Es musste nur einigermaßen erträglich aussehen – und damit verkaufbar sein –, dann waren sie schon zufrieden.

Eigentlich war Evan ein Naturbursche, und Innenarbeiten lagen ihm nicht besonders. Aber seine Mom war vor drei Monaten gestorben, und seither stand ihr Haus leer. Er und Jace hatten beschlossen, dass es Zeit wurde, sich darum zu kümmern. Zeit zu renovieren und zu verkaufen. Zeit, sich von einem weiteren Andenken an ihre Mutter zu verabschieden.

Ein Gefühl tiefer Trauer, wie er es zuvor nur ein einziges Mal erlebt hatte, befiel ihn bei dem Gedanken an sie. Er hatte sie vor ihrem Tod noch zweimal besuchen können. Als der Arzt ihn bat, schnell zu kommen, weil es zu Ende ging, hatte er sich sofort aufgemacht, aber es war zu spät gewesen, sich noch von ihr zu verabschieden.

Er bedauerte es jetzt. So wie er vieles bedauerte.

Sein Bruder war mitten in seiner Ausbildung zum Rettungssanitäter. Er hatte eine Weile gebraucht, bis er wusste, was er nach seiner aktiven Zeit beim Rodeo tun wollte. Und Evan war immer klar gewesen, dass ein ruhiger Bürojob keine Option für Jace wäre, denn da hätte der Kick gefehlt, der Adrenalinstoß.

In der Hinsicht waren sie sich sehr ähnlich.

Das erklärte, wieso Evan Berge bestieg und Gruppen von Traumapatienten an ihre Grenzen brachte. Es hatte etwas Heilsames, Dinge zu tun, von denen man glaubte, sie nicht tun zu können – oder zu sollen!

Das war für Außenstehende kaum nachvollziehbar, das wusste er. Nur seine Mom hatte ihn irgendwie verstanden. Ein weiterer Grund, wieso er sie vermisste.

Jace und seine Frau Mackenzie hatten schon ganze Arbeit geleistet und das Haus leer geräumt. Nun war es an Evan, den Rest zu machen.

Er stapelte die Kartons mit den Fliesen in seinen Einkaufswagen. Zusätzlich brauchte er noch Fugenmörtel und ein paar Abstandhalter. Kinderschritte trippelten seinen Gang entlang. Ein kleiner Junge – vielleicht zwei Jahre alt – blieb neben ihm stehen.

„Hi.“ Er hielt Evan eine Rolle Malerkrepp hin, als sei es ein kostbares Geschenk.

„Hi.“ Evan lächelte. Der Junge hatte schokoladenbraunes Haar, das ihm in die Stirn fiel, und braune Augen, die ihn voller Neugier ansahen. Neben seiner goldbraunen Haut wirkte Evan fast blass.

„Danke, aber das solltest du behalten.“ Evan hob abwehrend eine Hand, aber der Kleine hielt ihm die Rolle immer noch hin. Da er nicht wusste, was er tun sollte, drehte er die Hand, und der Junge ließ das Kreppband hineinfallen, bevor er ein paar Schritte weiterrannte. Er nahm einen Mixstab vom Haken und lief zu Evan zurück, um ihm auch dieses Geschenk in die Hand zu drücken. Ehe er protestieren konnte, hatte der Junge noch Knieschoner und einen Schwamm gebracht.

Gab es irgendwo eine Mom oder einen Dad des Kindes? Im Gang entdeckte er niemanden. Sollte er jemanden an der Kasse informieren?

Während der Kleine sich damit beschäftigte, in den unteren Regalen alles durcheinanderzubringen, legte Evan die Dinge beiseite, die er ihm gegeben hatte, und fuhr fort, die Sachen einzuladen, die er brauchte. Er würde den Laden nicht verlassen, ohne vorn jemanden zu informieren, aber gleichzeitig musste er auch sehen, dass er mit seiner Arbeit weiterkam.

Als der kleine Junge den Hauptgang betrat, der durch den ganzen Laden lief, war die Stimme einer Frau zu hören. „Sawyer! Da bist du ja! Du darfst doch nicht einfach weglaufen. Du musst immer bei mir bleiben.“

Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor. Vielleicht lag es auch nur daran, dass Evan genau heraushören konnte, wie die Sprecherin versuchte, ihre Sorge um den Jungen zu unterdrücken … Es gelang ihr, ganz ruhig zu erscheinen und dem Jungen keinen Vorwurf dafür zu machen, dass er verschwunden war. Das schätzte Evan. Seine Mom war auch immer ruhig geblieben. Sie hatte mit vielem fertigwerden müssen, besonders mit Dad, aber sie war immer gut gewesen zu ihren Söhnen.

Evans Dad war ein ziemlicher Loser gewesen. Er war bei einer Kneipenschlägerei ums Leben gekommen. Vielleicht war das einer der Gründe, wieso es Evan nicht leichtfiel, nach Hause zu kommen. Solche Erinnerungen blieben ein Leben lang haften. Was auch immer aus ihm und seinem Bruder geworden war – ihrem Dad waren sie dafür keinen Dank schuldig.

Der kleine Junge schien zu ahnen, dass er eingefangen werden sollte. Deswegen rannte er schnell zurück in den Gang, in dem Evan noch beschäftigt war. Sollte er ihm aus dem Weg gehen? Oder ihn auffangen?

Einer Eingebung folgend drehte er seinen Wagen so, dass er den ganzen Gang versperrte. Es klappte: Der Kleine musste anhalten, um zu überlegen, wie seine Flucht weitergehen sollte. Das gab seiner Mom Zeit genug, ihn einzuholen und in ihre Arme zu ziehen.

„Sawyer, du musst bei Mommy bleiben!“ Ihr Blick flog zu Evan. „Vielen Dank für die Hilfe …“ Sie erstarrte vor Schock – genau wie Evan.

Die zierliche Frau mit dem pechschwarzen Haar und der honigbraunen Hautfarbe, die sie ihren Filipino-Vorfahren zu verdanken hatte, brachte mit einem Schlag seine ganze Vergangenheit wieder hoch.

„Addie!“ Er musste sich räuspern, bevor die Stimme ihm gehorchte.

„Ich wusste nicht, dass du in der Stadt bist.“

Sie sagten es wie aus einem Munde.

„Hi!“ Der Junge – Sawyer – zappelte, um heruntergelassen zu werden und Evan noch einmal zu begrüßen. Ahnte der kleine Racker, was er da tat? Dass er mit seinem Gruß blitzschnell das Eis brach, das sich sofort zwischen den Erwachsenen gebildet hatte?

„Hi!“ Evans Antwort schien ihn zu beruhigen, denn er hob die Hand, um zu winken, und betrachtete dann seine kleinen Finger.

Addie stellte ihn auf den Boden, und er schnappte sich das Kreppband, um es ihr hinzuhalten. „Das, Mommy. Baues Band.“

„Du kannst dein blaues Band haben, aber du musst hier im Gang bei mir bleiben, okay?“

„Okay, Mommy.“ Sawyer begann seelenruhig, alles, was er zuvor aus den Regalen geholt hatte, aufzustapeln und wieder umzustoßen.

„Du bist … zu Besuch?“ Addies Frage enthielt so viel mehr, als die wenigen Worte vermuten ließen. Evan machte ihr keinen Vorwurf. Er war ja ebenso neugierig.

„Ja, ich lebe inzwischen in Chattanooga, Tennessee.“ Die meiste Zeit war sein Apartment allerdings unbenutzt, während er mit verschiedenen Gruppen überall in den Staaten unterwegs war. „Ich bin zurück, weil meine Mom gestorben ist.“ Das war vielleicht nicht die eleganteste Art, diese Information zu vermitteln, aber sein Verstand war im Moment nicht voll funktionsfähig. Diese Wirkung hatte Addie schon immer auf ihn gehabt. Er hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt, als sie sich eines Abends nach dem Rodeo kennengelernt hatten! Er war zu der Zeit mit Maisy Tilly zusammen gewesen, aber nach nur einem Gespräch mit Addie hatte er sich von Maisy getrennt.

Die ihm das wahrscheinlich bis heute nicht verziehen hatte …

„Das habe ich gehört. Es tut mir leid, Evan.“

„Danke. Sie fehlt mir.“ Er löste seine Hand von dem Wagen. „Ich bereite ihr Haus für den Verkauf vor. Jace und Mackenzie – mein Bruder und seine Frau – haben es schon leer geräumt. Ich bin jetzt nur hier für die letzten Handwerkerarbeiten, bevor wir es zum Verkauf anbieten.“ Er wusste nicht, was in ihn gefahren war. All das, was er hier ohne Punkt und Komma von sich gab, interessierte doch keinen Menschen! „Was machst du so?“ Er konnte die Flut von Belanglosigkeiten nur stoppen, indem er dem Gespräch eine neue Wende gab.

„Ich lebe jetzt hier in Westbend.“ Wieso schockierte ihn das so? Es tat schon fast weh. Was für eine merkwürdige Reaktion. „Ich will die alte Pension neu eröffnen.“

Während der Sommerferien hatte Addie früher immer im Little Red Hen Bed and Breakfast bei Alice, der Cousine ihrer Mutter, und ihrem Mann Benji gelebt, beide liebevoll Tita und Tito genannt.

Aber nach dem Sommer, als sie Evan kennengelernt hatte und alles so unglaublich schnell absolut katastrophal gelaufen war, hatte das aufgehört … Evan hätte nicht gedacht, dass Addie jemals nach Westbend ziehen würde!

„Benji und Alice waren immer sehr gut zu dir.“

Tränen traten in ihre dunklen Augen. Wunderschöne Augen, die ihm wie ein Brunnen der Vergangenheit erschienen, voll all der Dinge, die einmal gewesen waren und die es nicht mehr gab. Sie zogen ihn fast magisch an.

„Das stimmt. Deswegen möchte ich ihr altes Bed and Breakfast auch wiedereröffnen. Das haben sie sich immer gewünscht und ich mir auch. Ich musste einfach …“ Sie zuckte die Schultern. „Ich musste es einfach tun.“

„Kaufst du dafür jetzt ein?“ Sie hatte ihren Wagen am Ende des Ganges stehen lassen, als sie losgerannt war, um Sawyer einzufangen. Er war mit allen möglichen Heimwerkerutensilien gefüllt.

Der kleine Junge reichte Addie eine Auswahl aus seinen Fundstücken, und sie nahm sie geistesabwesend entgegen. „Tita und Tito haben das B & B vor zwei Jahren verkauft. Zu dem Zeitpunkt war Tito schon eine Weile krank gewesen. Er ist gestorben, und Tita ist ihm kurz darauf gefolgt. Es war, als hätte ihr Herz ohne ihn keinen Grund mehr gesehen, weiterzuschlagen. Die neuen Besitzer haben angefangen, die Pension zu renovieren, aber sie sind nicht sehr weit gekommen, bevor ihnen das Geld ausgegangen ist. Ich beende jetzt die Projekte, die sie begonnen haben, und versuche, alles aufzufrischen, um zum Old–Westbend–Wochenende neu zu eröffnen.“ Sie verzog das Gesicht. „Ich habe sogar schon ein paar Reservierungen für das Wochenende angenommen, sodass ich nun keine Wahl mehr habe. Die Arbeit muss fertig werden.“

In zweieinhalb Wochen? Wow! Evan wusste nicht, was Addie alles zu machen hatte, aber es klang sportlich.

„Ich nehme an, du machst das nicht allein?“

Sie sah ihn fragend an. Sie war verheiratet, oder? Die Addie, die er kannte, würde sich nicht einfach auf eine Affäre einlassen. Gut, sie beide waren vielleicht ein schlechtes Beispiel dafür, aber er hatte immer gewusst, dass sie sehr viel konservativer war, als ihr Verhalten damals vermuten ließ. Sie waren Teenager gewesen – jung, verliebt und sorglos. Keine gute Kombination!

„Ich meine deinen Mann. Er muss wohl ein paar handwerkliche Fähigkeiten haben.“ Wie sonst hätten sie ein Projekt dieser Größenordnung übernehmen können?

„Ich … bin geschieden.“ Der Schmerz, der für einen Moment über ihre Züge huschte, tat ihm weh.

Unabhängig davon, wie es zwischen ihnen geendet hatte, hatte Evan über die Jahre hinweg immer eine Schwäche für Addie behalten. Er hatte ihr stets nur das Beste gewünscht – und für sie gebetet. Das tat er regelmäßig, seit er nicht mehr mit Gott haderte und angefangen hatte, wieder mit ihm zu sprechen. Wie oft hatte er sich gefragt, was wohl aus seiner großen Teenagerliebe geworden sein mochte. Darauf, dass sie wieder in der Stadt war, wäre er nie gekommen. Oder dass sie mit sechsundzwanzig wieder ganz von vorn anfangen musste.

Sein Mitleid ließ sich nicht unterdrücken. Alle inneren Sirenen schrillten. Sie warnten davor, sich emotional in irgendeiner Weise zu engagieren. Addie gehörte in die Vergangenheit. Sie stand für das, was einmal gewesen war. Er war wegen seiner Mom hier. Um ihr Haus für den Verkauf herzurichten und damit auch auf gewisse Weise ihr Leben zu ehren. Sonst sollte alles so bleiben, wie es war. Mit der ganzen Welt vor sich, die er erkunden konnte.

Und in dieser Welt war kein Platz für Addie.

Evans Miene zeigte alle Gefühle, die Addie Ricci selbst empfand, wenn sie an ihre Situation dachte – Sorge, Enttäuschung, Überraschung.

Sie hatte nie geplant, so hier zu landen: Geschieden. Alleinerziehend. Beladen mit Schuld und Scham.

„Ich mache das alles allein.“ Die Worte laut ausgesprochen zu hören, versetzte sie wie immer in Angst. Was hatte sie sich dabei gedacht? Wie konnte sie ein solches Projekt ganz allein übernehmen? Wie sollte sie eine Pension führen, wenn sie keinerlei kaufmännische Kenntnisse hatte? Sie war nur drei Jahre im Sommer hier bei Tito und Tita gewesen. Die ältere Cousine ihrer Mutter und ihr Mann hatten Addie geliebt wie eine eigene Tochter. Sie hatten immer davon gesprochen, dass sie eines Tages das B & B übernehmen würde. Diesen Traum hatte Addie bereits seit jungen Jahren, aber durch Titos Krankheit war dann alles anders gekommen.

Die beiden hatten Addie ein kleines Erbe hinterlassen, und sie hatte es gespart. In dem Moment, als das Gerücht in Umlauf kam, die Pension sei wieder auf dem Markt, war Addie sofort aktiv geworden. Sie hatte das ererbte Geld als Anzahlung für den Kaufpreis des B & B verwendet, und nun stand sie mit dem Projekt da – vollkommen überfordert und dennoch wider jede Vernunft entschlossen, es durchzuziehen.

Die Sommer in Colorado waren die schönsten ihres Lebens gewesen. Addie hatte die kleine Stadt Westbend und die Arbeit im B & B immer geliebt. Bei der Versorgung der Gäste helfen, Telefonate führen, Reservierungen aufnehmen und Frühstück servieren. Sogar das Reinigen der Zimmer hatte ihr damals Spaß gemacht, weil alles neu für sie gewesen war.

In ihrem letzten Sommer in Westbend war sie aber sicher keine große Hilfe gewesen! Weil sie sich in den Jungen verliebt hatte, der jetzt als Mann vor ihr stand. Evan Hawke war die pure Versuchung gewesen. Wahnsinnig attraktiv. Schlank und muskulös. Er war zu der Zeit neben der Schule Reiter beim Rodeo, was ihn natürlich noch interessanter machte. Ein wagemutiger junger Mann, der sich bei näherem Kennenlernen als ein total netter Kerl erwies.

Sie hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt.

In den letzten zehn Jahren war aus dem Jungen ein Mann geworden. Besonders der kurzgeschnittene Bart ließ ihn extrem männlich wirken. Sein Gesicht, seine Schultern, die ganze Statur war markanter geworden. Sie spürte wieder dasselbe Interesse an ihm wie damals, aber wenn es einen Mann gab, der für sie tabu war, dann war es Evan.

„Als wir uns das letzte Mal gesehen haben …“ Damals war er im Krankenhaus gewesen, voller Angst und mit entsetzlichen Schmerzen. An dem Abend hatte Addie unter Tränen Tita und Tito die Erlaubnis abgerungen, in einem Sessel neben Evans Bett zu schlafen, damit seine Mutter sich erholen konnte. Die Nacht war schrecklich gewesen.

Nachdem Ärzte, Freunde und Familie gegangen waren, blieb Evan allein mit der Qual seiner Amputation. Er hatte sich gewunden vor Schmerzen und geschrien, und sie hatte nichts weiter tun können, als die Schwestern anzuflehen, ihm stärkere Schmerzmittel zu geben …

Evan fuhr sich mit einer Hand über das Kinn – eine Geste, die sie noch von früher kannte. „Ja, das war die schrecklichste Woche meines Lebens. Und du bist die ganze Zeit bei mir geblieben.“

„Natürlich.“ Addie hatte immer gewusst, dass Evan am Tag seines Unfalls ihretwegen abgelenkt gewesen war. Natürlich war sie bei ihm geblieben und hatte ihn unterstützt. Sie hätte nichts anderes tun können. Dass sie damals zurück nach Michigan fahren musste, während Evan noch unter Schock stand – das hatte ihr fast das Herz gebrochen.

Der Mann, der jetzt vor ihr stand, ließ all diese schlimmen Erinnerungen erscheinen, als hätten sie nur in ihrer Fantasie existiert. Seine Hose und der Schuh verbargen die Folgen der Amputation. Hätte sie es nicht besser gewusst, wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass ihm ein Bein vom Knie abwärts fehlte.

Aber natürlich war es alles passiert.

Einschließlich dessen, was dann kam. Das, was sie getan hatten, und sein Unfall setzten eine Kette von Ereignissen in Gang, die Addie niemals für möglich gehalten hätte.

„Und dann musstest du nach Hause fahren.“ Die Fragen in seinen braunen Augen waren nicht zu übersehen.

„Das stimmt.“ Die Situation war sehr schnell außer Kontrolle geraten. Ihre Eltern hatten herausgefunden, was zwischen Evan und ihr gewesen war, und sie hatten ihre Beziehung jäh beendet. Total.

„Sieh dich mal an.“ Sie deutete auf ihn. „Du bist erwachsen geworden, und wie ich höre, bist du auch sehr erfolgreich.“ Seine ruhige Selbstsicherheit stand ihm. Er schien einen inneren Frieden gefunden zu haben, den sie immer noch suchte.

Die Pension wieder aufzumachen, war ein Teil ihres Versuchs, selbst diesen Frieden zu finden. Sie wollte neu anfangen und die Probleme der Vergangenheit hinter sich lassen. Eines dieser Probleme war nun plötzlich aus heiterem Himmel ausgerechnet hier wiederaufgetaucht.

„Ach, ich weiß nicht …“ Evans Ohren wurden immer noch rot, wenn er verlegen war. „Du bist mit dem kleinen Mann also allein?“ Er nickte in Richtung Sawyer, der auf dem Boden saß und spielte. Die Angewohnheit, ein Gespräch von sich abzuwenden, hatte er schon damals gehabt. Viele Männer liebten es, über sich selbst zu sprechen, aber Evan hatte sich immer auf sie konzentriert und ihr eine Million Fragen zu ihrer Kindheit gestellt und über die Filipino-Kultur, die zur Familie ihrer Mutter gehörte. Er wollte wissen, was sie für Träume hatte und wo sie leben wollte, wenn sie es frei entscheiden könnte.

Die Antwort auf die letzten beiden Fragen war schon damals dieselbe wie heute gewesen: Sie wollte das B & B betreiben und in dieser Stadt leben.

Addies Träume mochten alt sein, aber sie hatte noch einen langen Weg vor sich, um sie umzusetzen.

„Richtig. Sawyer und ich sind ein Mom-und-Sohn-Superhelden-Duo.“ Sie lachte leise. „Vielleicht ohne die Superhelden.“ Ihr Versuch, das Ganze mit Humor zu nehmen, misslang. Vielmehr zeigte es nur einmal mehr ihr persönliches Fiasko.

„Das muss hart sein. Es tut mir leid, Addie.“

Sie sah, dass er es ernst meinte.

Ihr tat es auch leid. Leid um die schmerzlichen Erinnerungen, die während dieses scheinbaren Small Talks in ihr aufstiegen. Leid um die Fehler, die sie gemacht hatte und die zu diesem Moment geführt hatten. Leid um das, was Evan nicht wusste und was ihm sehr wehtun würde, sollte er es je erfahren.

„Es ist sicher nicht das, was ich mir erträumt habe.“ Sie zuckte die Schultern, als spielten ihre schlechten Entscheidungen keine Rolle, aber das taten sie natürlich. Zählte man noch die Scheidung zu ihrer Was-habe-ich-mir-dabei-nur-gedacht?-Liste, dann war die Aufzählung wirklich peinlich und qualvoll. Sie hätte Rex niemals heiraten dürfen. Er war ihr Versuch gewesen, dem Druck ihrer Eltern zu entkommen, und dieser Versuch war völlig fehlgeschlagen. Als sie feststellte, dass sie schwanger war, war ihre Ehe sofort am Ende. Rex war weder an ihr interessiert gewesen noch daran, Vater zu sein. „Manchmal läuft das Leben nicht so, wie wir es erwarten.“ Das war ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.

„Mommy.“ Sawyer zupfte sie am Bein. „Nach Hause.“

„Du hast recht, Buddy. Wir müssen gehen.“

Die Tatsache, dass Sawyer immer noch bei ihr war, war erstaunlich. Einen Zweijährigen – besonders diesen – zu bitten, stillzusitzen oder ein paar Minuten zu warten, war so, wie wenn man von einem jungen Hund erwartete, nicht auf den Hausschuhen zu kauen.

Addie hatte jede Menge Dinge in der Hand, die Sawyer ihr „geschenkt“ hatte. Sie verteilte alles rasch wieder an die richtigen Stellen im Regal, schließlich wollte sie keine Schneise der Verwüstung im Laden hinterlassen. Sie war darauf angewiesen, dass die Leute aus der Stadt sie unterstützten und sie weiterempfahlen. Es wäre nicht gut gewesen, wenn man sie als inkompetente Mutter empfunden hätte.

„Es war … schön, dich wiederzusehen, Evan.“ Noch mehr Lügen. Es tat einfach nur weh, ihn zu sehen. Wenn jemand etwas so lange mit sich herumgetragen hatte wie sie und dann auf den Menschen stieß, dem sie diese Last zu einem gewissen Teil zu verdanken hatte, dann war das nicht schön, sondern schmerzhaft.

„Ging mir umgekehrt genauso.“

Addie nahm Sawyer auf den Arm, schnappte sich ihren Wagen und verschwand Richtung Kassen – innerlich gebeugt unter der Last ihres Bedauerns.

Wie oft hatte sie einen Gott, an den sie kaum noch glaubte, um eine Gelegenheit angefleht, die Wahrheit mit Evan teilen zu können? Sie wusste es schon nicht mehr. Aber was sollte sie machen? Ihm alles in einem Baumarkt um die Ohren schlagen? Das war ja wohl weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt.

Die Pension würde in den nächsten Wochen ihre ganze Kraft und Aufmerksamkeit fordern. Sie durfte nicht scheitern. Sawyers und ihr Leben hingen davon ab, dass das Bed and Breakfast ein Erfolg wurde.

Unter diesen Umständen war das Auftauchen von Evan Hawke eine mittlere Katastrophe.

2. KAPITEL

„Hat Misty ihr Baby bekommen?“ Evan nahm das Gespräch über die Freisprechanlage seines SUVs an und parkte an derselben Stelle vor dem Baumarkt wie am Vortag. Der Schock, Addie wiederzusehen, hatte ihn derart durcheinandergebracht, dass er gleich nach ihr gegangen war und die Hälfte der Dinge vergessen hatte, die er brauchte.

Diese verheerende Wirkung hatte sie schon immer auf ihn gehabt, aber er hätte es nicht für möglich gehalten, dass sich daran im Laufe der Jahre nichts geändert hatte.

„Nein, sie hat noch nicht einmal Wehen.“ Christophers Frust war nicht zu überhören. Evans Geschäftspartner und guter Freund war Traumatherapeut. Sie liebten beide das Abenteuer. Wenn sie mit Gruppen unterwegs waren, war Christopher stets als Berater dabei. Anders ausgedrückt: Er war derjenige, der die Teilnehmenden in einer Krise davon abhielt, die Kontrolle zu verlieren. Er half, ermunterte und hörte zu. Christophers Frau hätte vor drei Tagen ein Kind bekommen sollen. Das war der Grund dafür, dass sie sich eine Auszeit genommen hatten bei ihren Gruppenangeboten. Sie hatten um das zu erwartende Geburtsdatum herum geplant, weil Christopher auf jeden Fall zu Hause sein wollte, wenn das Baby kam. Aber Evan begann zu begreifen, dass Babys sich nicht unbedingt an Termine hielten.

„Es kann sein, dass wir unsere Auszeit verlängern müssen“, fuhr Christopher fort.

„Gut.“ Evan ging im Geiste ihre Planung durch. „Wir haben uns ja noch etwas Luft gelassen vor der nächsten Exkursion. Mach dir keinen Stress. Wir bekommen das schon hin. Falls ich eine Gruppe ohne dich übernehmen muss, ist das auch in Ordnung. Ich habe dir im Laufe der Jahre genug zugehört. Ich nehme an, ich könnte es schaffen.“ Nicht, dass er auch nur halb so gut wie Christopher wäre. Aber Evan hatte sein eigenes Trauma hinter sich, als er damals sein Bein verlor. Er kannte alle Anzeichen eines Schocks. Die Art, wie es einem die Luft zum Atmen nahm. Die nackte Angst, die unweigerlich folgte.

„Danke, Mann. Ich halte dich auf dem Laufenden.“

Sie beendeten das Gespräch.

Die Arbeit im Haus seiner Mom ging Evan erstaunlich schnell von der Hand. Ungewöhnlich für ein Bauprojekt! Emotional war es ein Kampf für ihn, im Haus zu sein, ohne die Stimme und das Lachen seiner Mutter zu hören. Vielleicht beeilte er sich deswegen so mit der Arbeit? Seine Mom hatte eine Herzschwäche entwickelt, nachdem sie lange an einem Lungenemphysem gelitten hatte. Am Ende war es sehr schnell gegangen – schneller, als irgendjemand es erwartet hätte.

Evan schwang sich aus dem Wagen. Diesmal ließ er Belay auf dem Rücksitz. Die Hündin hatte unverkennbar das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen, deswegen ließ sie ihn durch ein Winseln wissen, wie unzufrieden sie war. Evan schüttelte den Kopf und grinste. Er hatte die Fenster einen Spaltbreit offen gelassen, sodass sie genügend Luft bekam. Es war wärmer geworden, typisches Frühlingswetter in den Bergen. In einem Moment schneite es, im nächsten schien wieder die Sonne.

Nachdem Evan alles erstanden hatte, was er brauchte, verstaute er die Sachen hinten in seinem Wagen. Er rollte die Scheiben herunter, während sie durch die Stadt fuhren, und Belay steckte den Kopf einmal links, einmal rechts heraus, um nichts zu verpassen. Als er die Abzweigung erreichte, die zum Haus seiner Mom führte, merkte Evan, dass er mit seinen Gedanken bei Addie war.

Wie ging es bei ihrer Arbeit voran? Erstickte sie unter der Last ihrer verschiedenen Projekte oder ging ihr alles leicht von der Hand?

Seit Addie damals am Ende des Sommers nach Michigan zu ihren Eltern zurückgekehrt war, hatte er sich gefragt, was aus ihr geworden sein mochte. Sie hatten noch eine Woche telefonisch Kontakt gehalten, aber dann hatten ihre Eltern die Beziehung energisch beendet. Addie hatte ihm eine Nachricht geschickt – ihre Eltern wollten, dass sie sich auf die Schule konzentrierte. Sie sollten eine Weile keinen Kontakt zueinander haben.

Evan hatte das damals verstanden. Er lag im Krankenhaus und musste sich darauf konzentrieren, im wahrsten Sinne wieder auf die Beine zu kommen. Als er Monate später einen Versuch machte, wieder Kontakt zu Addie aufzunehmen – rein als Freund –, war ihre Nummer nicht mehr vergeben.

Bevor Addie Colorado verlassen hatte – vor seinem Unfall –, waren sie in jenem Sommer unzertrennlich gewesen. Sie hatten beide ein wenig gejobbt, aber sie hatten vor allem die Zeit miteinander genossen. Sie waren an den heißen Quellen gewesen. Waren mit dem Kajak gefahren. Waren geschwommen und hatten am Pool gelegen. Sie hatte ihm beim Rodeo zugesehen …

Evan sah oft mit tiefem Bedauern auf diese Zeit zurück. Er hatte es einfach für selbstverständlich genommen, dass das Leben schön und sorglos war. Das alles war mit einem Schlag dahin, als er seinen Unfall hatte – nachdem Addie ihm gesagt hatte, es könne sein, dass sie schwanger sei. Einige Tage später hatte sie ihm im Krankenhaus gesagt, es sei falscher Alarm gewesen. Gott sei Dank!

Evan bedauerte die Leichtfertigkeit, die sie zu diesem Punkt gebracht hatte. Er hätte es besser wissen sollen. Seine Mom hatte ihn dazu erzogen, zuerst nachzudenken, bevor er handelte. Aber Vergangenes ließ sich nicht mehr ändern. Zum Glück war Gottes Gnade grenzenlos!

Hinter ihm hupte jemand. Evan winkte entschuldigend, bevor er rasch zur Seite fuhr, um den anderen Wagen vorbeizulassen.

Er sollte nach Hause fahren. Sollte sich nicht einmischen.

Evan war ein Wanderer zwischen den Welten. Er blieb nie zu lange an einem Ort, entwickelte keine Bindungen. Sein Bruder Jace war jünger als er, daher erinnerte er sich vielleicht nicht mehr so deutlich an die Zeit, in denen ihr Dad sich statt für sie für den Alkohol entschieden hatte. Evan lernte die Lektion gut. Die meisten Dads brachten ihren Kindern das Angeln bei oder Fahrrad fahren oder Mathematik. Ihrer lehrte sie, auf Abstand zu ihren Mitmenschen zu bleiben.

Evan gab Gas. Wie ein ungehorsames Kind schlug sein Wagen die Richtung zum Little Red Hen Bed and Breakfast ein. Alle inneren Alarmsirenen schrillten, aber Evan hörte nicht auf sie. Seine Neugier war stärker.

Das B & B lag am Rande der Stadt – ein paar Blocks westlich der Main Street –, am Fuße der Rocky Mountains. Das Haus stammte noch aus den Gründerzeiten der Stadt und hatte einen gewissen historischen Charme. Evan hoffte in Addies Interesse – und das ihres kleinen Sohnes –, dass sie die Pension wieder zum Laufen bringen und einen Profit machen konnte. Schließlich mussten sie zu zweit davon leben.

Langsam fuhr er an dem Haus vorbei und registrierte erleichtert, dass Addie nicht draußen war, sodass er ungesehen weiterfahren konnte. Die Farbe des B & B blätterte zwar noch nicht ab, hatte aber eindeutig schon bessere Zeiten gesehen. Plötzlich hörte Evan ein Kind schreien. Automatisch trat er auf die Bremse.

Nichts. Er musste es sich wohl eingebildet haben.

Nein. Da war es wieder.

Belay schoss über den Rücksitz und hängte sich halb aus dem Fenster, um zu sehen, was los war.

„Was ist, Bel? Hast du es auch gehört?“

Er erhielt ein dreimaliges Bellen zur Antwort. Evan war sich ziemlich sicher, dass das ein Ja war.

Er fuhr auf die Auffahrt, nun ganz sicher, dass er sich das Weinen nicht eingebildet hatte. Natürlich konnte es sein, dass Mutter und Sohn gerade eine Auseinandersetzung hatten, und es würde einigermaßen aufdringlich wirken, wenn er dabei auftauchte. Aber er konnte die Sorge nicht ignorieren, die bei ihm aufgekommen war. Belays Reaktion schien zu bestätigen, dass er sich die Gefahr nicht einbildete. Er parkte den Wagen und ließ die Hündin heraus. Sie folgten gemeinsam dem Geräusch des Weinens zur Veranda, die um das halbe Haus herum führte. Belay folgte ihm auf dem Fuße, wie sie es immer tat.

Sawyers Kopf, das Gesicht leuchtend rot und tränenüberströmt, steckte zwischen den Streben des Geländers.

„Hey, Buddy, sitzt du fest?“ Evan hielt den Ton ruhig, während er die Situation abschätzte. Wo war Addie? Und wie hatte der Junge es geschafft, sich in diese Lage zu bringen? „Erinnerst du dich an mich? Wir haben uns gestern im Baumarkt gesehen. Du hast mir dieses coole Malerkrepp geschenkt.“

Sawyer sagte nichts dazu, aber er hörte auf zu schreien. „Wauwau.“ Evan beobachtete die Hündin, die sich direkt vor dem Jungen auf den Boden gelegt hatte. Wäre sie zu ihm herumgegangen, hätte Sawyer sich anstrengen müssen, um sie zu sehen. Kluges Mädchen!

„Sie heißt Belay. Ein Golden Retriever.“ Evan erzählte noch ein paar Belanglosigkeiten über das Tier, um Sawyer abzulenken, während er langsam näher trat, um sich das Ganze aus der Nähe anzusehen. Den roten Spuren hinter den Ohren nach zu urteilen, hatte der Junge bereits mehrfach versucht, sich aus dem Geländer herauszuziehen. „Wo ist deine Mom, Sawyer?“

Erneut flossen die Tränen. „Mommy.“ Seine Lippen bebten. „Ich will Mommy.“ Das letzte Wort kam wie ein Schrei aus tiefster Seele.

Evan hätte sich ohrfeigen mögen. Da hatte er wohl genau das Falsche gesagt! „Wir finden sie gleich. Sobald ich dich befreit habe.“ Er hatte einiges Werkzeug hinten im Wagen liegen. Vielleicht konnte irgendetwas davon helfen. „Ich bin gleich wieder da. Ich gehe nur …“

„Neiiiiiin!“ Sawyer hatte erkennbar Angst, Evan könne ihn verlassen.

„Ich bleibe ja hier, Sawyer. Ich bin gleich bei dir. Ich nehme die Stufen.“ Evan war bereits losgegangen, während er sprach. Er betrat die Veranda hinter dem Kleinen und näherte sich ihm. „Siehst du? Ich bin da.“ Er ging neben dem Jungen auf die Knie. „Mal sehen, wie wir das machen.“ Er versuchte, den Kopf des Jungen hin und her zu bewegen. Dann zog und zerrte er an den hölzernen Streben, aber sie gaben nicht nach. Er müsste eine Strebe durchsägen, um den Jungen befreien zu können.

Sawyer versuchte, den Kopf zurückzuziehen. Vergebens. Er schrie.

„Tu das nicht, Kleiner. Halte einfach still. Wir lassen uns etwas einfallen. Ich weiß, es fühlt sich nicht gut an, aber im Moment kann dir nichts passieren. Ich hole dich da raus.“ Irgendwie.

Belay begann zu bellen. Sie drehte sich im Kreis. Bellte wieder. Dann legte sie sich einen Moment hin, bevor sie das Ganze noch einmal machte. Sawyer beobachtete sie fasziniert. Die Tränen versiegten. Er drehte leicht die Schulter, um eine Hand nach Belay ausstrecken zu können.

„Gut gemacht, Belay!“ Evan richtete sich mit einiger Mühe wieder auf und eilte die Stufen hinunter, solange Sawyer abgelenkt war. Der Junge hatte den Arm wieder zurückgezogen, aber wenn er es einmal tun konnte, dann konnte er es sicher auch ein zweites Mal. „Streck die Hand nach Belay aus. Sie will, dass du sie streichelst. Direkt hinter den Ohren.“ Evan half Sawyer, seine Hand wieder durch die Streben zu stecken. Dann eine Schulter. Er drehte ihn so, dass der Rest des kleinen Körpers folgen konnte. Sekunden später hatte er den Kleinen auf den Armen. Er war so erleichtert, dass er ihn für einen Moment an sich drückte. Sawyer legte seine Wange an Evans Brust und erschauerte. Es war das schönste Zeichen der Dankbarkeit, das Evan je erlebt hatte. Worte waren überflüssig.

Sawyer begann gleich darauf zu zappeln, weil er nach unten wollte. „Wauwau.“

Evan stellte ihn auf die Füße, und Belay leckte dem Kleinen die Tränen aus dem Gesicht, was ihn zum Lachen brachte. Für das Kind war es, als hätte es das ganze Drama nicht gegeben. Evan konnte es nicht so schnell abhaken. Wie lange hatte der Junge da schon festgesessen? Und wo war Addie? War alles in Ordnung mit ihr? War sie irgendwo im Haus? Verletzt?

„Komm, wir wollen deine Mom suchen.“ Evan machte ein paar Schritte, aber der Junge wich nicht von Belays Seite. „Belay, bei Fuß!“ Die Hündin gehorchte, und Sawyer folgte ihr prompt. An der Haustür erwog Evan, Belay draußen zu lassen, aber sie war so gut für Sawyer, dass er darauf verzichtete. Unter den Umständen hatte Addie sicher nichts gegen ein paar Hundehaare einzuwenden.

Die Tür war offen, und Evan rief laut Addies Namen, während sie zu dritt das Haus betraten.

So viel zu seiner Absicht, sich in nichts hineinziehen zu lassen.

Addie meinte, jemanden ihren Namen rufen zu hören, aber das musste sie sich wohl einbilden, denn die Haustür war abgeschlossen, und es war niemand da außer Sawyer. Sie hatte ihn vor nicht einmal einer Viertelstunde unten vor seinen Lieblingsfilm gesetzt mit einem Snack und etwas zu trinken in Reichweite.

Sie war wirklich keine Kandidatin für den Titel „Mutter des Jahres“! Aber sie hatte Sawyer einfach nicht mit in dem schrecklichen Bad haben wollen, während sie mit dem Dampfreiniger die Fliesen bearbeitete in der Hoffnung, dass danach das Bad wieder benutzbar aussah. Ihr fehlte das Geld, um es neu machen zu lassen. Der Vorbesitzer hatte die Schlafzimmer oben im Haus als reines Chaos hinterlassen, sodass sie den Jungen dort nicht lassen konnte, obwohl es näher gewesen wäre.

Glücklicherweise war das Gros der Möbel aus der Zeit von Tito Benji und Tita Alice noch da. Addie hätte nicht das Geld gehabt, das ganze Haus neu einzurichten. Davon abgesehen mochte sie die alten Stücke. Sie wusste schon ganz genau, wie sie alles auf die verschiedenen Zimmer verteilen wollte.

Noch einmal hörte sie ihren Namen, diesmal deutlicher. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Es kam nicht von draußen. Addie verließ das Bad und nahm die Maske ab, mit der sie Mund und Nase bedeckt hatte.

„Ich bin hier oben!“ Der alte Boden knarzte, als sie zur Treppe ging und über das Geländer nach unten sah.

Was war los? War mit Sawyer alles in Ordnung? Unten an der Treppe tauchten Evan, sein Hund und ihr Sohn auf. Sawyers Wangen waren gerötet und tränenverschmiert. War Evan irgendwie ins Haus gekommen und hatte den Kleinen erschreckt? Was um alles in der Welt war passiert?

Sawyer stürzte an Evan vorbei auf sie zu. Sie riss ihn in ihre Arme und drückte ihn an sich.

„Was ist los? Was ist passiert?“ Er schluckte, wie er es immer tat, wenn er heftig geweint hatte. „Evan, was machst du hier? Wie bist du überhaupt ins Haus gekommen? Die Haustür war doch abgeschlossen.“ Es sollte ihr einerlei sein, wenn sie hysterisch klang. Ihr Puls raste.

„Ich habe Sawyer auf der Veranda entdeckt. Er schrie Zeter und Mordio, weil er mit dem Kopf zwischen den Streben stecken geblieben war.“

Addie ließ sich auf die oberste Stufe sinken. „Wie kann das sein? Ich habe die Haustür doch abgeschlossen. Und ich bin gerade einmal eine Viertelstunde oben gewesen.“ Er musste sofort irgendwie nach draußen gelangt sein. Sie überschüttete sich mit Selbstvorwürfen. Sie war doch eine schreckliche Mutter! Entsetzt lehnte sie ihre Stirn an Sawyers. Wieso hatte sie nicht gemerkt, was passierte? Das Fenster im Bad stand offen, aber die Veranda ging zur anderen Seite des Hauses hin. Der Dampfreiniger hatte wahrscheinlich alle Geräusche von unten übertönt.

Sie musste schrecklich unachtsam wirken. Nicht fit, Mutter zu sein.

Der Hund schob sich zwischen ihre Beine, um das Kind mit der warmen Schnauze zu berühren. Eine irgendwie tröstende Geste.

„Belay, nein!“ Evan wollte die Hündin wegziehen, aber Addie winkte ab.

„Das ist schon gut.“ Addie strich dem Tier über das weiche Fell. „Danke, dass du ihn gerettet hast.“ Ihre Blicke trafen sich kurz, bevor sie die Lider senkte, um ihre Panik zu verbergen.

Was, wenn Sawyer die Veranda verlassen hätte und weggelaufen wäre? Hätten sie ihn im Wald finden können, der die Pension umgab? Nachts wurde es kalt, und es gab wilde Tiere. Addie erschauerte bei der Vorstellung, was alles hätte passieren können.

„Sawyer, du darfst nicht ohne Mommy nach draußen gehen.“ Es fiel ihr schwer, ihn in ihrer Mischung aus Frust und Angst nicht anzuschreien. „Wenn ich dir sage, du sollst dir einen Film ansehen, dann musst du das auch tun. Jetzt darfst du zur Strafe nachher nicht mit deinem Tablet spielen.“

Große Tränen rollten ihm über die Wangen, während er sie flehend ansah. „Tut leid, Mommy. Tut leid.“

„Ich weiß, Süßer, und ich verzeihe dir, aber du bekommst trotzdem eine Strafe, weil du nicht gehorcht hast. Das ändert nichts daran, dass ich dich liebe. Immer. Ganz gleich, was passiert.“

„Keine Stafe.“

Addie wollte sie auch nicht. Nicht nur Sawyer litt, wenn er Zeit am Tablet verlor, sondern auch sie. Das war die einzige Zeit des Tages, in der sie sich um die Büroarbeiten kümmern konnte. Als hätte sie nicht schon genügend Probleme, entpuppte sich ihr Sohn auch noch als Entfesselungskünstler. Der Junge war einfach zu abenteuerlustig. Das erinnerte sie an einen anderen Mann, den sie kannte, nämlich an den, der jetzt vor ihr stand.

Sie wusste, dass Evan seinen Lebensunterhalt damit bestritt, dass er Gruppen von Traumapatienten auf abenteuerliche Exkursionen führte, und sie ahnte, dass er sein Leben dabei nicht selten in Gefahr brachte. Auch wenn Addie kein Recht hatte, sich wegen Evan Sorgen zu machen, verstieß sie gelegentlich gegen diese Regel.

Sie betete nicht oft, aber wann auch immer Evan ihr in den Sinn kam, betete sie um Schutz für ihn. Vielleicht lag es daran, dass er der erste Junge gewesen war, den sie geliebt hatte. Oder daran, dass er der Vater ihres ersten Kindes war. Des Babys, das sie nur ein einziges Mal im Arm gehalten hatte …

Der Junge wuchs bei Adoptiveltern auf. Evan wusste nicht von ihm, weil Addies Eltern es so von ihr gefordert hatten.

Was machte Evan jetzt hier? Hatte Gott ihn geschickt, um ihr eine Chance zu geben, ihm alles zu sagen? Oder war Evan einfach nur wieder in ihr Leben geplatzt, um sie daran zu erinnern, was sie alles falsch gemacht hatte?

Falls Letzteres zutraf, war es vollkommen überflüssig. Addie erinnerte sich nur zu gut an jeden einzelnen ihrer Fehler. Täglich.

3. KAPITEL

Sawyer hatte Hunger. Offenbar hatte er das Drama bereits vergessen. Addie erhob sich und ging an Evan vorbei nach unten. Er folgte ihr mit Belay in die Küche, getrieben von derselben Neugier, die ihn überhaupt erst zum Haus gebracht hatte.

Addie drückte Sawyer so fest an sich, dass er sich beklagte und zappelte, um vom Arm zu kommen. „Tut mir leid, aber es tut mir nicht leid, Mister. Du schuldest Mommy viele Umarmungen für den Schrecken, den du mir versetzt hast.“

Evan warf einen Blick in den Eingangsbereich des Hauses. „Er muss gesehen haben, wie du die Tür abgeschlossen hast, bevor du nach oben gegangen bist. Dann hat er den Schlüssel einfach wieder zurückgedreht.“

Addie sah ihrem Sohn in die Augen. „Das darfst du nie wieder machen, hörst du?“

Sie ließ sich nichts von ihrer Panik anmerken. Dafür bewunderte Evan sie. „Ich glaube, es gibt Schlösser mit Kindersicherung, oder? Ich könnte dir helfen, so etwas einzurichten“, erbot er sich.

„Ja, so etwas gibt es. Ich kann es mir online bestellen, aber vielleicht gibt es das auch bei Herbert’s.“

„Falls du Hilfe brauchst, lass es mich wissen.“ Hatte er sich nicht vorgenommen, sich nicht wieder in Addies Leben einzumischen? Er konnte nur den Kopf über sich schütteln.

Addie setzte Sawyer auf die Bank, die zur Frühstücksecke am Fenster gehörte.

„Möchtest du etwas trinken, Evan?“ Sie zog den Kühlschrank auf. „Ich kann dir Mineralwasser oder Milch bieten.“ Sie seufzte. „Tut mir leid. Wir haben nur das Nötigste da.“

„Kein Problem, ich brauche nichts.“

Die Arbeitsplatten der Küchenzeile waren abgenommen, sodass man von oben in die leeren Schubladen sehen konnte. In der Mitte des Raumes befand sich eine Kücheninsel aus Metall. Im unteren Teil war Platz für Töpfe und Pfannen – genauso, wie es früher bei Tito und Tita gewesen war.

Es hatte sich überhaupt nur wenig verändert. Oben hatte er registriert, dass die Vorbesitzer am Grundriss nichts geändert hatten. Das war wahrscheinlich gut so. Weniger Arbeit für Addie.

„Bist du sicher? Ich möchte dir gern etwas Gutes tun, da du das Leben meines Sohnes gerettet hast.“

Als er sie so betrachtete, musste er sich etwas eingestehen: Als Teenie war Addie hübsch gewesen, nun war sie eine ausgesprochene Schönheit. „Die Gefahr war nicht so groß. Er steckte nur fest.“

„Trotzdem bin ich dir dankbar. Wieso warst du überhaupt da?“

Evan trat von einem Bein auf das andere. Was sollte er sagen?

„Oh nein! Hast du dir wehgetan, als du ihm geholfen hast?“ Besorgt musterte sie sein linkes Bein.

„Nein, nein, alles gut. Ich war nur …“ Ja, was? Neugierig? „Ich wollte mir gern das Haus ansehen … Wollte sehen, wie die Renovierung läuft.“

Addie stellte die Milch wieder in den Kühlschrank, nachdem sie einen Becher für Sawyer gefüllt hatte. „Ich fürchte, der Begriff Renovierung ist etwas zu hoch gegriffen. Ich würde gern sehr viel mehr machen, aber im Grunde bringe ich nur zu Ende, was die vorigen Besitzer angefangen haben.“

Evan sah sich um. Die Schranktüren waren abgehängt.

„Die will ich neu streichen. Das wollten die Vorbesitzer wohl auch. Wenigstens haben sie die alte Farbe schon heruntergeholt.“

„Das ist viel Arbeit, das stimmt.“

„Ich habe auch schon neue Arbeitsplatten bestellt. Ich hätte gern Granit gehabt, aber das ist bei meinem Budget nicht möglich. Also wird es nur Laminat. Das sieht ja auch ganz gut aus. Zumindest rede ich mir das ein.“

Es klang fast so, als müsse sie sich selbst Mut machen. Insgesamt betrachtet lag eine Menge Arbeit vor ihr – zu viel, um sie in so kurzer Zeit allein zu schaffen. „Hast du jemanden, der dir hilft? Einen Bauunternehmer oder einen Handwerker?“ Sie hatte im Baumarkt gesagt, sie sei allein, aber sie konnte sich ja Hilfe geholt haben.

„Nein, dazu fehlt mir das Geld. Ich mache alles selbst. Türen streichen kann ich. Ich habe mir genügend Videos im Internet angesehen.“ Ihre Zuversicht klang etwas aufgesetzt.

Bis zum Old Westbend Weekend blieben noch genau zweieinhalb Wochen. Ausgeschlossen, dass die Gäste zu dem Wochenende anreisten und bereits eine funktionsfähige Pension vorfanden. Die Holzböden waren zerkratzt und mussten abgeschliffen werden. Die Arbeitsplatten mussten installiert werden, die Schranktüren gestrichen. Und das war nur das, was ihm beim ersten Eindruck aufgefallen war. Addies Liste war mit Sicherheit sehr viel länger.

Sie hatte es mit Sicherheit nicht leicht gehabt, wenn sie jetzt mit Sawyer allein war. Evan konnte nur den Hut ziehen vor ihrem Mut, das B & B wieder zu eröffnen und in Westbend ein neues Leben für ihren Sohn und sich zu schaffen. Er kannte die Details ihrer Ehe und der Scheidung nicht, aber vieles konnte er sich denken.

Dann hilf ihr!

Evan wusste, wer das gesagt hätte: seine Mom.

Er hörte es, als stünde sie neben ihm. Dabei hätte sie es nicht einmal in Worte fassen müssen. Ein Blick von ihr hätte genügt.

Seine Mutter war im Grunde auch alleinerziehend gewesen, da sein Dad sich nicht um den Unterhalt der Familie gekümmert hatte. Er hing ja ständig an der Flasche. Mom hatte unendlich viel gearbeitet, war aber immer für Jace und ihn da gewesen. Sie hatte sich nie über ihr Schicksal beklagt, obwohl es mehr als nachvollziehbar gewesen wäre.

Als Evan sie das letzte Mal vor ihrem Tod besuchte, erklärte sie ihm, sie wolle nicht, dass er und sein Bruder herumsäßen und trauerten. „Sei dankbar, dass du lebst!“ Das waren ihre Worte gewesen. „Ich bedaure nichts in meinem Leben. Das solltest du auch nicht.“

Seine Mom war wirklich eine starke Frau gewesen. Eine Kämpfernatur.

Seit sie nicht mehr da war, suchte Evan nach Möglichkeiten, sie zu ehren.

Addie zu helfen – das wäre eine gute Gelegenheit.

Aber hatten die Gefühle, die momentan in ihm rangen, wirklich etwas mit den Wünschen seiner Mom zu tun? Oder ging es nur um seine alte Beziehung mit Addie?

Nein. Sie waren vor zehn Jahren mehr oder weniger noch Kinder gewesen. Die Gefühle von damals konnten keine Rolle mehr spielen. Davon abgesehen, war er einfach nicht gut in Beziehungen. Jedes Mal, wenn eine Beziehung enger wurde, ging er auf Distanz. Das könnte er Addie und ihrem Sohn niemals antun.

Sie war tabu für ihn.

Was bedeutete, dass er Addie getrost helfen konnte, schließlich hatte er nicht vor, ihre alte Beziehung wieder aufleben zu lassen.

Evans Blick verriet Skepsis. Hielt er es für unmöglich, dass sie die Pension bis zum Old Westbend Weekend fertig bekam? Addie wollte nichts davon hören. Es musste alles bis dahin fertig werden. Sie hatte keine andere Wahl.

Sie hatte bereits Reservierungen für zwei Zimmer angenommen. Zwei größere Räume waren noch frei, aber mit etwas Glück konnte sie die auch noch vermieten. Das Wochenende wollte sie mit einem Infostand für Werbung nutzen, um weitere Buchungen für den Sommer zu bekommen. Die Leute mussten irgendwie erfahren, dass das Little Red Hen Bed and Breakfast wieder in Betrieb war. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie alle Räume fertig hatte, aber es würde sich lohnen. Sie hatte immer davon geträumt, das B & B einmal zu betreiben. Nun konnte sie diese Träume Wirklichkeit werden lassen.

Sawyer steckte Belay, die zu seinen Füßen lag, heimlich einige Cracker zu. Da Evan nichts dagegen zu haben schien, sagte Addie nichts dazu. Solange ihr Sohn gesund und munter war und nicht irgendwo allein im Wald herumirrte, sollte ihr alles recht sein.

„Addie, es ist unmöglich, dass du die ganze Arbeit in der kurzen Zeit ohne Hilfe schaffst.“

Seine Einmischung regte sie auf. „Ich kann mir keine Hilfe leisten, Evan. Ich habe jeden Cent gebraucht für den Umzug von Michigan hierher, für die Anzahlung auf das Haus und die nötigen Baumaterialien.“

„Wann kommen die Arbeitsplatten? Es wäre sinnvoll, die Schranktüren bis dahin gestrichen zu haben.“

„Geplant sind sie für Ende dieser Woche.“ Sie musste tief durchatmen, um die aufsteigende Panik im Griff zu behalten.

„Ich nehme an, du hast eine Liste von allem, was du brauchst oder erledigt haben möchtest?“

Es ging im Moment weniger um das, was sie gern getan hätte, als um das, was unbedingt getan werden musste. Die Liste war schon lang genug – und wuchs immer noch. Sie zog sie aus einer der offenen Schubladen. Jedes Mal, wenn sie sie sah, schnürte es ihr förmlich die Luft ab.

Evan überflog die Liste und nickte dann. „Solange ich in der Stadt bin, kann ich dir bei einigen Projekten helfen. Ich habe im Haus meiner Mom nicht mehr sehr viel zu machen, bevor es zum Verkauf angeboten wird, und könnte die übrige Zeit hier einspringen. Jace steckt im Moment mitten in seiner Ausbildung, wir können also nicht so viel zusammen unternehmen, wie ich es gern würde.“

Addie traute ihren Ohren nicht. Evan bot ihr seine Hilfe an? Warum? Wie konnte sie ein solches Angebot annehmen, wenn er nicht wusste, dass sie in jenem Sommer von ihm schwanger geworden war? Mit einem Sohn, von dem er nichts wusste …

„Das ist sehr großzügig von dir, aber ich kann es nicht annehmen.“

„Wieso nicht? Wegen des Beins? Ich verspreche, es immer bedeckt zu halten, falls dich der Anblick stört.“

„Was? Nein! Natürlich nicht deswegen. Niemals.“ Wie konnte er glauben, dass ihr das wichtig war? Zumal sie immer noch das Gefühl hatte, irgendwie mitschuldig zu sein an seinem Unfall mit dem Rasenmäher damals. „Aber … Machst du mir eigentlich Vorwürfe für das, was passiert ist?“

Evan runzelte die Stirn. „Was? Nein. Natürlich nicht.“

„Aber wenn ich dir an dem Morgen nicht gesagt hätte …“

Addie hatte ihm damals gestanden, dass sie womöglich schwanger sein könnte. Sie war in Panik geraten. In große Panik. Ihre Eltern waren sehr streng. Sie wären entsetzt gewesen über Addies intime Beziehung mit Evan!

Addie und Evan waren beide außer sich gewesen vor Sorge.

Und dann … Er war mit seinen Gedanken nicht bei der Sache gewesen, als er an dem Tag den Rasen mähte. Er hatte den Motor nicht abgestellt. Das Ding war ins Rollen geraten …

Addie schluckte, als die Erinnerung Übelkeit in ihr aufsteigen ließ.

„Wir waren noch halbe Kinder, Addie. Ich hätte besser aufpassen sollen. Davon abgesehen, hätten wir von vornherein nicht tun sollen, was wir getan haben. Es war nie meine Absicht …“ Er schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, dass es dazu gekommen ist.“

„Mir auch.“ Addie hatte im Laufe der Jahre oft genug deswegen mit sich gehadert. Keiner von ihnen hatte die Absicht gehabt, es so weit kommen zu lassen. Aber es gab keine Möglichkeit, das Ganze ungeschehen zu machen.

So wie sie nicht ungeschehen machen konnte, dass sie Evan mit einer Notlüge getröstet hatte, die ihr nun für immer nachging.

Er hatte nach dem Unfall so entsetzliche Schmerzen gehabt. War vollgepumpt gewesen mit Medikamenten. Der Junge, den sie geliebt hatte, hatte sich in einen Menschen verwandelt, der kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Wie hätte er ihr helfen können, mit der Angst vor einer Schwangerschaft umzugehen?

Deswegen hatte sie ihm am Tag nach dem Unfall auf seine Frage hin gesagt, sie sei nicht schwanger. Es sei nur falscher Alarm gewesen.

Er war so erleichtert gewesen, dass er sie umarmt und an ihrer Schulter geweint hatte. „Gott sei Dank!“ Das hatte er immer wieder geflüstert.

Die Notlüge hatte nur eine Lüge auf Zeit sein sollen. Es ärgerte sie, dass sie ihre Sorge Evan gegenüber überhaupt erwähnt hatte. Und sie hatte schlimme Gewissensbisse, weil sie sich schuldig fühlte an seinem Unfall.

Ihm zu sagen, sie sei nicht schwanger, hatte ihm damals geholfen. In den folgenden Tagen stabilisierte sich sein emotionaler Zustand. Er begann sich für Prothesen zu interessieren und plante die Zukunft. Die dunklen Schatten unter seinen Augen verschwanden allmählich.

Dafür war Addie bei ihrer Rückkehr nach Michigan vor Angst wie gelähmt gewesen …

Ihre Mom brauchte weniger als eine Woche, um die Schlüsse aus ihrer morgendlichen Übelkeit zu ziehen.

Es war furchtbar. Ihre Eltern machten einen Plan und diktierten ihre nächsten Schritte. Addie fand, sie müssten Evan die Wahrheit sagen. Sie war überzeugt, er könnte damit umgehen, sobald er sich etwas von dem Unfall erholt hatte. Ihre Eltern sahen das anders.

Sie hielten sie unter einer totalen Kontrolle. Sie durfte keinerlei Kontakt mit Evan haben. Während der Zeit ihrer Schwangerschaft erhielt sie zu Hause Unterricht, um mit ihrer Klasse mitzuhalten. Dann waren da die ganzen Formalitäten wegen der Adoption. Es war ihr nach wie vor ein Rätsel, wie sie es schafften, die Adoption ohne Evans Erlaubnis durchzuziehen. Ohne seine Unterschrift.

Addie fragte nicht. Sie wollte nicht wissen, was sie gesagt oder getan hatten, um es zu erreichen …

„Ich weiß nicht, wieso alle meinen, sie seien schuld an meinem Unfall“, sagte Evan jetzt. „Jace hat sich auch die Schuld gegeben. Es war ein Unfall, nichts weiter. Ich habe mit der Sache abgeschlossen. Ich kann sogar sagen, ich wäre nicht der, der ich heute bin, hätte ich nicht diesen Unfall gehabt. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich es erkannt habe, aber irgendwann war ich so weit.“

„Deine Arbeit … Die Art, wie du anderen Menschen hilfst, nach einem Trauma wieder zurück ins Leben zu finden – das ist wirklich beeindruckend, Evan.“

„Danke.“ Er sah aus, als hätte er sich am liebsten unter den Tisch verkrochen. Evan war noch nie gut darin gewesen, Komplimente ent...

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