... Wie Gespenster in der Nacht

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Nebelverhangen liegt der See vor ihm. Wie immer, wenn Andrew MacDougall Vergessen sucht, tritt er ans Ufer des Loch Cee. Hier verspürt er den Trost und die Sicherheit seiner schottischen Heimat, in der Mythen und Legenden noch lebendig zu sein scheinen.

Fiona Sinclair glaubt nicht an Märchen. Und doch ist das immer wiederkehrende Motiv in den Zeichnungen der erfolgreichen Kinderbuchillustratorin das sagenumwobene Seeungeheuer von Loch Cee. Seit Fiona nach einem tragischen Unfall ihren Geburtsort Druidheachd verlassen musste, hat es sie nicht losgelassen.

Nun bringt das Schicksal Andrew und Fiona erneut zusammen. Eine alte Liebe erwacht zu neuem Leben. Die aber kann nur eine Zukunft haben, wenn sich beide ihrer Vergangenheit stellen.


  • Erscheinungstag 10.02.2011
  • ISBN / Artikelnummer 9783862782161
  • Seitenanzahl 352
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

E s waren nur wenige Sterne zu sehen. Die aber schossen wie Blitze über das tiefschwarze Himmelszelt, jedes Mal, wenn Terence MacDougall die Augen zusammenkniff und den Kopf in den Nacken legte.

„Sie fallen alle runter! Die verdammten Sterne fallen alle von dem verdammten Himmel, und es gibt nichts, was man dagegen tun kann!“

Beim letzten Wort stolperte er über einen Stein und fiel vornüber aufs Gesicht. Er versank ein Stückchen in der torfigen Erde, bevor ihm so recht bewusst wurde, was eigentlich passiert war. Umständlich und nur mit beträchtlicher Anstrengung rollte er sich auf den Rücken und sah wieder zum Himmel hinauf. Als er seinen Kopf jedoch endlich bequem gebettet hatte, war der Sternschnuppenschauer vorbei. Stattdessen tanzten die Sterne jetzt kokett über die Highlands, zwinkerten ihm mit ihren strahlenden Augen zu und wackelten mit ihren winzigen Hinterteilen. Und Terence stimmte ein fröhliches Liedchen an.

„Oh, die süßen Mädels aus den Highlands poussieren lustig und werden willig die Deine. Doch die Mädchen aus den Lowlands, die sind so ernst und legen dich erst einmal an die Leine …“

Terence mochte einen gerammelt vollen Pub mit seiner klaren Tenorstimme und seinen deftigen Texten unterhalten, doch flach auf dem Rücken, keine fünfzehn Meter vom Ufer des Loch Ceo entfernt und ohne Publikum lief er nicht unbedingt zu seiner Höchstform auf. Er räusperte sich, um erneut anzusetzen, aber ihm fiel einfach kein Lied ein. Er starrte zum Himmel hoch. Vor seinen Augen verschoben sich die Sterne und fügten sich zu einer Bekanntmachung zusammen, wie auf den Leuchtreklametafeln der piekfeinen Theater im weit entfernten Edinburgh.

Er zeichnete die Worte mit dem Zeigefinger nach und las laut vor: „Der hochwohlgeborene Terence MacDougall gibt sich die Ehre, Sie zum Tauffest seines erstgeborenen Sohnes zu bitten …“

Seine Stimme erstarb. Ihm fiel nicht mehr ein, welchen Namen Jane für den kleinen Wurm ausgesucht hatte. Er hatte natürlich nichts zu sagen gehabt. Seine Jane war eine starke Frau mit viel Durchsetzungsvermögen. Und sie besaß das typische Temperament eines Rotschopfs.

War es etwa seine Schuld, dass die Wehen eine Woche früher als geplant eingesetzt hatten? Wie hätte er das wissen sollen? Und konnte er etwa was dafür, dass Janes Granny, die versprochen hatte, das Kind zu holen, wie ein Stein geschlafen hatte?

Nein, nichts davon war seine Schuld. Außer natürlich, dass er den Winzling in Janes Leib gepflanzt hatte. Und es war doch auch alles glattgegangen! Jane hatte sich auf den Weg in die kleine Dorfklinik gemacht und ihren Sohn in einem schönen sauberen Zimmer zur Welt gebracht. Allein war sie auch nicht gewesen.

Sie hatte sogar reichlich Gesellschaft gehabt.

Terence stimmte ein neues Lied an. „Oh, der Lord und die Lady kamen zur Stadt, gekleidet in Samt und Seide, Old MacDougall kam auch, doch nur bedeckt mit Farn und Heide …“

Aye, sein Sohn war zur gleichen Zeit zur Welt gekommen wie der Sohn des Lords. Man stelle sich vor: der Sohn von Terence MacDougall direkt neben dem Sohn des Gutsherrn! Nun, fast. Der alte Doc Sutherland hatte den Erben des Lords geholt, während Jane das im Nebenzimmer selbst besorgt hatte.

Und da war ja auch noch das andere Baby, der dritte Junge, der genau zur gleichen Zeit auf die Welt gekommen war! Um die Geburt des Sohns von Donald Sinclair, des Dorfwirts, hatte sich die Krankenschwester gekümmert.

Drei kleine Jungs, alle geboren um Punkt Mitternacht an Halloween. Und keiner konnte sagen, wer von den Babys zuerst das Licht der Welt erblickt hatte.

Schwankend setzte Terence sich auf. So langsam ließ sich die Wirkung des Whiskys nicht mehr leugnen. Dabei hatte er Jane versprochen, dass er mit dem Trinken aufhören und sich eine feste Arbeit suchen würde, wenn sie ihm einen Sohn schenkte. Er hatte auch ehrlich vor, sein Wort zu halten. Aber selbst Jane konnte nicht von ihm verlangen, nüchtern zu bleiben, solange sie nicht mit dem Jungen aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Schließlich war er Vater geworden! So vieles musste jetzt genau überlegt, durchdacht und geplant werden.

Er rappelte sich mühsam auf und sah mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. Direkt vor ihm lockte die silberne Oberfläche des Sees. Er lebte gleich um die Ecke, doch diesen Platz hier hatte er sich ausgesucht, weil er einen freien Blick bot und so abgeschieden lag. Hier war keine Menschenseele.

Er stolperte vorwärts, ohne den anderen Steinen, die sich verschworen hatten, ihn erneut zu Fall zu bringen, auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Der Loch Ceo gehörte ihm. Das Wasser des Sees rann durch seine Adern, die Wellen schlugen im gleichen Rhythmus gegen das Ufer wie sein Herz in seiner Brust. Er war untief wie der Uferrand und unergründlich wie die tiefsten Tiefen in der Mitte des Sees. Er war mit dem See verbunden, wie er es mit Jane niemals sein würde.

„Ich habe jetzt einen Sohn!“, rief er über das Wasser, das an seinen Socken leckte. Seine Schuhe hatte er irgendwo auf dem Weg vom Dorf hierher verloren. Es war ja auch nicht das erste Paar. Er watete tiefer ins Wasser, achtete nicht auf die Kälte. „Ich habe einen Sohn, Darling! Einen Winzling mit Haaren so rot wie die seiner Mum und Augen wie die Heide im Herbst. Hast du gehört, Darling?“

Die Wellen schwappten stärker heran, als wollten sie antworten. Doch Terence redete nicht mit dem Wasser.

„Ich weiß nicht, wie wir ihn nennen werden. Vielleicht Fergus. Oder Geddes. Geddes MacDougall. Gefällt dir das, Darling? Wärst du damit einverstanden?“

Seine Worte hallten übers Wasser und kehrten als Echo zu ihm zurück. Er wusste sofort, dass beide Namen nicht passten. Angestrengt versuchte er, sich daran zu erinnern, welchen Namen Jane ausgesucht hatte. Den Bruchteil einer Sekunde bereute er, dass er nicht besser zugehört hatte. Jane war eine gute Frau. Sie hatte viel mehr verdient, als er ihr gab. Sie konnte schließlich nichts dafür, dass seine Treue und seine wirklich tiefen Gefühle einer anderen gehörten.

„Andrew!“ Schlagartig fiel ihm der Name wieder ein. Aye, Jane und er hatten eines Abends über Namen für das Baby geredet, bevor er zu seiner allabendlichen Runde in den Pub aufgebrochen war. „Andrew MacDougall. Wie hört sich das für dich an, Darling? Gefällt dir das besser?“

Nichts auf dem See rührte sich, doch er wusste, dass der Name Andrew passte. Gut passte. „Es sind auch noch zwei andere Jungs geboren worden, aber unser Junge ist der Kräftigste von den dreien, Darling. Man munkelt schon, es sei ein Omen. Weil sie zur gleichen Zeit an Halloween geboren wurden und so. Dass die Schicksale der drei Jungs unzertrennlich miteinander verwoben sind. Glaubst du das auch?“

Das Bild von den drei Jungen blitzte wieder in Terence’ Kopf auf. Als er in der Klinik angekommen war, da hatten die drei Bettchen mit den winzigen Babys nebeneinander gestanden, und selbst der Lord hatte keinen Ton hervorgebracht. Sobald die Babys beieinander waren, wurden sie still, so als wüssten sie irgendwie, dass sie zusammengehörten. Alle drei waren propere stramme Jungs; kein einziger Kümmerling war dabei.

Terence merkte erst, dass er weinte, als ihm die Tränen auf den Wangen zu Eis gefroren. In diesem Augenblick wurde ihm auch bewusst, dass seine Füße taub waren und die Taubheit inzwischen bis zu seinen Knien hinaufgekrochen war.

„Zeig dich, Darling!“, lockte er. „Lass mich sehen, dass du auch glücklich bist!“

Den größten Teil seines Lebens hatte Terence damit zugebracht, auf den See hinauszustarren. Hätte er die gleiche Ausdauer und Konzentration auf das Studieren verwand, besäße er einen Universitätsabschluss. Hätte er mit der gleichen Energie und Entschlossenheit nach einer Anstellung gesucht, würde er wohl in einer hochherrschaftlichen Villa irgendwo auf der Princes Street in Edinburgh wohnen.

„Lass dich sehen und zeig mir, dass du dich für mich freust!“

Regungslos stand er da und wartete. Er spürte seine Beine kaum noch. Eine Wolke schob sich über die silberne Sichel des Mondes, der See wurde zu einem dunklen Spiegel. Dann verzog sich die Wolke, und die Wasseroberfläche hellte sich wieder auf, streckte sich glatt und endlos weit bis zum Horizont. Nur in der Mitte, da tauchten plötzlich Ringe auf, dehnten sich weiter und weiter und kamen auf das Ufer zugerollt.

„Darling!“, entfuhr es Terence leise. „Mein Darling!“

Er hielt die Hand über die Augen, obwohl nichts ihn blendete. Er wünschte, er hätte ein Fernglas dabei. Oder noch die gleichen scharfen Augen wie in seiner Jugend. Und vor allem einen klaren Kopf, der nicht vom besten Whisky des Pubs vernebelt war. Ein Schatten erschien, eine Silhouette so anmutig und stolz wie eine wunderschöne Frau.

„Erbarmen“, flüsterte er. Doch er brauchte weder Erbarmen noch Hilfe und erst recht keine Erklärung. „Darling, endlich! Und was für eine Nacht du dir ausgesucht hast!“

Eine ganze Ewigkeit tat er nichts anderes als Starren, bis der See wieder spiegelglatt und ruhig dalag wie kurz vor dem Morgengrauen. Seine Beine waren bis zu den Hüften taub, als er sich endlich umdrehte. Er strauchelte, aber diesmal war er vorbereitet; er hatte es nicht anders erwartet. Er fing den Sturz ab. Das eiskalte Wasser des Sees schwappte über seine Brust, ließ ihm das Mark gefrieren. Doch das Feuer in ihm brannte und wärmte ihn.

Er war Terence MacDougall, Janes Mann und jetzt Andrews Vater. Wollte er sich an dem messen, was der Rest der Welt als Erfolg definierte, war er ein Verlierer. Er war ein Trunkenbold, ein einfacher Fischer und ein Bootsführer für Touristen, ein ganz annehmbarer Geschichtenerzähler und ein Komponist von kernigen Trinkliedern.

Und er war der Mann, der soeben Zeuge eines Wunders geworden war.

Auf allen vieren kroch er an Land zurück. Massierte und schlug gegen seine Beine, bis das Gefühl in sie zurückkehrte. Dann rappelte er sich wankend auf und steuerte auf die Biegung zu, hinter der das kleine Cottage lag, das schon seit dem ersten Tag seines Lebens sein Zuhause war. Kurz vor der Stelle, wo Bäume die Sicht auf den See versperrten, drehte er sich noch einmal um. Seine Stimme bebte.

„Leb wohl, Darling!“

Er bekam keine Antwort, aber Terence hatte auch nicht damit gerechnet. Wunder sprachen nicht, sie erschienen auch kein zweites Mal. Den Rest seines Lebens würde er von der Kraft dieses einen Wunders zehren. Und er würde seinem Sohn alles über Wunder beibringen.

„Leb wohl, Darling! Und vergiss nicht: Der Name des Jungen ist Andrew! Nur, damit du es weißt, wenn ihr euch begegnet. Unser Andrew wird ein guter Junge werden, das verspreche ich. Ein wirklich guter Junge.“

Nicht einmal ein Wasserring folgte als Antwort, doch Terence wusste, dass sein Darling ihn gehört hatte. Seinen Hut hatte er ebenfalls irgendwo auf dem Weg verloren, wahrscheinlich zusammen mit den Schuhen. Dennoch tippte er sich an den nicht mehr vorhandenen Hutrand, bevor er hinter den Bäumen verschwand.

1. KAPITEL

In einem Land, gar nicht so weit weg, in einem See, dessen Wasser so tief sind, dass sie an den Kern der Erde schwappen, lebte einst ein junges Drachenmädchen namens Stardust. Das mag ein seltsamer Name für einen Drachen sein, doch wenn die Sterne ganz besonders hell und strahlend über den Serenity Lake funkeln, dann glitzern sie so, weil sie ihren feinen Sternenstaub an die Wesen abgeben, die im See leben. In einer solchen Nacht wurde Stardust geboren.

Fiona Sinclair blickte durch die Luke hinunter auf den kleinen grünen Fleck, der durch die bauschigen weißen Wolken sichtbar wurde. Für jemanden, der jetzt dort unten stand und zum Himmel aufschaute, war das große Flugzeug, in dem sie saß, nicht mehr als ein winziger Punkt in der Luft, ein silberner Stern mitten am Tag. In den fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens hatte sie oft Gelegenheit gehabt, in den Himmel zu blicken. Sie hatte mit offenen Augen geträumt und sich mit jedem vorbeifliegenden Flugzeug gewünscht, sie könnte selbst darin sitzen.

Man sollte immer vorsichtig sein mit seinen Wünschen. Zugegeben, das war ein Klischee, aber in ihrem Falle war es wahr geworden.

„Hast du eine kleine Tochter?“

Fiona wandte den Kopf zu dem dunkelhaarigen Mädchen, das in dem Sitz auf der anderen Seite des Ganges neben ihr saß. Sie hatte die Kleine vorher gar nicht richtig wahrgenommen. Eigentlich hatte sie kaum etwas wahrgenommen, seit sie an Bord gegangen war, außer der stetig wachsenden Angst in ihr. Jetzt zwang sie sich zu einem Lächeln. „Nein.“

„Für wen ist das dann?“ Das Mädchen, in einem roten Rock, roter Strumpfhose und rotem T-Shirt mit aufgedruckten silbernen und goldenen Kreiseln, deutete auf das Buch auf Fionas Schoß.

„Für meine Nichte. Sie heißt April und ist acht Jahre alt. Wie alt bist du denn?“

„Oh, viel älter.“ Das Mädchen seufzte wie jemand, dem das Leid der Welt auf den Schultern lag. „Ich bin schon fast zehn.“

Fiona nickte ernst. „Dann bist du wohl viel zu alt für Märchenbücher, oder?“

„Oh ja! Aber ich habe alle Stardust-Bücher gelesen, als ich noch klein war.“

Also gestern, dachte Fiona sich. „Und? Wie haben sie dir gefallen? Meinst du, ich habe eine gute Wahl für April getroffen?“

„Ich glaube, sie wird es ganz okay finden. Ist das da ein neues?“

So so, ganz okay. Ein Riesenlob, das höchste überhaupt. Fiona überraschte sich selbst damit, dass sie jetzt ehrlich lächelte. Dabei dachte sie, sie hätte jedes echte Lächeln auf dem sicheren Erdboden zurückgelassen. „Ja, das ist das neueste Buch.“ Um genau zu sein, es war so neu, dass es noch nicht im Handel erhältlich war. Fiona war die Autorin der Bücher. Vorhin erst, gerade, als sie aus dem Haus gehen wollte, um zum Flughafen zu fahren, waren ihr die ersten Exemplare frisch aus der Druckerei geliefert worden.

Das Mädchen lehnte sich weit herüber und schaute mit zusammengekniffenen Augen auf den Buchdeckel. „Sieht aus, als hätte Stardust einen Freund gefunden.“

„Ich vermute, sie hat sich endlich entschieden, auf die andere Seite des Sees zu schwimmen und nachzusehen, ob dort nicht noch eine andere Familie von Wasserdrachen lebt.“

„Aber sie hatte doch immer solche Angst, ihre Höhle zu verlassen! Sie hatte Angst davor, irgendwo anders hinzuschwimmen.“

Wortlos reichte Fiona dem Mädchen das Buch, und die Kleine nahm es aufgeregt entgegen. Erst nachdem es die erste Seite verschlungen hatte, hob es wieder den Kopf, angestrengt bemüht, ganz schrecklich gelangweilt zu wirken. „Ich lese es schnell und sage dir dann, ob es gut ist oder nicht.“

„Einverstanden. Ich weiß, du wirst mir deine ehrliche Meinung sagen.“ Fiona lehnte sich zurück und schloss die Augen.

Es gab viele Wege für die Drachen, ans gegenüberliegende Ende des großen Wassers zu gelangen. Und so viele verschiedene Arten. Schwimmen war nur eine davon.

Neben sich, auf der anderen Seite des Ganges, hörte Fiona ein Kichern und das Rascheln einer umgeschlagenen Buchseite. Und sie fragte sich das, was sie sich in jeder Minute gefragt hatte – seit dem Tag, an dem sie mit der Planung für ihre Flucht begonnen hatte: nämlich wie sie mit der Welt jenseits ihrer Höhle fertig werden würde.

Es war nicht Andrews Schuld, dass seine Kleider nach Rauch rochen. Unter seinen Fingernägeln saß ein schwarzer Ascherand, seine Hände zitterten. Mehrmals hatte er sie in dem Haus neben der Unfallstelle geschrubbt, trotz der wunden Haut. Hatte sie mit der Reinigungspaste abgerieben, die angeblich alles entfernte, wahrscheinlich einschließlich der obersten Hautschicht. Doch die Asche und die Brandblasen würden sich mit Sicherheit noch eine ganze Weile halten.

Genau wie die Bilder in seinem Kopf.

Er war niemand, der sich leicht aus der Ruhe bringen ließ. Seit seinem Universitätsexamen arbeitete er auf Ölplattformen in der Nordsee, und er hatte mehr als genug Katastrophen miterlebt. In seiner Zeit als Taucher hatte er den Leichnam eines Kollegen gefunden, eingequetscht zwischen zwei Ölleitungen, für immer eingegangen ins Reich des Klabautermanns. Als Ingenieur auf der Bohrinsel hatte er hilflos mit ansehen müssen, wie ein Norweger, ein Bär von einem Mann, von einem Neunzig-Knoten-Orkan von der Plattform direkt nach Walhalla geweht worden war. Er hatte sich als Freiwilliger zu Rettungsmissionen an Land und zu Wasser gemeldet und sich niemals gedrückt, wenn er zum Einsatz gerufen worden war.

Doch die Tragödie, die er heute Nachmittag miterlebt hatte, ließ ihn sich wünschen, er könnte am Straßenrand anhalten und einfach die Tränen laufen lassen.

Nun, er konnte den Wagen nicht an den Straßenrand lenken. Er war schon viel zu spät dran. Er hatte Duncan Sinclair versprochen, Fiona, seine Schwester, nicht am Prestwick Airport warten zu lassen. Ihm war die Verantwortung für Fionas Sicherheit übertragen worden. Die zarte, scheue Fiona, die nur selten ihr Heim in New York verließ. Fiona, die mit fünfundzwanzig eine Reise antrat, die sie gleich wieder nach Hause führen könnte, wenn Andrew nicht bald am Flughafen auftauchte.

Für jemanden, der in Eile war, fuhr er geradezu lächerlich langsam. In der letzten Stunde hatte die Tachonadel nicht einmal die erlaubte Geschwindigkeit angezeigt. Jedes Mal, wenn Andrew das Gaspedal tiefer durchdrückte, blitzten sofort Bilder von zerfetztem Metall und schwarzen qualmenden Rauchwolken vor seinem geistigen Auge auf.

Und er hörte das Weinen eines Kindes.

Immerhin passte der restliche Verkehr sich seinem Schleichtempo an, als er sich Prestwick näherte. Jetzt konnte er nichts anderes mehr tun, als sich für die Ausfahrt einzuordnen und der Schlange bis zum Flughafenparkplatz zu folgen. Als er die Wagentür abschloss und auf das Ankunftsterminal zurannte, stand Fionas Maschine schon seit über einer Stunde auf dem Boden.

Prestwick war ein Irrgarten aus Schaltern und Wartezonen. Er überflog die großen Anzeigetafeln. Er war so spät, dass der Flug nicht einmal mehr aufgelistet war. In einer endlosen Schlange wartete er am Informationsschalter, um herauszufinden, zu welchem Gate er musste, dann joggte er im Zickzack durch Menschenmengen in Saris und mit Turbanen, in korrekten Anzügen und dürftiger Urlaubsgarderobe. Einen Teenager mit grünem Haar, das sich grässlich mit dem karierten Muster des Kilts und den kniehohen Cowboystiefeln biss, fragte er nach dem Weg. Der junge Mann zeigte in die Richtung, und im gleichen Augenblick sah Andrew auch schon die Frau, die allein in der entferntesten Ecke des Gates saß.

Andrew blieb reglos stehen und schaute sie an. Das letzte Mal hatten sie sich gesehen, da war Fiona drei und er acht gewesen. Sie war die kleine Schwester, die er nie gehabt hatte, die Schwester, die ihm durch eine Tragödie und gleichgültige Erwachsene entrissen worden war. Über die Jahre hatte er immer wieder einmal versucht sich vorzustellen, wie sie aufwuchs. Durch Duncan hatte er ihre Entwicklung mitverfolgen können, hatte auch ab und zu ein Foto zu sehen bekommen. Doch nichts davon hatte ihn wirklich vorbereiten können.

Nichts.

Fiona sah auf, und ihre Blicke trafen sich. Von Poesie hielt er nicht unbedingt viel. Gold war Gold, und Braun war Braun. Doch während er auf sie zuging, erkannte er, dass sich in Fionas Augen diese beiden Farben auf einzigartige Weise vereinigten – strahlender Sonnenschein und bernsteinfarbenes Mondlicht. Sie blickte ihm entgegen. Blanke Nervosität stand ihr ins Gesicht geschrieben.

„Andrew?“

„Aye.“ Er verlangsamte seine Schritte, näherte sich ihr vorsichtig, wie man sich einem scheuen wilden Tier nähern würde. „Aye, ich bin Andrew. Und unendlich froh, dass du noch hier bist, Fiona.“

Ihre Lippen verzogen sich zu einem gezwungenen Lächeln. Sie sprach die Worte stockend aus, so als müsse sie jede einzelne Silbe hinauspressen. „Wo hätte ich denn hingehen sollen?“

Bedachtsam setzte er sich neben sie. Sie waren allein am Gate; eine Anzeigentafel informierte darüber, dass die nächste Maschine hier erst in zwei Stunden abfliegen würde. „Ich habe fast befürchtet, dass du auf dem Absatz kehrtmachen und dich in die nächste Maschine setzen würdest, die zurückfliegt.“

Sie wandte das Gesicht ab, bot ihm den Blick auf ein Profil mit Stupsnase und einer Lockenmähne rötlich-goldenen Haars. „Ich habe mit dem Gedanken gespielt. Aber es ist eine weite Reise.“

„Ich bin rechtzeitig losgefahren, mit viel Spielraum. Ehrlich. Aber dann war da dieser Unfall …“ Er wollte nicht darüber reden.

Die Lockenpracht wirbelte durch die Luft. „Oh, das tut mir leid! Ist alles in Ordnung mit dir? Bist du verletzt?“

„Nein. Ich kam hin, als es schon passiert war.“

„Also war die Straße blockiert?“

Das war das Wenigste gewesen. „Aye.“

„Weißt du, ob …? Ist jemand …?“

„Es war ein schlimmer Unfall.“ Er sah auf seine Hände hinunter, rot vom Schrubben, übersät mit Brandblasen und Aschepartikeln. Er verschränkte sie hinter dem Rücken, damit er sie nicht länger ansehen und sich an die Bilder erinnern musste. „Also, erzähl … Wie war der Flug? Alles glattgegangen? Haben sie dich auf der langen Reise anständig versorgt?“

„Ich habe nichts gegessen.“

„Warum nicht?“

„Weil mir das Herz im Hals feststeckte und keinen Platz für irgendetwas anderes übrig gelassen hat.“

Er überraschte sich selbst damit, dass er lachte. Hätte er vorher darüber nachgedacht, hätte er es nicht gewagt. Dabei wusste er, dass Fiona es todernst meinte. Der Flug hatte sie wahrscheinlich jedes Fünkchen Mut gekostet, das sie zusammenklauben konnte. Sein Lachen entlockte ihr ein Lächeln. Dieses Mal ein echtes Lächeln, eines, das ihn an die Mona Lisa denken ließ.

„Ich weiß, es klingt lustig.“ Sie verzog das Gesicht, Sommersprossen tanzten über ihre Nase und Wangen. „Ich fürchte, du wirst feststellen, dass ich ein unerschöpflicher Quell an Belustigung bin.“

„Bestimmt nicht.“ Er ernüchterte schnell. „Habe ich dir schon gesagt, wie froh ich bin, dich zu sehen?“

„Tatsächlich?“

„Du hast dich verändert, bist ein gutes Stück gewachsen. Aber du bist immer noch unsere Fiona.“

„Bin ich das?“ Sie zuckte mit den Schultern. Die Bewegung ließ den Kragen ihrer hochgeschlossenen, langärmeligen Bluse an ihrem Hals hinaufrutschen, bevor er wieder hinunterglitt. Erst in diesem Moment fielen Andrew die Narben auf, die der Kragen und ihr Haar bisher verborgen hatten.

Sein Blick wanderte bewusst lässig zurück zu ihrem Gesicht. „Aye. Willkommen zu Hause, Darling! Es ist lange her.“

Farbe zog in ihre Wangen, ein helles Apricot, das ihrem zarten Teint einen wunderbaren Ton verlieh. „Vielleicht nicht lange genug.“

Er fasste nach ihrer Hand. Wie sein Vater war auch er ein Mann, der keine Angst vor Körperkontakt hatte. Welche Fehler Terence MacDougall auch immer gehabt haben mochte, er hatte seinem Sohn beigebracht, dass in herzlichen und warmen Berührungen nichts Falsches lag. Andrew verschränkte seine kräftigen ascheschwarzen Finger mit Fionas schlanken und ignorierte es, dass sie ihm ihre Hand entziehen wollte. Ihre Haut war genauso weich, wie er es sich vorgestellt hatte. Ihre Finger zitterten.

„Viel zu lange“, bekräftigte er. „Du gehörst hierher, Fiona! Das wird immer so sein. Du hast hier mehr Familie als nur Duncan, Mara und April. Da sind auch noch Iain und ich, und Iains Frau Billie. Es gibt nichts, was wir nicht für dich tun würden.“

„Das ist wirklich sehr nett, aber …“

Er drückte ihre Finger, bevor er sie freigab. „Jetzt werden wir erst einmal etwas zu essen für dich besorgen, bevor wir uns auf den Weg zurück nach Druidheachd machen. Hast du Duncan schon Bescheid gegeben, dass du angekommen bist?“

„Ich habe ihn angerufen. Er hat mir erzählt, dass er heute nicht aus dem Hotel weg kann und du dich bereit erklärt hast, mich abzuholen. Und dass du ein Mann bist, der immer Wort hält.“ Unter Wimpern mit goldenen Spitzen hervor schaute sie ihn an. „Auch wenn es manchmal etwas länger dauern kann.“

Wieder lachte er. „Da hat er recht. Komm, gehen wir irgendwo essen. Ich werde ihn anrufen und ihm alles erklären.“ Er stand auf.

Sie wollte protestieren, doch er ließ es nicht zu. „Was ist mit deinem Gepäck?“

„Der Mann bei der Gepäckausgabe hat versprochen, auf meine Koffer aufzupassen. Ich habe ihm mein Ticket dagelassen.“

„Fein, dann essen wir erst.“

Sie erhob sich ebenfalls. „Ich kann gut noch warten, Andrew.“

„Dann besitzt du mehr Selbstdisziplin als ich.“ Die Hand an ihrem Ellbogen, steuerte er sie durch die Menschenmenge, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan. Die Geste schien sie zu überraschen, doch sie versuchte nicht, den Arm zurückzuziehen. „Ich habe da hinten ein Café gesehen, das auch Sandwiches anbietet. Reicht dir das für den Moment?“

„Das ist mehr als genug, ja.“

Er ging langsam, achtete darauf, seine langen Schritte kleiner zu halten. Duncan hatte ihm irgendwann erzählt, dass Fiona humpelte. Jetzt bemerkte er den kleinen, höchst femininen Hüftschlenker, wenn sie den rechten Fuß vorsetzte, doch das war bei Weitem nicht das, was er erwartet hatte. Sie war dadurch nur unmerklich langsamer. Ohne große Mühe passte er sich an.

Er machte Konversation, nicht nur, damit sie sich wohler fühlte, sondern auch, um die Bilder des Unfalls aus seinem Kopf zu vertreiben. „Hast du im Flugzeug geschlafen?“

„Nicht eine einzige Minute.“

„Ich weiß, das Herz steckte dir in der Kehle, aber … was hat deine Augen davon abgehalten, sich zu schließen?“

„Ich habe sie mit den Fingern offen gehalten. Ich wollte auf keinen Fall schlafen, wenn wir abstürzen.“

Er stöhnte. „Mir ging es genauso, als ich zum ersten Mal geflogen bin.“

„Das glaube ich dir nicht.“

„Es ist wahr. Nur habe ich da in einem Helikopter gesessen, auf dem Flug zu der Ölplattform, auf der ich meinen allerersten Job antrat. Von einem Taucher erwartet man, dass er keine Angst kennt, schließlich hängt der Job davon ab. Um mich abzulenken, habe ich gepfiffen, so laut ich nur konnte. Bis der Typ neben mir gedroht hat, mir die Zähne auszuschlagen, wenn ich nicht endlich mit dem Gepfeife aufhöre.“

„Ohne Zähne lässt es sich nicht gut pfeifen.“

Er war bereits bezaubert von der ernsthaften Art, mit der sie scherzte. Viel Selbstsicherheit besaß sie nicht, aber sie war lange nicht so scheu und verschlossen, wie er es sich ausgemalt hatte. Nach allem, was er gehört hatte, war er davon ausgegangen, eine Frau anzutreffen, die ihm nicht ins Gesicht schauen konnte, sondern die Augen fest auf den Boden gerichtet hielt. Doch die Frau an seiner Seite schaute sich lebhaft interessiert alles und jeden an, während sie auf das Bistro zusteuerten. Sie hielt sich eng neben ihm, so als wäre sie froh um seine reine maskuline Präsenz, und saugte jedes Detail des Flughafens in sich ein.

„Das ist es.“ Er ließ ihren Ellbogen los und zog die Tür auf. „Hier drinnen ist es ruhig und gemütlich. Du isst einen Happen und ruhst dich ein wenig aus, bevor wir zurückfahren.“

In der Nähe der Tür stand ein freier Tisch, den Andrew wählte. So konnte Fiona durch die Glasscheibe das vorbeiziehende Geschehen mitverfolgen. Sie setzte sich mit einem inbrünstigen Seufzer, so als hätte sie auf dem Stuhl ihr festes Zuhause gefunden. Ihre Augen blickten dankbar drein, doch die Lippen hielt sie zu einer angestrengten schmalen Linie zusammengepresst. Zum ersten Mal ahnte Andrew, welche Kraft die Entscheidung, nach Schottland zurückzukehren, ihr abverlangt hatte.

„Wenn du erst etwas im Magen hast, kannst du dich der Welt stellen.“ Er winkte der grauhaarigen Frau mit der weißen Schürze zu, die vorn an den Tresen gelehnt stand. Nachdem sie sich erst Millimeter um Millimeter aufgerichtet hatte, schlurfte sie auf den Tisch mit den neuen Gästen zu. Service wurde hier offensichtlich nicht besonders großgeschrieben. Andrew fragte sich, wie viele Flüge wohl verpasst worden waren, weil jemand hier auf eine Tasse Kaffee gewartet hatte. „Weißt du schon, was du möchtest? Sieht aus, als hättest du genügend Zeit, um dich zu entscheiden.“

„Eine Suppe, wenn sie so etwas hier anbieten.“

Sie einigten sich auf Rindfleischsuppe mit Graupen und bestellten eine große Kanne Tee dazu. Andrew plante ernsthaft, mindestens sechs Stücke Zucker in Fionas Tasse zu schmuggeln. Am liebsten hätte er auch noch einen kräftigen Schuss Whisky hinzugefügt.

Fiona sprach erst, als die Bedienung wieder davongeschlurft war. „Weißt du eigentlich, dass deine Hand blutet?“

Er sah hinunter auf seine Hände. Sie brannten, er konnte den Puls pochen fühlen, aber das war kein Wunder. Den Schmerz hatte er bisher ignoriert – ein unvergleichlich geringer Preis angesichts der menschlichen Tragödie, deren Zeuge er geworden war. Jetzt erst sah er, dass die Haut an seinem rechten Handballen komplett abgeschürft und die Hand geschwollen war. Und er sah das Blut.

„Tut mir leid. Hast du was abbekommen?“

„Keine Ahnung, aber darum geht es doch auch gar nicht, oder?“ Sie nahm ihre Serviette und tunkte sie in die Wasserkaraffe, die man auf den Tisch gestellt hatte. Dann tupfte sie damit vorsichtig über seine Hand. Sanft. Sanfter, als je jemand ihn berührt hatte.

Bis zu dieser schlichten Geste war es ihm gut gegangen. Es war ihm gut gegangen, aber jetzt plötzlich tat es das nicht mehr, alles hatte sich geändert.

Er stand auf und wusste nicht, wie er es erklären sollte. Was er erklären sollte. „Ich rufe eben Duncan an. Kommst du zurecht?“

„Ja, natürlich, geh nur.“ Sie wirkte, als wolle sie noch etwas hinzufügen, doch glücklicherweise tat sie es nicht.

Er musste ein ganzes Stück laufen, bevor er einen Münzfernsprecher fand. Das war ihm eigentlich ganz recht; Fiona brauchte nicht zu hören, was er Duncan zu sagen hatte. Mit dem Rücken zu den vorbeieilenden Passagieren wartete er auf die Verbindung, den Telefonhörer an das eine Ohr gepresst, die freie Hand auf dem anderen. Als Duncan sich meldete, verschwendete er keine Zeit.

„Fiona geht es gut, Dunc. Wir essen noch einen Happen, bevor wir uns auf den Rückweg machen. Wir sind bald zu Hause.“

Er lauschte den ärgerlichen Vorwürfen am anderen Ende der Leitung und wartete, bis Duncans Wut sich entladen hatte. Nachdem Duncan sich beruhigt hatte, setzte Andrew wieder an. „Es gab eine Karambolage auf der A82. Drei Autos haben sich ineinander verkeilt. Ich war als Erster am Unfallort. Einer der Wagen ist in Flammen aufgegangen. Es saßen noch Menschen darin, Duncan.“

Er konnte plötzlich nicht mehr weitersprechen. Bis zu dem Moment, da Fiona seine Hand versorgt hatte, war es ihm gelungen, die schrecklichsten Bilder des Unfalls irgendwie auszublenden. Jetzt, da er nicht mehr in ihrer Nähe war, liefen sie wieder vor ihm ab, das ganze Horrorszenario. Er schluckte. Einmal, zweimal. Und konnte noch immer nicht reden.

„Andrew, das tut mir ehrlich leid.“ In Duncans Stimme schwang echtes Bedauern und auch das schlechte Gewissen mit. „Warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich hätte wissen sollen, dass es einen guten Grund geben muss, wenn du dich verspätest und Fiona warten lässt.“

„Ich wäre überhaupt nicht hergekommen, wenn es nicht Fiona gewesen wäre, die hier wartet.“

„Hast du es ihr gesagt?“

„Nicht die Details. Großer Gott, nein! Da saß ein kleines Mädchen in dem Wagen, Duncan, zusammen mit ihren Eltern. Das Mädchen habe ich aus den Flammen retten können, aber nicht seine Eltern. Sie sind … sie sind nicht mehr unter uns.“

„Geht es dem Mädchen gut?“

„Nein.“ Andrew fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Man hat sie nach Glasgow gebracht, in die Klinik mit der Spezialabteilung für Brandopfer. Dieselbe Klinik, in der Fiona war …“

Auch Duncan schwieg jetzt.

„Was hätte ich Fiona sagen sollen?“, fragte Andrew aufgewühlt. „Was denn nur?“

Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter, den sanften Druck einer Frauenhand. Er drehte sich um und blickte direkt in Fionas Augen.

„Die Wahrheit hättest du ihr sagen sollen.“ Ihr Blick war ein einziger glühender Vorwurf. „Mit genau den gleichen Worten, in denen du es gerade ihrem Bruder am Telefon geschildert hast.“

2. KAPITEL

Ich wollte dich nicht aufregen“, sagte Andrew, als sie schließlich Richtung Druidheachd fuhren. „Dein erster Tag zurück in Schottland sollte dich nicht sofort an deine eigene Zeit im Krankenhaus erinnern.“

„Diese Zeit werde ich nie vergessen, ganz gleich, was du sagst oder nicht sagst. Ich bin praktisch in Krankenhäusern aufgewachsen.“ Aber ob sie wirklich erwachsen geworden war … Sie war sich dessen keinesfalls sicher. „So zu tun, als wäre ich nie im Krankenhaus gewesen, hilft mir nicht. Um die Wahrheit herumzuschleichen, hilft mir auch nicht.“

„Willst du etwa wirklich alles hören?“

Fiona betrachtete Andrews Profil. Neben seinem Kopf flog die Landstraße vorbei. Sie dachte über seine Frage nach. Nach seinem Telefonat mit Duncan hatte keiner von ihnen beiden mehr Lust gehabt, etwas zu essen. Sie hatten nur Fionas Gepäck abgeholt und sich auf den Weg gemacht. Doch bis zu diesem Moment hatten sie eigentlich nicht wirklich miteinander geredet.

Ihre Erinnerungen an Andrew waren nur vage und kindlich. Feuerrotes Haar. Schultern, auf denen sie gesessen hatte, Schultern, die breiter gewesen waren als Duncans, aber lange nicht so schwindelnd hoch wie die ihres Vaters. Ein fröhliches lautes Lachen. Ein übermütiges breites Grinsen. Und Geschichten, so viele, eine nach der anderen.

Dieser Junge, der Held ihrer Kindheit, war jetzt ein Mann. Und was für ein Mann! Die stämmigen Kinderschultern von früher waren breit wie ein Ochsenjoch, das einst leuchtend rote Haar schimmerte in einem warmen Kastanienton. Seine Hände – inzwischen verstand sie auch endlich, wieso sie bluteten – waren riesig. Andrew war alles, was sie nicht war: kühn, stark, furchtlos. Er war der Typ Mann, vor dem sie sich immer am meisten gefürchtet hatte.

Sie blickte stur geradeaus aus dem Fenster. „Ich denke, du solltest es mir erzählen. Ja, alles.“

Also begann er, doch man merkte ihm an, wie unwohl ihm dabei war. „Ich bin früh losgefahren. Ich wollte nicht, dass du auf mich warten musst. Ich wusste doch …“

Sie ersparte ihm eine genauere Erklärung. Er hatte gewusst, wie viel Angst sie hatte, nach Schottland zurückzukehren. Angst vor Dingen, die jeder andere als völlig normal ansah. „Danke.“

„Es ist so lange her, seit du hier warst“, fuhr er fort. „Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht mehr an die Straßen in der Nähe des Dorfs. Sie sind noch genau wie damals, als du noch ein kleines Mädchen warst, genauso schmal, kurvig und gefährlich wie zu Zeiten unserer Großeltern. Ach was, zu Zeiten ihrer Großeltern.“

„Und wenn man auf ihnen nur halb so schnell fährt, wie du über diese Straße braust, sind die Probleme vorprogrammiert.“

Er nahm sofort den Fuß vom Gas. „Normalerweise fahre ich doppelt so schnell.“

„Vielleicht kommt es mir nur schnell vor, weil du auf der falschen Straßenseite fährst.“ Als er sie fragend ansah, zwang sie sich zu einem Lächeln.

Er umklammerte das Steuer fester. „So früh am Morgen sind nie viele Autos unterwegs. Ich hatte mir schon überlegt, wie ich am Flughafen die Zeit totschlagen würde – meiner Berechnung nach wäre mir eine gute Stunde geblieben, bevor du landen solltest. Also beschloss ich, den längeren Weg zu nehmen. Die Landschaft ist da malerischer, ich dachte, es wäre eine ganz nette Art, um die Zeit zu verbringen. Ich war gerade auf freier Strecke zwischen zwei Dörfern in den Bergen, als ich Rauch hinter den Hügeln aufsteigen sah. Erst dachte ich, da brennt jemand Moorstreifen ab – jetzt ist die genau richtige Zeit dafür. Manche hier tun das, um das Wachstum des Unterholzes zu fördern, damit sich mehr Wild ansiedelt. Ich dachte noch, dass es interessant sein könnte, sich das anzusehen.“

„Ich wünschte, es wäre so harmlos gewesen“, sagte Fiona, und an seiner Miene erkannte sie, dass er den gleichen Wunsch hatte.

„Als ich um die Biegung kam, wurde der Rauch dichter. Vor mir konnte ich die Autos sehen, ich dachte, sie wären ebenfalls stehen geblieben, um sich das Feuer anzusehen. Dann jedoch wurde mir jäh klar, dass das Feuer von den Autos kam. Es war ein Auffahrunfall, aber was genau passiert ist, weiß ich nicht. Ich kann nicht sagen, wer auf wen aufgeprallt ist oder wer aus welcher Richtung gekommen ist. Die Straße ist dort sehr steil. Vielleicht haben an einem Wagen die Bremsen versagt. Vielleicht hat jemand überreagiert. Ich weiß nur, dass die drei Autos quer auf der Straße standen, zwei davon so eng zusammen wie auf dem Fabrikfließband. Ich bin so nahe herangefahren, wie ich es wagte. Mit jeder Sekunde stieg mehr und mehr Rauch auf, ich hatte Angst, jeden Moment könnte es eine Explosion geben. Ich stellte meinen Wagen am Straßenrand ab und rannte los …“

Fiona saß schweigend da. Andrew war ein viel zu guter Geschichtenerzähler. Sie konnte sich die Szene genauestens vorstellen. Sie drängte ihn nicht, weiterzureden, sie wusste, dass er mit seinen Gefühlen kämpfte. Er versuchte, sie zu zügeln, weil er ihr sein Entsetzen ersparen wollte.

Doch das Entsetzen ließ sich nicht beschönigen. Er sprach jetzt hastiger, so als wollte er es schnell hinter sich bringen. „Im ersten Wagen saß ein Mann im Anzug, über dem Lenkrad zusammengesunken. Er hatte am wenigsten abbekommen. Als ich hineinschaute, hob der Mann den Kopf und winkte mich weiter. Er öffnete dann die Tür und schaffte es, auszusteigen und von dem Feuer wegzustolpern. Im nächsten Auto lehnte eine ältere Frau an der Tür. Tür konnte man das eigentlich nicht mehr nennen, sie ließ sich auch nicht mehr öffnen. Ich konnte aber von der anderen Seite ins Innere gelangen und die Frau aus dem Wagen ziehen. Ich trug sie zum Straßenrand, dort, wo schon der andere Mann saß. Als ich sie niederlegte, kam sie wieder zu Bewusstsein.“

„Du hast ihr wahrscheinlich das Leben gerettet.“

Andrew achtete nicht auf Fionas Einwurf, so als wäre es zu unwichtig, darauf einzugehen. „Inzwischen war ein weiteres Auto dazugekommen, voll mit Halbwüchsigen. Einer der Jungs rannte mit mir zusammen zum Wrack zurück. Der Rauch war dichter geworden. Ich konnte die Flammen im Inneren lodern sehen, aber ansonsten saß niemand mehr darin. Also sind wir zum dritten Auto weitergelaufen. Ein Mann saß hinter dem Steuer, eine Frau auf dem Beifahrersitz. Die beiden waren tot.“ Er schlug mit den Handflächen auf das Lenkrad. „Ich hoffe wirklich, dass sie schon tot waren, Fiona.“

Einen Moment lang ruhte ihre Hand auf seiner Schulter. Tränen standen in ihren Augen.

„Die Flammen breiteten sich rasend schnell aus. Mir war klar, dass es nur Sekunden dauern konnte, bevor sie den Benzintank erreichten. Ich rief dem Jungen noch zu, er solle zusehen, dass er wegkommt, als ich ein Kind weinen hörte. Ich schützte mein Gesicht mit den Händen so gut wie möglich und beugte mich vor, und erst da sah ich, was ich vorher nicht gesehen hatte: Mitten in den Flammen und dem Rauch saß ein Mädchen auf der Rückbank. Es war angeschnallt und …“

„Nicht!“ Fiona schnappte nach Luft. Einen Moment lang wollte die Welt um sie herum schwarz werden. Sie atmete tief durch, einmal, zweimal, dann noch einmal, bis die Dunkelheit zurückwich. „Tut mir leid, ich …“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“

Minuten vergingen, bevor sie wieder sprechen konnte. „Du hast sie herausgeholt.“

„Aye. Gerade rechtzeitig, bevor der Tank explodierte.“

„Oh, Andrew.“

„Ein Bauer muss die Flammen gesehen haben, denn wenig später kam schon der Rettungswagen. Bis sie das Mädchen mitnahmen, haben wir für die Kleine getan, was uns möglich war. Aber sie war schwer verletzt.“

Seiner Stimme entnahm sie die Wahrheit, nicht seinen Worten: Er ging nicht davon aus, dass das Mädchen überleben würde. „Die Medizin hat Fortschritte gemacht. Es gibt heute viel mehr Möglichkeiten für … Kinder mit Verbrennungen. Es ist vielleicht gar nicht so schlimm, wie du denkst.“

„Ich weiß nicht einmal ihren Namen. Wenn ich in der Klinik anrufe, werden sie mir nur sagen, dass ich kein Recht habe, mich nach ihrem Zustand zu erkundigen.“

Schweigend dachte Fiona über seine Worte nach, dachte an ihre eigenen Ängste. Ihr ganzes Leben hatte sie zurückgezogen verbracht, mit Unsicherheiten, die sie selbst heute, mit fünfundzwanzig, noch zu einem Kind machten. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme fest. Es schwang sogar eine Zuversicht darin mit, die sie bei Weitem nicht verspürte. „Dann fahren wir eben hin und bestehen darauf, dass sie es uns sagen.“

„Ich werde dich nicht dorthin schleifen. Wenn ich fahre, dann fahre ich allein. Später, wenn …“

„Wir fahren jetzt hin, Andrew, jetzt gleich. Und wir werden sie dazu bringen, uns zu sagen, wie es dem Mädchen geht. Denn du wirst weder heute Nacht noch sonst wann ein Auge zutun, solange du nicht weißt, wie es um die Kleine steht. Und ich übrigens auch nicht.“

Andrew hatte Zweifel, so dicht und düster wie der Rauch am Unfallort. Welches seltsame Blatt hatte das Schicksal Fiona auf die Hand gegeben, gleich nachdem sie nach zwanzig Jahren wieder schottischen Boden betreten hatte? Sie mochte ja vorgeben, tapfer zu sein, aber sie wirkte, als könnte der kleinste Windhauch sie umwerfen. Sie hatte weder gegessen noch geschlafen, seit sie New York verlassen hatte. Mal ganz abgesehen davon, wie viel Überwindung es sie gekostet haben musste, überhaupt nach Schottland zu kommen … Die Reise hatte auf jeden Fall ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht.

Noch war es möglich, Glasgow zu umfahren und direkt auf Druidheachd zuzuhalten. Es wäre allerdings ebenso möglich, den Plan zu ändern. „Bist du dir sicher, dass du das tun willst?“, fragte er. „Es ist keine Schande, wenn du das lieber nicht willst.“

„Ich würde gerne wissen, wie es ihr geht.“

„Ich hätte dich überhaupt nicht damit belasten sollen.“

Sie schwieg so lange, dass er schon glaubte, sie würde nichts darauf erwidern. „Mein Leben lang hat man mich nicht belasten wollen“, sagte sie dann leise. „Ich wurde so beschützt und behütet, dass ich heute nicht einmal sicher sagen kann, wer oder was ich bin. Ich hatte darauf gehofft, dass das hier anders sein würde.“

Hatte sie ihn eben zurechtgewiesen? „Es ist nur …“, setzte er an.

„Es ist nur, dass ich als Kind selbst Brandopfer war und in derselben Klinik behandelt wurde“, fiel sie ihm ins Wort. „Und weil du ein mitfühlender Mann bist, willst du mir das ersparen. Aber das geht nicht, Andrew. Ich habe nichts von all dem vergessen. Es ist nicht so, als würden die Erinnerungen mich plötzlich einholen, wenn ich durch die Kliniktür gehe. Nein – sie sind allgegenwärtig. Und ich kann damit umgehen.“

Es gab nichts, was Andrew noch hätte einwenden können.

Er kannte sich gut in Glasgow aus. Wohl kaum jemand würde mit Überzeugung behaupten, Glasgow sei Schottlands schönste Stadt, aber mit Sicherheit war es die größte. Und hier floss eine Energie, die Andrew zusagte, hier herrschte eine Atmosphäre der Erneuerung, die sich bereits der schlimmsten Auswüchse der Stadt angenommen hatte. Er kam nach Glasgow, wenn er sich in der Welt der Kinos, Theater und Pubs verlieren oder auch einfach nur das geschäftige Treiben um sich herum genießen wollte. Doch heute machte ihm die Fahrt durch die Straßen keinen Spaß. Er zeigte auf keine Sehenswürdigkeiten, deutete auf kein Monument. Und als er den Wagen schließlich vor einem beeindruckenden viktorianischen Gebäude parkte, fiel ihm immer noch nichts ein, was er sagen könnte.

„Wir gehen zusammen hinein“, sagte Fiona, ohne ihn anzuschauen.

„Aye.“

„Andrew, was immer mit ihr geschieht … du hast dein Bestes getan. Wie viele Männer hätten ihr Leben riskiert, wie du es getan hast?“

„Hätte ich sie zuerst gefunden, hätte sie keine schweren Verbrennungen erlitten.“ Er hörte, wie Fiona scharf die Luft einsog. Er fühlte sich elend. Das hatte er nicht zugeben wollen.

„Du hast die Überlebenden gerettet, so wie du zu ihnen kamst. Jeder hätte das so gemacht. Hättest du dir die Unfallstelle erst angesehen und überlegt, wem du zuerst hilfst, wäre dir vielleicht keine Zeit geblieben, überhaupt jemanden zu retten.“

„Fast hätte ich sie gar nicht gesehen. Ich habe Panik bekommen. Hätte ich genauer hingeschaut …“

„Wie kannst du nur so hart mit dir sein?“

Er stieg aus und kam um den Wagen herum, um die Tür für sie zu öffnen. „Es hätte niemals passieren dürfen.“

„Jetzt wirst du vernünftig! Nein, es hätte nicht passieren dürfen.“ Sie stand vor ihm. „Aber weder du noch ich wurden vorher gefragt. Wir können jetzt nur noch das Beste daraus machen.“

Fast wäre ihm nicht aufgefallen, dass Fionas Kinn leicht zitterte. Andrew war beschämt. Er lud sein Entsetzen und seinen Schmerz bei ihr ab, obwohl Duncan darauf vertraute, dass er sich um seine Schwester kümmerte. Stattdessen kümmerte sie sich jetzt um ihn.

„Tut mir leid, ich weiß nicht, was mit mir los ist. Du hast recht. Ich bin nicht Gott, das weiß ich selbst. Es ist nur …“

„Du wünschst dir, es könnte anders sein. Ich weiß. Ich kann’s verstehen.“

Andrew studierte ihr Gesicht. Es hübsch zu nennen, das fiel ihm jetzt auf, wäre falsch. Ihr Gesicht war zu intensiv, ihre Miene zu tiefgründig für ein so triviales Wort. Mit den hellen Locken, den Sommersprossen und der kleinen Stupsnase hätte sie schlicht bezaubernd sein können – wenn ihr Leben anders verlaufen wäre. Aber auf Fionas Gesicht stand so vieles zu lesen, so viel Kummer und Sehnsucht und Hoffnung – vor allem Hoffnung –, dass niemand sie mehr für bezaubernd halten würde. Ihre bernsteinfarbenen Augen verschlangen gierig alles, was sie erblickten, und dann zogen Emotionen durch sie hindurch. Ihr Mund war weich und verletzlich und ausdrucksstark. Sie war eine Frau, die keinen Augenblick verstreichen ließ, ohne ihm nicht das Letzte abzuringen. Sie hatte nie gelernt, ihre Gefühle zu verbergen.

„Gehen wir!“, sagte sie.

„Danke.“

„Wofür hat man denn Freunde?“

Nicht für das, was ich von dir will, schoss es ihm durch den Kopf. Andrew hielt sich für einen unkomplizierten Mann, und sein Geschmack bei Frauen war das auch immer gewesen. Er liebte es zu lachen, liebte Lebenslust und Energie und Humor. Er suchte immer nach Frauen, die das Leben im Allgemeinen und ihn im Besonderen nicht allzu ernst nahmen. Fiona besaß keine von diesen Eigenschaften. Sie war wie ein seltener Schmetterling, der sich langsam und nur mit Anstrengung aus dem engen dunklen Kokon schälte. Es wäre so leicht, sie zu verschrecken – oder schlimmer, sie zu verletzen. Sie war nichts für Andrew MacDougall. Und er sollte sich nicht einmal wünschen, sie könnte es sein.

Dennoch fühlte er sich zu ihr hingezogen, auf eine Art und Weise, die weit über Freundschaft hinausging.

„Wir bleiben nicht lange, versprochen.“ Er marschierte auf den Eingang zu. Er wollte nicht länger über seine Gefühle nachdenken. Er hatte sich auch nie für einen Mann gehalten, der zu so vielen verwirrenden Gefühlen überhaupt fähig war.

An seiner Seite fiel Fiona in seinen Schritt ein, und er wurde etwas langsamer, damit sie mit ihm mithalten konnte. Sie redeten nicht mehr miteinander, während sie sich den Weg durch lange Gänge und Krankenschwestern und Erklärungen bahnten, warum niemand ihnen etwas sagen konnte. Sie kämpften sich von Station zu Station vor, doch während sie eine Hürde nach der nächsten überwanden, wurde Fiona immer blasser. Ihre Schritte waren längst nicht mehr so energisch wie zu Anfang.

Schließlich standen sie vor der Schwingtür im sechsten Stock, hinter der sich die Brandstation verbarg. „Ich will, dass du dich hier hinsetzt und wartest“, sagte Andrew und deutete auf die Besucherstühle. Eine mitfühlende Krankenschwester hatte ihnen geraten, es direkt auf der Station zu versuchen. „Es bringt nichts, wenn du hineingehst.“ Als Fiona protestieren wollte, hob er abwehrend die Hand. „Wenn ich allein reingehe, habe ich wahrscheinlich größere Chancen. Dann sind sie nicht so eingeschüchtert und vielleicht freigiebiger mit ihren Informationen.“

Sie überlegte kurz, dann nickte sie. „Ich warte.“

Er blieb, bis sie sich gesetzt hatte, bevor er durch die Tür schritt. Ein langer Korridor lag vor ihm, von dem auf jeder Seite gut ein Dutzend Zimmer abgingen. Das Klinikpersonal eilte von Raum zu Raum. Er wusste es besser, als jemanden aufzuhalten, auch wenn die Schwesternstation nicht besetzt war. Hier ging es um Leben und Tod, jede Minute war wichtig. Und so hielt er sich abseits, stellte sich aus dem Weg und wartete. Irgendwann schließlich trat ein älterer Mann in einem weißen Arztkittel zu ihm und fragte, ob er helfen könne.

Andrew erklärte, soweit es ihm möglich war. „Ich kann ihr Gesicht nicht vergessen“, schloss er dann. „Ich muss einfach wissen, wie es ihr geht. Ob sie überleben wird.“

Der Mann klopfte ihm auf die Schulter. „Ich habe gerade erst meinen Dienst angetreten. Ich werde sehen, was ich herausfinden kann.“

Eine Welle der Dankbarkeit überrollte Andrew und machte ihm das Sprechen unmöglich. Er nickte nur stumm.

„Warten Sie draußen. Ich komme zu Ihnen, sobald ich etwas Genaueres weiß.“

Also ging Andrew zurück. Zum ersten Mal hatte jemand ihm Mut gemacht. Er schritt energisch durch die Tür, um Fiona zu sagen, dass sie bald mehr wissen würden.

Nur … Fiona saß nicht mehr dort.

„Sie ist so winzig. Sind Sie sicher, dass es das richtige Mädchen ist?“

Die Krankenschwester neben Fiona nickte ernst. Sie war eine junge Frau, ungefähr im gleichen Alter wie Fiona, mit einem breiten sympathischen Gesicht und freundlichen blauen Augen. „Aye. Das ist das Mädchen, das nach dem Unfall zu uns gebracht wurde, den Ihr Freund beschrieben hat. Die Kleine kann nicht viel älter sein als drei.“

Fiona starrte durch die Glasscheibe auf das blasse herzförmige Gesichtchen. Dunkles Haar floss über ein schneeweißes Kissen, in dem kleinen Körper steckten Schläuche, überall blinkten Maschinen und Monitore. Eine Krankenschwester stand neben dem Bett und überprüfte den Tropf. „Wie hoch sind die Chancen, dass sie durchkommt?“

„Recht gut sogar, glaube ich. Sobald sie aus der Narkose aufwacht, wird sie nach oben auf die Brandstation gebracht werden, dorthin, wo Sie gewartet haben. Sie hat die Operation gut überstanden, und die Verbrennungen sind nicht so schrecklich, wie Ihr Freund befürchtete. Manchmal sehen diese Verletzungen schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit sind.“

„Und manchmal sind sie schlimmer, als sie aussehen.“

„Wir nehmen an, dass sie Hume heißt. Der Unfallwagen war auf einen Robert Hume zugelassen, aus Woodstock, England. Die Polizei sucht bereits nach weiterer Familie und Verwandten.“

„Die arme Kleine.“

Einen Moment lang blieb die Krankenschwester still. „Ich habe schon viel schlimmere Fälle gesehen, die auf eigenen Beinen hier hinausgegangen und ein ganz normales Leben geführt haben.“

„Ich gehöre zu denen, die nicht auf eigenen Beinen hier hinausgegangen sind“, murmelte Fiona.

„Entschuldigung?“

„Ich war Patient in dieser Klinik, als ich drei war. Auf der Station für Brandopfer. Es hat lange gedauert, bevor ich wieder laufen konnte.“

„Das tut mir leid! Ich hatte ja keine Ahnung! Ich hatte angenommen, Sie seien Amerikanerin, wegen des Akzents.“

„Ich wurde in Schottland geboren. Wegen der Verbrennungen wurde ich nach Amerika gebracht, zur Behandlung und Rehabilitation. Meine Mutter war Amerikanerin und bestand darauf. Ich … Seitdem war ich nicht mehr in Schottland. Bis jetzt.“

„Dann könnte man wohl sagen, Sie haben eine schicksalhafte Verbindung zu der kleinen Miss Hume.“

„Ja, vermutlich schon.“ Fiona wünschte, sie könnte zu dem schlafenden Kind ins Zimmer gehen und es trösten. In der kommenden Zeit würde die Kleine viel Trost brauchen, und die Menschen, die ihr diesen Trost am besten hätten geben können, waren tot.

„Wir sollten jetzt besser gehen. Eigentlich hätte ich Sie gar nicht herbringen dürfen. Das verstößt gegen sämtliche Regeln.“

Fiona klaubte ihre letzte Kraft für ein dankbares Lächeln zusammen. Die Schwester war jene freundliche Krankenschwester, die ihnen geraten hatte, es direkt auf der Brandstation zu versuchen. Sie hatte Fiona auf den Stühlen sitzen sehen und ihr gesagt, dass die Kleine gerade die Notoperation hinter sich hatte und jetzt aus dem OP geschoben wurde. Sie hatte Fiona angeboten, einen kurzen Blick durch das Fenster der Aufwachstation zu werfen, aber nur, wenn sie sofort wieder gehen würden. Es war keine Zeit geblieben, um auf Andrew zu warten.

„Glauben Sie, man wird uns erlauben, sie zu besuchen? Ich meine, sobald sie Besuch haben kann?“, fragte Fiona, während sie gemeinsam auf den Aufzug warteten, der sie wieder zurück in den sechsten Stock zu Andrew bringen würde. „Wir sind keine Familienangehörigen, aber Andrew hat ihr das Leben gerettet, und ich …“

„Ich rede mit dem behandelnden Arzt und sage ihm, er soll einen Vermerk in der Patientenakte machen.“

Die Lifttüren glitten auf, und Fiona trat in den Aufzug. „Vielen Dank! Sie sind so nett gewesen!“

„Sie tut mir leid, die arme Kleine. Wenn das ihre Eltern in dem Wagen waren, wird sie das Ganze allein durchstehen müssen. Sie wird sich schrecklich einsam fühlen. Und da Ihnen so viel an ihrem Schicksal liegt …“

„Ja, und Andrew auch. Vielen Dank!“ Fiona winkte zum Abschied, als die Türen sich schlossen.

Andrew lief rastlos den Korridor auf und ab, als Fiona aus dem Aufzug stieg. „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Aufgewühlt strich er sich das Haar aus der Stirn. Eine völlig nutzlose Geste und daher umso liebenswerter.

„Mir geht es gut, und ich glaube, deiner Freundin bald auch.“

„Was meinst du damit?“

„Ich habe sie gerade gesehen. Tut mir leid, dass du nicht dabei sein konntest, aber wir hatten keine Zeit, dich erst zu suchen.“ Fiona erklärte, was sich zugetragen hatte.

„Und sie ist stabil?“

„Davon kann man wohl ausgehen. Ich weiß nicht, ob die Ärzte schon etwas Genaues sagen können, aber die Schwester meinte, die Chancen für die Kleine stünden gut. Dreißig bis vierzig Prozent ihrer Haut sind betroffen, aber nicht überall sind es Verbrennungen dritten Grades. Sie hatte wohl innere Blutungen, deshalb die OP. Aber letztendlich war es scheinbar nicht so dramatisch. Mehr wusste die Schwester auch nicht. Es ist ein Wunder, dass sie mir überhaupt so viel erzählt hat.“

Andrew ließ sich auf einen Stuhl sinken und stützte den Kopf in die Hände. Fiona setzte sich neben ihn. Ihr Blick fiel auf seine Hände. Sie waren jetzt eindeutig angeschwollen, was sie vorher nicht gewesen waren.

„Andrew, wir sollten in die Ambulanz gehen, oder wie immer man das hier nennt, damit sie sich um deine Hände kümmern können. Sonst entzünden die sich noch.“

„Du glaubst, sie kommt durch?“

„Ja, es sieht ganz so aus. Und man kümmert sich um sie. Im Moment sucht man nach den Verwandten. Man hat herausgefunden, dass der Wagen einem Robert Hume aus England gehört.“

Er sah auf. „Da hat es einen Moment gegeben, gleich nachdem ich sie aus dem Wagen gezogen hatte … Ich fragte mich, ob ich das Richtige getan habe, als ich sie rettete. Habe ich das Richtige getan, Fiona? Was sie jetzt alles durchmachen muss, die Schmerzen, der Kummer, die Trauer … Habe ich das Richtige getan?“

Sie wusste, warum er ausgerechnet sie fragte. Die Antwort war ein Geschenk, das nur sie oder jemand wie sie, der das Gleiche durchgemacht hatte, ihm geben konnte. Auch sie hatte ein Feuer überlebt. Hatte sie sich manchmal gewünscht, sie wäre besser darin umgekommen? Wünschte sie es sich jetzt, wenn sie zurückblickte auf das, was sie hinter sich hatte?

„Du hast das Richtige getan.“ Sie atmete tief durch. Sie hatte die Worte ausgesprochen, weil er sie so unbedingt hören musste. Und stellte fest, dass die Worte wahr waren. Stellte es mit grenzenloser Erleichterung fest. „Ja, du hast das Richtige getan, Andrew! Eines Tages wird sie ebenso glücklich sein wie ich, dass sie am Leben geblieben ist und ein ganzes aufregendes Leben vor ihr liegt.“

Seine Augen schimmerten, als er nickte.

Ihr Herz zog sich zusammen. In diesem Moment war er so verletzlich, wie sie es ihr ganzes Leben lang gewesen war. Sie nahm an, dass diese Verletzlichkeit und die anderen Gefühle völlig neu für ihn waren. Andrew war ein starker Mann, ein guter Mann. Aber heute brauchte er ihre Kraft.

„Danke“, sagte er mit rauer Stimme.

„Ich glaube, jetzt bin ich bereit für Druidheachd.“

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