Bis zur letzten Lüge

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Geheimnisse, Gier, Gefahr und Gefühl - eine mitreißende Familiensaga aus dem Süden der USA, ein faszinierendes Gesellschaftsbild über Trennung und Gemeinsamkeit von Emilie Richards.

Langsam schließen sich die schmiedeeisernen Tore hinter dem jungen Journalisten Phillip Benedict, als er auf die weiße Südstaatenvilla zugeht. Ein rätselhafter Auftrag hat ihn hierher gebracht: Aurore Gerritsen, betagte Grand Dame der Oberschicht von New Orleans, möchte ihre Lebensgeschichte erzählen, sie zugleich aber nie veröffentlichen lassen. Phillip versteht nicht, warum sie ihn dafür ausgewählt hat - bis Aurore beginnt, über Mord und Liebe, Leidenschaft, Geld und unauslöschliche Erinnerung zu sprechen. Und plötzlich begreift Phillip, warum sie nur ihm, einem Farbigen, dieses schockierende Bekenntnis machen kann. Und wie nah die schwarze und die weiße Welt einander sind …


  • Erscheinungstag 10.01.2012
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783862781386
  • Seitenanzahl 544
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

1965

Es war nicht leicht, Phillip Benedict aufzuspüren. Er hatte ein kleines möbliertes Apartment in der New Yorker East Side und ein Zimmer mit einem Bett und einer Kochplatte im Westen von Los Angeles. Aber wenn Phillip in New Orleans war, wohnte er bei Belinda Beauclaire.

Belinda besaß ein eigenes kleines Häuschen, ein heruntergekommenes Shotgun House mit vier Zimmern, die hintereinander angeordnet waren wie die Sitzplätze im City of New Orleans-Personenzug. Sie hatte die Räume in den Farben von Edelsteinen gestrichen: in Amethystblau, Smaragdgrün, Granatrot und Saphirblau. Und sie hatte sie mit Collagen aus Stoff und Fotografien geschmückt. Phillip war nie dort gewesen, ohne dass Kerzen gebrannt oder es nach Räucherstäbchen geduftet hätte. Die Räucherstäbchen gab es in den zahlreichen Botanicas in der Rampart Street, in denen Liebeszauber und Jalapenknollen zusammen mit hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Ratschlägen verkauft wurden.

Belinda glaubte nicht an Voodoo. Doch sie zog ihn den christlichen Religionen vor, die die Schwarzen kleingehalten hatten, seit sie die Sklavenschiffe verlassen hatten. Sie mochte auch das Wort „Neger“ nicht. „Neger“ wäre als Ausdruck annehmbar gewesen, wenn die Angehörigen der anderen Rasse sich offiziell als „Kaukasier“ bezeichnet hätten. Aber wenn die andere Rasse weiß war, so war sie bei Gott schwarz. Ganz sicher war sie nicht „farbig“, ein Begriff, der vielleicht auf Bilder zutraf, die Kinder an einem langweiligen Regentag malten. Phillips Mutter sah das genauso wie sie. Und das war nur ein Punkt, in dem Belinda und Nicky zueinanderpassten.

Belinda war eine atemberaubende Frau. Sie arbeitete als Kindergärtnerin. Mit ihrer lockeren, geschmeidigen Art, sich zu bewegen, ihrem unverwechselbaren Lächeln und ihrer ganz eigenen, verwirrenden Mischung aus Intelligenz und Sinnlichkeit war sie etwas ganz Besonderes. An Belinda gefiel Phillip einfach alles, und deshalb verbrachte er immer mehr Zeit in New Orleans.

An einem frühen Samstagabend im Februar verließ Phillip Belindas Haus und schloss die Tür hinter sich ab. Belinda war seit dem Morgen unterwegs. Er hatte den Tag über seine tragbare Schreibmaschine gebeugt verbracht – mit einer Hand tippend, in der anderen die Tasse mit Getreidekaffee. Er war freischaffender Journalist. Und solange er „frei“ nicht wörtlicher verstehen wollte als unbedingt nötig, musste er sich genauso an geregelte Arbeitszeiten halten wie jeder andere auch.

Die Sonne hatte schon beinahe den Horizont erreicht. Überrascht stellte er fest, dass die Abendluft jedoch noch immer warm war und den verheißungsvollen Duft des nahenden Frühlings mit sich trug. Regenwolken ballten sich zusammen, und der Sonnenuntergang würde ein beeindruckendes Schauspiel werden.

Ursprünglich stammte Phillip nicht aus New Orleans. Als Kind hatte er sich zu Mardi Gras nie verkleidet und auch keine der Schulen besucht, in denen noch strikte Rassentrennung herrschte. Er hatte keine Erinnerung an erste Zigaretten oder erste Küsse, die ihn mit Nostalgie erfüllt hätten. Aber ab und zu gelang es dieser Stadt dennoch, ihn einzufangen und zu fesseln, auch wenn er noch so sehr versuchte, seine journalistische Objektivität zu wahren.

Die Neugierde hatte manchmal eine ähnliche Wirkung auf ihn. Heute hatte ihn die Neugierde in Form eines Telefonanrufs gepackt und geschüttelt, bis er das Gefühl gehabt hatte, sein gesunder Menschenverstand wäre ihm dabei abhandengekommen. Doch was auch immer geschehen mochte – er war auf dem Weg, es herauszufinden.

Phillip fuhr rückwärts mit dem Wagen von Belindas Auffahrt und lenkte ihn dann Richtung Garden District. In dem kurzen Telefonat hatte Aurore Gerritsen ihm genaue Anweisungen gegeben, wie er ihr Haus finden konnte. Er befolgte diese Anweisungen nun, während er über den Rest ihrer Unterhaltung nachdachte.

Aurore Le Danois Gerritsen, Hauptanteilseignerin von Gulf Coast Shipping, Mutter von Senator Ferris Lee Gerritsen und Tochter einer Familie, deren Blut so blau war wie die Flagge von Louisiana, wollte, dass er ihre Lebensgeschichte aufschrieb.

Der Horizont war in ein wundervolles sonniges Gold getaucht, als Phillip schließlich in der Nähe der Prytania Street parkte. Vor Aurore Gerritsens Haus wäre genug Platz gewesen, um den Wagen abzustellen – mehr als genug, wenn man bedachte, dass ihr Grundstück fast die Ausmaße eines Footballfeldes hatte. Aber er wollte die Gegend kennenlernen, wollte das Umfeld erkunden, das seinen Teil dazu beigetragen hatte, sie zu der Frau zu machen, die sie heute war.

Die Häuser, an denen er vorbeikam, während er die zwei Blocks bis zum Anwesen der Gerritsens spazierte, waren im italienischen oder neoklassischen Baustil gehalten. Dazwischen standen die typischen Landhäuser auf Pfählen; sie prägten seit Jahrhunderten das Bild der Stadt. Ein paar der Bauten konnten durchaus als Herrenhäuser bezeichnet werden. Mit Moos bewachsene VirginiaEichen, die schon seit dem Bürgerkrieg dort standen, ächzten und knarrten in der Abendbrise. Magnolien warteten geduldig auf die Tage im späten Mai, wenn ihre Blüten die Stadt mit ihrem Duft erfüllen würden.

Er sah Swimmingpools und blank polierte Cadillacs. Da Karnevalssaison war, wehte an zwei Veranden die begehrte Flagge des Rex; nur wer selbst schon einmal Karnevalskönig gewesen war, durfte sie hissen.

Falls hier Schwarze lebten, waren sie Haushälter oder Dienstmädchen, die sich in Sommernächten in ihren stickigen Zimmern unter dem Dach kühle Luft zufächelten.

Als Phillip die Prytania Street erreichte, war er sich bewusst, dass seine Anwesenheit nicht unbemerkt geblieben war. Er war nicht wie ein Gärtner oder Anstreicher angezogen. Er trug einen dunklen Anzug und eine unaufdringliche Krawatte und ging auf Aurore Gerritsens Eingangstür zu.

„Hey, Boy!“

Phillip spielte mit dem Gedanken, den Ruf nicht zu beachten. An jedem anderen Tag hätte er das auch getan, doch hier ging es auch um eine Recherche. Er drehte sich um und musterte den alten Mann, der nach ihm gerufen hatte, knapp von Kopf bis Fuß.

Der Mann war blass und so knorrig wie der Stamm einer Zypresse. Er hatte einen Seersucker-Anzug an, der südlich der Mason-Dixon-Linie, der traditionellen kulturellen Grenze zwischen Nord- und Südstaaten, durchaus angemessen war – aber sonst nirgendwo auf der Welt. Ungefähr fünfzehn Meter entfernt, an der Grenze zu Mrs Gerritsens Grundstück, lehnte er an einem Eisenzaun.

Phillip reagierte nicht auf das Winken des alten Mannes. Er sprach gerade laut genug, um gehört zu werden. „Ich nehme an, dass Sie mit mir sprechen?“

Der Mann wies auf eine andere Pforte an der Seite des Gebäudes. „Der Dienstboteneingang ist hinten, Nigger.“

„Ist das so? Ich werde mich daran erinnern, wenn ich jemals einen weißen Boy anheuern sollte, um Besorgungen für mich zu erledigen.“ Phillip öffnete das Tor, ging hindurch und schloss es sorgfältig hinter sich. Dann schlenderte er den Weg entlang und klingelte an der Haustür.

Aurore hatte keinen Appetit gehabt. Im Esszimmer hatte sie in ihrem Fisch und der gefüllten Chayote herumgestochert, wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte. Und genau wie damals war sie von einer jungen Frau ausgeschimpft worden, die gekommen war, um den Tisch abzuräumen. Ihr war schon lange klar, dass das Leben ein Kreislauf war. Das Alte und das Junge lagen auf der Kreislinie näher beieinander, als sie geglaubt hatte. Sie hoffte nur, dass sie starb, ehe sie so hilflos wie ein Kleinkind war.

Sie trug ein blau gemustertes Kleid und eine einreihige Perlenkette. Der vordere Salon, in dem sie nun auf Phillip Benedict wartete, war nicht ihr Lieblingszimmer. Vor langer Zeit hatte sie ihn mit Möbeln aus ihrem Elternhaus eingerichtet – wuchtigen dunklen Möbelstücken aus einer Zeit, in der Tische und Stühle noch gebaut wurden, um für immer zu halten. Und das taten sie leider auch. Aurore war nie gut darin gewesen, sich von den Lasten der Vergangenheit zu trennen.

Die Türklingel ging, und sie ergriff die Armlehnen ihres Sessels. Sie hatte Lily, ihre Haushälterin, angewiesen, Phillip hereinzuführen. So gelassen, wie sie konnte, wartete sie auf die beiden, während die Sekunden sich wie Stunden hinzuziehen schienen.

Endlich erschien Lily. Ihr folgte ein großer Mann mit ruhigen dunklen Augen. Er sah sich zuerst kurz im Zimmer um, bevor er ihr seine Aufmerksamkeit zuwandte.

Sie wollte ihn begrüßen, doch sie brachte kein Wort über die Lippen. Obwohl es ihr nicht leichtfiel, hatte sie sich erhoben. Auf keinen Fall wollte sie Phillip Benedict wie eine Grande Dame in einem schlechten Kostümfilm im Sitzen empfangen.

„Mrs Gerritsen?“

Sie streckte die Hand aus. Als er sie ergriff, verschwand ihre Hand in seiner beinahe. Dunkel und hell. Jung und alt. Stark und zerbrechlich. Die Kontraste überwältigten sie, und einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, ihm zu sagen, dass sie es sich anders überlegt hätte. Sie konnte es nicht.

Irgendwie schien er ihre Verwirrung zu spüren. Er lächelte nicht – sie bezweifelte, dass er das überhaupt besonders oft tat. Mit Bedacht zog er seine Hand zurück, stand einfach vor ihr und gab ihr die Zeit, sich wieder zu sammeln.

„Ich bin froh, dass Sie gekommen sind“, sagte sie schließlich. „Ich wollte Sie schon lange einmal kennenlernen.“

„Tatsächlich?“ Er klang skeptisch.

„Ich bewundere Ihre Arbeit schon lange.“

„Das überrascht mich. Ich bin hier in der Gegend nicht besonders bekannt.“

„Sie sind hier nicht so bekannt wegen der Themen, über die Sie schreiben. Dies ist eine Stadt, die sich viel einbildet … auf sich selbst.“

Er schien sich ein wenig zu entspannen. „Wenn der Rest der Welt verschwinden würde, würde New Orleans es vermutlich kaum bemerken.“

„Möchten Sie eine Tasse Kaffee, Mr Benedict? Und meine Köchin hat mir eine Nachspeise versprochen.“

„Im Augenblick nicht, danke.“

Sie wünschte sich, er hätte Ja gesagt. Sie hätte die Zeit gern genutzt, um sich daran zu gewöhnen, ihn hier zu haben. Vieles konnte man bei einer Tasse Kaffee besprechen, das sich sonst seltsam albern angehört hätte.

„Dann lassen Sie uns dort Platz nehmen.“ Sie wies auf ein Sofa vor dem Fenster. „Ich würde Sie gern ein bisschen näher kennenlernen, ehe ich Ihnen erzähle, warum ich Sie hergebeten habe.“

„Ein Vorstellungsgespräch? Ich kann Ihnen eigentlich jetzt schon sagen, dass ich den Job nicht übernehmen werde.“

Sie lächelte. „Kein Vorstellungsgespräch. Ich bin mir absolut sicher, dass Sie derjenige sein sollen, der meine Geschichte aufschreibt. Und ich hoffe, dass Sie sich von mir überzeugen lassen.“ In seinen Augen sah sie Neugierde, aber auch angeborene Vorsicht. Und sie wusste, dass sie ihn am Haken hatte. Zum ersten Mal, seit er angekommen war, spürte sie Hoffnung in sich aufkeimen.

Die Couch war unbequem, und Aurore lehnte sich an einige Kissen, um es sich etwas angenehmer zu machen. Phillip ließ sich am anderen Ende des Sofas nieder und setzte sich ganz vorn an die Kante, als wollte er jeden Moment aufspringen.

„Sind Sie schon länger in New Orleans?“, fragte sie.

„Ich bin seit ein paar Wochen hier.“ Er sah sie an. „Ich würde Sie an dieser Stelle gern etwas fragen, wenn Sie nichts dagegen haben. Woher wussten Sie überhaupt, dass ich in der Stadt bin?“

„Ich habe Ihre Artikel im Atlantic Monthly gelesen und Ihre Serie über Integration in der New York Times. Wie ich schon sagte, ich verfolge Ihre Arbeit. Daher weiß ich, dass Nicky Valentine Ihre Mutter ist und dass Sie sie von Zeit zu Zeit besuchen. Als ich angefangen habe, über dieses Projekt nachzudenken, habe ich mir gewünscht, dass jemand Ihres Formats für mich schreiben würde. Und dann ist mir klar geworden, dass Sie es vielleicht tatsächlich tun könnten. Also habe ich mich ein bisschen umgehört …“

„Und haben mich gefunden?“

„Es ist wirklich eine sehr kleine Stadt.“

„Das ist mir auch schon aufgefallen.“

Sie lächelte. „Spätestens jetzt wäre es Ihnen endgültig klar gewesen. Es war nicht besonders schwierig, Sie zu finden. Sie haben sich mit einigen Bürgerrechtlern zusammengetan, die Ihre Gegenwart gern lautstark kundtun. Und auch wenn Sie nicht offen an Demonstrationen teilgenommen haben, waren Sie so zu finden.“

„Ich bin Journalist. Ich strebe nach Objektivität.“

„Das verstehe ich.“

„Und nichts, was Sie bisher über mich erfahren haben, stört Sie?“

„Nein. Es fasziniert mich vielmehr.“

„Was wüssten Sie denn gern über mich?“

„Erzählen Sie mir, wie Sie Ihren Aufenthalt hier genießen.“ Er schien über verschiedene Antwortmöglichkeiten nachzudenken. Sie wusste bereits, dass er kein Mann war, der log. Er achtete darauf, dass das, was er sagte, die Wahrheit war. Und manchmal brauchte die Wahrheit ihre Zeit.

„Ich erzähle Ihnen eine Geschichte“, begann er schließlich. „Gestern fuhr ich mit der Straßenbahn. Und obwohl ich nicht in den hinteren Teil gehen musste, stand eine Frau auf und suchte sich einen anderen Platz, nachdem ich mich schräg gegenüber von ihr auf die andere Seite des Ganges gesetzt hatte. Ich vermute, es wird Sie nicht überraschen, dass sie weiß war.“

„Nein, das tut es nicht.“

„In den wenigen Minuten, die ich im Garden District unterwegs war, hatte ich bereits eine interessante Begegnung mit einem Ihrer Nachbarn.“

Aurore nickte. „Ich nehme an, Mr Aucoine hat nicht erwähnt, dass er und ich seit Jahren nicht miteinander gesprochen haben. Wir haben uns absolut nichts zu sagen.“

„Die Stadt hat noch eine andere Seite.“ Phillip bemühte sich offensichtlich, gerecht zu sein. „Veränderung liegt in der Luft. Man kann die gespannte, erwartungsvolle Atmosphäre überall spüren.“

„Ich bin froh, dass Sie das gesagt haben.“

„Warum?“

Es hätte sie nicht erstaunen müssen, und trotzdem war sie verblüfft. Das Gespräch mit Phillip Benedict würde alles andere als einfach werden. Für diesen Mann gab es kein einfach. „Weil ich mir wünsche, dass die Dinge sich verändern.“

„Sie würden nicht davon profitieren“, erwiderte er unverblümt.

„Sie wären überrascht, wovon ich profitieren würde.“

Ungeduldig wippte er mit dem Fuß, und sie wusste, dass er weitermachen wollte. Mit Absicht ließ sie ihn weiter ungeduldig wippen und nahm sich einen Moment, um ihn genauer zu betrachten. Er war ein gut aussehender Mann, doch das war nichts Neues für sie. Sie hatte ihn des Öfteren auf Fotos gesehen. Phillip Benedict war in der Bürgerrechtsbewegung schon so lange an vorderster Front unterwegs, dass er beinahe genauso oft abgelichtet worden war wie die Menschen, über die er dort schreiben wollte.

Auf Fotos konnten die elegante Haltung seines Kopfes oder seine starken, erstaunlichen Züge eingefangen werden. Aber Bilder konnten nicht die Kraft, das Wesen dieses Mannes wiedergeben, der die Menge überragte. Sie hatte gehofft, dass er der Mann sein würde, für den sie ihn gehalten hatte. Nachdem sie ihn nun vor sich sah, war sie sich sicher.

Sie hätte ihn gern noch länger angeschaut, doch sie hatte Erbarmen mit ihm. „Ich werde Sie nicht aufhalten. Lassen Sie mich nur erklären, was mir vorschwebt, und dann sehen wir, ob wir uns einigen können. Zuerst einmal möchte ich Ihnen sagen, dass ich mir bewusst bin, was für eine seltsame Bitte es ist. Die Welt wartet nicht gerade in atemloser Spannung auf die Veröffentlichung meiner Lebensgeschichte.“

„Ich bin mir sicher, dass Sie ein interessantes Leben hatten.“

„Wie nett von Ihnen, so taktvoll zu sein. Aber die Wahrheit ist, dass ich weiß, dass der Markt für die Geschichte meines Lebens eher begrenzt ist.“

„Wie begrenzt?“

„Enger als Sie glauben. Das ist ein privates und sehr persönliches Projekt. Ich habe nicht die Absicht, irgendjemandem außerhalb der engsten Familie eine Kopie des Manuskripts zukommen zu lassen, wenn Sie fertig sind.“

„Das begrenzt vor allem meine Tantiemen, meinen Sie nicht?“

„Es wird keine Tantiemen geben. Ich werde Ihnen einen Festbetrag zahlen.“ Sie machte eine Pause. „Die Höhe können Sie selbst bestimmen.“

„Ich dachte, Sie wären Geschäftsfrau.“

„Ich bin eine alte Frau, die sich die Erfüllung dieses Traumes sehr wünscht.“

„Warum?“

„Ich denke, dass Sie die Antwort auf diese Frage kennen werden, wenn wir fertig sind.“

Er sagte nicht Nein, doch er sagte auch nicht Ja. Er sah sie an, als könnte er die Antwort per Telepathie herausbekommen. „Ich werde im nächsten Monat öfter nicht in der Stadt sein. Ich berichte über die Aktivitäten zur Wählerregistrierung in Alabama. Was meinen Sie, wie lange das Projekt dauern wird?“

„Ich weiß es nicht. Ich werde schnell müde, und ich bin alt. Es gibt so viel zu erzählen.“

„Nach allem, was Sie mir bisher gesagt haben, können Sie die Geschichte auch mit einem Tonbandgerät aufnehmen.“

„Nein, da liegen Sie falsch. Ich werde Ihre Hilfe brauchen. Ich kann das keiner Maschine erzählen. Ich brauche jemanden mit Ihrer Intelligenz und Ihrem Verständnis …“

„Hören Sie, Mrs Gerritsen – Sie brauchen mich nicht. Ich weiß nicht, warum Sie angerufen haben, und ich weiß nicht, worum es hier eigentlich geht, aber ich bin ein Schwarzer. Und egal, welche Maßstäbe man in dieser Stadt anlegt – inklusive meiner eigenen –, ich bin der Falsche für den Job.“

„Ich brauche Sie. Ich habe Ihre Interviews gelesen. Sie sind einzigartig. Menschen erzählen Ihnen Dinge, die sie sonst niemandem anvertrauen würden. Sie wissen, wie Sie an die Informationen kommen, die sie zurückhalten.“

„Warum sollten Sie mir gutes Geld bezahlen, um dann Informationen zurückzuhalten?“

„Weil ich einen Großteil meines Lebens mit einer Lüge verbracht habe, und manchmal bin ich mir nicht sicher, wo die Wahrheit zu finden ist.“

Seufzend schüttelte er den Kopf. Doch Aurore wusste, dass er nicht ablehnen würde. Er hatte eine andere Entscheidung getroffen, und das ärgerte ihn bereits. „Fünftausend Dollar“, sagte er schließlich. „Und eine Art Versprechen, dass das alles hier am Ende einen Sinn ergibt.“

„Ich werde Ihnen beim nächsten Treffen den Scheck geben.“

Er stand auf. „Das nächste Treffen findet morgen statt. Je eher wir beginnen …“

„… desto eher sind wir fertig.“ Sie nickte und erhob sich ebenfalls. Sie wünschte, sie hätte ihren Gehstock, aber sie hatte nicht gewollt, dass Phillip sie damit sah. Sie hatte stärker wirken wollen, als sie war.

Sie streckte die Hand aus, und er schüttelte sie. „Ist zehn Uhr zu spät für Sie?“, fragte sie.

„Zehn Uhr ist in Ordnung.“

„Dann freue ich mich schon auf morgen.“

Er nickte und verabschiedete sich höflich. Dann war er verschwunden.

Sie zählte die Lügen, die sie ihm bis jetzt bereits erzählt hatte. Die letzte war die schwerwiegendste gewesen. Sie freute sich nicht auf morgen.

Sie freute sich ganz und gar nicht auf morgen.

2. KAPITEL

P hillip verließ den Garden District und fuhr nach Norden zum Club Valentine. Seine Mutter hatte den Jazzclub berühmt gemacht. Es war noch früh, und Nicky war vermutlich gerade bei der Probe. Er wollte mit ihr reden, und er wollte damit nicht warten, bis der Club voll war.

Er stellte den Wagen einige Blocks von der Basin Street entfernt ab und schlenderte an Reihen von weiß gestrichenen Holzhäusern vorbei. Von den Veranden und aus offenen Fenster lieferten sich die Four Tops und die Supremes einen musikalischen Wettstreit. Junge Mädchen in kurzen bunten Röckchen tanzten auf den Bürgersteigen Twist und Watusi. Jemand kochte mitten auf einer Auffahrt in einem alten Zuckerkessel Krebse. Der Duft erinnerte Phillip daran, dass er an diesem Tag viel zu wenig gegessen hatte.

Der Club befand sich in einem zweigeschossigen Eckhaus. Ein gusseiserner Balkon ging auf die mit Bäumen gesäumte Straße hinaus. Die Fenster mit den Fensterläden standen weit offen, um die kühle Abendbrise hereinzulassen. Vom Bürgersteig aus konnte Phillip Nickys Stimme hören, die den Straßenlärm übertönte.

Drinnen winkte er dem Barkeeper zu, der damit beschäftigt war, die Vorräte zu prüfen. Sein Stiefvater, Jake Reynolds, war nirgendwo zu sehen, also folgte er dem Klang von Nickys Stimme. Ihr Kleid war eng anliegend und rot, mit einem Rock, den einige Leute für eine Frau in ihrem Alter vermutlich für zu kurz hielten. Die Männer im Club sahen das natürlich anders.

Phillip setzte sich auf einen Stuhl im hinteren Teil des Raumes und lauschte, als sie ihren Song beendete, einen Song von James Brown. Nicky Valentine Reynolds – die Welt kannte sie als Nicky Valentine –, war eine gefeierte Jazz- und Bluessängerin. Ihre Stimme hüllte die Zuhörer ein wie ein weicher Pelzmantel. Sie konnte mit jeder Note, mit jedem Wort die leidenschaftlichsten Gefühle ausdrücken: die Reue eines ganzen Lebens, die Hitze eng umschlungener Körper in einer Sommernacht, die Freuden der ersten Liebe.

Wenn Nicky sang, erhoben sich Bruchstücke ihrer Seele in die Musik. Phillip wusste nicht, wie jemand die Probleme und Widersprüche der Welt so klar sehen konnte, doch Nicky besaß diese Fähigkeit. Und wenn sie zu Ende gesungen hatte, sah das Publikum diese Dinge auch ein bisschen klarer.

Am Ende des ersten Refrains entdeckte sie ihn und bewegte ihre Finger im Takt der Musik in seine Richtung. Als sie fertig war, stand sie noch ein paar Minuten mit der Band zusammen, ehe sie von der Bühne stieg und zu ihm ging.

„Was machst du denn hier?“

Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dazu musste er sich nicht herunterbeugen; sie war nur wenig kleiner als er mit seinen Einsachtundachtzig. „Ich wollte mit dir reden. Hast du etwas Zeit, oder soll ich einen Termin vereinbaren?“

„Für dich habe ich doch immer Zeit.“

Er blickte sich um. Der Club füllte sich mit Angestellten, die sich auf einen hektischen Abend vorbereiteten. „Wohin können wir gehen?“

„Wir können vielleicht in der Bar eine ruhige Ecke finden. Red beans and rice stehen auf dem Herd, falls du Hunger hast.“ Rote Bohnen und Reis waren die Hauptbestandteile dieses für New Orleans und die Cajun-Küche so typischen Eintopfgerichts. Traditionell wurde es montags mit vom Wochenende übrig gebliebenen Schinkenknochen zubereitet; die Würze kam von geräucherten Würsten, Knoblauch und Tabasco. Und natürlich durfte auch hier die holy trinity, die CajunDreifaltigkeit, nicht fehlen: Zwiebeln, Paprika und Staudensellerie.

„Großartig.“

Sie ging voraus. „Ich glaube nicht, dass mir das Gespräch gefallen wird.“

„Wie kommst du darauf?“

„Ich höre es an der Art, wie du ‚großartig‘ gesagt hast.“ „Fang nicht an, irgendetwas in Dinge hineinzuinterpretieren.“

Sie blieb stehen. „Dann gibt es kein besonderes Thema, über das du sprechen willst?“

„Das habe ich nicht gesagt.“ Er legte den Arm um ihre Schultern und küsste sie aufs Haar. „Hör nur, wie du mir schon wieder zusetzt.“

In der Bar setzte er sich in eine Ecke, während Nicky etwas zu essen holte. Sie kam mit Schüsseln mit Eintopf und einem halben Baguette zurück. Der Barkeeper brachte ihnen einen Krug Bier.

Phillip stillte zuerst den größten Hunger, bevor er ihr den Grund für seinen Besuch nannte. „Ich habe heute einen seltsamen Telefonanruf bekommen.“

Sie aß weiter und wartete offensichtlich darauf, dass er weitersprach.

„Und?“, sagte er, als klar war, dass sie sich nicht dazu äußern würde. „Macht dich das nicht neugierig?“

Nicky brach sich ein Stück von dem Baguette ab. „Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht neugierig bin. Ich weiß einfach nur, welche Art von Telefonanrufen du bekommst. Drohungen. Bestechungen. Wenn du mir nichts darüber erzählst, kann ich so tun, als hättest du einen Job, der dich nicht jede Woche in vorderster Front in Gefahr bringt.“

Phillip wechselte problemlos in die Sprache, die er als Kind gesprochen hatte: Französisch. Das tat er immer, wenn ihre Unterhaltungen emotional wurden. „Nicht jede Woche“, entgegnete er mit typischem Pariser Akzent.

„Oft genug jedenfalls, dass ich davon immer mehr graue Haare bekomme.“

„In diesem Telefonat ging es nicht um eine Drohung oder um einen Bestechungsversuch. Es war ein Angebot. Ein Jobangebot.“

„Also wirst du wieder verschwinden. Sag mir nur, dass du nicht nach Vietnam gehst!“ Sie sah nicht auf, während sie mit ihrem Brot die würzigen Reste des Eintopfs auftunkte.

„Es ist ein Job hier in der Stadt“, erwiderte er, nun wieder auf Englisch. Phillip beugte sich vor und berührte die Hand seiner Mutter. Seine Haut war dunkler als ihre, aber immer noch heller als die seines Vaters, den er nie kennengelernt hatte. In einem Zeitungsartikel über die Karriere seiner Mutter war seine Haut einmal mit „Toffee“ und die Hautfarbe seiner Mutter mit „Café au lait“ verglichen worden. Er hatte sich gefragt, warum die Farbe von Menschen mit afrikanischen Wurzeln immer mit etwas zu essen oder zu trinken beschrieben wurde. Seitdem hatte er mit dem Gedanken gespielt, Weiße als „milchpulverfarben“ oder „wie Apfelmus“ zu bezeichnen. Die Idee hatte er jedoch schnell als zu gefährlich verworfen.

„Ich bin gebeten worden, eine Biografie zu schreiben“, sagte er.

„Wessen Biografie?“

„Von einer alten Dame namens Aurore Gerritsen. Hast du ihren Namen schon einmal gehört?“

Endlich sah Nicky ihn an. Sie kniff ganz leicht die Augen zusammen und dachte über den siebenunddreißigjährigen Mann nach, der einmal ein Baby gewesen war, das sie gestillt hatte. „Du hast vor, in das Hoheitsgebiet der Weißen zu marschieren und dort die reichste Frau der Stadt mit Fragen über ihr Leben zu löchern? Wer hat dich gebeten, den Job zu übernehmen?“

„Sie selbst.“

Nicky war zu gut darin, ihre eigenen Geheimnisse zu bewahren, als dass sie sich ihre Überraschung jetzt hätte anmerken lassen. Für eine Frau ihres Alters hatte sie ein erstaunlich glattes, faltenfreies Gesicht. Ihre Miene blieb ungerührt. „Das kann ich nicht glauben.“

„Sie hat mich selbst angerufen, und ich habe mich mit ihr getroffen, bevor ich hierhergekommen bin.“

„Warum wollte sie dich treffen?“

„Ich dachte, du könntest mir vielleicht Einblick geben.“ Nicky lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und zog ihre Hand zurück. „Ich kenne die Frau nicht. Und ich habe ihren Namen nie im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung gehört.“

„Ich wette, dass du weißt, wer ihre Söhne sind“, erwiderte Phillip. „Beziehungsweise waren.“

„Es gibt keinen Schwarzen in dieser Stadt, der das nicht wüsste.“

Auf dem Weg zum Club Valentine hatte Phillip über ein halbes Dutzend Theorien nachgedacht, warum Aurore Gerritsen ihm das seltsame Angebot gemacht hatte. Und er hatte ein halbes Dutzend Theorien auch wieder verworfen. Sie war eine elegante alte Dame mit weißem Haar und ebenmäßigen Zügen und einem warmherzigen, arglosen Ausdruck in ihren lavendelblauen Augen. Doch er glaubte nichts von dem, was sie ihm gesagt hatte. Nicht ein Wort.

Er hatte über mögliche Verbindungen zur Familie Gerritsen nachgegrübelt, aber er wusste nichts über sie, was jeder andere Einwohner der Stadt nicht auch gewusst hätte. Aurore hatte zwei Söhne. Ihr jüngerer Sohn Ferris war Senator und bekannt für seine starren, konservativen Ansichten, was die Rassentrennung betraf. Ihr älterer Sohn Hugh, ein politisch engagierter katholischer Priester, war vor einem Jahr bei einer Kundgebung der Bürgerrechtsbewegung in einer Gemeinde südlich von New Orleans ermordet worden. Die auffälligen ideologischen Unterschiede zwischen den beiden Brüdern hatten den Zeitungen nach der Ermordung von Pater Gerritsen eine sensationelle Auflage beschert.

„Ich habe mich nur gefragt, ob du vielleicht mehr weißt als ich“, hakte er nach. „Meinst du, dass es ihre Art ist, sich gegen ihren lebenden Sohn zu stellen und sich auf die Seite ihres verstorbenen Sohnes zu schlagen? Eine Rebellion? Ich schreibe die Geschichte ihres Lebens auf, und sie reicht dem Senator das Manuskript mit meinem Namen drauf – als eine Art Statement?“

Ihr Blick war unergründlich. „Was glaubst du?“

„Ich glaube, es ist seltsam. Seltsam genug, dass ich die Wahrheit herausfinden möchte.“

„Suchst du nach einem Grund, um in der Stadt bleiben zu können, Phillip Gerard? Geht es darum?“

Phillip rutschte auf seinem Stuhl nach vorn. „Sprich weiter. Sprich es ruhig aus.“

Sie verzog übertrieben das Gesicht. „Ich denke, dass es dir schwerer und schwerer fällt, deine Taschen zu packen und zu verschwinden. Ich denke, dass eine gewisse Kindergärtnerin meinen kleinen Jungen am Haken hat. Und jedes Mal, wenn er sich zur Wehr setzt, holt sie die Schnur ein Stückchen weiter ein.“

Widerwillig musste er lachen. „Mach dir keine falschen Hoffnungen! Belinda ist unabhängiger als ich.“

„Das hältst du für möglich?“

Phillip beugte sich vor und küsste seine Mutter auf die Wange. „Kannst du über diese Gerritsen-Sache nachdenken? Und mir Bescheid sagen, wenn dir etwas einfällt?“

„Geh, schreib, und mach mich stolz.“

„Du bist doch schon stolz.“

„Dann eben noch stolzer.“

Er schenkte ihr ein Lächeln, das ihm schon so manche Tür geöffnet hatte, die den meisten Schwarzen verschlossen geblieben war. Dieses Lächeln war beifällig, geduldig und unaufdringlich. Die meisten Leute verfielen Phillips Lächeln, ehe ihnen auffiel, dass in seinen Augen das Bewusstsein stand, dass dieses Leben voller Ironie war.

Nicky war unbeschreiblich stolz auf ihren Sohn. Aber sie hatte aufgehört, ihm das zu sagen, seit sie festgestellt hatte, dass er selbst stolz auf sich war – keine leichte Aufgabe für einen schwarzen Mann in den Sechzigerjahren. Sie stand an der Eingangstür und sah zu, wie er ging. Am Ende des Blocks drehte er sich noch einmal um und winkte ihr zu, bevor er um die Ecke verschwand.

An der Straße standen riesige Magnolien, Blatt an Blatt, wie eine Girlande botanischer Papierpüppchen. Jede Woche drohte Jake mindestens einmal, die Bäume vor dem Club Valentine abzuschlagen. Und jede Woche erwiderte Nicky darauf, dass sie ihn verlassen würde, wenn er das wagen sollte. Die Magnolien blockierten teilweise die Sicht auf die Straße, und Jake wollte sehen, wer vorbeifuhr und mit welcher Geschwindigkeit. Nicky wollte dagegen nicht einmal wissen, dass es eine Straße gab.

Das Geräusch eines Wagens drang durch das Blätterwerk der Magnolien. Dann wurde es von dem Geräusch eines anderen Autos abgelöst. Sie wusste, dass Jake angekommen war, denn der scheppernde Motor seines Thunderbirds brauchte dringend eine Reparatur. Und er würde sie auch weiterhin brauchen, bis er irgendwann mitten auf der Straße absterben würde und abgeschleppt werden müsste.

Mit gesenktem Kopf kam Jake den Weg hinauf und betrachtete die Blumenbeete im Vorgarten. Seine Miene glich der seines Vaters, wenn er durch seine Felder im Norden Louisianas streifte und sich sorgte, ob es zu viel oder zu wenig Regen für die Baumwolle und den Gemüsegarten gab, der die große Familie ernährte.

„Heute Abend soll es regnen“, versicherte sie ihm.

Jake blickte auf. Sein Lächeln begann immer in seinen Augen, ehe es auf seinen Lippen ankam. Das war das Erste, was ihr an ihm aufgefallen war. Alles andere war bedeutungslos gewesen. „Ich schicke dich raus zum Sprengen, wenn es keinen Regen geben sollte“, erwiderte er.

„Das möchte ich mal erleben.“ Sie wartete, bis er fast bei der Tür war, bevor sie zu ihm ging. Selbst jetzt, nach zwanzig Jahren Ehe, erwartete sie Jakes Kuss voller Vorfreude.

Jake war groß, breitschultrig und muskulös, ein stattlicher, starker Mann – auch wenn ihn seine Rückenschmerzen manchmal dazu zwangen, einen Tag im Bett zu verbringen. Sein Haar wurde langsam grau, war aber immer noch voll und dicht. Sie ließ sich von ihm umarmen und lauschte dem Donnergrollen in der Ferne.

„Phillip hat gesagt, dass er möglicherweise eine Weile in der Stadt bleibt“, sagte er.

Nicky fragte sich, wie Phillip es geschafft hatte, ihn das wissen zu lassen. „Hat er das? Hat er dir auch erzählt, warum?“

„Dazu blieb nicht mehr die Gelegenheit. Hinter mir war ein anderer Wagen, und ich musste weiterfahren.“

Sie löste sich von ihm und lehnte sich in seinen Armen etwas zurück, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte. „Aurore Gerritsen hat ihn gebeten, ihre Biografie zu schreiben.“

„Aurore Gerritsen von Gulf Coast Shipping?“

„Genau die.“

„Und hat er vor, es zu tun?“

„Er wird morgen anfangen.“

Jake zog sie wieder an sich, und sie widerstand nur einen Moment lang. „Ich dachte, du würdest vor Freude einen Luftsprung machen, wenn Phillip eine Weile in der Stadt bleibt.“

„Diese Leute sind ganz anders als wir, Jake.“

„Ja, das stimmt. Soweit mir bekannt ist, sind sie weißer als weiß.“

Sie zog sich aus seiner Umarmung zurück, hielt jedoch noch immer seine Hand fest. „Ferris Gerritsen ist ein Rassist von der schlimmste Sorte.“

„Und wie ist diese Sorte?“

„Das sind die Leute, die vorgeben, keine Rassisten zu sein.“

Er drückte ihre Hand. „Phillip kann auf sich selbst aufpassen. Und solange er hier in der Stadt bleibt … Es ist an der Zeit, dass er sesshaft wird, und dafür gibt es keinen besseren Ort als diesen.“

Sie bemerkte, dass er zur Bar blickte. Er würde die Vorräte ein zweites Mal überprüfen; das tat er immer. „Wir werden heute Abend volles Haus haben. Wir sind ausgebucht“, sagte sie.

„Wir sind jeden Abend ausgebucht.“

Eigentlich war für den Augenblick alles gesagt, doch sie ertappte sich dabei, wie sie ihn weiterhin festhielt. „Ich möchte, dass Phillip bleibt, Jake. Das weißt du. Ich möchte, dass er heimisch wird. Das konnte ich ihm nie bieten. Ich wusste nicht, wie. Ich möchte nur nicht, dass er Kompromisse eingehen muss. Ich möchte nicht, dass er Handlanger einer alten Frau ist, die der Welt beweisen will, wie liberal sie ist. Was hat er davon?“

„Eine Geschichte?“

Einen Moment lang schwieg sie, bevor sie die Achseln zuckte. „Vielleicht. Vielleicht geht es nur darum. Vielleicht denkt er deshalb darüber nach.“

„Oder vielleicht denkt er darüber nach, weil er verliebt ist und eine Ausrede braucht, um eine Weile in der Stadt bleiben zu können.“

Musik drang aus dem Hinterzimmer in die Bar. Es war bedächtiger, rauchiger Jazz aus einem anderen Jahrzehnt, It’s Too Soon to Know, eines von Jakes Lieblingsliedern. Sie lächelte. „Manchmal denke ich, du glaubst all diesen albernen alten Songs wirklich.“

Er ließ ihre Hand los, um ihr Kinn zu umfassen. „Manchmal tue ich das auch.“ Belinda saß auf ihrer Seite der vorderen Veranda, als Phillip auf ihre Auffahrt bog. Zwei Nachbarskinder hockten auf der Brüstung vor ihr und lehnten sich gegen den dicken Teppich von Jasmin, der zum Dach rankte. Das ältere der kleinen Mädchen flocht dem jüngeren die Haare.

„Du brauchst gar keine eigenen Kinder“, lächelte Phillip, als er die Treppe hinaufkam. „Du hast ja immer genügend Kinder anderer Leute um dich herum.“

„Das ist die beste Lösung. So muss ich mich nicht auch noch um einen Mann kümmern.“

Phillip war nicht besonders sentimental. Aber wenn er Belinda ansah, hatte er das Gefühl, dass sich in seinem Innern die losen Enden eines Bandes vereinten.

Sie trug eine dunkle bedruckte Haremshose und ein mit Fransen besetztes Top, das kurz über ihrem Nabel endete. Vor ein paar Wochen hatte sie sich die Haare so kurz geschnitten wie ein Mann, und die Wirkung war verblüffend. Sie hatte einen schlanken majestätischen Hals und ein ovales Gesicht, das von ihren mandelförmigen Augen mit den langen, geschwungenen Wimpern beherrscht wurde. Der Kurzhaarschnitt legte den Fokus auf die ganze Frau, die Schönheit, den Stolz.

Das Temperament.

„Du hast überall auf meinem Schreibtisch deine Kaffeebecher stehen lassen, Phillip Benedict.“

„Ich bekenne mich schuldig.“ Er lehnte sich an den Stützpfeiler der Veranda. „Und was sollte ich deiner Meinung nach jetzt tun?“

„Meiner Meinung nach solltest du reingehen und aufräumen.“

„Verlässt du deine kleinen Freundinnen und kommst mit rein?“

„Amy, bist du fertig?“, fragte Belinda.

Das ältere Kind mit den rosigen Wangen und dem frechen Blick kicherte und rutschte von der Verandabrüstung auf den Boden. „Wollen Sie tun, was er sagt, Miss Belinda?“

„Ich tue nie, was er sagt. Vergiss das nicht.“

„Dann gehen Sie nicht ins Haus?“

„Doch. Aber nur, weil mir kalt ist. Und ihr beide flitzt nach Hause.“

Die beiden Mädchen sausten los, hüpften den Weg entlang und dann auf den Bürgersteig. Das ältere Mädchen nahm die Hand des jüngeren.

„Ist es nicht schon ein bisschen zu spät für die beiden, um draußen zu sein?“, wollte Phillip wissen.

„Während ihre Mutter Büros in der Canal Street putzt, bleiben sie bei ihrer Tante – aber die hat selbst sechs Kinder und Mühe, den Überblick zu behalten. Den Mädchen geht es gut; Amy ist mit ihren acht Jahren schon eine erfahrene, reife Dame. Trotzdem will ich sicher sein, dass sie gut ankommen. Du kannst ja schon ins Haus gehen.“ Sie erhob sich.

„Du kennst jedes Kind in der Nachbarschaft, nicht nur diejenigen, die bei dir im Kindergarten waren, oder?“

„Nein. Aber sie kennen mich.“

Phillip legte seine Hand auf ihre Schulter und hielt Belinda zurück, bevor sie die Treppe hinuntergehen konnte. „Warst du mit acht auch schon eine erfahrene, reife Dame?“

„Ich war schon mit drei eine erfahrene, reife Dame.“ „Dann komm, alte Dame. Ich werde dich begleiten.“ Hand in Hand folgten sie den beiden Mädchen. New Orleans war ein Ort, an dem man auf den Stufen hockte, sobald es abends kühler wurde. Ein Ort, an dem der erste Hauch kühlerer Abendluft dankbar von unzähligen Lungen aufgesogen wurde, die den ganzen Tag nur darauf gewartet hatten. An diesem Abend saßen alte Menschen zusammen und erinnerten sich an früher, und junge Menschen schufen ihre eigenen Erinnerungen.

Belindas Nachbarschaft war nichts Besonderes. Um einige der kleineren Häuser kümmerten die Besitzer sich gut. Der Rasen in den Vorgärten war ordentlich gestutzt, die Häuser waren frisch gestrichen. Andere Gebäude zeigten deutlich, dass dem Besitzer die Hoffnung und die Energie fehlten, um sie zu pflegen. Das schlimmste Beispiel dafür befand sich eineinhalb Blocks entfernt auf einem großen Eckgrundstück. Phillip und Belinda standen mit dem Rücken zu dem heruntergekommenen Haus und beobachteten, wie Amy und ihre Schwester über die Straße liefen, durch Gärten sausten und schließlich auf eine Veranda gingen, auf der sich unzählige Kinder tummelten.

„Das hier ist das traurigste Haus in der Straße“, murmelte Belinda und drehte sich um.

Phillip wandte seine Aufmerksamkeit dem Haus zu. „Wie kommst du darauf?“

„Weil es das größte Potenzial hat! Aber es steht schon immer leer, wenigstens seit ich hier lebe. Irgendwann war es mal zu verkaufen … Wahrscheinlich ist das noch immer so, es macht sich nur niemand die Mühe, ein Schild aufzustellen. Im letzten Monat waren Hausbesetzer hier, bevor die Polizei sie vertrieben hat, aber sie werden wiederkommen. Regen wird durch die zerbrochenen Fenster fallen, schon bald wird das Holz verfaulen, und die Stadt wird das Haus abreißen. Und dann wird hier ein freies Grundstück sein, auf dem Müll herumliegt. Und niemand wird darauf bauen.“

Phillip interessierte sich nicht besonders für Häuser. Solange er ein Dach über dem Kopf hatte, war er zufrieden. Er blieb nie lange genug an einem Ort, um sich nähere Gedanken über dieses Thema zu machen. Doch er konnte sich vorstellen, dass Belindas Vorhersage eintraf, und das war eine Schande. Das Haus war früher das schönste im Viertel gewesen, zweigeschossig und mit kunstvollen Schmiedearbeiten versehen, die die breiten Veranden im Erdgeschoss und im ersten Stock säumten.

„Wer auch immer dieses Haus gebaut hat, hatte Träume“, sagte Belinda.

„Was meinst du damit?“

„Siehst du diese formvollendeten gusseisernen Ornamente? So etwas sieht man in dieser Straße nicht oft. Eine Frau hat dieses Haus gebaut. Eine starke Frau, die wusste, was sie wollte.“

Er legte seine Arme um sie und lehnte sein Kinn an ihren Kopf. „Stellst du dir das nur vor? Oder kennst du die Geschichte?“

„Du musst dir nur das Haus ansehen, um es zu wissen.“ „Vielleicht braucht es nur eine starke Frau mit einer starken Fantasie, um es zu sehen.“

„Es braucht eine starke Frau, um Träume wahr werden zu lassen.“

Er dachte an die starke Frau, die er heute Abend getroffen hatte. „Ich habe heute einen sehr seltsamen Anruf bekommen.“

Sie wandte den Kopf, sodass sie ihn ansehen konnte. „Hast du?“

Donner grollte und nahm ihm die Möglichkeit zu antworten. Während sie abwarteten, dass der Donner verhallte, fielen die ersten Regentropfen. Er ergriff ihre Hand, und sie hasteten zurück zu ihrem Haus.

Auf der Veranda schüttelte er den Kopf, dass die Tropfen nur so flogen. Dann schlang er wieder seine Arme um sie.

„Es sieht so aus, als würde ich eine Weile bleiben.“

„Und wo willst du in der Zeit wohnen?“

„Ich dachte, ich bleibe hier. Falls du mir Unterkunft gewährst.“

Sie sagte nicht Ja, denn das musste sie nicht. Phillip wusste, dass er willkommen war. Vieles zwischen ihnen war unausgesprochen, aber einige Dinge waren klar.

„Dann erzähl mir von dem Anruf“, sagte sie.

„Ich erzähle dir drinnen davon.“

„Das wirst du auch müssen, denn hier draußen wird es gerade sehr kalt, und deine Arme reichen nicht, um mich zu wärmen.“

„Tun sie nicht?“ Er lächelte ihr zu. „Bist du dir da sicher?“ Er neigte den Kopf und küsste ihre Wange, bis Belinda resigniert seufzte. Ihre Lippen fühlten sich weich an.

In seinem Leben hatte es schon andere Frauen gegeben, mehr Frauen, als ihm im Gedächtnis geblieben waren. Doch keine von ihnen war so verführerisch wie Belinda gewesen. Als sie beide eins wurden, lauschte er dem Regen von New Orleans und dachte bei sich, dass es ihm nichts ausmachen würde, ihm noch eine Weile länger zuzuhören.

3. KAPITEL

Aurore hatte für ihre erste Sitzung mit Phillip den Frühstückssalon ausgesucht. Das Zimmer war luftig und offen, gewärmt von Sonnenlicht und gekühlt durch eine sanfte Brise. Es gab einen gemütlichen runden Tisch, an dem sie sitzen konnten – er mit seinem Notizblock und sie mit der einen Tasse echten Kaffees, die sie pro Tag trinken durfte. Wenn sie erzählte, würde sie draußen die Vögel hören. Und die Vögel würden sie daran erinnern, dass sie schon siebenundsiebzig Jahre alt war und die Ereignisse, von denen sie berichtete, bereits vor langer Zeit geschehen waren.

Als Phillip ankam, war sie so weit. In der Hoffnung, eine lockere Atmosphäre zu schaffen, trug sie ein bequemes lavendelblaues Kleid und keinen Schmuck. Aber innerlich fühlte sie sich alles andere als locker.

Phillip betrat das Zimmer, und wieder einmal war sie davon gefesselt, wie gut aussehend und selbstsicher er war. Er hatte ein weißes Hemd und ein dunkles Jackett an, trug jedoch keine Krawatte. Es wirkte fast, als wollte er sich direkt an die Arbeit machen und legte keinen Wert auf Etikette. Er hatte ein Tonbandgerät dabei und hielt es fragend in die Höhe.

„Ja“, nickte sie. „Ich glaube, das ist eine gute Idee.“

Es schien ihn zu überraschen, dass sie sich nicht zur Wehr setzte. „Das freut mich. Das macht es mir wesentlich leichter. Allerdings werde ich mir trotzdem Notizen machen.“

„Sie können das Gerät hier anschließen.“

Er durchquerte den Raum und begann, das Tonbandgerät aufzubauen. „Ich werde Ihnen die Bänder geben, wenn ich dann mit allem fertig bin.“

Das würde nicht nötig sein, doch sie hatte nicht vor, ihm das jetzt zu erklären. „Ich habe Lily gebeten, uns eine Kanne Kaffee und einen Teller von ihren calas zu bringen. Haben Sie die schon einmal probiert?“

Er beugte sich über die Steckdose. „Ich glaube nicht.“ „Das sind frittierte süße Reisküchlein, typisch für New Orleans. Als ich ein kleines Mädchen war, bekam man sie im Vieux Carré, im French Quarter. Die Frauen, die sie verkauften, trugen bunte tignons kunstvoll um den Kopf, worauf sie geflochtene Weidenkörbe voll mit den köstlichen Reisküchlein balancierten. Manchmal ging ich mit unserer Köchin auf dem French Market einkaufen, und wenn ich besonders lieb war, bekam ich eines.“

„Klingt nach einem netten Stück des alten New Orleans.“ „Etwas, das ich eigentlich nicht mehr essen darf. Aber manchmal ist Lily nachsichtig.“

„Machen Sie das oft?“

„Was?“

„Die Regeln brechen, die man aufgestellt hat, um Sie zu schützen?“

Sie lachte. „Sooft ich kann. In meinem Alter gibt es nicht mehr vieles, das beschützt werden müsste.“ Als er sich aufrichtete und sie ansah, fügte sie hinzu: „Darf ich Sie Phillip nennen? Das ist leichter. Und ich hätte gern, dass Sie mich Aurore nennen. Das macht sonst so gut wie niemand mehr. Die meisten meiner engen Freunde sind schon tot, und die nachfolgende Generation hat Angst, dass ich mich ohne eine korrekte Anrede eventuell gekränkt fühlen könnte.“

Er antwortete nicht, sondern lächelte nur, als hätte sie um etwas Unmögliches gebeten und er wäre zu höflich, um das zu sagen.

„Haben Sie darüber nachgedacht, wie Sie gern anfangen würden?“, fragte er.

Eigentlich hatte sie kaum über etwas anderes nachgedacht. Sie war sich noch immer nicht sicher. „Vielleicht können wir es ruhig angehen lassen. Haben Sie Fragen, die Sie stellen möchten? Hintergrund? Solche Dinge?“

„Ich bin ein Mann mit unzähligen Fragen.“

„Gut. Dann versuche ich, die Frau zu sein, die die eine oder andere Antwort hat.“

Lily – dunkelhäutig, weißhaarig und so dünn, als würde sie ihre eigenen Kochkünste nicht genießen – betrat mit einer Platte goldbrauner, großzügig mit Puderzucker bestäubter calas das Zimmer. Sie stellte die Platte auf einen Tisch und brachte anschließend noch ein Kaffeeservice mit einer großen emaillierten Kanne, die sie ebenfalls auf dem Tisch platzierte. „Ein Küchlein“, sagte sie entschieden zu Aurore. „Und eine Tasse Kaffee. Ich werde nachzählen.“ Ihre weiße Uniform raschelte, als Lily ging.

„Das ist ihr Ernst“, lächelte Aurore. „Wir passen zusammen – ich höre nicht auf sie, und sie hört nicht auf mich.“

„Wie Mammy in Vom Winde verweht.“

„Überhaupt nicht so. Sie macht ihren Job gut, und ich bezahle sie gut. Wir empfinden großen Respekt füreinander.“

„Und am Ende des Tages geht sie vermutlich nach Hause in eine Straße, in der kein einziger Weißer lebt.“

„Falls das stimmen sollte, ist es wahrscheinlich eine Riesenerleichterung für sie, nachdem sie sich den ganzen Tag über mit mir herumschlagen musste.“

Er nahm ihr gegenüber am Tisch Platz. Sie schenkte ihm Kaffee ein. Der Strahl, der aus der Kaffeekanne kam, zitterte im Rhythmus ihrer Hände. „Wie nehmen Sie ihn?“

„Schwarz.“

Sie lächelte. „Rassentrennung am Frühstückstisch – wie auch sonst überall. Ich bevorzuge meinen nämlich weiß.“

Sein zurückhaltendes Lächeln glich einem schwachen Sonnenstrahl. „Also, was weiß ich bisher über Sie?“

„Nehmen Sie eins von den Küchlein.“ Sie reichte ihm einen Teller und eine Serviette und schob die Platte in seine Richtung.

Er bediente sich. „Ich vermute, Sie wollen etwas beweisen. Ich vermute, dass Sie am Ende Ihres Lebens ein Statement abgeben wollen, eine Erklärung, wer Sie waren. Und diese Erklärung ist mindestens genauso wichtig wie die Geschichte Ihres Lebens.“

„Und was soll das für ein Statement sein?“

„Dass Sie sich von den anderen Menschen Ihrer Klasse unterschieden haben. Dass Sie für diese Zeit und diesen Ort liberal waren. Habe ich recht?“

„Überhaupt nicht.“

Er widmete sich dem Reisküchlein und beobachtete währenddessen Aurore. „Also gut. Was weiß ich wirklich? Fakten, keine Vermutungen.“

Diese Antwort interessierte sie brennend. Sie gab Milch in ihre Tasse und rührte um. „Was wissen Sie, Phillip?“

„Noch nicht viel, ich hatte noch keine Zeit, Nachforschungen anzustellen. Gulf Coast Shipping ist eine der ältesten und etabliertesten Firmen der Stadt. Ich glaube, es waren Ihre Vorfahren, die das Unternehmen gegründet haben, nicht die Familie Ihres Mannes. Es war vor allem Ihr Verdienst, dass es ein Multimillionen-Dollar-Konzern geworden ist.“

„Das ist, wie alles andere, nur ein Teil der Wahrheit. In den ersten Jahren unserer Ehe hat Henry uns über Wasser gehalten.“ Sie lachte. „Auf jeden Fall nicht verkehrt für eine Reederei.“

„Henry war Ihr Ehemann?“

„Ja.“

„Sie hatten zwei Kinder. Ihr jüngerer Sohn Ferris Gerritsen ist Senator. Ihr älterer Sohn Hugh, der Priester, wurde letztes Jahr in Bonne Chance ermordet.“

Ihr Lächeln erstarb. „Ja.“ Sie wartete darauf, dass er noch mehr dazu sagte, doch er äußerte sich nicht weiter zu dem Thema.

„Haben Sie Enkelkinder?“

„Eine Enkelin. Ihr Name ist Dawn.“

„Lebt sie in der Nähe?“

„Sie arbeitet gerade in England. Sie ist auch Journalistin, Fotojournalistin.“

„Ach? Worüber berichtet sie?“

„Britische Musikgruppen, glaube ich. Sie ist in Liverpool.“ Er machte sich Notizen. Das Tonbandgerät hatte er noch nicht eingeschaltet, als wüsste er, dass sie sich gerade erst einmal beschnupperten.

„Haben Sie sonst noch lebende Verwandte?“, erkundigte er sich.

„Nur ein paar sehr entfernte Verwandte, die ich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen habe.“

„Und das ist schon alles, was ich weiß.“ Er sah auf und blickte ihr direkt in die Augen. „Außer dass Ihr Sohn sich entschieden gegen die Integration gestellt hat und er deshalb bei seinen Wählern sehr beliebt ist. Es gibt Gerüchte, dass er für das Amt des Gouverneurs kandidieren will. Und wenn er das tut, wird er wahrscheinlich gewinnen.“

„Das könnte passieren. Oder es geschieht etwas, das es verhindert.“

„Würden Sie eine der Möglichkeiten bevorzugen?“

„Ja.“

„Und welche?“

„Diejenige, die am besten für Louisiana ist.“

„Und die Ausflüchte beginnen …“

Sie nickte. „Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht über Ferris reden möchte. Es könnte möglicherweise so wirken, als wäre er der Grund, warum ich Sie hergebeten habe. Sie könnten eventuell sogar glauben, dass ich der Welt beweisen möchte, dass ich nicht so bin wie mein Sohn. Aber darum geht es hier ganz und gar nicht.“

Er tippte mit seinem Stift auf den Notizblock, den er vor sich liegen hatte. „Okay“, nickte er schließlich. „Worum geht es dann?“

„Sie haben mich nichts über meine Eltern gefragt.“ „Möchten Sie damit beginnen?“

Sie wollte ihm sagen, dass sie überhaupt nicht beginnen wollte, doch das würde genauso viele Erklärungen nach sich ziehen wie die Geschichte ihres Lebens. „Nein, ich glaube, es beginnt mit meinem Großvater. Sein Name war Antoine Friloux. Er war ein Gentleman im klassischen Sinn und ein talentierter Geschäftsmann in einer Klasse, die Arbeit als etwas ansah, das besser die anderen taten. Grand-père Antoine hat Gulf Coast gegründet. Damals hieß die Firma noch Gulf Coast Dampfschifffahrtsgesellschaft. Er war ein reicher Mann, und er wurde mit jeder Investition, die er tätigte, noch reicher.“

Als sie innehielt, stellte Phillip das Tonbandgerät an. Er wollte, dass sie weitererzählte. „Er war der Vater Ihrer Mutter?“

„Ja. Wenn er einen Sohn gehabt hätte, wäre das, was ich Ihnen gleich erzählen werde, vermutlich niemals geschehen.“

Phillip lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und lehnte den Notizblock gegen die Tischkante. „Und wie kommen Sie darauf?“

Sie antwortete ihm nicht sofort. Wie sie gehofft hatte, fing die Geschichte an, sich in ihrem Innern zu formen. Zum ersten Mal war sie sich sicher, dass sie die ganze Geschichte erzählen konnte.

„Es gibt etwas, das Sie wissen sollten“, sagte sie.

„Und das wäre?“

„Um meine Geschichte zu verstehen, müssen Sie auch die Geschichte eines Mannes namens Raphael gehört haben.“ Sie sah ihn abwartend an.

„Und wer war dieser Raphael?“

Wieder antwortete sie nicht direkt. „Unsere Lebensgeschichten sind miteinander verwoben.“

„Also gut.“

„Haben Sie schon viel von Louisiana gesehen, Phillip?“

Er schüttelte den Kopf.

„Im Süden gibt es eine vorgelagerte Insel namens Grand Isle. Ende des letzten Jahrhunderts verbrachten wohlhabende Leute dort den Sommer. Wir fuhren auch auf die Insel, als ich ein Kind war. Als ich ein kleines Kind war. Meine Mutter war … krank, und es bestand die Hoffnung, dass das dortige Klima ihren Zustand verbessern könnte.“

„Das scheint mir ein guter Anfang zu sein.“

Sie sah ihm in die Augen, aber sie lächelte nicht. „Das ist es. Denn alles, was ich Ihnen erzählen werde, ist mit dem Sommer des Jahres 1893 verbunden.“

4. KAPITEL

Golfküste von Louisiana, 1893

E in Mann nahm sich eine Frau, um Kinder zu bekommen. Ein Mann nahm sich eine Geliebte, um Spaß zu haben. In letzterem Falle hatte Lucien Le Danois viel Glück gehabt. Er hatte sich eine Geliebte ausgesucht, die so viel Vergnügen schenken konnte, dass die anspruchsvollsten kreolischen Männer vor ihr niedergekniet wären, wenn sie es gewusst hätten. Und wie das Schicksal es wollte, war Marcelite Cantrelle auch noch fruchtbarer als Luciens Ehefrau Claire.

Ein Mann musste Marcelite nur ansehen, und in ihr wuchs neues Leben heran, wie die Ranke der WeidenSeide, die prall vom Frühlingsregen war. Ihr Körper, robust und mit ausladenden Hüften, war wie gemacht dafür, Kinder zu gebären. Ihre Brüste waren wie eine Einladung, um an ihnen zu saugen und stark zu werden. Lucien kannte die geheimnisvollen Wunder ihres Fleisches an seinen Lippen, die Verlockung ihres erdigen Dufts.

Marcelite hatte ihm schon ein Kind geboren – eine Tochter. Innerhalb weniger Stunden hatte sie sie zur Welt gebracht und ernährte sie nun mit Muttermilch und den frischesten, süßesten Früchten, die man am Golf von Mexiko finden konnte. Angelle war eine schwarzhaarige fröhliche Fee, sonnengebräunt, genau wie ihre schwarzhaarige Mutter. Wenn Marcelite an den Strand ging, um Netze zu flicken, spielte die zweijährige Angelle in den Wellen. Munter wich sie am Strand den weißen Schaumkronen der niedrigen Wellen aus. Während es dann zu Hause überall würzig nach dem Fang des Tages duftete, den Marcelite kochte, kletterte Angelle auf die einzelne Wassereiche im Garten. Versteckt zwischen den mit Moos bedeckten Zweigen, grüßte sie die Fischer, die vorbeikamen.

Lucien versuchte, nur an Angelle und Marcelite zu denken, als er durch die flache Passage segelte, die Grand Isle von Chénière Caminada trennte. Doch trotz seiner Bemühungen waren es andere Gesichter, die er sah.

Die Passage trennte mehr als nur zwei Inseln voneinander. Früher am Tag hatte Lucien sich von seiner wütenden Frau verabschiedet und von Aurore, seinem einzigen rechtmäßigen Kind. Er konnte noch immer Claires Finger spüren, die sich in seinen Arm krallten, als er sie weggestoßen hatte. Und er konnte noch immer die Anklage in Aurores blassen Augen sehen.

Warum sollte er sich schuldig fühlen? War er nicht mit dem Dampfschiff direkt nach der Sommersaison zur Grand Isle gefahren, damit er Claire und Aurore zurück nach New Orleans begleiten konnte? Hatte er Claire nicht die Erlaubnis erteilt, noch diese zusätzlichen Wochen zu bleiben? Wochen, die sie angeblich benötigte, um sich auf die letzten Monate ihrer Schwangerschaft einzustellen?

Als Ehemann konnte man ihm nichts vorwerfen. Vielleicht war das Haus in New Orleans nicht so groß wie das Haus, in dem sie früher mit ihren Eltern gewohnt hatte. Aber viele beneideten ihn um das Grundstück, das er an der Esplanade Avenue besaß. Claire fehlte es an nichts.

Und er war geduldig gewesen. Bei allen Heiligen – er war geduldig gewesen, als sie Baby um Baby verloren hatte. Ein Mann konnte wegen weitaus geringerer Gründe wütend auf seine Frau sein. Er hatte zugesehen und schweigend abgewartet, als sie immer wieder daran gescheitert war, einen Stammhalter auf die Welt zu bringen, der seinen Namen trug. Auch jetzt war sie wieder schwanger. Auch jetzt wartete er auf den Tag, an dem sie sich hinlegen und ihn wieder enttäuschen würde.

Trotz Luciens Geduld hatte Claire ihm nichts geschenkt außer einer zarten, zerbrechlichen Tochter, deren Haut so blass und durchscheinend war, dass er fast ihr Herz schlagen sehen konnte. Niemand glaubte ernsthaft, dass ihre fünfjährige Tochter Aurore, ihr einziges lebend geborenes Kind, bis ins Erwachsenenalter überleben würde.

Konnte man ihm also einen Vorwurf machen, weil er sich einen Nachmittag für sich selbst nahm? Er hatte Marcelite versprochen, sie zu besuchen, bevor er zurück nach New Orleans ging. Monate würden vergehen, ehe er sie wiedersehen würde, Monate, in denen er nur davon träumen würde, ihren Körper unter seinem zu spüren.

Plötzlich blähte der Wind sein Segel. Es war beinahe wie das strenge Seufzen eines Gottes, der ungehalten über die Ausreden war. Das kleine Boot wurde näher ans Ufer getrieben, getragen von den Wellen, die sich am Sandstrand brachen. Es herrschte Ebbe. Lucien krempelte seine Hosenbeine hoch und zog seine Schuhe aus. Dann schwang er sich über Bord, um das Boot an Land zu ziehen.

In der Ferne konnte er Männer mit breitkrempigen Hüten sehen, die trotz der nachmittäglichen Regenschauer auf dem Meer waren und runde Fischernetze auswarfen. Eine Kaltfront war aufgezogen, und die feuchte Luft fühlte sich herbstlich an. Zwei Frauen, deren schlichte Kleider im nassen Sand schleiften, stapelten vom Sturm angespültes Treibholz, das fürs Kochen und Heizen gelagert werden sollte. Marcelites Stapel befand sich noch ein Stück weiter den Strand hinauf. Sie hatte ihn mit der Hilfe von Raphael angehäuft.

Der siebenjährige Raphael, Marcelites Sohn aus einer früheren Beziehung, war ein guter Junge. Er war eine Hilfe für seine Mutter und ein Beschützer und Freund für seine Schwester. Er war genauso bezaubert von Angelle wie Lucien. Wegen dieser bedingungslosen Liebe zu seiner Schwester hatte Raphael auch einen besonderen Platz in Luciens Herz.

Lucien warf einen prüfenden Blick über den Strand. Er rechnete fast damit, dass der Junge sich hinter einem der Holzstapel versteckte – ein Spiel, das sie oft spielten. Doch Raphael war nirgends zu entdecken.

Lucien murmelte höfliche Grüße, als er an den Frauen vorbeiging, ehe er sich auf den Weg ins Dorf machte. Der Unterschied zwischen Chénière Caminada und Grand Isle war gewaltig. Im Fischerdorf auf der Chénière standen über sechshundert Häuser. Es herrschte das geschäftige alltägliche Treiben der Bewohner. Die Fischer und Jäger auf der Chénière hatten große, eng verbundene Familien und wenig Kontakt zur Außenwelt. Die Grand Isle dagegen war kleiner. Es gab dort keine Kirche und auch keinen ortsansässigen Friedensrichter. Aber in den Sommermonaten wurde die Insel von Wohlhabenden überschwemmt, die den unbarmherzig heißen Temperaturen in der Stadt und dem Fieber, das oft mit der Hitze kam, entfliehen wollten.

Lucien kam an einem Orangenhain vorbei. Die noch grünlichen Früchte waren so schwer, dass sich die Äste unter ihrem Gewicht zu anmutigen Bögen formten. Vor ihm säumten einige Holzrahmenhäuser, die auf hohen Stelzen aus Ziegelsteinen standen, den grasbewachsenen Weg. Als er an den Häusern vorbeilief, erblickte er eine Gruppe von Frauen, die sich auf der breiten Veranda eines Hauses unterhielten und Krabben pulten. Sie riefen ihm zu, dass er Unterschlupf suchen solle, ehe es wieder zu regnen beginnen würde. Ein kleiner Hund lief ihm vor die Füße und schnupperte an seinen Schuhen. Das Tier schien fast zu hoffen, etwas Interessantes entdecken zu können, das es mit einem größeren Gefährten teilen konnte, der im Schutz eines umgedrehten Einbaums döste.

Luciens Ziel war fünfzehn Gehminuten entfernt, an Häusern mit Wein- und Gemüsegärten vorbei. Auf der Grand Isle versperrten Reihen von uralten knorrigen Eichen die Aussicht, doch hier konnte Lucien mit einem Blick den Großteil des Dorfes erfassen. Die Bewohner der Chénière hatten ihre Bäume abgeholzt, um an heißen Sommertagen die Golfbrise spüren zu können.

Vor drei Jahren war er zum ersten Mal diesen Weg entlanggegangen. Er und ein Freund waren von der Grand Isle zur Chénière gesegelt, um ein neues Fischernetz als Geschenk für die Frau des Freundes zu erstehen. Das Netz sollte bei einer Abendveranstaltung im Herbst, die das Motto „Am Meer“ trug, als Dekoration dienen.

Als sie angekommen waren, hatte man sie zur Hütte von Marcelite Cantrelle geführt. Lucien hatte ein zahnloses Weib erwartet, das skrupellos feilschen würde. Stattdessen war er verzaubert gewesen, als er einer dunkelhaarigen Verführerin gegenüberstand. Sie hatte mit einem solchen Charme verhandelt, dass ihm nicht einmal aufgefallen war, dass er doppelt so viel ausgegeben hatte wie geplant.

Lucien war in jenem ersten Sommer oft zurückgekehrt, um Marcelite zu sehen. Zuerst hatte er sich Ausreden für seine häufigen Besuche überlegt – ein neues Netz, Ratschläge, wie er beim Fischen erfolgreicher würde, ein kleines Geschenk für Raphael. Aber im August dann waren er und Marcelite zu einem stummen Einvernehmen gekommen. Er kam vorbei, wenn er Zeit hatte, und brachte ihr Geschenke und Geld. Im Gegenzug gab sie sich ausschließlich ihm hin. Diese Übereinkunft hatte für sie beide Vorteile.

Lucien hatte diesen Weg schon oft genommen. Und immer war er voll freudiger Erregung, wenn er sich vorstellte, Marcelite bald in den Armen halten zu können. Jetzt kam er um eine Kurve, und Marcelites Zuhause tauchte auf. Gebaut aus Treibholz und das Dach mit Palmblättern gedeckt, war die Hütte ebenso eine Schöpfung der einheimischen Sitten und Kultur wie seine Bewohnerin. In der Ferne konnte Lucien sie sehen. Sie erwartete ihn im Schutze der Wassereiche. Das Weiß ihrer Schärpe hob sich leuchtend gegen das verwitterte Braun der Palmblätter ab. Er konnte sehen, wie ihre Hände über das Fischernetz flogen, zogen, ausrichteten, knüpften, doch ihr Blick war auf ihn gerichtet.

Als er näher kam, legte sie das Netz zur Seite und stand auf, aber sie ging nicht auf ihn zu. Sie war keine große Frau, doch mit ihrem majestätischen Auftreten und der stolzen Kopfhaltung wirkte sie größer, als sie war. Sie strich sich nicht den Rock glatt und spielte auch nicht nervös mit den Fingern. Sie wartete einfach.

Als sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, machte er eine kleine Verbeugung. „Mademoiselle.“

„Monsieur“, erwiderte sie in der rauchigen, abgehackten Sprechweise, die so typisch für die Gegend an den Bayous war.

„Wo sind die Kinder?“

„Angelle liegt im Haus und schläft. Raphael erkundet die Gegend.“

„Am Strand habe ich ihn nicht gesehen.“

„Er geht jeden Tag weiter und sucht nach Schätzen.“ „Das ist der Einfluss dieses alten Piraten, Juan Rodriguez.“ „Raphael sucht mehr als nur Goldstücke. Er sucht einen Mann, mit dem er reden kann.“

Lucien hörte keinen Vorwurf in Marcelites Stimme, aber er spürte ihn trotzdem. „Er könnte einen besseren Gesprächspartner finden als den alten Rodriguez.“

„Juan ist nett zu Raphael. Der Junge könnte seinen Geschichten ewig lauschen.“

Lucien stützte sich mit einer Hand am Baumstamm ab. Diese Haltung brachte ihn ihr noch näher. „Und was könntest du ewig machen, mon cœur?“

Sie hob die Schultern, und er beobachtete, wie der weiche Musselinkragen sich bewegte. „Essen, mais oui? Im Schatten sitzen und dabei zuschauen, wie die Reiher sich ihre nächste Mahlzeit schnappen?“

„Und was noch?“

„Mir fällt sonst nichts ein, das ich ewig tun könnte.“ Sie senkte den Blick, bis ihre Wimpern ihre sonnengebräunten Wangen küssten. „Aber vielleicht fällt mir etwas ein, das ich gern oft machen würde.“

Sein Herz schlug schneller. Er nahm jede Kleinigkeit von ihr in sich auf – die Art, wie das Licht durch die Äste der Eiche auf ihr schwarzes Haar fiel, die winzigen goldenen Ringe in ihren Ohrläppchen, den kräftigen Schwung ihrer Nase, die sinnliche Wölbung ihrer Lippen.

In Momenten wie diesen wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass die Zeit stehen bleiben würde und er mit Marcelite allein wäre. Dann könnten sie sicher und zufrieden das Leben genießen, das sie sich hier zusammen geschaffen hatten.

Marcelite war eine Mischung der unterschiedlichen Nationalitäten, die seit langer Zeit diese sumpfige Halbinsel für sich beanspruchten. Eine feurige Kombination aus diesem und jenem, genau wie das Gumbo, das sie ihm oft kochte. Es waren einerseits diese Unterschiede und andererseits die Ähnlichkeiten zu allen anderen Frauen, die ihn dazu trieben, immer wieder zu ihr zurückzukehren.

„Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht.“

Sie hob den Blick. „Tatsächlich? Du hast es gut versteckt.“ „Es ist etwas Kleines.“ Er schob seine Hand in seinen Mantel und zog ein rechteckiges Päckchen heraus. „Sieh es dir an.“

Sie ließ sich Zeit. Mit ihren von der Arbeit rauen, geschickten Händen zupfte sie an der Schnur. Sie zeigte die Geduld und die Zurückhaltung einer wohlerzogenen kreolischen Frau. Als das Geschenk ausgepackt war, betrachtete sie es, ohne es aus dem Einwickelpapier zu nehmen.

„Es ist ein zusammenfaltbarer Fächer“, erklärte Lucien. Er nahm ihn und klappte ihn auf. Auf dem wachsweichen Leder waren kunstvoll gestickte Rosen in Gold und Rot. „Der Rahmen ist aus Violettholz. Aus Frankreich.“ Er hielt ihn ihr unter die Nase, damit sie den Duft einatmen konnte. „Für den Fall, dass der Wind vergisst zu wehen.“

„Und wo, Monsieur, finde ich die Hand, die ich brauche, um so etwas benutzen zu können?“ Er lachte. „Öffne den Fächer am Abend, wenn du deine Arbeit erledigt hast. Setz dich bei Anbruch der Dunkelheit auf deinen kleinen Hocker, genau hier, und denk an mich.“

Mais non – dann sind es die Moskitos, an die ich denke.“

Er klappte den Fächer zusammen und berührte damit ihre Wange. „Und du wirst nicht an mich denken? Nicht einmal ein bisschen?“

Sie betrachtete ihn, wie eine Frau auf dem französischen Markt den Fang des Tages betrachtete. „Warum sollte ich?“

„Marcelite …“ Er kam näher. „Hast du mich nicht vermisst?“

Ihre Miene war unergründlich.

„Gefällt dir dein Geschenk nicht?“

„Mein Dach muss repariert werden. Mein Bett ist feucht.

Mein Haus braucht Fenster, eine neue Tür. Ich habe keine Zeit, um mir Luft zuzufächeln. Ich habe keine Zeit, dich zu vermissen. Und da ich jetzt wieder ein Kind erwarte …“

Er packte ihre Arme. „Was?“

„… habe ich noch weniger Zeit als vorher.“

„Du bekommst ein Baby?“

„Wo hast du denn deine Augen?“

Langsam ließ er den Blick sinken, und er bemerkte, was er bis jetzt übersehen hatte. Trotz ihres Korsetts – das sie, wie er wusste, nur ihm zuliebe trug – war ihre Taille dicker. Ihre üppigen Brüste quollen aus dem ungewohnten Gefängnis und drängten in die Freiheit.

„Wann?“, fragte er.

„Im Frühling. Wenn die Vögel nach Norden fliegen.“ Ihm schoss durch den Kopf, was diese Nachricht bedeutete. „Wird es ein Sohn?“

Wieder zuckte sie die Achseln. Dieses Mal beobachtete er nicht ihren Hals, sondern ihre Brüste. Er wollte wissen, ob sie die Freiheit erlangten, nach der sie strebten.

„Willst du einen Sohn von mir, Lucien? Wenn ich deinen Sohn gebäre, was wird das Leben für ihn bereithalten?“

Er dachte an alles, was er zu bieten hatte: an sein Haus, seinen Namen, das Geld, die gesellschaftliche Stellung, die er durch die Ehe mit Claire Friloux errungen hatte, an seinen Status als Direktor der Gulf Coast Dampfschifffahrtsgesellschaft. All das hatte er zu geben, doch nichts davon konnte er Marcelites Kind anbieten.

„Was würdest du dir denn wünschen? Was soll er von mir bekommen?“, fragte er.

„Ein besseres Haus als das hier.“ Sie deutete hinter sich auf die Hütte, in der sie so viele lustvolle Stunden verbracht hatten. „Einen Logger, damit er sich seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Später vielleicht einen Platz in deiner Firma.“

Ein Sohn. Lucien spürte, wie sich ihm das Herz vor Sehnsucht zusammenzog. Ein Sohn mit Angelles schwarzem Haar und den lachenden braunen Augen. Ein Sohn, der durch die salzige Seeluft und die harte Arbeit zu einem kräftigen jungen Mann heranwachsen würde. Ein Sohn, der niemals seinen Namen führen, aber der einen Teil seines Wesens in die nächsten Generationen tragen würde. Und wenn das Schicksal entschied und Antoine Friloux, Claires Vater, Lucien nicht überlebte, würde sein Sohn vielleicht sogar eines Tages ein Stück seines Vermögens erben.

„Ihr bekommt euer Haus“, sagte Lucien. Wieder berührte er ihre Wange, doch dieses Mal zitterten seine Finger. „Ich verspreche dir, im Frühling ein Boot mit Bauholz zu schicken. Kennst du Männer, die es bauen können?“

Sie nickte. Ihre Augen wurden so schwarz wie ein mondbeschienener Bayou, ihr Blick strich langsam über ihn. „Und kennst du einen Mann, der ab und zu mit mir darin wohnt? Einen Mann, der meinem Sohn etwas über die große Stadt beibringt?“

„Unserem Sohn und unserer Tochter.“

„Vielleicht sollten wir reingehen und unsere Tochter anschauen?“

Er wusste, dass Angelle nachmittags immer schlief. Sie würden ein Kind sehen, das zusammengerollt auf der Matratze lag, die mit Spanischem Moos gefüllt war, und fest schlummerte. Aus Erfahrung wusste er, dass es noch reizvollere Dinge zu sehen geben würde.

Er folgte Marcelite und durchquerte das Zimmer. Er stieß die angemessenen Laute väterlicher Anerkennung aus, als er Angelle betrachtete, die unter den zusammengebundenen Falten eines Moskitonetzes schlief. Seine Tochter lag genauso da, wie er es sich vorgestellt hatte. Ihr Kleidchen war ihr über die Knie gerutscht, und ihre Wangen glühten rosig. Sie umarmte die Puppe, die er ihr zur Geburt mitgebracht hatte. Die Puppe sah inzwischen schon ziemlich abgeliebt aus, längst nicht mehr so perfekt wie die Puppen aus Paris, die in Aurores Zimmer lagen.

Schließlich drehte er sich um und sah zu, wie Marcelite sich auszog.

Ihre Hemdbluse fiel auf die grobe Holzbank neben ihrem Bett. Danach folgte der schlichte, selbst gesponnene Rock. Sie trat ihm in Unterwäsche gegenüber, die so kunstvoll war, dass sie auch zu Claire gepasst hätte. Er hatte ihr das rosafarbene, mit Spitze verzierte Korsett zu Beginn des Sommers geschenkt. Es sah auch jetzt noch so neu aus wie an jenem Tag im Juni. Ihr Unterkleid war schneeweiß, aber das Band, das als Verzierung diente, zeigte schon Spuren des Gebrauchs. Er erinnerte sich selbst daran, ihr ein neues zu kaufen.

Sie hob die Hände und fing an, ihr Haar zu lösen. Es fiel ihr über die Schultern, über die Taille. In dem luftigen Raum war es angenehm kühl, doch trotzdem spürte er, wie er zu schwitzen begann.

Ohne ein Wort trat sie zu ihm und streckte ihre Hand nach dem Strohhut aus, den er schon abgenommen hatte. Er gab ihn ihr und sah zu, wie sie ihn vorsichtig auf die Bank legte. Während er wartete, öffnete er seinen Mantel, und als sie zurückkam, breitete er die Arme gerade weit genug aus, dass sie ihn über seine Schulter schieben konnte.

Geschickt und selbstsicher ließ sie sich für den Rest seiner Kleidung viel Zeit. Lucien schloss die Augen. Er konnte das Flüstern ihrer Hände auf seiner Brust und seinen Armen hören. Und er konnte die feuchte Brise spüren, die durch die Palmblätter wehte, fühlte den Windhauch auf den Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn bildeten. Ihr Haar strich über sein Gesicht, und er genoss den Duft der Pomade, die sie aus Jasminblüten hergestellt hatte.

„Du hilfst mir doch dabei, mich auszuziehen, non?“

Er schlug die Augen auf, als sie sich an ihn schmiegte und ihr Haar anhob, damit er die Bänder ihres Korsetts finden konnte. Seine Finger waren seltsam schwer und unsicher, als er mit den Häkchen kämpfte. Er fühlte, wie sie aufatmete, als das Korsett offen war. Aber ehe sie sich von ihm entfernen konnte, umschloss er ihre üppigen Brüste.

„Und der Logger für unseren Sohn?“, fragte sie und bog sich ihm entgegen. „Ein eigenes Boot, mit dem er fischen und in die Stadt fahren kann?“

In einem bedächtigen, sinnlichen Rhythmus drängte sie ihren Po an ihn. Ihre Brüste wogten in seinen Händen. Lucien stöhnte. „Du wirst immer haben, was du brauchst, mon cœur, und dasselbe gilt für deine Kinder. Immer.“

Langsam drehte sie sich um und öffnete die Beine, um ihn in sich aufzunehmen. Er hob sie hoch und ging zum Bett.

„Und der Logger?“

„Ich gebe auch mehr, wenn ich kann“, sagte er, als er mit ihr zusammen auf die Matratze sank. „Vertrau mir, dass ich mich um euch kümmern werde. Vertrau mir.“

Aurore Le Danois versteckte sich vor ihrer Mutter. Ein Geräusch, ein zu tiefer Atemzug, das Flüstern eines schwarzen Strumpfes an dem anderen, und sie würde sich verraten.

Während Aurore sie beobachtete, ging Claire durch das Zimmer. Sie kehrte gerade von der Veranda zurück, wo sie die vergangene Stunde im Schaukelstuhl verbracht und sich unaufhörlich hin und her gewiegt hatte. Sie kam an dem kleinen Tisch vorbei, unter dem Aurore kauerte, doch sie sah nicht in ihre Richtung. An der Tür zu ihrem Schlafzimmer hob sie die Hand an die Stirn und murmelte etwas Unverständliches. Dann verschwand sie.

Aurore wartete, noch immer besorgt. Als sie sich sicher war, dass eine Ewigkeit vergangen war, streckte sie ein Bein aus. Sie biss sich auf die Lippe, denn ein Krampf machte ihr das Ausstrecken fast unmöglich. Nachdem ihre Mutter nicht wieder auftauchte, rutschte sie unter dem Tisch hervor und stand auf.

Jeden Tag beobachtete sie ihre Mutter. Sie kannte ihre Angewohnheiten genau. Jetzt würde sie ruhelos schlafen und ab und an stöhnen wie der Wind, in dem sich die Bäume vor ihrer Tür bogen. Aber erst, wenn Aurores Kindermädchen Ti’Boo von ihrem täglichen Besuch bei der Familie ihres Onkels zurückkehren würde, würde man wieder nach Aurore sehen. Wenn sie sich traute, war sie also frei, nach draußen zu rennen und mit dem Wind zu tanzen. Wenn sie wollte, konnte sie unter den Sturmwolken spielen, die sich bedrohlich zusammenballten. Und wenn der Blitz kam …

Sie faltete die Hände. Wenn der Blitz kam, konnte sie zusehen, wie er am dunklen Himmel zuckte und die Wolken aufbrach. Regentropfen würden fallen, purer silberner Regen, so funkelnd wie der Spiegel in ihrem Schlafzimmer in New Orleans.

Der Wind lockte sie. Blätter wirbelten fröhlich herum, und bunte Oleanderblüten flogen so leicht wie Engelsflügel durch die Luft. Jenseits der Schienen, die vor ihr verliefen, konnte Aurore die leer stehenden Cottages sehen, die auf der anderen Seite der Lichtung standen. Hinter ihnen blökten ein paar verschlafene Kühe, die über die Insel streiften, eine schwermütige Melodie.

Die Schienen waren so verlassen wie die Häuser. Die Touristensaison bei Krantz war vorbei. Das Maultier, das den Bahnwagen an Sommertagen zweimal täglich zum Strand zog, stand hinter dem Speisesaal auf der Weide und machte eine wohlverdiente Pause.

Aurore wünschte sich, die Saison wäre nicht vorbei. Im Sommer gab es noch andere Kinder hier. Unter Ti’Boos wachsamen Blicken konnte sie dann herumtollen, und niemand ermahnte sie, sich auch einmal auszuruhen. Niemand erinnerte sich daran, dass sie eigentlich ein zartes Kind mit riesigen Augen war, das nach zu viel Aufregung leicht Fieber bekam und manchmal Atemnot. Im Sommer watete sie durch das seichte Wasser des Golfs und sammelte Muscheln und Treibholz. In diesem Jahr hatte sie gelernt, Krebse zu fischen und mit den Füßen voran in den Wellen zu treiben. Im nächsten Jahr würde sie schwimmen lernen – das hatte Ti’Boo ihr versprochen.

Sie wollte schwimmen. Sie wollte ans Ende des Golfes schwimmen, auf das offene Meer hinaus und niemals, niemals anhalten. Sie würde mit den Delfinen springen, und die Haie würden sie nicht auffressen; sie war viel zu dünn und zu blass, um für die Haie interessant zu sein. Ti’Boo hatte ihr das zu Beginn des Sommers gesagt, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war und Angst gehabt hatte, nass zu werden.

Ein Windhauch hob eine Locke in ihrem Nacken an und wehte sie an ihre Wange. Aurore kicherte und breitete die Arme aus, um ihren unsichtbaren Spielkameraden zu umarmen. Im nächsten Moment war sie unter den Eichen und wirbelte im Rhythmus des Windes herum. Sie sauste am Speisesaal vorbei. Weder aus ihrem Häuschen noch aus den anderen war ein Laut zu hören. Im Sommer hätten sie bereits an die fünfzig Leute gesehen und Fragen gestellt. Doch jetzt, am letzten Tag im September, hatte nicht einmal Mr Krantz, der so groß war, dass er überall zu sein schien, sie entdeckt.

Sie wollte noch einmal die Wellen sehen. Ihre Familie würde am Montag nach New Orleans zurückreisen. Am vergangenen Abend war ihr Vater Lucien aus New Orleans gekommen, um sie nach Hause zu begleiten. Zwar würden sie am nächsten Tag nicht in die Kirche auf Chénière Caminada gehen – ihr Vater fand, dass das kein geeigneter Ort für seine Frau und sein Kind war. Aber ihre Mutter würde stattdessen im Cottage beten, und Aurore würde gezwungen sein, dazubleiben, sodass sie das Meer nicht würde sehen können.

Aurore wusste, dass ihrem Vater nicht auffallen würde, dass sie weg war. Am Nachmittag hatte sie beobachtet, wie ihre Mutter und ihr Vater gestritten hatten. Papa wollte segeln gehen, aber maman bat ihn, nicht rauszufahren. Monsieur Placide Chighizola hatte sie wegen eines aufziehenden Sturmes gewarnt, und sie glaubte ihm. Hatte er sie mit seinen Kräutern und der speziellen Kost nicht stärker gemacht? Wieso also sollte sie glauben, dass er sich irrte?

Aurores Vater machte sich darüber lustig. Monsieur Chighizola habe keine Ahnung, behauptete er, die Heilmittel des alten Mannes seien nichts als Voodoo. In Luciens Augen waren sie nicht wirksamer als die Beutelchen mit den Talismanen, die die schwarzen Frauen mit sich herumtrugen. Diese Frauen glaubten auch immer noch daran, dass Marie Laveau – obwohl sie längst tot war – sie vor einem eingebildeten Fluch bewahren konnte. Chighizolas Prophezeiung eines Sturmes sei nichts als Unsinn. Ob Claire nicht den kühlen Windhauch spüren könne, fragte Lucien sie. Jeder Seemann wisse doch, dass ein großer Sturm niemals einer Kaltfront folgte.

Claire war immer blasser geworden. Als sie Lucien weiter anflehte, erhob er die Hand, als wollte er sie schlagen. Doch dann drehte er sich um und verschwand.

Zwar hielt Aurore ihren Vater für den hübschesten Mann auf der Welt, aber in dem Moment war sein Gesicht zu einer fürchterlichen Maske verzerrt gewesen. Unter seinem dichten Schnurrbart hatten seine Lippen sich bewegt, und sie hatte sich vor seinen gemurmelten Worten gefürchtet.

Aurore hatte Ti’Boo davon erzählt. Daraufhin hatte ihre Freundin ihr erklärt, dass Eltern sich eben manchmal stritten. Einmal hatte ihre Mutter ihren Vater sogar mit einem Besen durchs Haus gejagt.

Aurore wünschte, sie wäre so alt wie Ti’Boo. Zwölf zu sein und die eigenen Eltern verlassen zu können, um als Kindermädchen zu arbeiten! Gut, Ti’Boo musste jeden Tag ihre Tante und ihren Onkel besuchen und sich deren Fragen stellen. Doch Ti’Boos Leben kam ihr trotzdem wie der Inbegriff von Freiheit vor.

Eines Tages würde Aurore auch zwölf sein. Sie versuchte sich das vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Zwölf zu sein! Frei zu sein!

Die Wellen schienen sie mit ihren eigenen Versprechen von Freiheit zu locken. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und folgte den Schienen Richtung Wasser. In der Ferne sah sie die Dächer der Badehäuser, in denen sie und ihre Mutter sich umzogen, bevor sie ins Wasser gingen. Ein gutes Stück entfernt befanden sich die Badehäuser für die Männer. Ti’Boo sagte, dass die Männer nackt badeten und die Badehäuser deshalb so weit weg wären. Mehr als einmal hatte Aurore versucht, sich das auszumalen.

Als sie die Dünen erreichte und den Schienen zwischen ihnen hindurch folgte, bemerkte sie, dass an diesem Tag keine Angler zu sehen waren. Weit draußen am Horizont ritten einige Boote mit bunten dreieckigen Segeln auf den wütenden Wellen, doch niemand angelte in der Brandung.

Beim Anblick der majestätischen Wellen holte sie tief Luft. Sie war nicht so dumm, näher heranzugehen. Hungrig fraßen sich die Wellen in den Sand. Sie würden auch ein kleines Mädchen fressen. Als sie sich Zentimeter für Zentimeter vorwärts bewegte, wurde der Stamm einer alten Zypresse, die der Wind aus einem geheimnisvollen Sumpfgebiet gerissen hatte, auf den Sand geschleudert, ehe das Wasser ihn sich zurückholte.

Aurore faltete die Hände, wie sie es schon auf der Veranda getan hatte. Weit entfernt, hinter den Booten, hinter den Wellen, war ein silberner Blitz zu sehen. Licht zuckte am Himmel zwischen den dunklen Gewitterwolken nach unten zum Wasser – so ähnlich wie auf den Bildern, auf denen der Sohn Gottes in den Himmel auffuhr. Schnell bekreuzigte sie sich und faltete wieder die Hände.

„Ro-Ro!“

Beim Klang von Ti’Boos Stimme wirbelte sie herum. Einen Moment lang hoffte sie, sich verstecken zu können; aber dann wusste sie, dass diese Hoffnung vergebens war. Sie hätte sich nur in die Wellen stürzen können, und davor hatte sie Angst.

Das pausbäckige Gesicht rosa vor Anstrengung, kam Ti’Boo durch die Dünen gerannt. „Ro-Ro!“ Sie blieb stehen und erhob strafend den Zeigefinger.

Aurore bemühte sich, schuldbewusst dreinzublicken. „Ich wollte nur noch einmal den Strand sehen, Ti’Boo. Ich wollte nicht näher ans Wasser. Ehrlich.“

„Du hast mich zu Tode erschreckt. Mein Herz hat aufgehört zu schlagen!“ Sie schlug die Hände an die Brust.

„Ich dachte, du wärst noch nicht zurück. Ich dachte, niemand …“

„Niemand außer mir weiß es.“

Aurore schickte ein kurzes Dankgebet gen Himmel. „Sag es niemandem! Bitte, sag es niemandem!“

Ti’Boo wedelte dramatisch mit den Armen. „Der Wind hätte dich davontragen können!“

„Ich war vorsichtig.“ Als Ti’Boo nun mit ausgebreiteten Armen vor ihr stand und sie anblickte, nutzte Aurore kurz entschlossen die Gelegenheit und schlang die Arme um die Taille ihrer Freundin. „Sag es niemandem, ja?“ Zögerlich strich Ti’Boo über Aurores lange braune Locken. „Du Dummerchen! Ich werde es niemandem verraten. Doch wenn wir nicht schnell zurücklaufen, findet uns noch jemand hier.“

Aurore blickte ihre Freundin an, ohne sie loszulassen. Sie fand Ti’Boo mit dem fröhlichen runden Gesicht und den glatten langen Haaren, die zu zwei Zöpfen geflochten waren, ausgesprochen hübsch. „Ich will nicht nach Hause! Ich will für immer hierbleiben!“

„Im nächsten Sommer kommst du zurück, und dann werde ich mich wieder um dich kümmern.“

„Ich wünschte, du könntest nach New Orleans kommen!“

Non, mein Zuhause, das sind die Bayous. Was sollte meine maman denn ohne mich machen? Sie hat doch zwölf hungrige Mäuler zu stopfen!“

Aurores Miene hellte sich auf, und sie schmiegte sich wieder an ihre Freundin. „Ich könnte doch mit dir zum Bayou Lafourche kommen. Ich könnte helfen.“

Ti’Boo lachte. „Und was sollte deine maman dann machen? Ohne ihr kleines Vögelchen?“

Aurore glaubte kaum, dass es ihrer Mutter besonders viel ausmachen würde.

„Komm schon! Lass uns zurücklaufen, ehe irgendjemand bemerkt, dass wir fort waren.“

Aurore löste sich von Ti’Boo und warf einen letzten Blick auf die Wellen. Sie versprach ihnen, dass sie im nächsten Sommer wiederkommen würde. Dann folgte sie Ti’Boo durch die Dünen.

5. KAPITEL

Raphael Cantrelle stand auf einer Düne und beschattete mit einer Hand die Augen, als er auf das Meer hinausblickte. In der Ferne fuhren Piratenschiffe mit geblähten Segeln und Masten, die so hoch waren, dass sie die schwarzen Wolken durchbohrten und die Route des Korsaren in den Himmel ritzten.

Sie kamen, um ihn abzuholen.

Raphael schob die Hand in die Hosentasche. Einen Moment lang betastete er mit den Fingern den winzigen Schatz, den er dort aufbewahrte. Er hatte ein Seilende, ein Stück Brot und geräucherten Fisch, die in ein Tuch gewickelt waren, eine Glasscherbe, die vom Meer glatt geschliffen worden war, zwei Muscheln und ein Stück Treibholz, das wie ein Dolch geformt war. Die Piraten würden sicher stolz sein, ihn an Bord zu haben. Jean Lafitte höchstpersönlich würde ihn bitten, auf dem größten und besten Schiff zu segeln.

Er würde ablehnen müssen.

Während er zusah, verschwanden die Schiffe nacheinander, bis nur noch der wolkige Himmel, die See und zwei Fischerboote zu erkennen waren, die in den Hafen einfuhren. Er erkannte eines der canots mit seinem roten Segel und dem grün gestrichenen Rumpf wieder. Es gehörte dem Vater von Étienne Lafont, einem Jungen in seinem Alter, mit dem er spielte, sooft es Étienne gelang, sich von zu Hause fortzuschleichen.

Neben Juan Rodriguez war Étienne sein bester Freund. Étienne wollte auch ein Pirat sein, aber Juan war ein Pirat. Bis zu dem Tag, an dem seine Mutter ihn nicht mehr brauchte und Raphael zusammen mit Dominique You und Nez Coupé davonsegeln würde, konnte Juan ihm alles beibringen, was er unbedingt wissen musste. Und falls die beiden schon tot waren, wie Étienne behauptete, würde er eben mit jemand anders segeln.

Er wollte die Chénière verlassen. Zwar kannte er keinen anderen Ort, an dem man leben konnte, und noch nie hatte er die Passage zur Grand Isle überquert; doch er wusste, dass es irgendwo einen Ort geben musste, wo keine Frau seine Mutter beschimpfte und wo kein Mann seinen Kindern verbot, mit ihm zu spielen.

Erst vor Kurzem hatte er herausgefunden, dass er anders war als die anderen Jungen. Er war nicht das einzige Kind auf der Chénière, das keinen Vater hatte. Von Zeit zu Zeit forderte der Golf seine Opfer. Dann wurden Boote an den Strand gespült – leer und vom Sturm zerstört. Aber andere vaterlose Kinder hatten Familien, die sich um sie kümmerten. Onkel und Cousins, Großväter und Paten brachten ihnen Fisch und Wild, Milch und frisches Gemüse aus ihren Gärten. Ihre Mütter waren überall im Dorf willkommen.

Von Étienne hatte er letzte Woche erfahren, dass auch er, Raphael, Familie auf Chénière Caminada hatte – einen Onkel. Einen Onkel, der eigentlich in der Lage war, sich um Raphaels Mutter zu kümmern. Doch niemand brachte ihr Fisch oder Milch. Sie flickte Netze und wusch Wäsche, um den Fisch zu kaufen, den sie nicht selbst fing. Was sie sonst noch brauchte, kaufte sie mit dem Geld, das sie von Monsieur Lucien bekam, oder mit den hübschen Geschenken, die er ihr gab. Die Geschenke tauschte sie mit dem Ladenbesitzer, und der schickte sie nach New Orleans, wo sie verkauft wurden.

Étienne hatte Raphael mitgenommen, damit er das Haus seines Onkels sah. Es war eines der schönsten Häuser auf der Halbinsel. Fest verankert auf einer leichten Anhöhe landeinwärts, erhob sich das Gebäude hoch über den Boden und überragte die anderen Häuser, die es umgaben. Étienne hatte ihm erzählt, dass das Haus aus bousillage-entre-poteaux, also Lehm zwischen Holzpfosten, gebaut und daher so stabil war, dass es vermutlich noch am Jüngsten Tag stehen würde.

Raphael war seither ein halbes Dutzend Male dort gewesen. Zweimal hatte er den Mann gesehen, der sein Onkel war. Auguste Cantrelle war groß – doppelt so groß wie Juan –, mit einer Brust, die so breit war wie das Segel eines Loggers, und mit dunklen Locken, wie auch Raphael sie hatte. Beim zweiten Mal war Raphael aus den Schatten getreten. Auguste Cantrelle hatte ihn angesehen; dann war er mit zorniger Miene davongeeilt.

Er hatte seine Mutter nicht nach diesem riesigen Mann gefragt. Ein einziges Mal hatte er sich nach seinem Vater erkundigt. Sie hatte ihm erzählt, dass er keinen Vater, dass er keine Familie außer ihr und Angelle hätte. Immerhin reichten sie einander doch, oder?

Er hatte auch nie gefragt, warum die Jungen nicht mit ihm spielen durften, warum die Mütter ihre Kinder zur Seite nahmen, wenn er an ihnen vorbeiging, oder warum sie Schimpfwörter murmelten, wenn sie ihn sahen. Er hatte beobachtet, dass einige Menschen mit seiner Mutter sprachen und andere nicht.

Raphael schob seine Hand wieder in die Hosentasche. Dieses Mal nahm er das Päckchen mit dem Brot und dem Fisch heraus. Es war schon einige Zeit vergangen, seit am Mittag das Angelusläuten erklungen war. Sein Magen sagte ihm, dass es an der Zeit war, etwas zu essen. Aber er wollte nicht zu früh essen. Seine Mutter hatte ihn gebeten, den Nachmittag draußen zu verbringen. Monsieur Lucien wollte zu Besuch kommen. Also war es nicht möglich, zurückzugehen, um sie um mehr Brot anzubetteln. Er sollte erst wiederkommen, wenn die Sonne schon fast den Horizont berührte. Wenn er nicht gehorchte, würde er hungriger ins Bett gehen, als er es jetzt schon war.

Er löste das Problem, indem er die Hälfte seines Vorrats aufaß und den Rest sorgfältig wieder einpackte, um ihn später zu essen. Gestärkt machte er sich auf den Weg zu Juan.

Juans Häuschen war weit entfernt. Es war ein langer Marsch durch die Siedlung, auch wenn Raphael so schnell ging, wie er konnte. Juan lebte allein in einem Haus, das dem von Raphaels Mutter sehr ähnlich war. Allerdings gab es keine Nachbarn, mit denen er das sumpfige Land teilte. Wenn die Abendbrise von Juans Hütte herüberwehte, brachte sie immer Moskitos mit. Moskitos waren netter als Menschen, sagte Juan. Sie stachen ein- oder zweimal und nahmen, was sie dabei kriegen konnten. Menschen dagegen ließen nicht eher locker, bis jeder Tropfen Blut ausgesaugt war.

Zum ersten Mal hatte Raphael den alten Mann eines Morgens vor dem Geschäft von Picciola getroffen. Raphael hatte im Schatten auf seine Mutter gewartet und Hühner gejagt, um die Zeit totzuschlagen, als er bemerkte, wie Juan auf ihn zukam. Der alte Mann bewegte sich wie eine Krabbe – mit flinken kleinen Schritten zu einer Seite, ehe er anhielt und sich streckte und dann zur anderen Seite weiterlief.

Juan war klein und mit fortschreitendem Alter immer krummer geworden. Dennoch ging er ohne Stock. Statt eines Huts trug er an jenem Tag einen roten Schal, den er über einem Ohr zusammengeknotet hatte. Niemand sprach mit ihm, als er zum Geschäft wackelte. Stattdessen wichen die Menschen ihm aus, als ob sie darauf bedacht wären, ihm nicht in die Quere zu kommen.

Juan ging ihnen jedoch noch entschiedener aus dem Weg. Er lief lieber im Schatten am Wegesrand als auf der überfüllten Straße. Aber plötzlich machte er einen falschen Schritt und blieb mit dem Fuß in den Wurzeln eines Zedrachbaumes hängen. Er wäre gefallen, wenn Raphael nicht einen Satz nach vorn gemacht und ihn gestützt hätte, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte.

Der alte Mann murmelte: „Merci!“ Dann griff er in seine Hosentasche, holte eine kleine Silbermünze hervor und drückte sie dem verblüfften Raphael in die Hand, bevor er seinen Weg zum Geschäft fortsetzte.

Marcelite hörte sich die Geschichte auf dem Nachhauseweg an und nahm die Münze dann an sich, um sie aufzubewahren. Juan Rodriguez, erzählte sie Raphael, sei der Sohn eines Mannes, der mit Jean Lafitte gesegelt war; einige Menschen auf Chénière glaubten sogar, dass Juan selbst mit Piraten gesegelt sei. Juans Mutter sei ein Mädchen der Bayous gewesen und nach Juans Geburt auf die Chénière gezogen, wo sie auf die Rückkehr ihres Mannes gewartet habe.

Raphael wusste, wie schwer seine Mutter arbeitete. Sie hatte keine Zeit, ihm Geschichten zu erzählen. Aber an jenem Tag, als die Silbermünze fröhlich in ihrer Tasche geklimpert hatte, hatte sie ihm von anderen erzählt, die auf der Chénière lebten.

Barataria Bay sei einst der Treffpunkt der Piraten gewesen. Einige der Menschen, die noch heute dort lebten, seien ihre Nachfahren. Raphael hatte aufmerksam zugehört, als sie noch mehr von den Menschen erzählte, die dort lebten – Geschichten von Menschen aus Italien, Spanien und Portugal, Geschichten von Menschen aus Manila und China, die Garnelen trockneten und dann darübertänzelten, bis die Schalen abfielen und mit der Strömung weggespült wurden. Doch er bat seine Mutter, ihm noch einmal Juans Geschichte zu erzählen. Als er an jenem Abend schlafen ging, schwor er sich, dass die nächsten Geschichten von Juan selbst kommen würden.

Juans Hütte war allerdings weit weg, und Étienne hatte behauptet, dass im Sumpf Geister herumspukten. Aber nach einer Weile traute er sich doch.

Am ersten Tag richtete Juan nicht ein Wort an ihn und auch am zweiten nicht. Doch nachdem Raphael ihn eine Woche lang täglich besucht und Juan geholfen hatte, frisches Wasser aus dem Brunnen zu holen und frische Palmblätter in das Dach seiner Hütte zu weben, fing Juan endlich an, mit ihm zu sprechen.

Inzwischen besuchte Raphael Juan, sooft er konnte. Manchmal war der alte Mann mit seinem Boot auf dem Meer; dann musste Raphael wieder nach Hause gehen, ohne ihn gesehen zu haben. Aber an manchen Tagen saß Juan draußen und war bereit, Geschichten zu erzählen. Raphael zehrte von diesen Geschichten über Eroberungen, genauso wie er vom Brot seiner Mutter lebte, das sie in ihrem Lehmofen backte.

Als Raphael jetzt ankam, war Juan nirgends zu entdecken. Sein Einbaum, den er im Sumpf hinter seiner Hütte benutzte, und das Boot, mit dem er auf den Golf hinaussegelte, waren jedenfalls da.

Raphael klopfte an Juans Hütte. Als sich nichts rührte, schob er die Tür ein paar Zentimeter auf, um einen Blick ins Innere zu werfen. Es war noch einfacher eingerichtet als Raphaels Zuhause. Der Boden war aus Lehm, und die Möbel waren nichts weiter als Baumstümpfe. In der Ecke stand ein kleiner Schrein, wie ihn auch Marcelite hatte. Doch hier fand sich neben dem schlichten Holzkreuz und den zwei Kerzenstummeln keine Statue der Heiligen Muttergottes.

Raphael schloss die Tür und zog sich zurück. In der Ferne hörte er Donnergrollen. Zwar wollte er nicht im Freien überrascht werden, wenn der Regen wieder einsetzte, aber er hütete sich davor, die Hütte ohne Juans Erlaubnis zu betreten. Er war gerade dabei, umzukehren und wieder ins Dorf zu laufen, als er bemerkte, wie sich das hohe Riedgras neben Juans Hütte wellenförmig bewegte. Erschrocken und wie versteinert starrte er in die Richtung. Plötzlich tauchte aus dem Nebel, der über dem Sumpfland hing, der alte Juan auf.

„Bist du das, Raphael?“

Raphael schluckte schwer. Einen Moment lang blieb ihm die Stimme weg, als hätten die Geister, von denen Étienne erzählt hatte, ihre knochenlosen Finger um seinen Hals gelegt.

Wieder schluckte er, doch diesmal fiel es ihm leichter. „Ich bin’s.“

„Siehst du nicht, dass ein Sturm aufzieht, mon ami? Hast du keine Angst?“

Raphael schüttelte den Kopf und sah zu, wie Juan in seinem Krabbengang auf ihn zuwackelte. „Es ist doch nur Regen“, sagte er so tapfer wie ein guter Pirat.

Autor