CORA Collection Band 32

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Weihnachten - das Fest der Liebe. Dass jetzt auch Herzen zueinander finden, ist eigentlich kein Wunder!

IM RAUSCH EINER NACHT von JENNIFER GREENE

Auf der Weihnachtsfeier trifft der attraktive Mitch die große Liebe! Bei der schönen Designerin Nicole wird er sofort schwach. Was sie dann gemeinsam erleben, ist nicht nur heiß und sinnlich - es ist ein einziger Rausch! Doch am nächsten Tag tut Nicole, als wäre nichts gewesen …

GESTÄNDNIS UNTERM MISTELZWEIG von EMILIE RICHARDS

Kurz vor Weihnachten schenkt Bauunternehmer Egan O’Brien der unnahbaren Chloe ein kleines Kätzchen. Er weiß, dass er ihr damit einen Kindheitstraum erfüllt! Wenn Chloe ihre Gefühle doch endlich zuließe - Egan würde ihr noch viel mehr Herzenswünsche erfüllen …

LIEBE IST DAS SCHÖNSTE GESCHENK von HELEN BROOKS

Noch nie hat Mitch eine faszinierendere Frau als Kay getroffen. Doch sie lässt ihn abblitzen. Nun setzt Mitch alles daran, um sie herumzubekommen. Allerdings hat er nicht bedacht, dass bald Weihnachten ist - eine Zeit voller Romantik, die auch in dem überzeugtesten Junggesellen den Wunsch nach wahrer Liebe weckt ...


  • Erscheinungstag 23.10.2020
  • Bandnummer 32
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728755
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jennifer Greene, Emilie Richards, Helen Brooks

CORA COLLECTION BAND 32

1. KAPITEL

Der Schwangerschaftstest konnte einfach nicht stimmen!

Nicole saß im Labor des Krankenhauses, das ganz in der Nähe ihrer Firma lag. Sie hatte sich einen Termin geben lassen, weil sie sich schon seit Tagen nicht richtig wohlfühlte und annahm, sie hätte vielleicht eine Grippe.

„Ich bin mir vollkommen sicher, dass da ein Irrtum vorliegen muss. Das können schlicht und einfach nicht meine Testergebnisse sein, da ich schon lange nicht mehr mit einem Mann intim war“, sagte Nicole.

Die Schwester blieb ruhig und gelassen. Offenbar hatte sie dieses Argument schon des Öfteren gehört. „Ich stimme Ihnen zu, dass bei einem Test Irrtümer vorkommen können. Daher machen wir immer eine Gegenprobe, bevor wir unser Ergebnis mitteilen. Und es besteht bei Ihnen keinerlei Zweifel, Miss Stewart: Sie sind seit zweieinhalb Monaten schwanger. Da ich an Ihren Reaktionen jedoch erkenne, dass Sie überhaupt nicht mit einer Schwangerschaft gerechnet haben, bin ich gerne bereit, Ihnen jemanden zu nennen, mit dem Sie sich in Ruhe aussprechen können.“

„Schwester, Sie scheinen mich nicht zu verstehen.“ Nicole hob eine Spur ihre Stimme. „Ich war mit keinem Mann zusammen!“

„Es sollen ab und zu zwar noch Wunder geschehen, Miss Stewart“, antwortete die Schwester ungerührt, „aber es gehören immer noch zwei Menschen dazu, um schwanger zu werden. Außer Sie sind der Meinung, bei Ihnen habe eine unbefleckte Empfängnis stattgefunden.“

Offenbar wollte die Schwester Nicole mit ihrer witzigen Bemerkung ein wenig aufmuntern. Doch Nicole war alles andere als zum Lachen zu Mute. „Ich bin schließlich zweiunddreißig und keine sechzehn mehr. Ich bin ein verantwortungsbewusster, erwachsener Mensch und weiß natürlich, an wen ich mich wenden muss, wenn ich Rat brauche“, entgegnete sie ärgerlich.

Die Schwester ließ sich durch Nicoles etwas barschen Ton nicht davon abhalten, noch etwa eine Viertelstunde bei ihr sitzen zu bleiben. Sie schrieb ihr Vitaminpräparate und ein Mittel gegen die morgendliche Übelkeit auf. Dann entließ sie Nicole mit gut gemeinten Ratschlägen für die kommenden Monate.

Nicole war wie vor den Kopf geschlagen, als sie schließlich aus dem Krankenhaus trat. Ein scharfer Wind schlug ihr entgegen, und ihr war kalt in ihrer dünnen, cremefarbenen Seidenbluse. Als sie vor etwa zwei Stunden das Büro verlassen hatte, war es angenehm warm gewesen, und sie hatte es nicht für nötig gehalten, ihren Blazer überzuziehen. Obwohl sie inzwischen eigentlich wissen müsste, wie schnell das Wetter hier an der Küste Oregons umschlug. Außerdem war es auch noch März. Da änderte sich die Witterung fast stündlich.

Eilig ging Nicole zu ihrem Auto, öffnete schnell die Fahrertür und ließ sich ermattet in die Polster sinken. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie den Wagen kaum starten konnte, und sie schaffte es fast nicht, die Heizung anzustellen.

Es war völlig verrückt, was man ihr da gerade mitgeteilt hatte. Wenn sie jetzt beinahe im dritten Monat war, bedeutete das, dass sie um die Weihnachtszeit herum schwanger geworden sein musste.

Doch das war nicht möglich. So wie sie die Sache sah, bestand nicht einmal die geringste Wahrscheinlichkeit. Es war schlichtweg 100-prozentig unmöglich.

Nicole gab Gas und bog auf den Highway ein, der sich an der Küste entlangschlängelte. Sie hatte nur etwa zehn Minuten zu fahren, um ihre Firma zu erreichen. Sie war Inhaberin eines Designerbüros, das nach den neuesten psychologischen und medizinischen Erkenntnissen Arbeitsplätze gestaltete. Vor wenigen Jahren hatte Nicole ganz klein angefangen. Aber inzwischen boomte ihre Firma derart, dass sie noch einige hoch qualifizierte Leute eingestellt hatte, die jetzt sogar ganze Bürogebäude entwarfen.

Schon immer hatte Nicole Designerin werden wollen. Anfangs jedoch, nach ihrem Studium, waren die in Frage kommenden Arbeitsbereiche völlig überlaufen gewesen. Als Psychologen dann immer mehr darauf hinwiesen, wie wichtig es für eine gute Arbeitsleistung sei, dass die Menschen sich an ihrem Arbeitsplatz wohl fühlten, weil er nicht nur nach ergonomischen, sondern auch nach ästhetischen Gesichtspunkten gestaltet war, hatte Nicole die Chance ihres Lebens gewittert und, ohne lange zu überlegen, ihre eigene Firma gegründet.

Da die Gestaltung von Arbeitsplätzen auch unter psychologischen Gesichtspunkten zu dem Zeitpunkt noch ziemlich neu gewesen war, hatte sie keine große Konkurrenz zu fürchten und von Anfang an großen Erfolg gehabt. Diese Arbeit kam nun nicht nur ihren künstlerischen Bedürfnissen entgegen, sondern sie konnte damit auch ihren Mitmenschen etwas Gutes tun, was ihr ebenso wichtig war und sie glücklich machte.

Um ihre Firma gleich in der Gründungsphase auf eine solide Basis zu stellen, hatte Nicole sich sofort einen sehr guten Ingenieur und einen innovativen Architekten gesucht. Die künstlerischen Ideen und Entwürfe für die Innenausstattung blieben ihr Aufgabengebiet. Anfangs hatte sie täglich bis zu sechzehn Stunden gearbeitet und auch jedes Wochenende der Arbeit geopfert. Aber ihr Einsatz hatte sich gelohnt. Ihre Firma lief mittlerweile so gut, dass sie die hereinkommenden Aufträge kaum bewältigen konnten.

Weil Nicole so hart gearbeitet hatte, um dieses Ziel zu erreichen, war an ein Privatleben für sie nicht zu denken gewesen und an ein Baby schon gar nicht. Sicher, wenn ihr der Richtige begegnet wäre, hätte die Sache vielleicht anders ausgesehen. Aber der bewusste Eine war ihr nicht über den Weg gelaufen, und deshalb hatte sich diese Frage für sie nie gestellt. Das war ja der springende Punkt: Der Richtige war ihr eben nicht begegnet, der Falsche aber auch nicht. Denn es war ihr während der anstrengenden Aufbauphase ihrer Firma überhaupt kein Mann begegnet. Abgesehen von den Männern, mit denen sie beruflich zu tun hatte.

Dabei war es keineswegs Nicoles Absicht gewesen, wie eine Nonne zu leben. Es hatte sich einfach so ergeben. Allerdings hatte sie auch wichtige, ganz persönliche Gründe gehabt, sich in einen Workaholic zu verwandeln und wie eine Besessene zu arbeiten.

Als Jugendliche war Nicole ziemlich auf die schiefe Bahn geraten. Wer weiß, was passiert wäre, wenn da nicht Sam gewesen wäre, ein Polizist, der ihr vor siebzehn Jahren, zusammen mit seiner Frau Leila, geholfen hatte. Dank ihnen hatte sie wieder festen Boden unter die Füße bekommen. Um ihrer belastenden Situation zu entkommen, hatte sie damals ein neues Leben begonnen, hatte den Ort gewechselt und sich bemüht, nicht mehr zurückzuschauen.

Deshalb überraschte es Nicole auch, dass nun, nach so vielen Jahren, plötzlich Gefühle in ihr hochkamen, die sie tief in sich begraben geglaubt hatte. Gefühle der Beklemmung und Angst. Dabei hatte sie jetzt allen Grund, stolz auf sich zu sein. Aus eigener Kraft war aus dem vom Abrutschen ins kriminelle Milieu bedrohten Teenager eine verantwortungsbewusste, erfolgreiche Geschäftsfrau geworden. Allerdings tat es ihr immer noch weh, wenn sie an ihre wilden Jahre dachte.

Darum hatte sie sich während der letzten Jahre sehr bemüht, perfekt zu sein. Fehler durfte sie sich nach ihrem Empfinden keine leisten. Bis jetzt war sie der Überzeugung gewesen, dass ihr das auch gelungen war, jedenfalls bis zu dem Augenblick, als sie von ihrer Schwangerschaft hörte.

Nicole parkte vor dem modernen Bürogebäude aus Glas und Beton und lief hinein, um der Kälte zu entkommen. Auf ihrer Etage hastete sie an ihren Angestellten John, Mitch, Wilma und Rafe vorbei.

Ihr Büro lag am äußersten Ende des langen Flures und war ihr Heiligtum. Sie hatte sich große Mühe gegeben, es so schön wie möglich zu gestalten. Die Wände waren mit blauer Seide bespannt. Ein farblich abgestimmter dicker Teppich, mit dem der ganze Raum ausgelegt war, dämpfte ihre Schritte. Die hohen Panoramafenster boten einen atemberaubenden Blick auf die felsige Steilküste und das unendliche Blau des Pazifiks.

Die Wellen brachen sich mit lautem Getöse an den steil ins Meer abfallenden Felsen. Nicoles Blick blieb an dieser kargen, weiten Landschaft hängen. So wie sich ihr die Natur bot, fühlte sie sich heute auch – einsam und verloren. Erschöpft und ziemlich mutlos ließ sie sich in ihren großen Sessel hinter dem blank polierten Schreibtisch aus Edelholz sinken und schloss die Augen, um besser nachdenken zu können. Um zu begreifen, wie es zu ihrer Schwangerschaft gekommen war.

Das einzige Vergnügen, das sie sich in der letzten Zeit erlaubt hatte, war die Weihnachtsparty gewesen. Und die hatte sie selbst gegeben. Sie hatte ihre Angestellten für ihren unermüdlichen Einsatz und den fantastischen geschäftlichen Erfolg belohnen wollen. An dem Tag hatte sie an nichts gespart, und es war ein rauschendes Fest gewesen. Dabei musste es passiert sein, und deshalb konnte nur einer ihrer Angestellten als Vater ihres Kindes infrage kommen.

Eine bestürzende Erkenntnis, und fassungslos ließ Nicole den Abend noch einmal an ihrem geistigen Auge vorüberziehen. Irgendwann war ihr schon vorher aufgefallen, dass sie sich an einzelne Phasen jenes Abends überhaupt nicht mehr erinnern konnte. Aber darüber hatte sie sich keine großen Gedanken gemacht, sondern es damit erklärt, dass sie so fürchterlich müde gewesen war. Sie hatte sehr viel zu tun gehabt. Großzügigerweise hatte sie ihren Gästen auch noch angeboten, bei ihr zu übernachten, damit alle das Fest und den Champagner auch wirklich genießen konnten, ohne sich Sorgen wegen der Heimfahrt machen zu müssen.

Es hatte viel zu organisieren gegeben. Als der Party-Service den Hummer lieferte und die Platte mit den eisgekühlten Austern, hatte sie die kühl stellen müssen. Auch die frischen Erdbeeren, die mit Schokoladenguss überzogen gewesen waren, hatten so verwahrt werden müssen, dass sie nicht matschig wurden. Und noch unzählige andere Dinge hatte sie zu erledigen gehabt, die ihr jetzt nicht mehr einfielen. Sie wusste nur noch, dass sie ständig in Bewegung gewesen war, bevor ihre Gäste eintrafen. Aber ihre Firma hatte ja auch wirklich etwas zu feiern gehabt, darum hatte sie das alles gern gemacht.

Nicole rieb sich die Schläfen. An manches erinnerte sie sich in allen Einzelheiten. Zum Beispiel daran, dass ihre Gäste sie geneckt hatten, weil sie überhaupt nichts trank. Doch sie hatte in ihrer Jugend lernen müssen, dass sie Alkohol meiden sollte, weil selbst ein Glas für sie verhängnisvoll werden konnte. Nie mehr würde sie sich so gehen lassen wie damals als Teenager.

Jetzt wurde sie geachtet und respektiert, und so sollte es auch bleiben. Schließlich hatte sie hart an sich gearbeitet, um dieses Ziel zu erreichen. Plötzlich fiel Nicole ein, dass jemand ihr ein Glas Champagner in die Hand gedrückt hatte. An dieses erste Glas konnte sie sich jetzt genau erinnern. Aber waren es womöglich noch mehr Gläser gewesen?

Mit erschreckender Klarheit wurde ihr bewusst, dass sie ab diesem einen Glas Champagner einen Filmriss hatte. Sie hatte schlichtweg keine Erinnerung mehr daran, wie jener Abend weitergelaufen war. Und da sie natürlich nicht an eine unbefleckte Empfängnis glaubte, musste das der fragliche Zeitraum gewesen sein.

Nicole sprang auf und stellte sich in ihre offene Bürotür. Auch jeder ihrer Angestellten hatte sein eigenes Büro. Aber es gab als Mittelpunkt der Firma einen gemeinsamen Arbeitsraum mit Zeichenbrettern, Computern und einer Video-Anlage. Dieser zentrale Raum hatte sich sehr bewährt, da oft mehrere Personen gleichzeitig an einem Auftrag arbeiteten und sie sich auf diese Weise optimal miteinander austauschen konnten.

John hatte die Beine auf den Schreibtisch gelegt, hielt seinen Skizzenblock im Schoß und strichelte in Gedanken versunken vor sich hin. Von ihrem Blickwinkel aus konnte Nicole gut seinen Kopf sehen, den eine beeindruckende Glatze zierte, seine nachdenklich gerunzelte Stirn und seinen Mickymaus-Schlips. John war für das Marketing und die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Er war zweiundvierzig und bekam schon einen kleinen Bauch. In seiner Arbeit war er unschlagbar. Als seine Frau ihn letztes Jahr verlassen hatte, hatte Nicole schon befürchtet, dass er seine Depression nie mehr überwinden würde. Doch John hatte es geschafft, und nicht nur deshalb hatte sie eine sehr hohe Meinung von ihm. Wenn sie wirklich einmal jemanden brauchen sollte, um sich auszusprechen, würde sie ohne Zögern zu John gehen. Aber er war eher wie ein Bruder für sie, und auch wenn sie an jenem Abend ziemlich angetrunken gewesen wäre, konnte sie sich nicht vorstellen, mit ihm geschlafen zu haben.

Rafe kam mit einer Tasse Kaffee in der Hand hereingeschlendert und ließ sich auf einen Stuhl vor dem Zeichenbrett fallen. Rafe war vierunddreißig und Single. Er sah so umwerfend gut aus, mit seinen dunklen Haaren und den dunklen Augen, dass Nicole ihn allein aus dem Grund fast nicht eingestellt hätte. Aber ihre Befürchtung, dass Rafe ein Casanova war, hatte sich glücklicherweise nicht bewahrheitet. Rafe hielt sich sehr zurück, er bekam nur ab und zu seine Temperamentsausbrüche, die gingen aber immer genauso schnell wieder vorüber, wie sie auftraten. Und in seiner Arbeit war er top.

Nicole betrachtete Rafe genau. Mit Sicherheit konnte er jede Frau, noch dazu unter Alkoholeinfluss, für sich gewinnen. Aber Rafe verhielt sich immer absolut korrekt. Er hatte ihr erzählt, dass er seinen vorherigen Job verloren habe, weil er Geschäft und Vergnügen nicht genügend voneinander getrennt habe und dass er entschlossen sei, diesen Fehler nicht noch einmal zu begehen. Auch wenn Rafe sie begehren würde, konnte sie sich niemals vorstellen, dass er versuchen würde, sich an sie heranzumachen. Das erschien ihr bei seiner Einstellung einfach undenkbar.

Wilma durchquerte den Raum mit einem Stapel Papiere in Händen. Sie bückte sich rasch, um John einen Kuss auf die Glatze zu drücken. Wilma war eine sehr attraktive dunkelhaarige Frau mit braunen Augen. Sie war achtundzwanzig, hatte eine tolle, kurvenreiche Figur, und die Männer lagen ihr zu Füßen. Daran hatte Wilma ihren Spaß, verhielt sich aber zu allen im Büro gleichermaßen freundschaftlich. Beim gemeinsamen Morgenkaffee musste Wilma täglich über ihr ereignisreiches Liebesleben berichten. Sie genoss das sehr, und ihre männlichen Kollegen gierten förmlich danach, jede Einzelheit über ihre Abenteuer zu erfahren.

Nicole hatte nie den Versuch gemacht, das zu unterbinden. Denn Wilma leistete sehr gute Arbeit, und nur das zählte für sie. Die Buchhaltung war tipptopp in Ordnung, sämtliche Schreibarbeiten wurden zügig erledigt, und Wilma brachte mit ihrer ungezwungenen Art Schwung in den Laden.

Dann gab es da noch Mitch Landers. Nicole konnte ihn von ihrem Standort aus nicht sehen, hörte aber seine dunkle, etwas rauchige Stimme. Anscheinend diskutierte er gerade mit Rafe. Mitch war zweiunddreißig und damit genauso alt wie sie. Die anderen im Büro nannten ihn den Langen. Mitch war ja auch wirklich ungewöhnlich groß und außerdem noch sehr schlank. Er hatte helles Haar, das aussah wie von der Sonne gebleichter Sand, und seine Augen waren von einem so intensiven Blau wie ein wolkenloser Himmel über dem Meer.

Mitch war sehr sexy, ohne Frage. Allerdings musste man eine Vorliebe für dermaßen große, schlaksige Männer haben. Nicole hatte diese Vorliebe aber eigentlich nicht.

Mitch war als Letzter zu ihrem Team gestoßen. Sie hatte ihn eingestellt, als ihre Innenarchitektin nach New York gegangen war. Anfangs hatte Nicole befürchtet, lange suchen zu müssen, bis sie einen passenden Ersatz für Janice finden würde, denn die war eine sehr gute Kraft gut gewesen. Mitch war ihr wie ein Geschenk des Himmels erschienen, und er brachte sogar noch bessere Voraussetzungen für diesen Job mit, als Janice sie gehabt hatte.

Mitch war schon nach kurzer Zeit für die Firma unentbehrlich geworden. Alle liebten ihn, weil er eine fantastische Art hatte, mit Menschen umzugehen. Nicole mochte ihn eigentlich auch, und es war ihr deshalb unerklärlich, dass sie ständig aneinandergerieten. Zumindest zu Anfang war das so gewesen. Inzwischen hatte sie es aufgegeben, sich nach den Gründen zu fragen, und Mitch mehr Handlungsfreiheit zugestanden. Sie ließ ihn einfach machen, denn sie wusste, dass er kompetent war.

Aber sie konnte unmöglich mit Mitch geschlafen haben, denn sie hatte verschiedentlich gehört, dass er eine feste Freundin habe. Und niemals würde sie sich mit einem Mann einlassen, der mit einer anderen zusammen war.

Plötzlich wurde Nicole übel, und sie legte automatisch die Hand auf ihren Bauch. Ihr Herz begann zu rasen. Die Grübelei macht mich noch verrückt, sagte sie sich. Außerdem führt sie zu nichts.

Aber da es nur auf der Weihnachtsparty passiert sein musste, konnte nur einer ihrer Angestellten infrage kommen. Das wiederum war für Nicole undenkbar, da sie stets darauf achtete, ihr Geschäfts- und Privatleben strikt voneinander zu trennen. Und außerdem: Warum hatte der betreffende Mann nie ein Wort darüber verloren? Und war es wirklich möglich, dass sie total vergessen hatte, mit wem sie in jener Nacht geschlafen hatte?

Nur eines wusste Nicole ganz sicher: Am Morgen nach der Party war sie allein in ihrem Bett aufgewacht.

Nicole zerbrach sich den Kopf.

Ich kann unmöglich schwanger sein, sagte sie sich immer wieder.

Aber sie war es trotzdem.

„Nicole? Haben Sie einen Moment Zeit?“

Mitch Landers hatte den ganzen Nachmittag auf einen Moment gewartet, an dem er seine Chefin allein sprechen konnte. Denn er wollte kündigen. Bereits seit Tagen hatte er über diesen Schritt nachgedacht und war dann zu dem Schluss gekommen, dass es sein musste. Heute hatte er sich nun dazu durchgerungen, das Kündigungsschreiben aufzusetzen, und hielt es jetzt in den Händen, als er kurz vor fünf Nicoles Heiligtum betrat.

Sie stand am Fenster, als er klopfte, und drehte sich sofort um, als er sie ansprach.

„Kommen Sie nur herein, Mitch. Was gibt es? Ist es wieder das Llewellyn-Konto?“, fragte Nicole.

„Nein, nein, nichts dergleichen. Ich muss über etwas anderes mit Ihnen sprechen.“ Mitch stockte. Seine Chefin war heute ungewöhnlich blass. „Nicole, fühlen Sie sich nicht wohl?“

Es gelang ihr, trotz allem zu lächeln. „Ich hatte schon bessere Nachmittage, aber danke, mir geht es ganz gut“, antwortete sie, wirkte aber keineswegs so. „Kommen Sie, Mitch, setzen Sie sich und erzählen Sie mir Ihr Problem.“

Mitch setzte sich in einen der eleganten, blauen Bürosessel und streckte die langen Beine aus. In diesem Büro fühlte er sich immer etwas deplatziert. Nervös schlug er mit dem Briefumschlag an sein Knie. Nicoles Anblick erschreckte ihn. Sie sah aus, als würde sie gleich umfallen. Was er sich vorgenommen hatte, musste warten. Entschlossen steckte er den Briefumschlag wieder weg.

Was war bloß mit seiner Chefin los? War sie krank oder fürchtete sie sich vor etwas? Hatte vielleicht jemand ihren Hund überfahren? Auf jeden Fall war etwas mit ihr ganz und gar nicht in Ordnung. Denn so hatte er Nicole Stewart noch nie erlebt.

Aufmerksam betrachtete er sie. Normalerweise begann sein Puls sofort zu rasen, wenn er sie auch nur einen Moment länger als nötig ansah. Das war von Anfang an so gewesen. Seine Hormone spielten verrückt. Aber heute überwogen seine Sorgen um Nicole. Rein äußerlich konnte er nichts Auffallendes an ihr entdecken, außer dass sie kreideweiß war. Sie trug eine cremefarbene Seidenbluse zu einem maßgeschneiderten grünen Kostüm, das ihre zierliche, knabenhafte Figur hervorragend zur Geltung brachte. Ihre Beine waren atemberaubend lang und schlank. Zwar fehlten ihr ein wenig die weiblichen Rundungen an den richtigen Stellen, aber die elegante, geschmeidige Art, in der Nicole sich bewegte, verfehlte nie die Wirkung auf ihn.

Ihr Gesicht war zart und schmal, und wurde von rotbraunen Locken eingerahmt, die Nicole alle vier Wochen erbarmungslos bei einem Haarstylisten schneiden ließ. Er fand das reine Geldverschwendung, denn ihre krausen Locken waren einfach nicht zu bändigen. Sie hatte eine kleine gerade Nase, ein Kinn, das Charakter verriet, und wunderschöne, hohe Wangenknochen. Die Form ihres Mundes ließ ihn immer wieder darüber nachdenken, wie sie wohl küsste. Und wenn sie lächelte, was leider viel zu selten vorkam, sah er eine Reihe ebenmäßiger weißer Zähne.

Nicole war eine sehr mutige Frau, was ihn von Anfang an fasziniert hatte. Für ihre Angestellten setzte sie sich ohne Zögern ein, wenn es Schwierigkeiten mit den Kunden gab. Sie wich keiner Auseinandersetzung aus, auch wenn sie selbst Blessuren davontrug oder den Kampf sogar verlor. Sie kämpfte mit den Waffen einer Frau, wurde nie ausfallend und sprach mit leiser Stimme, um ihren Standpunkt deutlich zu machen. Aber wenn nötig, zeigte sie auch die angemessene Härte, um sich durchzusetzen. Schon mehrmals hatte er sich gefragt, wo sie diesen Kampfgeist trainiert hatte.

Bis zu diesem Moment hatte er bei Nicole noch nie auch nur eine Spur von Angst wahrgenommen. Was mochte geschehen sein? Doch da er von ihrem Privatleben so gut wie nichts wusste, weil sie nie über persönliche Dinge sprach, konnte er nur raten.

Aber dafür war jetzt keine Zeit, denn Nicole wirkte, als hätte sie einen Schock erlitten. Weil sie so blass war, erschienen ihre Augen ihm heute noch größer als sonst. Nicole hatte mandelförmige blaugraue Augen, die ihr Gesicht beherrschten. Dennoch gelang es ihm nie, an ihrem Ausdruck zu erkennen, was in ihr vorging. Ihr Blick blieb stets distanziert.

Umso ungewöhnlicher war es, dass in diesen Augen jetzt Panik und Schmerz lagen. Das beunruhigte ihn so sehr, dass er drauf und dran war, den ärztlichen Notdienst anzurufen.

„Sie wollten mich sprechen?“, erinnerte ihn Nicole.

„Ja, darum bin ich gekommen, aber es ist nicht so wichtig. Was ist mit Ihnen, Nicole? Sie sehen wirklich elend aus. Ist heute Nachmittag irgendetwas passiert?“

„Ja. Nein … Ich … Oh, Gott.“ Sie ließ sich seufzend in ihren tiefen Sessel hinter dem Schreibtisch sinken und bemühte sich zu lächeln, um Mitchs Sorgen zu zerstreuen. „Mir geht es gut. Im Übrigen geht Sie das auch nichts an, Mitch. Aber ich gebe zu, dass dies nicht gerade ein günstiger Zeitpunkt für ein Gespräch ist. Ich wäre froh, wenn wir es auf morgen verschieben könnten.“

Aus den umliegenden Büroräumen war plötzlich fröhliches Geplauder zu hören. Wilmas dunkles Lachen ertönte und dann das Schlagen von Türen. Es war Feierabend. Eigentlich könnte ich jetzt auch gehen, dachte Mitch, denn Nicole will offensichtlich allein sein. Aber das brachte er nicht fertig, weil sie wirklich aussah, als könnte der leiseste Windhauch sie umpusten.

„Ich nehme an, dass es nichts Geschäftliches ist, sondern etwas Privates“, sagte er.

„Richtig, darum geht es Sie ja auch nichts an.“

„Heute Nachmittag waren Sie einige Stunden außer Haus“, fuhr Mitch fort und ließ sich nicht beirren. „Hatten Sie einen Arzttermin und haben ernsthafte gesundheitliche Probleme? Ist bei Ihnen eingebrochen worden? Oder haben Sie Kummer mit Ihrer Familie?“

„Um Himmels willen, Mitch! Es lag mir völlig fern, Sie zu beunruhigen. Ja, ich hatte einen Arzttermin, aber mir geht es gut. Zumindest wird es mir morgen wieder besser gehen.“

Es war offenkundig, dass Nicole in Ruhe gelassen werden wollte. Aber da er sie noch nie so aufgeregt wie heute erlebt hatte, lieb Mitch sitzen und blickte sie forschend an. „Was hat der Arzt Ihnen denn mitgeteilt, dass Sie so fertig sind?“

Als ob seine beharrlichen Fragen ihren Widerstand geschwächt hätten, brach es plötzlich aus Nicole heraus. „Ich bin schwanger.“

Wahrscheinlich war er nicht der erste Mann, dem es bei dieser Nachricht die Sprache verschlug. Sein Herz setzte einen Moment lang aus und begann dann wie wild zu hämmern. Mitch war so perplex, dass er selbst dann wie festgeklebt im Sessel sitzen geblieben wäre, wenn jetzt ein Feuer ausgebrochen wäre.

„Verflixt, Landers! Ich wollte Ihnen das gar nicht sagen.“ Nicole benutzte immer nur dann seinen Nachnamen, wenn sie sich über Mitch ärgerte. Das passierte allerdings ziemlich häufig. Ungeduldig fuhr sie sich durch ihre Locken. „Doch da ich meinen Mund schon nicht halten konnte, muss ich wohl etwas mehr dazu sagen. Vor allem bitte ich Sie, vorläufig darüber zu schweigen. Ich werde es natürlich kaum lange verheimlichen können, denn man wird es mir bald ansehen. Aber da ich die Nachricht selbst gerade erst erfahren habe, brauche ich ein wenig Zeit, um damit fertig zu werden, bevor ich darüber sprechen kann.“

„Ich werde schweigen wie ein Grab, darauf können Sie sich verlassen“, antwortete Mitch. Er hätte gern mehr gesagt, war aber nicht dazu in der Lage, weil er das Gefühl hatte, einen Kloß im Hals zu haben. Außerdem klopfte sein Herz so stark, dass er kaum denken konnte.

Nicole erhob sich und lief nervös hin und her. Sie erinnerte Mitch an einen eingesperrte Wildkatze, die so unter Spannung stand, dass sie sich durch Bewegung ein wenig Erleichterung verschaffen musste. Schließlich blieb Nicole stehen, schaute einige Minuten nach draußen auf den weiten Pazifik und ließ dann die Jalousien herunter, um durch nichts abgelenkt zu werden.

„Das ist noch nicht alles, Mitch“, fuhr sie fort. „Normalerweise ist es heute kein Problem mehr, als Frau ein Kind allein großzuziehen. Schließlich bin ich zweiunddreißig und könnte mir auch finanziell ein Kind leisten. Aber …“

„Wollen Sie das Baby nicht?“, fragte Mitch leise.

Nicole sah ihn empört an. „Natürlich möchte ich das Baby“, antwortete sie in bestimmtem Ton und legte instinktiv eine Hand auf ihren Bauch. „Ich habe es zwar zu diesem Zeitpunkt nicht geplant, aber ich werde einen Weg finden, um die Schwierigkeiten zu bewältigen. Ich brauche jetzt einfach nur ein wenig Ruhe, um mich mit dem Gedanken anzufreunden. Es ist auch gar nicht die Tatsache, dass ich schwanger bin, die mich so umgeworfen hat, es sind die beschämenden Umstände.“

„Was meinen Sie damit?“

Nicole stöhnte. Sie fuhr sich erneut durchs Haar und lehnte sich an den Aktenschrank. „Mitch, ich wollte Ihnen doch eigentlich gar nichts sagen.“

Obwohl er ihre Haltung kannte, alles allein zu bewältigen, verletzte es ihn doch sehr, dass Nicole ihn nicht aus freien Stücken ins Vertrauen gezogen hatte, sondern quasi nur aus der Not, weil sie so unter Druck stand und keinen anderen Ausweg wusste. „Jetzt erzählen Sie mir den Rest auch noch“, sagte er.

Nicole flüsterte: „Ich weiß nicht einmal, wer der Vater meines Kindes ist. Kann es etwas Schlimmeres für eine Frau geben? Und das ist immer noch nicht alles.“

„Was gibt es sonst noch?“, fragte Mitch ruhig.

Nervös gestikulierte Nicole mit den Händen. „Seit meiner letzten Beziehung ist schon eine ziemlich lange Zeit vergangen. Da meine Arbeit mich ganz und gar in Anspruch genommen hat, gab es bei mir kein Privatleben. Aber da sind auch noch andere Gründe, weshalb ich mich ausschließlich meiner Arbeit gewidmet habe.“ Ohne diesen Punkt näher zu erklären, fuhr sie fort: „Ich kann mich an nichts mehr erinnern, aber es muss auf unserer Weihnachtsparty passiert sein, denn eine andere Möglichkeit gibt es nicht.“

„Auf unserer Weihnachtsparty?“, echote Mitch.

Nicole nickte. „Ja. Darum kann ich meinem Team auch nicht vormachen, dass ich mir schon immer ein Kind gewünscht habe, denn einer der Männer hier kennt die Wahrheit. Hinzu kommt noch, dass ich mich schuldig gemacht habe. Da ich hier die Chefin bin, könnte man mich wegen sexueller Belästigung belangen.“

„Wie bitte?“ Mitch war fassungslos und konnte kaum glauben, was Nicole da sagte.

„Ich war immer so darauf bedacht, mich absolut korrekt zu verhalten, und jetzt das! Es ist schrecklich, in welche Situation ich den Mann gebracht haben muss.“ Nicole stöhnte verzweifelt auf. „Es ist alles meine Schuld, ich hatte kein Recht …“

„Moment mal!“ Obwohl Mitch jetzt selbst unter Schock stand, war sein erster Gedanke, Nicole von ihren Schuldgefühlen zu befreien, mit denen sie sich so schrecklich quälte.

Aber er hatte keine Chance dazu. Nicole war außer sich. Sie ließ sich nicht unterbrechen und fuhr mit ihren Selbstanklagen fort. „Und dass ich mich nicht einmal daran erinnern kann, ist einfach unverzeihlich. Es muss an dem Champagner gelegen haben, denn ich vertrage keinen Alkohol. Das soll keine Entschuldigung sein, aber eine Erklärung. Unter diesen beschämenden Umständen weiß ich überhaupt nicht, wie ich mich jetzt verhalten soll. Weil einer hier unter uns ganz genau weiß, was in jener Nacht passiert ist. Sie werden lachen, Mitch, aber für einige Sekunden dachte ich doch tatsächlich, Sie seien der Vater meines Kindes.“

„Ich?“

„Die Idee ist natürlich völlig absurd, da wir beide ja ständig aneinandergeraten. Daher war ich mir auch immer sicher, dass Sie überhaupt kein Interesse an mir haben. Aber es macht mich ganz verrückt, dass der Mann mir gegenüber nie etwas angedeutet hat. Der einzige Grund kann doch nur der sein, dass er diesen Vorfall so sehr bedauert, dass er nicht mehr daran denken will. Mein Gott, ist das alles entsetzlich!“

„Nicole, er könnte doch auch aus ganz anderen Gründen geschwiegen haben. Sie sollten nicht einfach solche Schlussfolgerungen ziehen.“

„Egal, welche Gründe derjenige auch hat, ich muss herausfinden, wer es ist“, erklärte Nicole unbeirrt und fing an, wieder aufgeregt hin und her zu laufen. „Zuerst dachte ich an John. Vielleicht hatte er sich mir zugewandt und ich wollte ihn nicht zurückweisen, weil seine Frau ihn doch verlassen hat. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, ihn geküsst zu haben, und noch viel weniger …“.

Mitch räusperte sich. So allmählich gewann er wieder festen Boden unter den Füßen. „Nicole, vergiss John.“ Er wollte fortfahren, aber Nicole sprach schon weiter.

„Okay, dann bleibt nur noch Rafe. Aber er ist ja dermaßen zurückhaltend und so extrem darauf bedacht, sein Privatleben strikt vom Geschäftlichen zu trennen, dass er einfach nicht infrage kommt. Sie wissen doch, wie gekonnt Wilma flirtet, aber er ist nie darauf eingegangen. Sollte er dennoch der Vater sein, dann hätte ich ihn ja fast vergewaltigen müssen, und er traute sich nur deshalb nicht, sich mir zu widersetzen, weil ich seine Chefin bin. Ohne Zweifel ist er sehr attraktiv. Nicht, dass ich es mir nicht vorstellen könnte, mit ihm …“

„Vergiss Rafe. Vergiss jeden Gedanken an ihn, denn …“

Doch wieder kam Mitch nicht weiter, weil Nicole ihm ihre Gedanken unbedingt mitteilen musste. „Dann bleibt nur noch Wilma übrig. Aber durch sie kann ich doch unmöglich schwanger geworden sein“, bemerkte sie, und Mitch nahm es als ein gutes Zeichen, dass Nicoles trockener Humor wieder durchkam.

„Ich muss unbedingt wissen, wer es ist“, erklärte sie noch einmal entschieden. „Und es ist so fürchterlich frustrierend, dass ich mich nicht erinnern kann. Ich muss diese Sache in Ordnung bringen und mit dem Mann ins Reine kommen, aber ich weiß einfach nicht, wie und wo ich anfangen soll. Ich schäme mich so und bin entsetzt über mich, dass ich jemanden in solch eine verzwickte Lage gebracht habe. Es ist mir unbegreiflich, da mein Team mir doch so wichtig ist. Ich habe mich wirklich unverzeihlich benommen und …“

„Nicole, kannst du mir mal zuhören?“, rief Mitch laut und vernehmlich. Er sah darin die einzige Möglichkeit, Nicoles Aufmerksamkeit zu erringen. Und es schien sogar zu funktionieren.

„Wie bitte?“

„Du musst dir deinen Kopf nicht länger zerbrechen, Nicole. Denn ich weiß, wer in der fraglichen Nacht mit dir zusammen war. Und deshalb besteht gar kein Zweifel daran, dass ich der Vater deines Kindes bin.“

2. KAPITEL

„Oh, nein!“, rief Nicole. „Das kann doch nicht wahr sein! Du kannst unmöglich der Vater meines Kindes sein!“ Nicole war jetzt auch ganz selbstverständlich zum vertraulichen Du übergegangen.

Die Neuigkeit, Vater zu werden, hatte Mitch völlig unvorbereitet getroffen. Es war wie ein Hammerschlag für ihn, da es bis jetzt auch nicht den leisesten Hinweis gegeben hatte, dass die Liebesnacht mit Nicole Folgen gehabt hatte. Obwohl er von Anfang an gewusst hatte, dass sie in der besagten Nacht ein Risiko eingegangen waren.

Doch was ihn nun wirklich schockte, auch wenn er es tapfer verbarg, war Nicoles Reaktion auf seine Mitteilung, dass er der Vater ihres Kindes sei. Mitch hatte im Lauf seines Lebens schon einige Kränkungen wegstecken müssen, schließlich war er bereits zweiunddreißig. Aber so sehr wie jetzt Nicoles Worte hatte ihn bisher noch nichts getroffen.

Dabei konnte er sich noch sehr gut an Zeiten erinnern, als die Frauen ihm nachgelaufen waren und ihm immer wieder bestätigt hatten, was für ein wunderbarer Liebhaber er sei. Dass eine Frau nun vorgab, komplett vergessen zu haben, mit ihm geschlafen zu haben, traf sein Ego doch sehr. Noch nie hatte eine Frau ihn so entsetzt angesehen, weil sie mit ihm eine Liebesnacht verbracht hatte.

Was Mitch augenblicklich erlebte, konnte man getrost als Ironie des Schicksals bezeichnen. Genau zu dem Zeitpunkt, wo er alle Hoffnung aufgegeben hatte, Nicole für sich zu gewinnen, und sich dazu durchgerungen hatte, alle Brücken zu ihr und ihrem Unternehmen abzubrechen; in dem Moment, wo er die schriftliche Kündigung in der Tasche hatte, um sie Nicole zu überreichen, erfuhr er, dass er der Vater ihres Kindes sei. Das war beispielhaft perfektes Timing. An ein Weggehen war unter diesen Umständen natürlich nicht mehr zu denken.

Die Situation war einfach absurd. Mitch war bekannt dafür, dass er eine Kämpfernatur war und nie schnell aufgab, wenn er etwas erreichen wollte. Nur dieses eine Mal hatte er sich entschlossen, kampflos das Feld zu räumen, auf seine Liebe zu verzichten und die Sehnsucht zu ignorieren, die ihn jetzt schon drei Monate lang quälte. Und genau in diesem Augenblick griff die Macht des Schicksals ein.

Es wäre ja wie in einem Märchen, wenn seine Wünsche sich wie durch ein Wunder nun doch noch erfüllten. Denn er liebte diesen Job und hatte ihn eigentlich nicht aufgeben wollen. Doch vor allem hatte er sich nicht von Nicole trennen wollen. Diese überraschende Schicksalswendung könnte jetzt die Erfüllung seiner geheimsten Träume sein – wenn Nicole nicht so unglücklich dreinschauen würde. Denn das konnte schließlich nur bedeuten, dass sie ihn überhaupt nicht mochte.

„Mitch, wir können doch unmöglich miteinander geschlafen habe, weil ich ja von Anfang an wusste, dass du eine feste Freundin hast, Suzanne oder so ähnlich.“

Wie kommt sie denn darauf? überlegte Mitch. Ich muss das sofort richtigstellen. „Glaub mir, Nicole, wenn ich in einer festen Beziehung leben würde, wäre ich niemals mit dir ins Bett gegangen, weil Treue mir sehr viel bedeutet. Da gibt es für mich keine Ausnahmen. Aber mich würde schon interessieren, wer dir von Suzan erzählt hat?“

„Wilma. Sie sagte …“

„Ach, so war das! Jetzt versteh ich“, unterbrach er Nicole. „Als ich hier anfing, begann Wilma heftig mit mir zu flirten. Damals wusste ich noch nicht, dass das für Wilma ein Sport ist und sie das bei jedem Mann macht. Da ich sie mit meiner Zurückweisung nicht verletzen wollte, kam ich auf die Idee, ihr von meiner Beziehung zu Suzanne zu erzählen, die ich tatsächlich einmal hatte. Aber das ist schon lange vorbei.“

„Du kannst es trotzdem nicht gewesen sein“, beharrte Nicole.

Verflixt! dachte Mitch. Es gab so viele Frauen auf der Welt. Warum musste er sich ausgerechnet in eine verlieben, die ihn ganz offensichtlich nicht wollte? „Nicole, du darfst es mir wirklich glauben, dass ich derjenige war in jener Nacht“, antwortete er bestimmt.

„Aber bis jetzt hatte ich immer den Eindruck, dass du mich überhaupt nicht magst.“

„Nik, ich weiß nicht, wie du auf diese Idee kommst. Denn das entspricht nicht im Entferntesten der Wahrheit.“

Seine Worte schienen sie keineswegs zu beruhigen, denn eine feine Röte überzog ihre Wangen, und Nicole blickte ihn schuldbewusst an. „Oh, Gott! Sag mir die Wahrheit Mitch, was hab ich gemacht? Hab ich mich dir an den Hals geworfen? Oder dich so in die Enge getrieben, dass du mich nicht mehr zurückweisen konntest, weil ich dein Boss bin?“

„Nicole, du machst dir eine völlig falsche Vorstellung von den Ereignissen jener Nacht.“

„Dann sag mir bitte ganz genau, was passiert ist. Warum hast du denn nie ein Wort darüber verloren?“

Was für eine vertrackte Situation! dachte Mitch. Denn er hatte sich regelrecht zwingen müssen, diese für ihn unvergessliche Nacht schweigend zu übergehen. Nur um Nicoles willen hatte er das getan, weil er sie nicht in Verlegenheit bringen wollte, obwohl es völlig gegen seinen Charakter war, seine Gefühle zu verleugnen.

Da diese Situation Fingerspitzengefühl verlangte, denn unter Umständen hing sein zukünftiges Glück davon ab, brauchte Mitch jetzt erst einmal Zeit, um nachzudenken.

Langsam stand er auf. „Ich will deinen Fragen nicht ausweichen, Nicole. Aber du hattest heute einen aufregenden Tag und siehst erschöpft aus. Ein wenig Erholung wird dir guttun. Wie wäre es, wenn ich zu dir komme und uns vom Chinesen etwas zu essen mitbringe? Wir könnten dann in Ruhe bei dir weitersprechen.“

„Ich weiß nicht recht“, antwortete Nicole unsicher und schüttelte müde den Kopf.

„Es ist heute viel auf dich eingestürzt. Aber bevor du irgendwelche Entscheidungen triffst, sollst du wissen, was in jener Nacht geschehen ist. Ich will es dir genau erzählen. Wir könnten uns natürlich auch bei mir treffen, aber ich vermute, dass du dabei lieber in deiner Wohnung bist.“

Nicole nickte nun. „Wir treffen uns bei mir.“

Mitch stellte mit tiefem Bedauern fest, dass ihre Zustimmung nichts damit zu tun hatte, dass sie gern mit ihm zusammen sein wollte, weil sie seine Nähe genoss, sondern einzig und allein damit, dass sie unbedingt wissen wollte, was in der fraglichen Nacht passiert war.

Bevor sie nun gemeinsam das Büro verließen und jeder in seinen Wagen stieg, gab Mitch noch schnell telefonisch in einem China-Restaurant seine Bestellung auf.

Nicole war noch keine halbe Stunde zu Hause, als Mitch vor ihrem Haus parkte. Er angelte die Essensschachteln vom Sitz und schloss die Wagentür mit einer kurzen, gezielten Hüftbewegung. Als er sich dann zum Haus wandte, blieb er fasziniert stehen.

Er sah Nicoles Domizil zum ersten Mal bei Tageslicht. Als er damals zur Weihnachtsparty kam, war es fast dunkel gewesen. Das weitläufige, mit Schindeln verkleidete zweistöckige Haus stand auf einer Klippe hoch über dem Meer. Wind und Wetter hatten ihre Spuren hinterlassen. Das Haus war zwar etwas verwittert und die Farbe der Schindeln war verblasst, aber gerade das machte seinen Charme aus und erinnerte Mitch an die romantische Ausstrahlung alter italienischer Villen.

Vielleicht hatte einmal ein Künstler dieses Heim für sich entworfen, der sich völlig von seinen eigenen Bedürfnissen hatte lenken lassen, ohne etwas darum zu geben, was andere dachten. Denn ganz sicher entsprach dieses Haus nicht dem Geschmack der modernen Zeit.

Auf jeden Fall musste der Erbauer die Einsamkeit geliebt haben, da sein Haus so weit weg von den Badeorten an der Küste gebaut hatte. Er musste zu den wenigen Menschen gehört haben, die keine Angst vor der Stille hatten, sondern es liebten, mit sich und der Natur allein zu sein.

Vielleicht hatte es auch nur als Sommerhaus gedient. Doch wie auch immer, dieses Haus passte perfekt zu der Nicole, die Mitch schon immer hinter der freundlichen, aber distanzierten geschäftstüchtigen Frau vermutet hatte. Daher überraschte ihn die Wahl ihres Hauses überhaupt nicht. Obwohl der Gegensatz zu den Gebäuden, die sie in der Firma entwarfen, kaum größer sein konnte. Denn da bestimmte die Funktionalität den Entwurf. Gerade, strenge Formen, Beton und Glas sorgten für Nüchternheit und Übersichtlichkeit.

Dieses Haus dort auf der Klippe war da vollkommen anders. Es verführte zum Träumen und hatte etwas Geheimnisvolles an sich. Vor den Zimmern der unteren Etage war jeweils eine kleine Terrasse, die auch von einem Laubengang aus erreichbar war, der um das Haus herumführte. Die Stützpfeiler wurden von blühenden Blumen in verschwenderischer Fülle umrankt. Diese Pergola ermöglichte es, auch bei Regen entspannt draußen zu sein und die Meeresluft zu genießen. Zu den oberen Räumen gehörten kleine Holzbalkone, die wie Vogelnester aussahen.

Eingebettet war das Haus in einen wild wuchernden Garten: Strandhafer, Sanddorn und Heckenrosen blühten und rankten um die Wette. Das Haus war ein wahrer Traum für jeden Menschen, der sich seinen Sinn für die Schönheit der Natur bewahrt hatte. Dies war ein kleines Paradies auf Erden.

Beim Betrachten des Hauses überfielen Mitch unwillkürlich die Erinnerungen an seine Nacht mit Nicole. Die Einzelheiten hatten sich ihm tief eingeprägt, und während der vergangenen drei Monate war es ihm immer schwerer gefallen, nicht ständig an jene Nacht zu denken … An Nicoles Lockenkopf neben ihm auf dem Kissen; an ihren warmen, geschmeidigen Körper und ihre großen Augen in dem zarten Gesicht. An ihren verträumten Blick, an ihre Verletzlichkeit. Sie war ihm wie Dornröschen erschienen, und er hatte sich vorgestellt, der Prinz zu sein, der diese träumende Schönheit erlöste, wenn er sie wachküsste.

Die Ernüchterung war heute gekommen, als er feststellte, dass sein Dornröschen sich anscheinend gar nicht mehr an ihren Prinzen erinnern konnte. Was sollte er nur tun? Er kannte Nicole eigentlich viel zu wenig. Das machte es ja so schwierig, mit ihr über private Dinge zu sprechen. Nur in einem war er sich vollkommen sicher: dass hinter der überaus korrekten, disziplinierten Chefin noch eine völlig andere Nicole steckte, eine sinnliche, leidenschaftliche Frau.

Oft hatte er sie heimlich beobachtet, wenn sie vor künstlerischen Ideen übersprudelte oder spontan und herzlich auflachte. Er hatte aber ebenso gesehen, wie schnell sie sich wieder Zügel anlegte. Was hatte sie nur erlebt, dass sie glaubte, sich immer so zusammennehmen zu müssen?

Wie fühlte sich ein Mensch, der eigentlich warmherzig, kreativ und fröhlich war, wenn er diesen Teil seines Wesens so rigide unterdrückte? Wahrscheinlich sehr einsam. Manchmal, wenn Nicole sich unbeobachtet glaubte, hatte er in ihren blaugrauen Augen so etwas wie Verlorenheit gesehen. Er hatte sich eingebildet, dass er derjenige sein könnte, der Nicole ermutigte, auch die andere Seite ihres Wesens zu leben und sich aus ihrem Gefängnis zu befreien.

Offenbar hatte er sich da etwas viel vorgenommen.

Er wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als Nicole plötzlich die Fliegentür öffnete und rief: „Mitch? Mir war doch, als hätte ich deinen Wagen gehört. Komm herein.“

Am liebsten würde Mitch jetzt etwas ganz etwas anderes tun, als den wohlerzogenen Gast spielen. Er hätte große Lust, die Essensschachteln einfach auf die Erde fallen zu lassen, die Treppe hochzusprinten, Nicole in die Arme zu reißen und stürmisch zu küssen.

Sie sah so toll aus in dem Licht der tief stehenden Sonne. Ein leichter Wind war aufgekommen und hatte die dunklen Wolken weggeweht. Der Himmel war jetzt klar und von einem überwältigenden Blau. In diesem Licht wirkte Nicoles Gesicht wie feinstes Porzellan. Die Sonnenstrahlen ließen ihre Locken rot aufleuchten, die jetzt zerzaust waren und nicht mehr so perfekt lagen wie sonst.

Himmel, wie sehr liebte und begehrte er diese Frau!

Aber er wusste, dass er vorsichtig sein musste, wenn er nicht alles verderben wollte, und deshalb versuchte er angestrengt, seine Leidenschaft wieder unter Kontrolle zu bringen.

„Ich hoffe, du hast einen Bärenhunger“, sagte er lächelnd, als er die Küche betrat. „Denn ich habe genug eingekauft, um ein Rudel hungriger Wölfe satt zu machen.“

„Das kann ich sehen“, erwiderte Nicole, während sie ihm die Schachteln aus der Hand nahm. Sie warf ihm einen unruhigen Blick zu und schaute schnell wieder weg.

Dass sie etwas nervös wirkte, gefiel ihm. Schließlich hatte er drei Monate lang unter starker Anspannung gelitten, weil sein heißes Verlangen keine Erfüllung mehr fand. Mit diesem Druck hatte er leben und dabei gleichzeitig mit Nicole zusammenarbeiten müssen. Ihre jetzige Unruhe erschien ihm nicht mehr als ein gerechter Ausgleich für das, was er die ganze Zeit durchgemacht hatte.

Im Moment hielt er es jedoch für am besten, sich erst einmal um die praktischen Dinge zu kümmern, und deshalb fragte er möglichst ungezwungen: „Wo sind Teller und Besteck? Ich könnte schon mal den Tisch decken und das Essen auspacken.“

„Du brauchst wirklich nicht zu helfen, Mitch. Ich mach das schnell allein. Möchtest du etwas trinken?“

„Ja, bitte, Wasser. Aber das hole ich mir selbst, denn ich bin nicht hergekommen, um mich von dir bedienen zu lassen, Nik. Ich möchte, dass du dich ein bisschen entspannst nach allem, was du heute erlebt hast.“

Schon bald saßen sie sich in Nicoles blau gekachelten Küche am Tisch gegenüber, und Mitch beobachtete, wie Nicole lustlos in ihrem Essen stocherte und nur ab und zu einen kleinen Bissen aß. Hauptsächlich hielt sie sich an der Wasserflasche fest und trank ein Glas nach dem andern. Sie unterhielten sich über Gott und die Welt, aber das Thema, was ihnen beiden unter den Nägeln brannte, berührten sie mit keiner Silbe.

Doch da Mitch es Nicole überlassen wollte, den heiklen Punkt anzusprechen, wenn sie bereit dazu war, wartete er geduldig ab.

Plötzlich legte sie das Besteck auf den Teller. „So kommen wir nicht zum Ziel“, sagte sie ungeduldig. „Wie vermeiden es, über das Baby zu sprechen. Aber das ist allein meine Schuld, denn ich weiß einfach nicht, wie ich beginnen soll.“

„Das ist doch überhaupt kein Grund, dir Vorwürfe zu machen“, erwiderte er. „Ich habe eher den Eindruck, als würdest du dich in meiner Nähe nicht wohlfühlen.“

„Das stimmt nicht, Mitch! Wir arbeiten doch seit Monaten zusammen und haben so manche schwierige Situation gemeinsam gemeistert. Wir hatten unsere Auseinandersetzungen, aber doch eigentlich nie Probleme, professionell damit umzugehen.“

Aber seit Nicole ihm gesagt hatte, dass sie ein Baby bekam, hatte sich ihre Beziehung erheblich geändert. Jetzt war er nicht mehr nur ihr Angestellter und für eine Nacht ihr Liebhaber gewesen. Er war der Vater ihres Kindes. Und das machte einen gewaltigen Unterschied.

Mitch stand auf und stieß seinen Stuhl zurück. „Hättest du Lust zu einem Spaziergang am Strand, Nik?“

Ihre Augen leuchteten auf. „Ja, das wäre herrlich. Die frische Luft wird mir guttun.“ Doch dann sah sie zweifelnd an sich hinunter. Sie trug immer noch ihr elegantes Kostüm.

„Ich räume hier auf“, schlug Mitch schnell vor. „In der Zwischenzeit kannst du dir etwas Wärmeres anziehen.“

„Du musst mir hier wirklich nicht helfen, Mitch.“

„Das ist doch nicht der Rede wert“, antwortete er bestimmt.

Nachdem sie noch einen Moment gezögert hatte, ging Nicole nach oben in ihr Schlafzimmer. Mitch brauchte nur wenige Minuten, um in der Küche wieder Ordnung zu schaffen. Dann schlenderte er durch den großen Wohnraum und sah sich aufmerksam um.

Die Küche bildete das Zentrum der offenen Wohnfläche und war ein wenig abgesenkt. Von hier aus erreichte man über einige Stufen, die weiter nach unten führten, einen gemütlichen Essplatz. Daran schloss sich ein Wintergarten an. Von dort aus konnte man noch die letzten Sonnenstrahlen einfangen und den Blick aufs Meer genießen, wenn draußen der Sturm tobte und schwere Wolken über den Himmel jagten. Außerdem befanden sich auf dieser unteren Ebene noch ein kleines Büro und eine Toilette.

Mit dem geschulten Auge des Architekten erkannte Mitch sofort, dass die Raumaufteilung dieses Hauses von einem Meister seines Fachs konzipiert worden war. Seine Gedanken wanderten wieder zu Nicole. Bei der Arbeit bildeten sie ein perfektes Team. Er schuf als Architekt den äußeren Rahmen, in dem Nicole ihre kreativen Ideen verwirklichen konnte. Ihre Entwürfe hatten immer eine eigene Note und entsprachen trotzdem den Wünschen und Ansprüchen der Kunden, die immer gerade dem folgten, was Mode war.

Umso mehr überraschte ihn nun Nicoles Gestaltung ihres eigenen Wohnbereichs. Das Ganze wirkte wie aus einem Hochglanzmagazin für modernes Wohnen. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt und in einem dezenten, kühlen Blau gehalten. Alles war teuer, edel und sachlich. Der Raum erinnerte ihn eher an die distanzierte Geschäftsfrau als an die warmherzige, leidenschaftliche Nicole, in die er sich so sehr verliebt hatte.

Mitch schlenderte umher, klimperte mit den Münzen in seiner Hosentasche und dachte nach.

In diesem Raum gab Nicole nichts von sich selbst preis. Außer von ihrem Anspruch, perfekt zu sein. Auf ihr Unternehmen wirkte sich das sehr positiv aus. Geschäftlich war sie ungemein erfolgreich, aber ein Privatleben schien sie für sich nicht zuzulassen. Wenn er nicht immer wieder die andere Nicole hinter der Fassade gespürt hätte, dann hätte er sich nie so in sie verliebt und wäre jetzt nicht in dieser merkwürdigen Situation.

Er erinnerte sich an einen anderen Raum, den er nur einmal gesehen hatte und der so völlig anders war als dieser – ihr Schlafzimmer. Das war offensichtlich ihr privater Zufluchtsort, wo sie ihrer Lust an Farben und schönen, schmückenden Dingen freien Lauf gelassen hatte. Es hatte einen weichen, rosa Teppich; ein herrlich geschwungenes antikes Holzbett und ein Frisiertisch mit einem zierlichen Gobelin-Stuhl davor. Kristallvasen, die überquollen von Perlen, bunten Ketten und Ohrringen; farbenfrohe Parfüm-Flacons, bunte Dosen und Keramikschalen mit Potpourris zierten die Möbel.

Dort lebte die wirkliche Nicole. Dort zeigte sie sich, wie sie tief in ihrem Innern war – sehr sinnlich. Und er hatte erlebt, dass sich diese Sinnlichkeit nicht nur in äußeren Dingen ausdrückte. In ihrem Schlafzimmer hatte sich ihm die Frau offenbart, von der er hingerissen war. In seinen Armen hatte sich die strenge, stets vorsichtige Nicole in eine alle Vorsicht außer Acht lassende feurige Geliebte verwandelt. Für eine viel zu kurze Nacht hatte sie ihre Selbstkontrolle vergessen und sich ihm mit der ganzen Leidenschaft ihrer hungrigen Seele hingegeben.

Mitch hörte Nicole nun die Treppe herunterkommen und wandte sich um. Wow, dachte er, diese Frau überrascht mich doch immer wieder! Fast hätte er sie nicht erkannt, so anders sah Nicole jetzt aus. Sie trug hautenge, verschossene Jeans, alte Turnschuhe und ein schlabberiges Sweatshirt.

„Oh, jetzt bin ich aber wirklich beeindruckt! Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass du ein ausgebeultes Sweatshirt dein Eigen nennst.“

„Darüber darfst du nicht spotten, Mitch, das ist verboten. Weil es mit diesem Sweatshirt eine besondere Bewandtnis hat. Es bringt mir nämlich Glück.“

„Das kann ich voll und ganz verstehen“, antwortete er lächelnd. Denn ich hüte auch noch ein altes Basketball-T-Shirt aus High-School-Tagen, weil ich fest davon überzeugt bin, dass es mir Glück bringt. Als mein Vater einmal sehr krank war, zog ich es an, als ich ihn im Krankenhaus besuchte. Meine Mutter war entsetzt, dass ich mich in dem alten Fetzen am Krankenbett meines Vaters blicken ließ. Aber ich ließ mich nicht beirren und habe es bei jedem Besuch wieder angezogen.“

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte Übermut in Nicoles Augen auf. „Und? Ist dein Vater wieder gesund geworden?“, fragte sie neugierig.

„Er ist wieder topfit“, antwortete Mitch vergnügt. „So, wollen wir jetzt losgehen?“

„Ich bin so weit. Aber ich glaube nicht, dass unser Spaziergang eine tolle Idee ist, denn das Salzwasser wird deine Lederschuhe ruinieren. Außerdem bist du viel zu dünn angezogen, und ich kann dir leider nichts leihen, weil dir von meinen Sachen bestimmt nichts passen wird.“

Mitch musste lachen. Das ist typisch Nicole, dachte er. Selbst in dieser für sie schwierigen Situation machte sie sich Gedanken um ihn und seine Schuhe. Für einen Psychologen wäre es sicherlich eine lohnende Herausforderung, Nicole dahin zu bringen, ein wenig egoistischer zu werden. Der Gedanke, wie er in ihren Sachen aussehen würde, erheiterte ihn, denn der Größenunterschied zwischen ihnen war doch beträchtlich.

„Diese Schuhe halten ein wenig Meerwasser gut aus. Ich bin schon oft mit ihnen am Strand gewesen, und im Wagen habe ich eine warme Jacke. Die ziehe ich über. Das sollte reichen.“

„Dann lass uns gehen“, antwortete Nicole beruhigt.

Inzwischen war es dunkel geworden. Der Himmel war von einem weichen, samtenen Dunkelblau. Ein paar Sterne glitzerten schon, und ein blasser Mond verbreitete gerade genug Licht, sodass Nicole und Mitch sicher die Holztreppe zum Strand hinuntergehen konnten. Es war Hochwasser, das Meer lag ruhig da. Nur einzelne, kleine Wellen rollten leise auf den Strand und hinterließen eine Reihe von zarten Schaumkronen im Sand, die wie fein gehäkelte Spitze aussahen.

Im Mondlicht wirkte die Welt wie verzaubert. Die Küste hier in Oregon war sehr felsig. Riesige Steinbrocken ragten aus dem Wasser, die das Meer abgeschliffen hatte. In dem diffusen Lichte könnte man sie mit ihren bizarren Formen für die Skulpturen eines begnadeten Künstlers halten. Oder für die Bauklötze eines Riesen, der sie nach dem Spielen einfach fallen gelassen hatte.

Mitch und Nicole liefen schweigend nebeneinander her und atmeten tief die salzige Seeluft ein. Mitch überließ es Nicole, das Tempo anzugeben, und wie er es sich schon gedacht hatte, schritt sie schnell und bestimmt aus. Beim Gehen an ihrer Seite wurde ihm erst richtig bewusst, wie zierlich und klein sie war. In ihren abgetragenen, engen Jeans fielen ihm ihre langen schlanken Beine besonders auf. Und ihr süßer Po, den er mit Genuss betrachtete, als sie ein paar Schritte vorauslief.

Er merkte, dass sie ihm immer wieder scheue, schnelle Seitenblicke zuwarf. Es war wunderschön, zusammen mit Nicole am Meer entlangzugehen, und am liebsten hätte er es stundenlang getan. Aber sie hatten sich getroffen, um das plötzlich aufgetauchte gemeinsame Problem zu besprechen. Und einer von ihnen musste wohl endlich beginnen.

Mitch entschloss sich dann, den Anfang zu machen. „Bevor ich hierher kam, war ich in Seattle.“

„Ich erinnere mich daran, denn dass hast du in deinen Bewerbungsunterlagen erwähnt. Du arbeitetest als Architekt in einer Firma namens Strickland, nicht wahr?“

„Ja, das stimmt. Aber ich habe in meinen Unterlagen nicht erwähnt, dass die Firma mir gehörte.“

Nicole hob überrascht die Augenbrauen. „Warum hast du mir das verschwiegen?“.

„Weil ich auf meine Bewerbungen, in denen ich das erwähnt hatte, ständig Absagen bekam, mit dem Hinweis, ich sei überqualifiziert. Niemanden konnte ich davon überzeugen, dass ich unbedingt wieder nur als Architekt arbeiten wollte.“

„Steckt hinter der Geschichte noch mehr?“, fragte Nicole interessiert weiter.

„Ja, eigentlich schon.“ Mitch bückte sich, nahm einen flachen Stein auf und versuchte, ihn über das Wasser hüpfen zu lassen. Aber er war aus der Übung, und der Stein sprang nur dreimal hoch.

Nach diesem kleinen Zwischenspiel fuhr er fort: „Ich komme aus einer sehr erfolgreichen Unternehmerfamilie. Meine Eltern, meine Geschwister, alle machen viel Geld. Mein Vater behauptete immer, ich sei der Begabteste von allen und könnte Steine in Gold verwandeln. Tatsächlich begann ich dann auch schon mit vierzehn zu spekulieren und zu investieren. Mit vierundzwanzig hatte ich eine nette kleine Summe zusammen und kaufte ‚Strickland‘. Ich bekam die Firma sehr günstig, weil sie kurz vor dem Konkurs stand. Damals war ich jung und unerfahren und hatte keine Ahnung, auf was ich mich damit einließ.“

Mitch seufzte. „Um es kurz zu machen: Als ich die Firma vor zwei Jahren wieder verkaufte, stand sie auf einer soliden Basis. Wir hatten inzwischen sechzig Angestellte und einen hohen Profit.“

„War dieser Profit ein Problem für dich?“, neckte ihn Nicole.

„Ob du es glaubst oder nicht, das war er tatsächlich. Ich schlief nachts nur noch vier Stunden, hatte ein Magengeschwür, das nicht abheilte, und meine Freundin, mit der ich zusammenlebte, verließ mich. Denn über der Arbeit hatte ich unsere Beziehung völlig vernachlässigt. Hinzu kam noch, dass ich in dem Laden zwar der Besitzer und Geschäftsführer war, aber nicht mehr in dem Bereich arbeitete, den ich studiert hatte und über alles liebte: Architektur.“

Mitch lächelte schief. „Sicher, mein Vater hat recht gehabt, dass ich eine besondere Begabung habe, Geld zu machen. Aber ich hasste das. Allerdings ließ ich mich eine Zeit lang von meinem Erfolg blenden. Ich habe lange gebraucht, bis ich erkannte, dass ich mich bei dieser Tätigkeit selbst verlor. Ich erfüllte zwar die hochgesteckten Erwartungen meiner Familie, aber meine eigenen Ziele und Wünsche blieben auf der Strecke.“

Nicole nickte langsam. „Ich weiß genau, wovon du sprichst. Und deshalb hast du dann dein Unternehmen verkauft?“

„Ja. Danach habe ich erst einmal gar nichts getan. Ich kaufte mir hier an der Küste ein Haus und ein Boot; genoss die Natur, ging Angeln und in die Berge wandern. Ich kann nicht behaupten, dass ich dringend Ferien gebraucht hätte, aber ich brauchte Zeit, um wieder zu mir selbst zu kommen und um herauszufinden, was ich wirklich wollte. Keinesfalls wollte ich wieder in das alte Fahrwasser geraten. Als ich mir endlich sicher war, fing ich an, Bewerbungen zu schreiben, und so kam ich in deine Firma.“

Nicole schüttelte den Kopf. „Ich kann es einfach nicht fassen, dass ich deine Führungsqualitäten nicht längst erkannt habe. Jetzt wird mir auch klar, wieso wir anfangs immer aneinander geraten sind. Da du es gewohnt warst, ein Unternehmen zu leiten, waren wir praktisch Konkurrenten. Und ich reagierte immer ziemlich sauer, wenn deine Vorschläge besser waren als meine.“

„Nik, ich habe nie darauf spekuliert, dich aus deiner Position zu drängen, glaub mir das bitte. Es hatte ganz andere Gründe, dass wir ständig aneinander gerieten.“

„Wie meinst du das?“, fragte Nicole verblüfft.

Mitch war völlig davon überzeugt, dass die sexuelle Anziehung zwischen ihnen eine so hohe Spannung hervorrief, dass Nicole und er bei dem kleinsten Anlass unweigerlich in die Luft gingen. Es bedurfte immer nur eines winzigen Funkens, um die Glut zu einem lodernden Feuer zu entfachen. Aber Mitch ahnte, dass es noch zu früh war, Nicole das zu sagen.

„Darüber können wir später sprechen“, antwortete er. „Mir geht es im Moment um etwas anderes. Alles, was ich dir jetzt erzählt habe, habe ich dir schon einmal erzählt. Ich wollte nur deine Erinnerung auffrischen.“

Nicole blieb abrupt stehen, und Entsetzen spiegelte sich auf ihrem zarten Gesicht wider. „Das kann doch nicht wahr sein!“, rief sie erschrocken.

„Doch, mein großes Ehrenwort. In der Nacht nach der Weihnachtsparty, als sich alle schon zurückgezogen hatten, begannen wir beide plötzlich miteinander zu reden und konnten gar nicht mehr aufhören. So offen waren wir noch nie zueinander gewesen.“

Nicole sah ihn ungläubig mit großen Augen an und schluckte nervös. Sollte Mitch noch Zweifel daran gehabt haben, dass sie sich an die Liebesnacht mit ihm überhaupt nicht erinnerte, war ihre jetzige Reaktion der endgültige Beweis für ihn, dass sie es tatsächlich nicht mehr wusste.

„Im Übrigen hast du auch sehr viel von dir erzählt“, fügte er ruhig hinzu.

„Oh, Gott, was denn?“

Leider hatte Nicole ihm nicht ihre tiefsten Geheimnisse erzählt. Wenn es so wäre, hätte er es jetzt etwas leichter. „Beruhige dich, Nik. Du hast nichts gesagt, was dir peinlich sein müsste. Ich erzähle dir das alles auch nur, damit du dir ein Bild davon machen kannst, wie alles gekommen ist. Ich hatte nie an die Möglichkeit gedacht, in dieser Nacht mit dir im Bett zu landen. Ich gehöre nicht zu den Männern, die versuchen, eine Frau ins Bett zu kriegen, wenn sie einen Schwips hat.“

Den Blick fest auf Nicoles Gesicht gerichtet, erklärte er: „Hätte ich auch nur im Entferntesten an die Möglichkeit gedacht, dass wir miteinander schlafen würden, hätte ich Kondome mitgebracht. Da kannst du ganz sicher sein. Doch als wir dann so vertraut miteinander redeten, hatten wir beide die Sehnsucht, diese Nähe auch körperlich zum Ausdruck zu bringen. So ist es gekommen, Nik. Keine Sekunde habe ich geglaubt, dass wir zu viel getrunken hatten. Ich war fest davon überzeugt, dass du ebenso wie ich wusstest, was wir taten.“

Nicole bückte sich, nahm einen Stein hoch und warf ihn flach über das Wasser. Ihr Stein sprang sechs Mal hoch. Aber sie schaute gar nicht hin, sondern blickte Mitch ernst an. „Es war nie meine Absicht, dir die Schuld an den Ereignissen in die Schuhe zu schieben.“

Verflixt dachte Mitch frustriert. Er wollte doch nur, dass Nicole verstand, wie es zu der Liebesnacht gekommen war. Ganz bestimmt hatte er nicht beabsichtigt, die Verantwortung auf sie abzuwälzen.

„Nicole, bitte, hör mir jetzt einmal genau zu. Für mich war unser Zusammensein in jener Nacht etwas, die ich nie mehr in meinem Leben vergessen werde, selbst wenn ich hundert Jahre alt werden würde. Du warst unbeschreiblich, Nik! Du hast deine Strenge, deine Selbstdisziplin vergessen und eine so tiefe Leidenschaft und rückhaltlose Hingabe gezeigt, dass ich nur staunen konnte. Was wir miteinander erlebt haben, ist etwas Wunderbares und hat überhaupt nichts damit zu tun, dass sich einer von uns unangemessen verhalten hätte. Wir haben etwas Herrliches miteinander geteilt. Du warst in jener Nacht die hinreißendste Frau für mich, und das hat nichts damit zu tun, dass wir beide einen kleinen Schwips hatten.“

3. KAPITEL

Nicole spürte, dass sie rot wurde, und sie hoffte inständig, dass Mitch es im schwachen Mondlicht nicht sah. Mitch hatte sie total sprachlos gemacht, und sie musste erst einmal über seine letzten Worte nachdenken, bevor sie etwas darauf erwiderte.

Sie sollte in jener Nacht wild und hemmungslos gewesen sein? Da verwechselte er sie bestimmt mit einer anderen Frau. Das konnte nicht sie, Nicole, gewesen sein, denn so war sie gar nicht, überhaupt nicht.

Seit Jahren hatte sie ihr Leben jetzt fest im Griff. Sie war diszipliniert, zuverlässig und fleißig. Sie achtete sehr darauf, sich an die Regeln zu halten, die sich selbst gesetzt hatte. Nichts erinnerte mehr an den egozentrischen, verantwortungslosen, zügellosen Teenager, der sie einmal gewesen war. Und dann sollte sie alle ihre Regeln in einer einzigen Nacht über Bord geworfen haben und sich in eine leidenschaftliche, gefühlvolle Frau verwandelt haben? Das konnte nicht wahr sein. Sie war nicht leidenschaftlich, nicht einmal gefühlvoll. Sie war eine nüchtern denkende, geschäftstüchtige Unternehmerin.

Obwohl das kalte Meerwasser inzwischen in ihre Joggingschuhe drang, blieb Nicole wie gebannt stehen. Sie gab sich die größte Mühe, sich an jene Nacht zu erinnern. Aber was diesen Punkt betraf, war ihr Kopf wie leer gefegt, als würde ihr Gedächtnis sich weigern, ein Geheimnis preiszugeben.

Sie schaute zu Mitch und schnell wieder weg. Himmel, was für eine Situation! Ohne es zu wollen, musste sie jetzt immer an Sex denken, wenn sie ihn nur anschaute. Vorher war das nie so gewesen, und das hatte nichts damit zu tun, dass er ihr Angestellter war. Nein, er war einfach nicht ihr Typ. Mitch war hellblond, ausgesprochen groß und sehr schlaksig. Dagegen waren die Männer, die ihr bis jetzt am besten gefallen hatten, kraftvoll und muskulös gewesen und hatten eher dem Typ „Latin Lover“ entsprochen.

Unauffällig betrachtete sie Mitch nun genauer, und sie musste sich eingestehen, dass er keineswegs dünn war. Zwar war er sehr groß und sehr schlank, aber er hatte einen ausgesprochen durchtrainierten Körper, und seine breiten Schultern verrieten, dass er sportlich ziemlich aktiv war. Stimmt, dachte sie. Er hatte im Büro ja erzählt, dass er immer noch regelmäßig Basketball spielt.

Als Nicole noch ein wenig länger nachdachte, gab sie insgeheim auch zu, dass sie sich in Mitchs Gegenwart immer anders fühlte als sonst. Und das dieses Gefühl eigentlich sehr angenehm war. Wenn Mitch sie anschaute, stand in seinen strahlend blauen Augen häufig Bewunderung, und wenn sie ehrlich war, auch Begehren. Viele Kleinigkeiten fielen ihr jetzt ein und brachten sie völlig durcheinander.

„Mitch, wenn alles so gewesen ist, wie du es mir geschildert hast, warum hast du dann nie ein Wort darüber verloren?“

„Glaub mir, es war bestimmt nicht meine Absicht, diese Nacht totzuschweigen. Aber alles entwickelte sich plötzlich ganz anders, als ich es mir gedacht hatte. An dem Morgen danach ging ich sehr früh. Ich wollte dich nicht wecken, denn du schliefst noch tief und fest. Wie gern wäre ich bei dir geblieben, aber du hattest mir gesagt, dass der Party-Service sehr früh zum Aufräumen kommen würde, und ich ging davon aus, dass es dir nicht recht wäre, wenn die Leute uns hier zusammen gesehen hätten.“

„Ja, das wäre mir wohl ziemlich peinlich gewesen“, gab Nicole zu.

„Später rief ich bei dir an. Aber du begannst sofort über ein geschäftliches Problem zu sprechen. Auf mich wirkte das so, als wolltest du vermeiden, an unsere gemeinsam verbrachte Nacht erinnert zu werden.“

„Ich schwöre dir, Mitch, ich wollte gar nichts vermeiden, denn ich erinnerte mich ja an überhaupt nichts.“

Mitch nickte. „Das sagst du jetzt, und ich glaube dir. Aber ich wäre nie und nimmer auf die Idee gekommen, dass so etwas möglich sein könnte. Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, warum du dich so verhalten hast. Ich wusste natürlich, wie sehr du darauf achtetest, dich nicht privat mit Angestellten einzulassen, aber …“

„Ja, genau. Denn jeder Chef, der die Distanz zu seinen Untergebenen nicht einhält, riskiert eine Anzeige wegen sexueller Nötigung.“

„Nik, ich kenne dieses Gesetze genauso gut wie du“, erklärte Mitch mit Nachdruck. „Und ich habe dich immer sehr für deine korrekte Haltung bewundert und dafür, wie wichtig du deine Verantwortung nimmst. Aber auf uns kann man das Gesetz doch gar nicht anwenden, da ich in keiner Weise von dir abhängig bin. Ich müsste ja gar nicht arbeiten, denn ich bin finanziell abgesichert. Ich ging immer davon aus, dass du dir dessen bewusst bist, weil wir in der Nacht darüber gesprochen hatten. Also folgerte ich, dass dein Schweigen einen anderen Grund haben musste.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Ich konnte mir nur vorstellen, dass dich unsere Liebesnacht so durcheinandergebracht hatte, dass du Zeit brauchtest, um mit dir ins Reine zu kommen. Nur darum habe ich geschwiegen. Ich wollte dich nicht zu etwas drängen, was du vielleicht gar nicht wirklich wolltest. Aber …“

„Aber?“, wiederholte Nicole, als er nicht weitersprach.

Mondlicht fiel auf sein Gesicht, und sie konnte genau sehen, wie bewegt Mitch war. Er schaute sie so zärtlich und intensiv an, dass sie am ganzen Körper erschauerte.

„Ich dachte, du wüsstest, was für eine unbeschreiblich schöne Liebesnacht wir miteinander erlebt hatten, und ich befürchtete, dass diese Intensität, mit der wir aufeinander reagiert hatten, dir danach Angst machte. Der Gedanke an ein Baby ist mir allerdings nie gekommen.“

Eine unbeschreiblich schöne Liebesnacht … Unruhig fuhr Nicole sich mit der Zungenspitze über die Lippen, die plötzlich ganz trocken waren.

Sie glaubte Mitchs Erklärungen, denn schließlich hatte sie ihn während der letzten Monate als einen durch und durch ehrlichen Menschen kennengelernt. Und sie konnte sich auch sehr gut vorstellen, dass er ein fantastischer Liebhaber war. Aber dass sie so voller Leidenschaft auf ihn reagiert haben sollte, war für sie unfassbar. Es passte einfach nicht zu dem Bild, das sie von sich hatte.

Wahrscheinlich wäre sie immer Single geblieben und hätte gar nicht viel vermisst, wenn Mitch ihren Weg nicht gekreuzt hätte. Selbstverständlich war sie keine Jungfrau mehr. Erste sexuelle Erfahrungen hatte sie in ihren jungen, rebellischen Jahren gemacht, aber da war sie ebenso unerfahren gewesen wie die gleichaltrigen Jungen.

Weder sie noch die Jungen hatten so richtig gewusst, was sie mit sich anfangen sollten. Aber sie hatte immer darauf gehofft, mit dem Richtigen einmal atemberaubenden Sex zu erleben. Doch die paar Beziehungen, die sie später gehabt hatte, hatten sie nie befriedigt, und so hatte sie ihre ganze Energie in den Aufbau ihres Unternehmens gesteckt. Und Weill sie damit vollauf beschäftigt war, war es ihr gar nicht schwer gefallen, ihre sexuellen Bedürfnisse einfach zu ignorieren.

Jedenfalls hatte sie das bisher angenommen.

„Ist es dir unangenehm, wenn wir darüber sprechen?“, fragte Mitch plötzlich und klang besorgt.

„Es ist völlig unwichtig, wie ich mich fühle, ich muss die Wahrheit wissen“, antwortete Nicole nachdrücklich, obwohl ihr Herz zum Zerspringen klopfte.

„Da stimme ich dir voll und ganz zu, denn das wird deine Entscheidung beeinflussen, und diese Entscheidung geht uns beide etwas an.“

„Sprichst du von Sex?“ Verflixt, dachte Nicole. Das hab ich doch gar nicht sagen wollen!“

Mitch begann bei ihren herausfordernden Worten zu lächeln. „Hey, ich habe immer Lust über Sex zu reden. Aber ich hatte angenommen, du wolltest jetzt über das Baby mit mir sprechen.“

„Aber natürlich! Das ist das allerwichtigste Thema, und ich denke an nichts anderes, ganz ehrlich.“

„Jetzt sei doch nicht so nervös, Nik.“

„Ich bin kein bisschen nervös“, beteuerte Nicole eilig, doch das war geschwindelt. Seit Mitch so offen über ihre gemeinsame Nacht gesprochen hatte, kreisen ihre Gedanken nur noch um das Eine. Dabei gab es viel Wichtigeres zu besprechen.

„Okay, du bist also nicht nervös“, lenkte Mitch ein. „Aber bevor wir jetzt noch meilenweit in diesem Tempo am Strand entlanglaufen, meinst du nicht, dass es eine gute Idee wäre, allmählich umzukehren? Schließlich hattest du einen ziemlich anstrengenden Tag.“

Nicole machte auf der Stelle kehrt. Dieser Mann macht mich noch ganz verrückt, dachte sie. Obwohl er nicht spöttisch geklungen hatte, war sie über seine Bemerkung wütend. Wenn er mit ihr sprach, klang seine Stimme immer dunkel und ruhig. Nie behandelte er sie von oben herab, wenn er ihr einen Vorschlag machte. Er behandelte sie eher wie ein rohes Ei, und genau das brachte sie so auf.

„Ich hatte auch gerade die Idee, zurückzugehen“, erklärte sie.

„Da bin ich sicher“, erwiderte er und fuhr dann fort: „Nachdem wir jetzt wissen, wie es zu dem Baby gekommen ist, haben wir uns aber noch nicht entschieden, was wir nun tun wollen. Ich hätte da einen Vorschlag, einen ziemlich altmodischen.“

„Welchen?“.

„Zu heiraten.“

Nicole fing an zu lachen, erst leise, dann brach sie in lautes Gelächter aus. Ihre Nerven waren den ganzen Tag über zum Zerreißen angespannt gewesen. Jetzt konnte sie sich zum ersten Mal gehen lassen. „Oh, du mein Ritter, du bist wirklich edel.“

„Nik, mein Vorschlag ist ernst gemeint. Es ist überhaupt nicht meiner Absicht, hier den edlen Ritter zu spielen.“

Nicole hörte auf zu lachen und schaute Mitch freundlich an. „Komm, ich weiß doch ganz genau, dass du das nicht wirklich meinst. Die Zeiten haben sich schließlich geändert, Mitch. Heute verlangt niemand von einem Mann, die Frau zu heiraten, die von ihm ein Kind erwartet. Viele Frauen ziehen ihr Kind allein groß. Das ist heute nichts Ungewöhnliches mehr.“

„Du willst also das Baby?“

„Das habe ich dir doch gesagt. Hast du geglaubt, dass ich an eine Schwangerschaftsunterbrechung denke?“

„Ich war mir da nicht sicher.“

Nicole schob die Hände in die Taschen ihrer Jeans. „Wenn ich minderjährig wäre oder krank, oder wenn ich wüsste, dass das Baby nicht gesund wäre, würde ich mich vielleicht anders entscheiden“, antwortete sie ehrlich. „Aber mir könnte es gar nicht besser gehen; ich bin gesund, habe ein gutes Einkommen, und ich habe mir immer Kinder gewünscht. Zwar kommt das jetzt alles etwas plötzlich für mich, aber ich will das Baby.“

„Okay.“ Mitch fiel ein Stein vom Herzen, und er atmete erleichtert auf. „Auf dich kommt einiges zu, Nicole. Das wird nicht leicht werden.“

„Das weiß ich“, gab sie bereitwillig zu. „Aber ich habe ja noch genug Zeit, um darüber nachzudenken, wie ich alles organisiere.“

„Ich will dir helfen, Nik. Nicht nur, weil ich ein verantwortungsvoller Vater sein möchte, sondern auch, weil ich deinen Betrieb inzwischen so gut kenne, dass ich dich jederzeit vertreten kann.“

Nicole überlegte einen Moment und schwieg. Was er sagt, macht Sinn, dachte sie. Vor allem, was die Führung ihres Unternehmens anging. Und selbst wenn sie bisher noch nicht daran gedacht hatte, als Vater hatte er natürlich auch gewisse Rechte. Sie hatte keineswegs die Absicht, ihn von seinem Kind fernzuhalten.

„Es ist richtig, Nicole, du kannst das Baby allein großziehen. Aber vergiss nicht, dass du eine sehr konservative Klientel hast. Die könnten sich daran stören. Außerdem musst du auch mit dem hässlichen, verletzenden Getratsche der Leute rechnen. Das alles könnte deinem Geschäft schaden. Und das, nachdem du so hart gearbeitet hast, um es aufzubauen.“

„Ich teile deine Bedenken, aber ich fürchte mich nicht vor Auseinandersetzungen“, erklärte sie bestimmt.

„Das weiß ich und ebenso, wie wichtig dir deine Unabhängigkeit ist. Das gefällt mir ja auch so an dir, und ich bin da ganz ähnlich wie du. Mir war es auch immer egal, was die Leute sagten. Ich will dich nur darauf hinweisen, dass ein Ring am Finger dir ziemlich viele Schwierigkeiten ersparen würde.“

Nicole fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Typisch Mitch, dachte sie. So erlebte sie ihn auch bei der Arbeit. Wenn alle sich die Köpfe heißredeten, blieb er ganz ruhig und legte seine Vorschläge so überzeugend dar, dass jeder ihm schließlich zustimmte. Jetzt hatte er sie ja auch fast so weit, dass sie es besser fand, einen Mann zu heiraten, den sie persönlich kaum kannte, als alleinerziehende Mutter zu sein.

Autor

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