Adliger Wüstling auf Freiersfüßen

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Wie findet man als skandalumwitterter Wüstling eine ehrbare Gattin? Damit er sein Erbe nicht verliert, muss Kieran Ransome, dritter – und leichtlebiger – Sohn eines Earls, seiner Familie schnellstens eine standesgemäße Braut präsentieren. Dummerweise hat er sich von den tugendhaften Ladys bisher weit ferngehalten. Zum Glück ist die jüngere Schwester seines besten Freundes, die bezaubernde Celeste, ein wahrer Society-Liebling. Wenn sie für ihn bürgt, könnte Kieran sicher eine unschuldige Debütantin von sich überzeugen. Allerdings verlangt Celeste für diesen Gefallen etwas, das so gar nicht ladylike erscheint: Kieran soll ihr die skandalösen Seiten Londons zeigen! Ein prickelndes Abenteuer beginnt …


  • Erscheinungstag 02.05.2023
  • Bandnummer 391
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516228
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

London, England. 1818

Die Ehe war noch nicht einmal geschlossen, und schon erwies sie sich als Katastrophe.

Kieran Ransome und seine Familie standen unter dem Portikus von St George’s und waren im Begriff, das Vestibül der Kirche zu betreten. Als seine Mutter den Schleier seiner Schwester anhob, um ihr eine lose Haarsträhne aus der Stirn zu streichen, erhaschte er einen Blick auf Willas Gesicht. Ihre Wangen waren aschfahl, und ihre Lippen glichen einem dünnen Strich. Die Countess plauderte unbeirrt vor sich hin, während sie Willas Kleid zurechtzupfte, doch seine Schwester blieb ungewöhnlich still.

Schon beim gestrigen Dinner im Kreise der Familie hatte Willa kaum ein Wort von sich gegeben. Statt sich wie üblich auf ein Glas Wein zu beschränken, hatte sie zweieinhalb getrunken, und in ihrem Essen herumgestochert, statt den gewohnten Appetit an den Tag zu legen. Der Bräutigam hatte zusammengesunken auf seinem Stuhl gesessen und sich überwiegend in Grunzlauten geäußert. Kierans Angebot, den Abend in ihrer Lieblingsschänke ausklingen zu lassen, hatte er ausgeschlagen.

Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.

„Hier stimmt etwas ganz und gar nicht“, flüsterte ihm sein Bruder Finn ins Ohr.

Kieran warf seinem Vater, dem Earl of Wingrave, der ins Gespräch mit seinem ältesten Sohn Simon vertieft war, einen flüchtigen Blick zu. Alice, Simons Gemahlin, hielt sich dicht an der Seite ihres Mannes. Der Earl und die Countess ignorierten einander, was nicht weiter verwunderlich war. Umso mehr erstaunte es Kieran, dass niemand das offensichtliche Unbehagen der Braut zu bemerken schien.

Für gewöhnlich war Willas Eifer kaum zu zügeln, und sie scheute sich nicht, ihre Meinung lautstark kundzutun. An diesem Morgen erschien sie jedoch wie ausgewechselt.

„Glaubst du, sie will einen Rückzieher machen?“, fragte Kieran leise.

„Es wäre ihr nicht zu verübeln“, erwiderte Finn. „Dom benimmt sich schon seit Wochen wie ein Esel. Wenn er sich weiter so aufführt, würde ich ihn auch nicht heiraten.“

„Und ihm in letzter Minute den Laufpass geben?“

Finn stieß einen Seufzer aus und ein sorgenvoller Ausdruck überschattete sein Gesicht. „Ich würde nicht drauf wetten, Bruderherz. Weißt du noch, wie wir sie davon abhalten wollten, eine Handvoll Sand zu essen? Das hat sie erst recht angespornt.“

„Damals war sie erst fünf Jahre alt.“

„Und seitdem ist sie nur noch eigensinniger geworden.“

Das konnte Kieran nicht bestreiten. Ursprünglich hatte er geglaubt, dass Willa und Dominic Kilburn wie füreinander geschaffen waren. In Sachen Starrköpfigkeit standen sie einander in nichts nach, und ihre Streitigkeiten gingen mit knallenden Türen und zerbrochenem Porzellan einher. Dennoch war kaum zu übersehen, wie Willa und Dom einander anhimmelten. Sie konnten sich nicht im selben Raum aufhalten, ohne die Nähe des Anderen zu suchen – fast, als bereite jeglicher Abstand ihnen körperliche Schmerzen. Gewiss würde ihre Ehe glücklich werden, wenn auch nicht minder stürmisch.

Nun spürte Kieran leise Zweifel in sich aufsteigen. Eines wusste er jedoch mit Sicherheit: In der Kirche war er komplett fehl am Platz. Kirchen waren Orte der Enthaltsamkeit, Andacht und stillen Einkehr – Dinge, mit denen er nicht viel anzufangen wusste. Schon im Schatten von St George’s zu stehen machte ihn rastlos, und es kostete ihn all seine Kraft, nicht auf eine vorbeifahrende Kutsche aufzuspringen, um sich ins Theater oder die nächste Taverne zu flüchten. Gotteshäuser waren ihm einfach nicht geheuer.

Er hatte beileibe nicht vor, sich jemals selbst als Bräutigam vor dem Altar wiederzufinden.

„Himmel“, murmelte er Finn zu. „Ich war seit Jahren nicht so früh auf den Beinen.“

„Tompkins schuldet mir fünf Pfund“, erwiderte sein Bruder. „Er dachte nicht, dass du es aus dem Bett schaffst, und schon gar nicht nüchtern. Aber ich wusste, dass du dich blicken lässt – und sei es nur, um dir beim Hochzeitsfrühstück den Bauch vollzuschlagen.“

„Dein Vertrauen ehrt mich“, entgegnete Kieran trocken. Lauter, an seine Familie gewandt, sagte er: „Ich sollte meine Pflicht als Trauzeuge tun und bei Dom nach dem Rechten sehen. Bei der Gelegenheit kann ich ihm dann auch gleich meine Glückwünsche aussprechen. Seine unglückselige Familie wird die Unsere vortrefflich ergänzen.“

„Gerade heute tätest du gut daran, uns mit deinem theatralischen Gehabe zu verschonen“, entgegnete sein Vater. Seine Mutter konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen, doch ob ihr Unmut ihrem Sohn oder ihrem Gatten galt ließ sich nur schwer beurteilen.

Kieran salutierte seinem Vater spöttisch und stieß die schweren Kirchentüren auf. Er warf Finn, der ihm dicht auf den Fersen folgte, einen fragenden Blick zu.

„Ich habe mit mir selbst gewettet, ob du vom Blitz getroffen wirst, sobald du einen Fuß in die Kirche setzt“, erklärte sein Bruder leichthin.

„In dem Fall würden wir wohl zwei verkohlte Flecken auf dem Boden hinterlassen.“

Finn bedachte ihn mit einer derben Geste, als sie über die Schwelle traten. Die Gäste in den umliegenden Bänken, die sich beim Geräusch der sich öffnenden Türen zu ihnen umgedreht hatten, schnappten empört nach Luft. Kieran und Finn grinsten sich an.

„Die Ransome-Brüder werden ihrem Ruf gerecht“, murmelte Finn, während sie sich ihren Weg zum Chorraum der Kirche bahnten. Jedenfalls glaubte Kieran, dass es sich um den Chorraum handelte, doch bei allen Bemühungen, ihn die Feinheiten des Glaubens zu lehren, hatte er diesen Dingen noch nie große Beachtung geschenkt.

Die gesamte Elite Londons war in St George’s versammelt. Die angesehensten Familien des Landes füllten die Kirchenbänke. Auf Seiten des Bräutigams versammelten sich namhafte Kaufleute, da Doms Familie in diesen Kreisen verkehrte. Ihre eleganten Gewänder konnten sich allemal mit denen des Hochadels messen. Doch egal von welchem Stand – die ebenso neugierigen wie misstrauischen Blicke der Hochzeitsgesellschaft folgten Finn und Kieran durch den gesamten Saal. Sicher hatten die Gäste, wie so viele in der Stadt, in den Klatschblättern vom abenteuerlichen Leben der Ransome-Brüder gelesen. Wer ergötzte sich nicht gern am ungebührlichen Betragen anderer, um sich in der eigenen, flatterhaften Sittlichkeit bestärkt zu fühlen?

Kieran quittierte die Blicke mit einem spitzbübischen Grinsen und beobachtete amüsiert, wie die Damen nervös den Blick senkten und die Herren sich indigniert aufplusterten. Was kümmerte ihn ihr Unbehagen?

Eine besonders reizende junge Dame auf der Seite der Braut fiel ihm ins Auge. Ihre Finger glitten über den Spitzenbesatz ihres Halstuchs, und ein amüsiertes Lächeln umspielte ihre Lippen. Kierans Zwinkern erwiderte sie mit einem koketten Blick.

„Meine Güte.“ Finn lachte leise. „Eine Tändelei in der Kirche ist auch nur dir zuzutrauen.“

„Wohl kaum. Ich bewahre eine lange und ehrwürdige Tradition. Aber die Schönheit da drüben führt mich noch viel mehr in Versuchung. Zweite Reihe, auf der Seite des Bräutigams.“

Ihr Hals hatte es Kieran besonders angetan. Er war zart und anmutig, und am Haaransatz kräuselte sich ein Hauch kastanienbraunen Flaums. Beim Gedanken daran, die weiche Haut zu küssen und der Unbekannten einen lustvollen Seufzer zu entlocken, lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Manche Männer reizte der Busen einer Frau, andere hatten eine Schwäche für lange Beine oder ein wohlgeformtes Gesäß. Doch wo die meisten dem Hals einer Frau wenig Beachtung schenkten, konnte Kieran seiner Anziehungskraft ganze Verse widmen.

Die junge Frau wandte sich ihrer Sitznachbarin zu, und Kieran entwich ein Fluch, der ihm strafende Blicke der Gäste in Hörweite einbrachte.

Verdammt, dachte er. Ich kenne sie.

Finn lachte erneut auf. „Gedanklich die Schwester unseres besten Freundes zu verführen ist selbst für dich ein neuer Tiefpunkt.“

„Verrat’s nicht Dom“, murmelte Kieran.

Wenngleich Dom die Brüder bei ihren nächtlichen Trinkgelagen begleitete, war es vor allem Kieran, der in London für sein lasterhaftes Treiben berüchtigt war. Dom war dem Glücksspiel zugeneigt und grölte Trinklieder, mied jedoch weibliche Gesellschaft und hielt sich – von der gelegentlichen Rauferei einmal abgesehen – bevorzugt im Hintergrund.

Dom kennt mich zu gut, dachte Kieran. Wenn er von meinen unzüchtigen Fantasien über seine Schwester wüsste, müsste ich mich auf etwas gefasst machen.

Fast, als spürte sie Kierans Aufmerksamkeit auf sich, drehte sich Celeste Kilburn zu ihm um und begegnete seinem Blick. Ihre Augen weiteten sich überrascht, und sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln, das er möglichst neutral zu erwidern versuchte. Er hoffte, dass ihm die anzüglichen Gedanken nicht auf die Stirn geschrieben standen. Celeste war als Mädchen aufs Töchterpensionat gegangen und als anmutige junge Frau zurückgekehrt. Seit ihrem Debüt war sie zudem ein Muster an Tugend. Einen weiten Bogen um sie zu machen war womöglich die einzig weise Entscheidung, die Kieran in den letzten Jahren getroffen hatte.

Celeste neigte den Kopf zum Altar und er folgte ihrem Blick, in der Erwartung, ihren Bruder dort stehen zu sehen. Obwohl es ihm an Erfahrung mit Hochzeiten – und anderen respektablen Anlässen – mangelte, war er sich recht sicher, dass dies für den Bräutigam so üblich war. Er versuchte sich heute zum ersten Mal als Trauzeuge, da Simon einem Studienfreund aus Oxford den Vorzug gegeben hatte. Seinen Pflichten als solcher war er sich daher nur vage bewusst.

Kieran erspähte den Pfarrer, doch von Dom, der eigentlich herausgeputzt und mit wachsender Vorfreude dem Einzug seiner Braut entgegenblicken sollte, fehlte jede Spur. Von Zeit zu Zeit warf der Pfarrer einen nervösen Blick über die Schulter, bevor er sich wieder der versammelten Menge zuwandte.

Beim Anblick seines beschwichtigenden Lächelns spürte Kieran Besorgnis in sich aufsteigen. Die Anspannung des Pfarrers konnte nichts Gutes bedeuten.

Die Brüder traten an den Geistlichen heran. Wider Erwarten umgab den älteren Mann weder eine heilige Aura, noch roch er nach Weihrauch. Er wirkte wie ein normaler Kerl, der bei der morgendlichen Rasur eine Stelle unter dem Ohr übersehen hatte, und dessen Talar nach einer Mischung aus Stärke und gewöhnlichem Schweiß roch.

„Gibt es ein Problem, Reverend?“, fragte Finn.

„Ist Ihnen der Bräutigam abhandengekommen?“, fügte Kieran hinzu.

„Alles ist in bester Ordnung“, erwiderte der Pfarrer, bevor er die Stimme senkte, sodass nur Kieran und Finn ihn hören konnten. „Sind Sie zwei … Gentlemen … Vertraute von Mr. Kilburn?“

„Wenn Sie damit meinen, haben wir ihn je im Rausch drei Matrosen zu einer Rauferei herausfordern und gewinnen sehen?“, entgegnete Kieran. „Dann ja.“

Der Reverend stammelte und lief krebsrot an, während Finn sich nur mit Mühe das Lachen verkniff.

„Ich bin sein Trauzeuge“, erklärte Kieran schließlich.

Als er sich wieder gesammelt hatte, flüsterte der Pfarrer: „Der Bräutigam ist unpässlich. Für den Moment habe ich ihn in die Sakristei geschickt, damit er sich wieder fängt. Er wollte jedoch partout nicht, dass ich seine Familie informiere – wenn ich die Tatsache, dass er auf diesen Vorschlag hin einen Schemel nach mir geworfen hat, richtig deute.“

Möbelstücke nach Geistlichen zu werfen war Dom zwar durchaus zuzutrauen, doch an seinem Hochzeitstag bot es Anlass zur Besorgnis.

„Vielleicht haben Sie als Trauzeuge ja größeres Glück“, fuhr der Pfarrer fort.

„Bringen Sie uns zu ihm“, forderte Kieran.

Sie folgten dem Reverend durch eine unscheinbare Tür in der Nähe des Altars, die in einen schmalen Korridor führte. An dessen Ende gelangten sie an eine weitere Tür. Schon aus einiger Entfernung vernahmen sie lautes Poltern und Fluchen, und es klang, als versuche jemand mit vollem Körpereinsatz einen schweren Gegenstand umzustürzen.

Der Pfarrer warf Kieran und Finn einen besorgten Blick zu. Vermutlich befürchtete er, dass seine Sakristei – was immer das sein mochte – gerade der Zerstörung zum Opfer fiel. Er klopfte behutsam an die Tür.

„Mr. Kilburn“, begann er zögerlich. „Hier ist Reverend Hodgson. Ich habe Ihnen …“

„Verschwinden Sie“, rief Dom. „Ihre Predigten und das Gesöff, das Sie Wein schimpfen, können mir gestohlen bleiben!“

Reverend Hodgson erbleichte.

„Überlassen Sie das mir.“ Kieran legte dem Mann die Hand auf die Schulter und schob ihn sanft, aber bestimmt zurück. Dann hämmerte er mit der Faust gegen das Holz und rief: „Dom! Hier sind Kieran und Finn. Hör auf, dich wie ein Esel zu benehmen und mach die verdammte Tür auf.“

Einen Moment lang herrschte Stille. Dann folgte ein widerwilliges „Kommt rein.“

„Besser, Sie warten mit den Gästen, Reverend“, sagte Finn.

Sichtlich dankbar ergriff der Pfarrer die Flucht. Sobald er verschwunden war, öffnete Kieran die Tür – zunächst nur einen Spalt breit, um sich im Notfall vor fliegendem Kirchensilber retten zu können.

Vorsichtig betrat er die Sakristei und stieß einen anerkennenden Pfiff aus. „Dagegen ist der Schaden, den du in der Twin Bastards Taverne angerichtet hast, kaum nennenswert.“

„Himmel, Dom“, sagte Finn ungläubig. „Hast du das Regal kaputtgetreten?“

Die einzige Antwort war ein animalisches Knurren, das von der Gestalt ausging, die in einer Ecke der Kammer hockte. Es konnte sich nur um Dom handeln, denn Männer mit solch breiten Schultern, die maßgeschneiderte Anzüge von der Bond Street trugen, waren rar gesät. Die Schultern waren ein Andenken an Doms prägende Jahre als Hafenarbeiter in den Londoner Docks.

„Verdammt noch mal“, grollte Dom aus seiner zusammengesunkenen Haltung. „Was für ein gottverfluchter Mist.“

Er musste wirklich aufgewühlt sein, denn er war in den derben Cockney-Akzent zurückgefallen, den seine Familie sich so mühsam abgewöhnt hatte. Die Bemühungen der Kilburns, jegliche Spuren ihrer bescheidenen Herkunft zu tilgen, waren größtenteils erfolgreich gewesen, doch wenn Dom die Nacht durchzechte oder besonders aufgebracht war, fiel er schnell in alte Gewohnheiten zurück.

„Was – keine Moralpredigt, weil ich in der Kirche fluche?“, stieß er hervor.

Kieran lachte. „Wenn du Buße tun willst, bist du bei uns an der falschen Adresse.“ Vorsichtig trat er auf seinen Freund zu. Als würde ich mich einem wütenden Stier nähern, dachte er. Hoffentlich muss ich ihn nicht erschießen, um ihn von seinen Qualen zu erlösen. „Aber eins muss ich dir lassen. Die Sakristei hast du erfolgreich dem Erdboden gleichgemacht.“

„Ich habe vielleicht nicht die Beobachtungsgabe eines Detektivs“, sagte Finn, während er Splitter eines zertrümmerten Tisches aufsammelte, „aber wie die Ruhe selbst erscheinst du mir heute nicht.“

Dom gab einen weiteren tierischen Laut von sich.

Behutsam, als hätte er es tatsächlich mit einem wilden Tier zu tun, legte Kieran ihm die Hand auf die Schulter. Dom schüttelte sie sogleich wieder ab.

„Spar dir dein Mitgefühl“, zischte er. „Ich hab’s verdammt noch mal nicht verdient.“

Kieran warf seinem Bruder einen ratlosen Blick zu. Finn, der ein gewiefter Glücksspieler war und jegliche Gefühlsregung hinter einer unbewegten Miene zu verstecken vermochte, stand die Sorge offen ins Gesicht geschrieben – nicht gerade ein beruhigendes Zeichen.

Er hatte erwartet, Alkohol an Dom zu riechen. Wenn er betrunken war, würde das sein Benehmen erklären, da er im Rausch noch kampfeslustiger wurde als sonst. Umso rätselhafter war es, dass ihm kein Gin- oder Whiskygeruch anhaftete.

Wenn es sich hier, wie Kieran vermutete, um einen klassischen Fall kalter Füße handelte, war Alkohol jedoch mit Sicherheit das beste Heilmittel. Aus der Innentasche seines Fracks zog er einen Flachmann hervor und tippte Dom damit auf die Schulter. „Zum Mut-Antrinken.“

Dom ließ sich nicht zweimal bitten und nahm einen tiefen Schluck. Mit zitternder Hand reichte er den Flachmann an Kieran zurück, der selbst daran nippte, bevor er ihn Finn anbot.

„Lass noch was übrig, du Hundesohn“, murrte Kieran, als sein Bruder den Kopf in den Nacken legte und in tiefen Zügen trank.

„Nennst du unsere Mutter etwa eine Hündin?“, fragte Finn und warf Kieran den leeren Flachmann zu, der ihn auffing, bevor er ihn in die Rippen traf.

Das Schlagen einer Uhr auf der anderen Seite des Raumes gemahnte zur Eile. Die Hochzeit sollte in fünfzehn Minuten stattfinden, und dass der Bräutigam in einer verwüsteten Sakristei saß und Töne der Verzweiflung von sich gab, verhieß nichts Gutes. Vielleicht benötigte er nur den richtigen Ansporn?

„Du solltest Willa sehen“, sagte Kieran fröhlich. „Schön wie ein Rabe im Schnee. All diese Unruhe wird vergessen sein, wenn sie erstmal deine Frau ist.“

Als der Name seiner zukünftigen Gattin fiel, sprang Dom auf und versetzte dem Schrank zu seiner Rechten einen Faustschlag. Das Möbelstück geriet ins Wanken, doch Kieran fing es auf, bevor es vollends umstürzen konnte.

„Es ist ein Fehler“, grollte Dom. „Diese ganze Sache ist ein kolossaler Fehler.“

Einen Moment lang fehlten Kieran die Worte.

„Dass ich nicht lache“, sagte er schließlich. „Du und Willa, ihr seid verrückt nacheinander, und das schon seit vor ihrem Debüt. Immer, wenn sie den Raum betritt, musterst du sie wie ein Löwe seine Beute. Es sei denn …“ Ihm kam ein erschreckender Gedanke. „Du liebst sie nicht mehr.“

„Ich würde für sie sterben“, zischte Dom.

Kieran atmete auf. Wenigstens schienen seine Gefühle für Willa nicht abgeflaut zu sein. Seit früher Kindheit war Kieran Zeuge der Distanziertheit seiner Eltern und ihrer kühlen Verachtung füreinander gewesen. Wenn sie sich einmal nicht aus dem Weg gingen, sprachen sie einander stets mit „Mylord“ und „Mylady“ an, doch nie mit ihren Vornamen – John und Aoife. Eines Tages hatte Kieran das Gespräch zweier Hausmädchen belauscht und wusste nur deshalb, dass die Verbindung zwischen dem englischen Earl und der irischen Erbin als stürmische Liebesbeziehung begonnen hatte, bevor die Leidenschaft mit der Zeit in Bitterkeit und gegenseitige Antipathie umgeschlagen war.

Er erinnerte sich nur dunkel an die lauten Streitgespräche seiner Eltern, die ihn als kleinen Jungen verängstigt hatten. Doch als Willa zur Welt kam, waren diese längst einem eisigen Schweigen gewichen. Die frostige Gleichgültigkeit wurde auch dem Rest der Familie zuteil. Als ältester Sohn und Erbe hatte Simon noch das beste Los gezogen, doch an Finn und Kieran wurde kaum ein Gedanke verschwendet. Kieran war das mehr als recht, da es ihm all die Freiheit gewährte, die er sich nur wünschen konnte.

Willa aber war wie eine Flamme, die das Eis zum Schmelzen brachte. Sie gab sich nicht mit der beißenden Stille zufrieden, die die Familie eisern im Griff hatte, was ihr verblüffendes Wohlwollen von allen Seiten einbrachte. Ihr zukünftiger Gatte musste es mit ihr aufnehmen können, wenn er nicht wie ein Grashalm unter ihrem Absatz zermalmt werden wollte. Dom schien die perfekte Wahl.

Als Tochter eines Earls wurde von Willa erwartet, zu heiraten, doch Gott sei Dank lastete dieselbe Erwartung nicht auf Kieran. Wie sollte er sich an eine Frau binden, wenn es so viele auf der Welt gab?

„Dann geh da raus und heirate sie, du Dummkopf“, sagte Finn.

Dom erschauderte und raufte sich die Haare. „Das kann ich nicht.“

„Warum zum Teufel nicht?“, fragte Kieran ungläubig.

„Sie ist viel zu gut für mich.“

Kieran starrte seinen Freund entgeistert an. „Das von dem Mann, der jeden Ballsaal betritt, als sei keiner der Anwesenden es wert, ihm die Stiefel zu lecken.“

„Es ist wahr, du Hund“, blaffte Dom. „Selbst, wenn sie nicht die verdammte Tochter eines verdammten Earls wäre, ist sie so viel besser als ich – auf jede nur erdenkliche Art und Weise! Ich bin ein dahergelaufener Hafenarbeiter, und ich habe im Leben Dinge getan …“

„Niemand hat eine völlig weiße Weste“, sagte Finn.

„Du kannst das nicht verstehen“, gab Dom aufgebracht zurück. „Ihr zwei kommt aus gutem Hause und musstet nie ums Überleben kämpfen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie tief manch einer sinken muss, bevor er es aus dem Morast herausschafft. Wie kann ich sie mit diesen Händen berühren“ – er hob die Hände, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen – „die so abscheuliche Verbrechen begangen haben? Wie kann ich ihr ein guter Ehemann sein? Meine Frau zu werden würde sie zugrunde richten, und mit dieser Gewissheit kann ich nicht leben.“

Er warf Kieran einen flehenden Blick zu. „Begreift ihr das nicht? Sie zu heiraten ist das Schlimmste, das ich ihr je antun könnte. Sie wäre zutiefst unglücklich. Schlimmer noch. Es würde sie zerstören, und das kann ich unmöglich zulassen. Aber wenn ich nicht vor dem Altar erscheine, ruiniere ich ihren guten Ruf.“

Kieran ließ die schmerzerfüllten Worte seines Freundes auf sich wirken. Er kannte nicht die ganze Wahrheit über Doms Vergangenheit, doch das Leid, dass er bisweilen in seinen Augen aufblitzen sah, ließ ihn vermuten, dass er sehr schwere Zeiten hatte durchstehen müssen. Dass Dom am heutigen Tag, der ihm nichts als Freude hätte bringen sollen, so erbärmlich zumute war, betrübte Kieran zutiefst.

Er winkte Finn zu sich und flüsterte: „Ich würde ihn ja für verrückt erklären, aber er und Willa haben einander in letzter Zeit tatsächlich in den Wahnsinn getrieben. Die Streitereien, die Tränen … glaubst du, er könnte recht haben? Würde diese Hochzeit sie ins Unglück stürzen?“

„Gut möglich“, murmelte Finn. „Und wenn die Ehe sich als Katastrophe herausstellt, lässt sie sich nicht rückgängig machen. Sie wird ihr Leben lang an ihn gefesselt sein. Wie Mutter und Vater.“

„Aber wenn sie ihn nicht heiraten wollte, hätte sie die Hochzeit doch absagen können.“

Finn fixierte ihn mit einem skeptischen Blick. „Und zugeben, dass sie sich bei der Wahl ihres Bräutigams geirrt hat?“

Die Brüder verfielen in grübelndes Schweigen, als sie die Möglichkeit in Betracht zogen, dass ihre Schwester allein aus Sturheit ihre Zukunft ruinieren könnte. Kieran erinnerte sich, wie er am Tag ihrer Geburt ins Schlafgemach seiner Mutter geschlichen war, um einen Blick auf Willa in ihrer Wiege zu erhaschen. Er hatte sich fest vorgenommen, den kleinen Schreihals zu hassen, der von nun an die Aufmerksamkeit der Familie für sich beanspruchen wurde. Doch ein einziger Blick auf das runzlige Wesen, das bereits wenige Stunden nach seiner Geburt beherzt den Kopf zu heben versuchte, und es war hoffnungslos um ihn geschehen.

Das hatte ihn nicht davon abgehalten, sie über die Jahre schonungslos zu piesacken, aber was waren schon harmlose Streiche unter Geschwistern? Deshalb wollte er noch lange nicht, dass sie sich für den Rest ihres Lebens an einen Mann band, mit dem sie womöglich niemals glücklich werden würde.

Er hatte schließlich miterlebt, was seinen Eltern widerfahren war, und wie das Gift ihrer Ehe den Rest der Familie durchtränkt hatte.

Erwartete Willa dasselbe Schicksal? Er betete, dass es nicht so kommen würde. Doch Dom hatte recht – wenn er ihr den Laufpass gab, wäre ihr Ruf ruiniert.

Es klopfte, und die zaghafte Stimme des Pfarrers drang durch die Tür: „Verzeihung, Gentlemen, aber wir können nicht mehr länger warten.“

Dom stöhnte gequält auf.

„Geben Sie uns fünf Minuten“, rief Kieran.

Nach einer langen Pause antwortete Reverend Hodgson: „Wie Sie wünschen, Sir.“

Er wusste, was zu tun war. Es war drastisch, aber es war der einzig richtige Weg.

Kieran und Finn tauschten einen bedeutungsschweren Blick aus. So gut sein Bruder seine Gedanken und Gefühle auch zu verbergen vermochte – nach siebenundzwanzig Jahren war er für Kieran ein offenes Buch, und ihre Kommunikation funktionierte auch ohne Worte.

Was denkst du? sagte sein Blick.

Wir haben keine andere Wahl, gab Kieran wortlos zurück.

Finn sah ihn eindringlich an. Das könnte übel ausgehen.

Besser als die Alternative. Außerdem tun wir Willa damit einen Gefallen. Sie wird es uns danken.

Im Flüsterton fügte Kieran hinzu: „Wir können nicht zulassen, dass unsere Schwester einen kolossalen Fehler begeht und genauso elend endet wie unsere Eltern.“

„Aber sie ist zu stur, um es selbst zu verhindern“, sagte Finn bitter.

Kieran nickte seinem Bruder zu und atmete tief durch, bevor er tat, was getan werden musste.

„In der Kutsche war kaum genug Platz für Willas Kleid, deshalb sind Finn und ich zu Pferd gekommen“, sagte er und wandte sich Dom zu. „Die Pferde stehen in den Stallungen.“

Dom starrte ihn verständnislos an. „Worauf willst du hinaus?“

„Beeil dich, und lass dich nicht erwischen.“ Kieran deutete auf eine Tür, die nach draußen führte.

Finn öffnete sie und riskierte einen Blick. „Niemand zu sehen. Jetzt oder nie.“

Dom sah zwischen den Brüdern hin und her, als wolle er abschätzen, ob sie sich einen schlechten Scherz mit ihm erlaubten. Kieran begegnete seinem Blick mit so viel Ernsthaftigkeit, wie er nur aufbringen konnte.

Einen Moment lang stand Dom die Furcht ins Gesicht geschrieben, bevor sie einem Ausdruck tiefsten Bedauerns wich.

„Alle werden denken, dass sie ihre Meinung geändert hat“, sagte Kieran. „Es ist ein Skandal, aber die Alternative wäre weitaus schlimmer.“

Dom nickte grimmig. „Niemand wird es ihr verübeln, wenn alle denken, ich sei ein betrunkener Wüstling mit den Manieren eines Straßenköters.“

„Du bist ein betrunkener Wüstling mit den Manieren eines Straßenköters“, bemerkte Kieran.

„Tut, was nötig ist“, erwiderte Dom. „Zieht meinen Namen in den Schmutz, aber sorgt dafür, dass es ihrem Ansehen nicht schadet.“

„Ich habe reichlich Übung darin, dich zu beleidigen“, entgegnete Kieran. „Keine Sorge – ich werde kein gutes Haar an dir lassen.“

In Doms Augen lag ein Ausdruck finsterer Entschlossenheit. Er schritt zur Tür und drehte sich kurz vor der Schwelle noch einmal um. „Wir tun das Richtige. Willa zuliebe.“

„Willa zuliebe“, bekräftigte Kieran. Sie würde keinen Schaden davontragen. Dafür musste er sorgen. Er zeigte auf die Tür und sagte: „Geh. Finn und ich kümmern uns um alles Weitere.“

„Sagt Willa …“ Dom schluckte schwer. „Sagt ihr …“

Mit einem letzten, schmerzerfüllten Blick eilte er hinaus. Sanfter Regen fiel auf seinen edlen Frack, als er in Richtung der Stallungen rannte.

Finn schloss die Tür und verschränkte die Arme vor der Brust. „Jetzt müssen wir Willa nur noch beibringen, dass sie ihren Bräutigam verschmäht.“

„Sie wird es uns danken. Mutter wäre sicher auch dankbar gewesen, wenn jemand ihre Hochzeit zu Vater sabotiert hätte.“ Kieran ließ den Blick durch die zerstörte Sakristei schweifen. „Sieht aus wie Rom, nachdem es von den Goten geplündert wurde.“

„Rom wurde von den Vandalen geplündert.“

„Von wem wurde Rom denn nicht geplündert?“ Kieran beäugte die Tür, die zurück in die Kirche führte, und ein ungutes Gefühl der Vorahnung machte sich in ihm breit. Als er die verwüstete Kammer verließ, um seiner wartenden Schwester zu eröffnen, dass die Hochzeit nicht stattfinden würde, war er sich einer Sache gewiss: Das nimmt kein gutes Ende.

2. KAPITEL

Zwei Wochen später

Schritte näherten sich der Tür, und die Klinke klapperte, als die Person auf der anderen Seite den Schlüssel ins Schloss schob. Kieran und Finn flankierten den Eingang der Räume, die sie gemeinsam mit Dom bewohnten, und nickten einander entschlossen zu. Kieran hatte sich vorsorglich einfach gekleidet, um zu verhindern, dass womöglich eines seiner besseren Kleidungsstücke im Handgemenge einen Schaden davontrug. Als dritter Sohn erhielt er ein großzügiges Taschengeld, das er jedoch für bessere Dinge ausgeben konnte, als für die Reparatur eines Mantels.

Die Tür öffnete sich, und selbst im schwachen Licht war die Größe und Statur des Mannes, der die Türschwelle überquerte, unverkennbar.

„Jetzt!“, rief Finn.

Kieran und sein Bruder stürzten sich auf den Neuankömmling. Sie beide trainierten mehrmals die Woche an der Boxakademie, doch obwohl sie in glänzender körperlicher Verfassung waren, konnten sie ihren Freund nur zu zweit zu Boden ringen.

„Was zur Hölle wird das?“, schnauzte Dom. „Runter von mir, alle beide.“

„Gib uns erst dein Wort, dass du freiwillig mitkommst“, keuchte Finn.

„Wohin?“, fragte Dom misstrauisch. „Was zum Henker geht hier vor?“

„Deine Anwesenheit wird gewünscht.“ Eine Erklärung gestaltete sich überraschend schwierig, wenn man damit beschäftigt war, empfindliche Körperteile vor den kolossalen Fäusten eines aufgebrachten Giganten zu schützen.

„Gib uns dein Wort und wir lassen dich los“, wiederholte Finn, und wich dabei nur knapp Doms Ellenbogen aus. „Und anschließend gehen wir was trinken. Alles halb so wild.“

Was ist halb so wild?“ Dom machte keine Anstalten, nachzugeben.

„Das erfährst du später“, sagte Kieran. „Aber keine Sorge, es wird ohne viel Federlesens vonstattengehen.“

Dom machte einen weiteren vergeblichen Versuch, Kieran und Finn abzuschütteln, bevor er sich geschlagen gab. „Ihr hättet mich einfach bitten können, euch zu begleiten“, grummelte er.

„Wir haben dich zwei Wochen lang nicht zu Gesicht bekommen“, sagte Kieran atemlos, „und bei unserem letzten Treffen bist du vor dem Altar geflohen. Wir waren uns also nicht sicher, wie du eine solche Bitte aufnehmen würdest.“

„Ein Hinterhalt in unserer gemeinsamen Bleibe schien das einzig Vernünftige“, bemerkte Finn, der ebenfalls außer Atem war.

„Es scheint, als hätten wir sehr unterschiedliche Vorstellungen von Vernunft“, gab Dom verächtlich zurück.

Das Feuer knisterte im Kamin, während die drei auf dem Boden um Atem rangen. Einige Minuten verstrichen, ehe sie sich mühsam aufrafften.

Die Rauferei war nicht spurlos an Doms Kleidung vorbeigegangen. Einen Moment lang überlegte Kieran, ihn zum Umziehen zu schicken, doch nun, da sie ihren Freund überrumpelt hatten, war Eile geboten. Finn kritzelte bereits eine Notiz, um sie an die interessierten Parteien vorauszusenden. Je schneller die Brüder Dom aushändigten, desto eher konnte ihr Leben wieder seinen gewohnten Gang gehen.

„Wir sollten uns beeilen“, sagte Finn und ging ihnen voraus zur Tür.

Auf dem Gehsteig vor ihrem Quartier in der Henrietta Street übergab Finn die Notiz und eine Münze einem wartenden Laufburschen, der sich umgehend davonmachte, während Kieran eine Droschke heranwinkte.

„Denk nicht mal dran“, warnte er Dom, der seinen Blick die Straße entlangschweifen ließ und zweifellos seine Fluchtchancen abwägte.

„Ich bin stärker“, seufzte Dom, „aber ihr zwei seid schneller.“

Eine Kutsche fuhr vor und Finn rief dem Fahrer zu: „Cavendish Square.“

Dom runzelte die Stirn. „Euer Elternhaus? Was, wenn wir ihr begegnen?“

„Willa ist verreist“, entgegnete Kieran. „Sie ist am Tag nach der Hochzeit aufgebrochen.“

Dom schien sich seinem Schicksal ergeben zu haben und stieg in die Kutsche. Die Brüder folgten ihm dicht auf den Fersen. Eine lange Zeit herrschte Stille. Es war früh am Abend, und die Straßenlaternen erleuchteten das Innere der Kutsche mit flackerndem Lichtschein, der es Kieran ermöglichte, seinen Freund genauer zu betrachten. Dom sah aus, als hätte er die Hölle durchlitten und weilte noch immer in ihren Abgründen. Dunkle Ringe umrahmten seine Augen. In den vergangenen zwei Wochen hatte er stark abgenommen und sein Gesicht war hager und verhärmt – der Verlust seiner großen Liebe hatte ihn sichtlich gezeichnet.

Derartige Emotionen kannte Kieran nur aus zweiter Hand. Er war kein gefühlloser Mensch, doch warum sollte er sich dauerhaft an eine Person binden, wenn ihn hinter jeder Biegung neue Liebschaften, neue Erfahrungen und neue Abenteuer erwarteten? Kieran wollte das Leben mit all seinen Facetten genießen, und als ungebundener Mann stand ihm jedwede Möglichkeit offen.

Liebe war ohnehin ein Wunschtraum, der sich in den seltensten Fällen erfüllte. Dom und Willa waren dafür ebenso ein Beweis wie seine Eltern. Anfangs mochte man auf Wolken schweben, doch früher oder später landete man unsanft auf dem Boden der Tatsachen. Je tiefer die Gefühle, desto größer die Verzweiflung, wenn das Glück sein bitteres und unausweichliches Ende nahm.

„Wie geht es ihr?“ Doms zögerlich hervorgebrachte Frage brach das Schweigen.

„Sie …“ Zwei Wochen waren vergangen, seit Kieran seine Schwester zuletzt gesehen hatte. Gemeinsam mit Finn war er ins Vestibül der Kirche zurückgekehrt, wo Willa sich noch immer mit unbeirrbarem Willen auf die Zeremonie vorbereitete. Es fiel Kieran selten schwer, die richtigen Worte zu finden, doch als er vor der unmöglichen Aufgabe stand, seiner kleinen Schwester zu beichten, dass er ihrem Bräutigam zur Flucht verholfen hatte, brachte er keinen Ton über die Lippen. Es ergab keinen Sinn. Er und Finn hatten in ihrem Interesse gehandelt, doch nun, da Willa ihm im Hochzeitskleid gegenüberstand und ihr Schleier sich mit jedem zittrigen Atemzug hob und senkte, kamen plötzlich Zweifel in ihm auf.

Willa hatte ihren Schleier angehoben und ihn förmlich mit dem Blick durchbohrt. Sie war bleich wie ein Gespenst und in ihren Zügen war eiserne Entschlossenheit zu lesen.

Er wünschte, sie hätte ihrem Ärger Luft gemacht – wenn nötig lautstark und mit Fäusten. Doch stattdessen hatte Willa so regungslos und stillschweigend dagestanden, wie er es in all ihren dreiundzwanzig Jahren noch nicht gesehen hatte.

„Es tut mir leid, Will“, stieß Kieran heiser hervor.

„Was soll das heißen? Was tut dir leid?“ In der Stimme seiner Mutter schwang Besorgnis mit.

„Dom ist auf und davon“, sagte Willa tonlos. „Und Kieran und Finn haben ihm geholfen.“

„Du sollst den Gästen verkünden, es sei deine Entscheidung gewesen“, sagte Finn.

„Als ob dadurch etwas gewonnen ist“, fuhr der Earl ihn an.

Seither hatte Willa kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Nachdem sie die Kirche verlassen hatten, hatte sie sich in ihr Schlafgemach zurückgezogen, und niemand hatte sie den Rest des Tages zu Gesicht bekommen. Als Kieran und Finn am nächsten Morgen zum Frühstück erschienen waren, empfing sie ein leeres Haus: Willa war abgereist und ihre Eltern hatten sie zur Verabschiedung begleitet.

„Ich habe keinen Schimmer, wie es ihr geht“, beantwortete Kieran schließlich Doms Frage. „Wenn sie Briefe nach Hause geschrieben hat, weiß ich nichts davon.“

Unbehaglich rutschte er auf seinem Sitz hin und her, doch die Polster der Kutsche waren von unzähligen Passagieren durchgesessen, und auch das ungute Gefühl in der Magengrube ließ sich dadurch nicht abschütteln.

„Ich nehme an, mich erwartet ein Hinrichtungskommando“, sagte Dom bitter.

„Uns wurde lediglich aufgetragen, dich im Grünen Salon abzuliefern“, entgegnete Kieran. „Aber keine Sorge – Mutter hängt zu sehr an der Wandverkleidung, als dass du fürchten müsstest, mit Gewehren empfangen zu werden.“

„Beruhigend“, murmelte Dom.

Dennoch machte er keinerlei Anstalten, aus der Kutsche zu springen und die Flucht anzutreten – geradezu, als hätte er sich bereits damit abgefunden, die zweifellos unangenehmen Konsequenzen für sein Handeln zu tragen. Womöglich begrüßte er sie sogar.

Während ihr Freund erneut in angespanntes Schweigen verfiel, füllte Finn die Stille mit zwanglosem Geplauder über eine neue Spielhölle, die vor kurzem am Moreton Place in Pimlico eröffnet hatte. Kieran warf die eine oder andere Bemerkung ein, obgleich er selbst noch nicht dort gewesen war. Es vertrieb die Zeit und brachte ihn auf andere Gedanken, fernab von jenem Morgen in der Kirche und Willas stoischem Gleichmut ob des Verschwindens ihres Bräutigams, das er mitverschuldet hatte. Er hatte aus Liebe zu ihr gehandelt und sie vor lebenslanger Misere bewahrt … oder etwa nicht?

Endlich erreichten sie Wingrave House, und beim Aussteigen aus der Kutsche warf Finn dem Kutscher eine Münze zu. Vom Gehweg betrachtet imponierte die Stadtresidenz des Earls mit zahlreichen, hell erleuchteten Fenstern. Lange Zeit hatte Kieran keinen Gedanken an das schiere Ausmaß der Beleuchtung verschwendet, doch dann hatte Dom seinem Elternhaus zum ersten Mal einen Besuch abgestattet. Die unzähligen Kerzen und gläsernen Fenster zeugten von immensem Reichtum, und der Anblick hatte seinen Freund in unverhohlenes Staunen versetzt.

Zwar war Doms Familie nahezu ebenso vermögend wie die des Earls, doch er war nicht in Wohlstand aufgewachsen.

Kieran, Finn und Dom erklommen die Stufen zur Eingangstür von Wingrave House, wo sie von Vickers, dem Hausdiener, in Empfang genommen wurden.

Kieran wurde es immer mulmiger zumute, wenngleich es eigentlich keinen Grund zur Sorge gab. Schließlich galt diese kleine Zusammenkunft nicht ihm, sondern Dom – er hatte seinen Freund ausgeliefert und somit seine Pflicht getan. Dennoch begleitete das ungute Gefühl der Vorahnung ihn durch die vertrauten Korridore seines Elternhauses. Er warf Finn an seiner Seite einen flüchtigen Blick zu, doch wenn sein Bruder sein Unbehagen teilte, wusste er es gekonnt zu verbergen.

Kieran beneidete seinen Bruder nicht um die Fähigkeit, seine wahren Gefühle zu verheimlichen. Anders als Finn verbrachte er den Großteil seiner Zeit nicht am Spieltisch, weshalb er gut ohne derartige Täuschungen auskam. Warum sollte er auch seine Emotionen im Zaum halten, statt das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen weidlich auszukosten?

Stimmen drangen aus dem Grünen Salon. Die sonoren Klänge seines Vaters vermischten sich mit den melodischen Tönen seiner Mutter, die ihre irische Herkunft verrieten, und dem derberen Ost-Londoner Zungenschlag von Ned Kilburn. Als Dom die Stimme seines Vaters vernahm, geriet er einen Augenblick lang ins Stocken, doch dann setzte er seinen Weg mit der grimmigen Entschlossenheit eines Mannes, der sich seinem Schicksal ergeben hatte, fort.

Kieran blieb auf der Türschwelle stehen. Der Earl stand mit steif hinter dem Rücken verschränkten Armen vor dem flackernden Kamin, und die Countess hatte, den üblichen Abstand zu ihrem Ehemann wahrend, auf dem Diwan Platz genommen. Weder seine Mutter noch sein Vater schickten sich an, ihn zu begrüßen, und mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass er sie seit dem Tag der Hochzeit nicht mehr gesehen hatte. Das allwöchentliche gemeinsame Abendessen hatte nicht stattgefunden, und auch ansonsten war nicht nach ihm verlangt worden.

„Vater“, grüßte Kieran, als er den Salon betrat. „Mutter.“

Der Earl kniff die Lippen zusammen und seine Miene verhärtete sich. Kierans Mutter neigte kaum merklich den Kopf, als er sie auf die Wange küsste, und mit einem Mal lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Er hatte noch nie ein sonderlich gutes Verhältnis zu seinen Eltern gehabt, doch nun schien die Distanz unüberwindbar wie nie zuvor.

„Mr. Kilburn.“ Kieran nahm die Anwesenheit des Mannes mit einem Kopfnicken zur Kenntnis.

Zur Antwort erhielt er nur ein mürrisches Grunzen, das ebenso von Dom hätte stammen können. Ned Kilburn mochte nicht mehr der Jüngste sein, doch seine Schultern waren breit wie ein Fels, und unter der teuren Kleidung eines erfolgreichen Geschäftsmannes ließ sich der Hafenarbeiter von früher noch immer unschwer erahnen. Kilburn hatte ein Vermögen damit gemacht, Lagerhäuser an Frachtunternehmen zu verpachten – den gesellschaftlichen Aufstieg seiner Familie hatte er harter Arbeit und außergewöhnlichem Ehrgeiz zu verdanken.

Der Mann bedachte erst Kieran und dann Finn mit einem finsteren Blick, doch als sein Sohn den Salon betrat, blitzten seine Augen gefährlich.

„Da“, grollte Dom.

Ned Kilburn gab erneut einen Grunzlaut von sich.

Kierans Blick fiel auf die Kristallkaraffe, die auf einem niedrigen Tisch an der Wand stand. Sie war gut gefüllt, und sein Vater schätzte einen edlen Tropfen, doch nun war nicht der richtige Zeitpunkt. Je schneller Kieran das Weite suchte, desto eher konnte er aufatmen.

„Ihr wolltet Dom und ihr habt ihn bekommen“, verkündete er. „Damit ist unser Teil getan. Nicht wahr, Finn?“ Er deutete eine Verbeugung an, doch sein mokantes Lächeln nahm der Geste jegliche Demut.

Als er und sein Bruder sich zum Gehen wandten, erschien Vickers auf dem Hausflur und schlug ihnen die Salontür vor der Nase zu. Kieran blieb jäh stehen. Auf eine derartige Dreistigkeit des Hausdieners war er nicht gefasst gewesen. Nicht, dass Kieran je ein Ausbund an Anstand und Schicklichkeit gewesen wäre, doch die Dienerschaft war ihm stets mit Respekt begegnet – auch nachdem Finn und er ihr Junggesellenquartier in der Stadt bezogen hatten.

Er öffnete die Tür und stieß prompt auf zwei massige Lakaien, die ihm den Weg versperrten.

Kieran fuhr herum. Die kalten Blicke seiner Eltern durchbohrten ihn. „Ihr habt uns eine Falle gestellt.“

„Dramatisch wie eh und je“, bemerkte sein Vater. „Aber nichtsdestotrotz hast du recht. Dachtest du wirklich, ihr kommt ungeschoren davon?“ Sein Ton war unnachgiebig. „Setzen, alle drei.“

Dom nahm folgsam auf einem Sessel Platz und Finn beanspruchte einen Diwan für sich, doch Kieran blieb an Ort und Stelle stehen. Er nahm eine selbstbewusste Haltung ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Augen seines Vaters verengten sich zu Schlitzen – ein Ausdruck von Missfallen, der Kieran nur allzu vertraut war.

„Das Gespann im Flur soll uns an der Flucht hindern“, sagte er gedehnt. „Derartige Einschüchterungstaktiken sehen dir gar nicht ähnlich, Vater.“

„Wer so weit geht, die Hochzeit der eigenen Schwester zu sabotieren, lässt mir keine Wahl“, schnappte der Earl und fixierte Kieran, Finn und Dom reihum mit einem finsteren Blick.

„Die ganze Stadt spricht über den Vorfall“, sagte die Countess spitz. „Wir mussten die Gäste glauben machen, der Bräutigam sei betrunken zu seiner eigenen Hochzeit erschienen, um Willas Ruf zu schützen und einen noch größeren Skandal zu vermeiden.“

Doms Miene blieb unverändert stoisch, doch ein Muskel in seinem Kiefer zuckte.

„Trotzdem ist es in aller Munde“, fuhr der Earl fort. „Wie euch sicher nicht entgangen ist.“

„Dort, wo ich verkehre, schert sich niemand um die Affären der feinen Gesellschaft“, bemerkte Kieran. Ihm war in der Tat nicht entgangen, dass die vornehmen Herrschaften auf der Straße einen weiten Bogen um ihn machten und hinter vorgehaltener Hand tuschelten, doch das war schließlich nichts Ungewöhnliches.

„Wir können uns glücklich schätzen, dass Lady Willa dich nicht wegen Bruchs des Eheversprechens verklagt“, fügte Mr. Kilburn an Dom gewandt hinzu. „Es wäre ihr gutes Recht. Stattdessen ist sie verreist, bis der Wirbel sich legt. Schlimm genug, dass wir nicht in den Adel geboren wurden – ein solcher Skandal rückt Menschen wie uns in ein schlechtes Licht.“

„Was zum Henker habt ihr euch nur dabei gedacht?“, fragte der Earl aufgebracht. „Einen Skandal von solch ungeheurem Ausmaß zu provozieren?“

„Und eurer Schwester solch furchtbares Leid zuzufügen?“, ergänzte die Countess mit einem scharfen Seitenblick auf ihren Ehemann.

„Und meinen Sohn zu einem so folgenschweren Fehler zu verleiten?“, fügte Mr. Kilburn hinzu.

„Ich habe meine eigenen Entscheidungen getroffen“, knurrte Dom.

„Zweifelsohne angestiftet von diesen beiden Missetätern“, sagte Mr. Kilburn bitter.

Ein Moment verstrich, bevor Kieran verstand, dass die Fragen nicht rhetorisch gemeint waren. Konfrontiert mit den anklagenden Blicken seiner Familie platzte er heraus: „Warum fragt ihr nicht Finn? Er ist der Ältere von uns.“

„Von ihm ist keine intelligente Antwort zu erwarten“, sagte sein Vater abschätzig. Obwohl seine Mutter höchst selten mit dem Earl einer Meinung war, nickte sie zustimmend.

Die verletzenden Worte seiner Eltern schienen Finn nicht zu beeindrucken, doch Kieran wusste, dass er den emotionslosen Ausdruck seines Bruders nicht für bare Münze nehmen durfte.

„Sprecht nicht so über Finn“, sagte er hitzig. Es erboste ihn, dass seine Eltern Finn wie einen einfältigen Narren behandelten.

„Lenk nicht ab“, erwiderte seine Mutter. „Wie konntest du Mr. Kilburn nur dabei helfen, deine eigene Schwester zu verschmähen?“

„Wir hielten es für das einzig Richtige.“ Er machte eine wegwerfende Geste. „Es war doch nicht zu übersehen, dass Willa und Dom früher oder später so enden würden, wie du und Vater. Das wollten wir um jeden Preis verhindern.“

Sein Vater lief rot an, und auch die Wangen seiner Mutter erröteten sichtlich.

Mit einem kurzen Seitenblick auf Mr. Kilburn sagte der Earl: „Unsere Ehe steht hier nicht zur Diskussion.“

Finn, dessen ausdrucksloser Blick ins Leere gerichtet war, lachte bitter auf, verkniff sich jedoch einen Kommentar.

„Offensichtlich war es ein Fehler, euch in der Vergangenheit so viele Freiheiten zu gewähren“, fuhr sein Vater fort. „Und nun ist eure Schwester die Leidtragende. Es ist dringend an der Zeit, dass wir nachholen, was wir in den letzten Jahren versäumt haben.“

Finn runzelte die Stirn. „Inwiefern?“

„Ihr werdet die Konsequenzen eures Handelns tragen“, sagte der Earl in dem ungeduldigen Tonfall, den er oft mit seinem zweiten Sohn anschlug. Er schritt vor dem Kamin auf und ab und seine Haltung duldete keinen Widerspruch. „Wir haben euch ein großzügiges Taschengeld gezahlt, weshalb ihr euch keine Anstellung suchen musstet. Offenbar haben wir verkannt, was für Taugenichtse unser nachlässiger Umgang mit euch hervorbringen würde. Damit ist jetzt Schluss. Ab sofort werden andere Erwartungen an euch gestellt.“

Bevor Kieran protestieren konnte, ergriff Mr. Kilburn das Wort: „Es ist ganz einfach. Um zu beweisen, dass ihr euch gebessert habt, müsst ihr nichts weiter tun, als zu heiraten.“

Ein ungläubiges Lachen entfuhr Kieran, und Finn fluchte leise. Dom saß wie festgefroren an seinem Platz.

„Und zwar nicht das erstbeste Weib, das euch bei eurem unziemlichen Treiben in die Arme läuft“, sagte die Countess. „Ihr werdet Damen von Stand heiraten. Das ist die Bedingung. Die Frau, die ihr ehelicht, muss gänzlich unbescholten und von einwandfreiem Charakter sein.“

Kieran konnte sich ein erneutes Lachen nicht verkneifen und erntete tadelnde Blicke von seinen Eltern.

„Ich, heiraten“, spottete er. „Wenn das ein Scherz sein soll, hat er sein Ziel verfehlt.“

„Wir scherzen keineswegs“, grollte Mr. Kilburn. „Finde eine anständige Ehefrau, oder dein Vater zahlt dir nicht einen einzigen Penny.“

Kierans Augen weiteten sich und er fuhr zu seinen Eltern herum. Ungläubig fragte er: „Ihr lasst uns auf dem Trockenen sitzen?“

„Ihr müsst lernen, dass euer Handeln ernste Folgen nach sich zieht“, entgegnete der Earl.

„Durch eine Zwangsheirat mit irgendeiner Debütantin?“ Er schüttelte fassungslos den Kopf. „Im Leben nicht.“ Eher würde er bei seinen Eltern in Ungnade fallen, als sich zu etwas nötigen zu lassen.

„Du willst also einen Beruf ergreifen?“, höhnte sein Vater. „Du bist siebenundzwanzig, Kieran. Welcher Fertigkeiten kannst du dich rühmen? Du tust nichts, als zu zechen und deinem Namen Schande zu machen. Oder glaubst du wirklich, du könntest deinen Lebensunterhalt von deinen albernen Gedichten bestreiten?“

„Ich bin wandlungsfähiger, als du es dir je vorstellen könntest, Vater“, erwiderte Kieran scharf. Es kostete ihn große Überwindung, nicht nach dem Notizbuch in der Tasche seines Gehrocks zu tasten, das seine jüngsten Verse enthielt. Das letzte solche Notizbuch, das sein Vater in die Finger bekommen hatte, war ohne Umschweife im Kaminfeuer gelandet.

„Zügle dich“, warnte seine Mutter.

„Verzeiht den Mangel an Zurückhaltung und Höflichkeit“, schnappte Kieran, „doch bisher waren Finn und ich eure Zeit nicht wert, und nun erwartet ihr, dass wir uns klaglos fügen?“

„Wir haben eure Eskapaden geduldet, aber diese Geduld ist nun am Ende“, sagte sein Vater. „Du und deine Geschwister haben mich gedrängt, mich aus meinen Geschäften in der Karibik zurückzuziehen, und ich bin eurem Wunsch gefolgt. Ihr habt darauf bestanden, dass ich die Abschaffung der Sklaverei befürworte, und auch das habe ich getan. Jetzt ist es an der Zeit, dass ihr etwas für mich tut.“

„Du denkst, ein Mindestmaß an Menschlichkeit zu fordern bedarf einer Entschädigung?“

Die Miene des Earls verfinsterte sich. „Das Leid, das ihr eurer Schwester zugefügt habt …“

„Das bereue ich“, murmelte Kieran.

„Ich bezweifle es“, sagte der Earl. „Du handelst leichtfertig und unbedacht, und damit ist jetzt Schluss. Ihr alle werdet anständige Ehefrauen finden. Ansonsten …“

Kieran wappnete sich. Mit welche Drohung glaubte sein Vater wohl, ihn zum Gehorsam zwingen zu können?

„… wird keiner von euch auch nur einen Cent erhalten“, vollendete Mr. Kilburn den Satz.

Er zuckte zusammen, als hätte ihm jemand einen Ellbogen ins Kreuz gerammt, und sah seine Eltern entgeistert an. Finn und Dom fluchten das Blaue vom Himmel herunter, doch Kieran nahm dies kaum zur Kenntnis.

„Sollte einer von euch dieser Forderung nicht nachkommen“, verkündete der Earl, „wird es euch alle treffen. Niemand wird euer Quartier bezahlen und eure Rechnungen begleichen. Der Zugang zu Wingrave House wird euch verwehrt. Darüber hinaus werdet ihr infolge meines Ablebens vom Erbe ausgeschlossen. Selbiges gilt für Dominic. Wenn Mr. Kilburn das Zeitliche segnet, wird er ihm kein Vermächtnis hinterlassen.“

In Kierans Kopf drehte sich alles. Er taumelte zum Diwan und ließ sich neben Finn in die Polster sinken. Es war eine Sache, sich seinen Eltern zu widersetzen, wenn nur er die Konsequenzen zu tragen hatte, aber etwas ganz anderes, seinen Bruder und seinen besten Freund in die Armut zu treiben.

Jenseits der Londoner Elite war die Welt weder bequem noch versöhnlich. Wen kümmerte es, ob man der dritte Sohn eines Earls war? Wer sich sein Brot nicht verdienen konnte, verreckte elendig. Könnte er damit leben, seinen Bruder in Armut versinken zu sehen? Könnte er Dom erneut zur Mittellosigkeit verdammen, nachdem sein Freund ihr so mühsam entkommen war?

„Respektable Heiratskandidatinnen finden sich nicht wie Sand am Meer. Und dort, wo solche Muster an Tugend üblicherweise verkehren, sind wir nicht willkommen.“

Er konnte sich kaum entsinnen, wann er zum letzten Mal auf einen Ball gegangen war – es musste fünf Jahre oder länger her sein, und die Zeit und der Alkohol, dem er am fraglichen Abend reichlich zugesprochen hatte, trübten seine Erinnerung. Er entsann sich dunkel, eine Wette mit Finn abgeschlossen zu haben, die sich um die Entführung einer Topfpflanze aus dem Ballsaal drehte, doch leider wusste er nicht mehr, ob er besagte Wette gewonnen oder verloren hatte. Finn wusste die Antwort ohne Zweifel. Sein Bruder hatte ein hervorragendes Gedächtnis.

„Eure erste Aufgabe besteht darin, euren guten Ruf wiederherzustellen“, sagte seine Mutter. „Wenn du deine Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellen willst, Kieran, ist das die ideale Gelegenheit.“

„In der Zwischenzeit“, sagte Mr. Kilburn zu Dom, „ziehst du zurück nach Hause. Mit diesen Tunichtguten unter einem Dach zu leben war das Schlimmste, das dir passieren konnte.“

Dom brummelte etwas und sein Kiefer mahlte, doch er erhob keine Einwände.

„Sollen wir ebenfalls ins Nest zurückkehren?“, fragte Kieran spöttisch.

Der Earl schnaubte wenig würdevoll. „Und die Rückkehr eurer Schwester unnötig aufschieben? Solange ihr Strolche euch hier herumtreibt, wird sie sich hüten, auch nur einen Fuß in dieses Haus zu setzen. Ihr könnt in der Henrietta Street bleiben … fürs Erste.“

Kieran verspürte einen Anflug von Reue. Er hatte wirklich geglaubt, dass Finn und er in Willas Sinne gehandelt hatten, damit sie und Dom nicht dasselbe Schicksal ereilte, wie ihre Eltern. Doch offensichtlich war Willa anderer Meinung. Sollte er ihr einen Brief schreiben, selbst wenn dieser aller Wahrscheinlichkeit nach ungelesen im Feuer landen würde?

„Und wie viel Zeit bleibt uns, dieses Ultimatum zu eurer Zufriedenheit zu erfüllen?“, fragte Finn. „Zwei Jahre? Drei?“

„Zwölf Monate vom heutigen Tag an gerechnet“, antwortete der Earl kühl.

Kieran sprang auf. „Unmöglich. In einem Jahr vom Paria des ton zum rechtschaffenen Ehemann? Wie stellst du dir das vor, Vater?“

„Betrachte es als notwendigen Ansporn“, sagte seine Mutter und trommelte mit den Fingern auf den reich verzierten Tisch.

Sein Blick wanderte zu Finn, der resigniert mit den Schultern zuckte. Dom verzog den Mund, als wollte er sagen: Welche Wahl haben wir?

Kieran packte die kalte Wut, doch seine Eltern und Mr. Kilburn erwiderten seinen aufgebrachten Blick mit unerbittlichem Ernst. Er könnte toben und wettern und den Grünen Salon verwüsten – es würde keinen Unterschied machen.

Er musste der bitteren Wahrheit ins Gesicht sehen. Es gab keinen denkbaren Ausweg. Sie alle drei mussten binnen eines Jahres anständige Ehefrauen finden, wenn sie nicht alles verlieren wollten.

Unglücklicherweise fiel ihm nur eine untadelige junge Dame ein: Doms Schwester, die ganz und gar sittsame Miss Celeste Kilburn. Von ihrem flüchtigen Zusammentreffen am Tag der missglückten Hochzeit einmal abgesehen, hatten sich ihre Wege in den letzten Jahren höchst selten gekreuzt. Sie verkehrten in völlig verschiedenen Kreisen, und ein Treffen mit ihr zu arrangieren würde strategisches Geschick und List erfordern.

Welch Ironie, dachte Kieran, dass mein Mangel an Anstand mir in diesem Fall zugutekommt.

3. KAPITEL

Celeste Kilburn hatte das ständige Einkaufen satt.

Ihr war schmerzlich bewusst, dass sie dankbar sein sollte. Zu gut erinnerte sie sich an die Jahre in Ratcliff und die vielen Nächte, in denen sie hungrig ins Bett gegangen war, weil sie zu viert mit einer Pastete auskommen mussten. Noch immer konnte sie den kalten Boden der kleinen Wohnung unter den Füßen spüren – das Geld hatte nicht für zwei Paar neue Schuhe gereicht, und Dom, der mit Da in den Docks arbeitete, während Celeste zu Hause blieb und Ma mit der Flickwäsche zur Hand ging, hatte das Schuhwerk nötiger als sie.

Elf Jahre, nachdem ihre Familie jene ärmlichen Verhältnisse hinter sich gelassen hatte, besaß Celeste mehr Paar Schuhe, als sie zählen konnte. Stiefeletten aus weichem Ziegenleder und mit Satinband verzierte Tanzschuhe, die so empfindlich waren, dass sie bereits nach dem ersten Tragen auseinanderfielen, nahmen ungebührend viel Platz in ihren Schränken ein.

Da bestand darauf, dass sie die Geschäfte in der Bond Street zwei Mal in der Woche frequentierte. Nun stand sie also am Ladentisch, an dem sie soeben ein weiteres, überflüssiges Paar Schuhe erstanden hatte, und wartete darauf, dass man es ihr einpackte.

„Was haben Sie heute erworben, Miss Kilburn?“, erklang hinter ihr eine vornehme Stimme.

„Nichts von Bedeutung, Lady Jarrett.“ Celeste setzte ein höfliches Lächeln auf und wandte sich der Baroness zu.

„Stillen Sie meine Neugierde.“ Es waren freundliche Worte, doch der Blick der älteren Dame war berechnend.

Celeste musste sich sehr beherrschen, um keine Miene zu verziehen. „Bitte zeigen Sie Lady Jarrett meinen Kauf“, wies sie den Verkäufer an.

Folgsam nahm der Mann die Schuhe aus ihrer Schachtel, sodass Lady Jarrett sie begutachten konnte.

Die Baroness entnahm ihrem Retikül eine Lorgnette, durch die sie Celestes Auswahl eingehend studierte. Celeste zwang sich, gleichmäßig zu atmen, und gab vor, die Ruhe selbst zu sein. Lady Jarrett zählte zu den einflussreichsten Damen des ton und ihr Urteil hatte Gewicht. Was, wenn sie ihren Kauf für ungenügend befand?

„Eine angemessene Wahl. Der blaue Satin mit den cremefarbenen Schleifen ist äußerst geschmackvoll.“ Celeste atmete erleichtert auf. „Ich muss Ihre zurückhaltende Farbwahl loben. Ein wohltuender Kontrast zu dem grellen Schuhwerk, das Miss Findlay vergangene Woche auf Lord Ashfords Ball zur Schau trug.“ Die Baroness erschauerte.

Die Botschaft war eindeutig: Die Findlays hatten ihr Vermögen mit Wandbekleidung gemacht. Ebenso wie die Kilburns waren sie nicht adeliger Herkunft, was bedeutete, dass die Londoner Elite ihnen selbst den kleinsten Fehltritt nur schwer verzieh. Die prüfenden Blicke des Hochadels machten auch vor Nichtigkeiten wie Eliza Findlays Schuhwahl nicht halt.

Ursprünglich hatte Celeste den blauen Satinstoff ihrer Schuhe mit pfirsichfarbenen Schleifen kombinieren wollen. Nun war sie froh, sich für gedecktere Farben entschieden zu haben.

„Ich hoffe, sie werden auch dann noch Ihre Anerkennung finden, wenn ich sie zu Lord Hempnalls musikalischer Soiree trage.“

„Sofern die Wahl Ihres Kleides stimmig ist“, entgegnete Lady Jarrett mit einem kühlen Lächeln, ehe sie sich dem Verkäufer zuwandte. „Ich habe ebenfalls eine Bestellung in Auftrag gegeben.“

„Natürlich, Mylady.“ Der Mann überließ es einem Gehilfen, Celestes Kauf fertig zu verschnüren, und führte die Baroness zu einem schmuckvoll vergoldeten Polsterstuhl.

„Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag, Lady Jarrett“, sagte Celeste, sobald der Ladengehilfe die Einkäufe ihrem wartenden Lakaien überreichte. „Es war mir wie immer eine Freude.“ Sie altes Schrapnell.

Die Baroness hob zum Abschied die Hand, ohne zu ihr aufzublicken.

Celeste trat hinaus auf die Straße und ihr Dienstmädchen folgte ihr auf dem Fuße. Der Lakai, der ihre Pakete unter dem Arm trug, bildete die Nachhut. Begegnungen mit Lady Jarrett zehrten stets an den Nerven, und beim Gedanken daran, ihre neuen Schuhe zu tragen, empfand Celeste nichts als Gleichgültigkeit.

Was war der Sinn und Zweck des Ganzen? Was würden ihre letzten Worte sein, wenn sie auf dem Sterbebett die letzte Ölung empfing? Ich schwang nie am Trapez und hatte keine stürmische Liebesaffäre, aber wenigstens besaß ich für jeden Tag ein anderes Paar Schuhe?

Inmitten des emsigen Treibens auf der Pall Mall hielt sie inne und kniff die Augen zusammen.

„Miss Kilburn, es ist schon fast ein Uhr. Madame Jacqueline erwartet uns mit hinreißenden Kleidern und dem neuesten Klatsch und Tratsch.“

Celeste öffnete die Augen und blickte in das geduldige Gesicht von Dolly, ihrem Dienstmädchen. Dolly begleitete sie schon, seit sie vor einigen Jahren vom Töchterpensionat zurückgekehrt war, und verstand es wie keine Zweite, Celestes Gefühlslage zu durchschauen.

„Nicht, dass Ihnen etwas an Tratsch liegt, Miss“, fügte Dolly trocken hinzu.

„In Ermangelung meiner eigenen Skandale muss ich mich mit denen anderer begnügen“, gab Celeste zurück, und schlug schnellen Schrittes den Weg zur Damenschneiderei ein. Es war in der Tat schon fast ein Uhr, und sich zu verspäten mochte als noch so schick gelten – Celeste konnte sich beim besten Willen nicht dazu durchringen. Erst recht nicht, wenn es die arbeitende Bevölkerung betraf. Achtlos über die wertvolle Zeit anderer zu verfügen war ihr zuwider. Zum Glück versuchte Dolly schon lange nicht mehr, sie zur Unpünktlichkeit zu verleiten.

„Ihr Bruder sorgt schon für genug Aufsehen“, sagte das Dienstmädchen, das neben ihr hereilte.

„Mit reichlich Unterstützung von den Ransome-Brüdern.“ Obwohl keiner der beiden Brüder zu dieser Uhrzeit auf der Pall Mall anzutreffen sein würde, senkte Celeste die Stimme. Finn und Kieran Ransome scherten sich nicht um Tratsch – die Klatschblätter berichteten oft genug von ihren pikanten Abenteuern – doch es sollte ihnen nicht zu Ohren kommen, dass die Schwester ihres besten Freundes Geschichten über sie verbreitete.

Auch, wenn es ihnen vermutlich gleichgültig wäre. Insbesondere Kieran.

Wenn sie nur seinen Namen dachte, verspürte Celeste ein Flattern im Bauch, ein Umstand, der völlig absurd war. Die wenigen Male die sie ihm begegnet war, hatte Doms Freund sie kaum zur Kenntnis genommen, von einem höflichen Nicken und einem respektvollen „Miss Kilburn“ einmal abgesehen. Zwar versetzte sein offenkundiges Desinteresse an ihrer Gesellschaft ihr einen Stich, doch wenn man es recht betrachtete, war es zu ihrem Besten. Skandal und Empörung folgten Kieran Ransome auf Schritt und Tritt, und ihre Familie hatte alles dafür getan, dass Celestes Ruf über jeden Tadel erhaben war.

Leider Gottes.

Besuche bei Madame Jacqueline waren allgemein dafür bekannt, die Stimmung zu heben, und als die Schneiderei in Sicht kam, gab Celeste sich alle Mühe, die trüben Gedanken zu vertreiben.

Die Türglocke erklang und der Duft von Rosenwasser empfing sie, als sie den Laden betrat. I...

Autor

Eva Leigh
Wenn Eva Leigh nicht an einer ihrer packenden Romances schreibt, in denen sie die Zeit des Regency lebendig werden lässt, widmet sie sich ihren Hobbys: Sie liebt es zu backen, zu viel Zeit im Internet zu verbringen und Musik aus den 80ern zu hören. Zusammen mit ihrem Ehemann lebt Eva...
Mehr erfahren