Bleib bei mir, geliebte Nicole!

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Die hübsche Anwältin Nicole lässt Fletchers Herz spontan höherschlagen. Doch obwohl sie seine zärtlichen Küsse erwidert, scheint ihr Glück ohne Zukunft: Sie ist nur vorübergehend in der Stadt, um für ihre Neffen da zu sein. Wie kann er sie zum Bleiben bewegen?


  • Erscheinungstag 13.02.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751521413
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ungeduldig schritt Nicole Campos auf der Veranda auf und ab. Sie wartete auf einen Automechaniker, weil ihr SUV nicht ansprang. Zu jeder anderen Zeit wäre sie nicht so angespannt gewesen, aber an diesem Morgen musste sie zu einer Anhörung vor dem Gericht des Johnson County erscheinen. Es ging um ihre Neffen.

Vor zwei Monaten hatte sie vorübergehend die Vormundschaft für den sechsjährigen Luke und den achtjährigen Daniel übernommen, nachdem deren Vater eingewilligt hatte, wegen seiner Opiatabhängigkeit für sechs Monate in eine Entzugsklinik zu gehen. Es hatte Wochen gedauert, bis ihr Bruder die Dokumente unterschrieb, die ihr für diesen Zeitraum die Vollmacht über seine Finanzen und das Sorgerecht für seine Söhne erteilten.

Ein Motorengeräusch ließ sie aufblicken. Ein schwarzer Pick-up mit der Aufschrift „Austen Auto & Sons“ hielt neben ihrem Toyota Pathfinder. Jesse Austen war schon seit Jahrzehnten der Inhaber der einzigen Reparaturwerkstatt in Wickham Falls.

Nicole trat im selben Moment von der Veranda, als der Fahrer ausstieg. Ihr stockte der Atem. Am Telefon hatte es geheißen, dass einer der Chefs sich um ihren Wagen kümmern würde.

Siebzehn Jahre lag es zurück, dass sie Fletcher Austen zum letzten Mal gesehen hatte – am Tag des Highschool-Abschlussballs. Was er Wochen zuvor zu ihr gesagt hatte, war für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Sie musste zugeben, dass die Zeit es ausnehmend gut mit ihm gemeint hatte. Fletcher war noch viel attraktiver als damals, als ihre Klasse ihn zum am besten aussehenden Sportler der Schule gewählt hatte. Seine großen braunen Augen mit den bernsteinfarbenen Sprenkeln schienen amüsiert zu funkeln, sein Gesicht war schmal und ebenmäßig, und seine glatte Haut erinnerte in der Farbe an goldbraunes Herbstlaub.

„Fletcher, was machst du hier?“

Nicole erkannte ihre eigene Stimme nicht wieder, weil sie auf einmal eine Oktave tiefer klang. Auch nach so vielen Jahren fühlte sie sich offensichtlich immer noch sehr zu ihm hingezogen.

Er verschränkte die muskulösen Arme vor der Brust und neigte den Kopf. „Das Gleiche sollte ich dich fragen, Nikki. Wie geht es dir?“

Sie lächelte schwach. „Ich nehme jeden Tag wie er kommt, seit ich mich um meine Neffen kümmere.“

Damit meinte sie, dass sie ihre eigenen Interessen zurückstellte. Sie stand früher auf als gewöhnlich, um das Frühstück vorzubereiten und dafür zu sorgen, dass die Kinder fertig waren, wenn der Schulbus kam. Nachmittags kontrollierte sie Hausaufgaben oder fuhr die Kinder zu ihren Therapiestunden. Außerdem hatte sie einen befristeten Teilzeitjob in der Anwaltskanzlei von Preston McAvoy angenommen.

Mehr noch als über das Auto, das nicht anspringen wollte, ärgerte sie sich über die Aufforderung, vor Gericht zu erscheinen in einer Angelegenheit, die man einfach in einem Gespräch hätte klären können. Die Schwiegereltern ihres Bruders wollten das Besuchsrecht einklagen, das Nicole ihnen auch ohne Einschaltung des Gerichts gewährt hätte. Sie wusste, dass die Großeltern aus finanziellen Gründen gern die Vormundschaft für ihre Enkel übernommen hätten. Als Football-Trainer am College bezog Nicoles Bruder Reggie ein mittleres sechsstelliges Gehalt. Er hatte sich ihr gegenüber oft beklagt, dass er sich wie ein Goldesel für die Familie seiner Frau vorkam. Deshalb hatte Nicole ihn überzeugt, seine Geldangelegenheiten bis zu seiner Rückkehr von ihr regeln zu lassen.

Der Tag, an dem ihr Bruder und seine Frau Melissa in einem Schneesturm mit dem Auto verunglückt waren, hatte Nicoles Leben für immer verändert. Ihre Schwägerin, im fünften Monat schwanger mit ihrem dritten Kind, war noch am Unfallort gestorben. Reggie war per Rettungshubschrauber ins Krankenhaus nach Charleston, die Hauptstadt des Bundesstaates, geflogen worden – mit Beinbrüchen, Kopfverletzungen und gebrochenen Wirbeln.

Nach einigen Wochen war Reggie in eine Reha-Klinik verlegt worden. Seine chronischen Schmerzen hatten zu einer Abhängigkeit zuerst von Schmerzmitteln, dann von Heroin geführt. Monate später, als Nicole erkannte, wie schlimm es um ihn stand, hatte sie mithilfe ihrer Eltern einen Therapieplatz für ihn organisiert. Sie hatte ihre Stelle in einer Anwaltskanzlei in Miami gekündigt, ihre Stadtwohnung verriegelt und war nach West Virginia zurückgekehrt.

„Es tut mir sehr leid, was deiner Familie zugestoßen ist.“

Nicole nickte. „Danke, Fletcher.“

Er ließ die Arme sinken. „Was ist mit deinem Auto?“

Nicole hob die Schultern unter der Kostümjacke. „Es springt nicht an“, antwortete sie, dankbar, dass er das Thema gewechselt hatte.

Er setzte sich in ihren Wagen und stellte den Sitz auf seine langen Beine ein. „Das Radio funktioniert, also liegt es nicht an der Batterie“, erklärte er.

Nicole trat einen Schritt zurück, als er ausstieg und die Motorhaube öffnete. Dabei versuchte sie, nicht darauf zu achten, wie die schmal geschnittene Jeans seinen Po umschmiegte, während er sich vorbeugte. Er hatte die Ärmel seines Arbeitshemds aufgekrempelt und zeigte starke Handgelenke und tätowierte Unterarme. Als er die Arme vor der Brust verschränkt hatte, hatte der Stoff über seinen Muskeln gespannt. Früher war er groß, schlaksig und ein unfassbar schneller Läufer gewesen.

Jetzt, mit fünfunddreißig, schien er das Monopol auf Männlichkeit gepachtet zu haben. Er war ein paar Zentimeter gewachsen, sein Oberkörper war breit und muskulös geworden. Nicole wusste, dass er einige Sportstipendien angeboten bekommen, aber alle abgelehnt hatte, um in die Armee einzutreten. Zwei Monate nach dem Highschool-Abschluss hatte er die Grundausbildung im Fort Bening in Georgia begonnen, während sie ihre Offiziersausbildung in einem speziellen Programm der Navy und des Marine Corps an der Universität von Virginia anfing.

Nicole schaute auf ihre Armbanduhr. Falls Fletcher den Wagen nicht in Gang bringen konnte, musste sie sich ein Taxi aus dem Nachbarort Mineral Springs rufen. Sie hatte nie verstanden, warum es keine Taxifahrer in Wickham Falls gab.

Fletcher richtete sich auf und schloss die Haube. „Die Kabel und Schläuche scheinen intakt zu sein, deshalb kann ich auf Anhieb nicht sagen, was los ist. Der Wagen muss abgeschleppt werden, damit wir ihn in der Werkstatt an ein Diagnosegerät anschließen können.“

Nicole strich über ihr kurzes Haar und fluchte leise. „Das kann doch nicht wahr sein.“ Sie sah wieder auf die Uhr. Noch knapp dreißig Minuten bis zum Gerichtstermin. „Lass ihn abschleppen, Fletcher.“

„Wo willst du hin?“, fragte er, als sie sich umdrehte, um ins Haus zu gehen.

„Ich muss mir ein Taxi rufen. Um halb zehn muss ich am Familiengericht sein.“

„Vergiss das Taxi. Ich bringe dich hin.“

Nicole blieb stehen und wandte sich zu Fletcher um. „Das musst du nicht tun.“

Er lächelte, wodurch er ihren Blick auf das Grübchen in seiner rechten Wange lenkte. „Doch, das muss ich. Es ist das Mindeste, das ich als Entschuldigung anbieten kann für das, was ich damals auf der Schule zu dir gesagt habe.“

Sie wollte ihm entgegnen, dass es wohl kaum etwas gab, womit er die verletzenden Worte entschuldigen könnte. Worte, die sie – mit siebzehn – an ihrem Aussehen und ihrer Weiblichkeit hatten zweifeln lassen, verglichen mit den glamouröseren Mädchen, die Designermode trugen und ständig zum Friseur und ins Nagelstudio gingen. Es hatte Jahre gedauert, bis sie erkannte, dass ihr Wert nicht darin bestand, wie sie aussah oder was sie anhatte, sondern was sie erreichte.

„Du musst das wirklich nicht tun“, wiederholte sie.

Er zog ein Tuch aus der Hosentasche und wischte sich die Hände ab. „Doch, das muss ich, Nicole. Wenn wir noch lange hier stehen bleiben und darüber diskutieren, wirst du dich garantiert verspäten.“

Daran, dass er sie Nicole statt Nikki genannt hatte, merkte sie, dass er es ernst meinte. Außerdem hatte er recht. Selbst wenn sie sich ein Taxi bestellte, könnte es lange dauern, bis man ihr eins schickte. „Okay. Ich muss noch meine Tasche aus dem Auto holen.“

Fletcher nickte. „Ich rufe in der Werkstatt an und lasse den Wagen abschleppen.“

Während er zur Beifahrerseite des Pick-ups ging und die Tür öffnete, holte Nicole ihre Tasche. Sie hatte gerade ihren Bleistiftrock hochgerafft, um leichter einsteigen zu können, da umfasste Fletcher ihre Taille und hob sie in den Sitz.

Ihre Blicke trafen sich. „Danke.“ Nicole hatte die Kraft seiner Hände gespürt, als er sie mühelos hochgehoben hatte.

Sie stellte die Tasche zwischen ihre Füße und schnallte sich an. Fletcher telefonierte kurz, bevor er sich hinters Steuer setzte.

Fletcher startete den Wagen und fuhr rückwärts aus der Einfahrt. „Ich habe dein Auto nicht abgeschlossen und Billy gesagt, dass der Schlüssel unter der Matte vorm Fahrersitz liegt.“ Er warf Nicole kurz einen Blick zu.

Nach ihrem Anruf hatte er zu seinem Vater gesagt, dass er sich selbst um ihren Wagen kümmern würde. Normalerweise hätte einer der beiden angestellten Mechaniker diese Aufgabe übernommen, aber Fletcher wollte die Gelegenheit nutzen, sich bei Nicole für etwas zu entschuldigen, das er vor mehr als siebzehn Jahren zu ihr gesagt hatte.

Er fand sie damals sehr hübsch mit ihren feinen Gesichtszügen und dem milchkaffeefarbenen Teint. Manchmal hatte sie ihn mit großen braunen Augen angesehen, deren Ausdruck viel zu weise schien für jemanden, der so jung war. Ihr Haar hatte sie immer zu einem Pferdeschwanz oder Zopf zusammengebunden und höchstens Lipgloss aufgelegt. Die Frau, die jetzt neben ihm saß, war jedoch gereift. Dezentes Make-up betonte ihre Vorzüge: ihre Augen und ihre vollen Lippen. Der freche Pixie Cut war die perfekte Frisur für ihr zartes Gesicht.

Fletcher zwang sich, auf die Straße zu schauen, statt immer wieder verstohlene Blicke auf Nicoles Beine in dem enganliegenden schwarzen Rock zu werfen, zu dem sie eine weiße Hemdbluse und einen Blazer trug. Er hatte Nicole manchmal von Weitem mit ihren Neffen in der Stadt gesehen, sich aber gescheut, zu ihr zu gehen, weil ihm der Zeitpunkt nie der richtige zu sein schien.

Die Nachricht von dem Unfall eine Woche vor Weihnachten, bei dem Reggie Campos schwer verletzt wurde und seine junge Frau ums Leben gekommen war, hatte sich schnell in Wickham Falls verbreitet. Die Einwohner waren zusammengekommen, um der Familie beizustehen in einer Zeit, die eigentlich die freudigste des ganzen Jahres sein sollte.

„Wie lange wirst du in The Falls bleiben?“, fragte Fletcher, als er an einer großen Kreuzung anhalten musste.

Nicole drehte sich zu ihm um. „Bis Ende Januar oder Anfang Februar. Bis dahin wird Reggie seinen Entzug hoffentlich erfolgreich überstanden haben.“

Fletcher nickte. Es war Ende August, demnach würde sie mindestens noch fünf Monate in West Virginia bleiben. „Dann gehst du nach Florida zurück.“

„Ja“, bestätigte Nicole. „Miami ist jetzt mein Zuhause.“

Er trat aufs Gaspedal und bog in eine zweispurige Straße ein. „Also gefällt dir das Leben in Miami?“

„Ja“, antwortete sie lächelnd. „Ich habe mich an die Hitze im Sommer und die Feuchtigkeit gewöhnt, und ich liebe das Essen und die Lebendigkeit der Stadt.“

Fletcher nahm seine Sonnenbrille von der Konsole und setzte sie auf. „Das sind vermutlich genug Gründe, nicht dauerhaft hierher zurückzukehren. Was ist mit deinem Job?“

„Ich werde mich nach einer neuen Stelle umsehen müssen, wenn ich zurück bin. Meinen Anspruch auf Sonderurlaub hatte ich ausgeschöpft, und die Senior-Partner der Kanzlei wollten mir keine weitere Freistellung gewähren. Solange ich hier bin, arbeite ich für Preston McAvoy. So habe ich etwas zu tun, während die Kinder in der Schule sind.“

„Ich war überrascht, als ich im Newsletter unserer Schule las, dass du das Corps verlassen hast, um Jura zu studieren.“

„Ich hatte mir vor meinem letzten Einsatz geschworen, wenn ich den überlebe, dann quittiere ich den Dienst. Warum hast du aufgehört?“, fragte Nicole.

„Ich wollte eigentlich mein ganzes Berufsleben Soldat sein und erst zurückkommen, um meinen Bruder in der Werkstatt zu unterstützen, wenn Pop sich zur Ruhe setzt. Doch dann wurde ich verwundet und musste aus medizinischen Gründen aus der Army ausscheiden. Inzwischen hatte mein Bruder beschlossen, dass er lieber auf einer Bohrinsel statt in einer Autowerkstatt arbeiten möchte. Aus dreißig Jahren Militärdienst, wie ich es geplant hatte, wurden so noch nicht mal zwanzig.“

Fletcher schaute geradeaus. „Die Ärzte konnten mein Bein retten. Durch die Narben sieht es wie eine Landkarte aus, und ich hinke, wenn ich mich überanstrengt habe, aber ich bin besser dran als viele meiner Freunde, die ein Bein oder gar beide Beine verloren haben.“ Er hörte, wie Nicole leise nach Luft schnappte.

Als Medical Sergeant der Special Forces war er verantwortlich für die Erstversorgung der Verwundeten in seiner Einheit gewesen, bis ein Granatsplitter sein rechtes Bein durchschlagen hatte. Er hatte es noch geschafft, zwei seiner Kameraden in Sicherheit zu bringen, bevor er mit einem Schock zusammenbrach. Als er über zwölf Stunden später in Deutschland im Landstuhl Regional Medical Center aufwachte, hieß es, dass er sein Bein verlieren könnte. Er wurde in die Staaten geflogen und dort ins San Antonio Military Medical Center eingeliefert. Nach vier Operationen war er schließlich aus dem Krankenhaus gehumpelt – an Krücken und mit der Erkenntnis, dass seine militärische Karriere zu Ende war.

Doch Fletcher wollte nicht über seine Zeit in der Armee reden. Er hatte etwas bei Nicole wiedergutzumachen. Damals hatte er nicht den Mut gehabt, sich bei ihr zu entschuldigen. „Es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe, als du meine Einladung zum Abschlussball abgelehnt hast. Es war völlig daneben.“

Ein Herzschlag verging. „Das ist Geschichte, Fletcher. Ich bin darüber hinweg.“

Er löste den Blick ein paar Sekunden von der Straße. Nicole saß regungslos da, und ihre Stimme hatte unbeteiligt geklungen. „Vielleicht ist es für dich erledigt, aber nicht für mich, Nikki. Als ich monatelang im Krankenhaus lag, hatte ich viel Zeit, über mein Leben nachzudenken. Über das, was ich getan und gesagt habe.“

„Du hast gesagt, was du damals gedacht hast“, erwiderte Nicole leise. „Mein Vater sagt immer, was aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen.“

Fletcher grinste leicht. Richter Andrew Campos war bekannt für die Sprüche, die er den Angeklagten mit auf den Weg gab, bevor er ein Urteil fällte oder ein Bußgeld verhängte. „Damit hat er recht. Ich kann meine Worte nicht zurücknehmen, aber ich weiß, dass ich nur aus Unreife und Eifersucht gegen dich ausgeteilt habe.“

„Vergiss dein verletztes Ego nicht“, fügte Nicole hinzu.

Fletcher hatte es damals als unangenehm und zugleich schmeichelhaft empfunden, wenn Mädchen ihn mehr oder weniger offensichtlich anhimmelten. Nicole und er hatten teilweise dieselben Kurse besucht und bei einigen Projekten zusammengearbeitet. Aber erst drei Wochen vor dem Abschlussball hatte er sich entschieden, mit wem er dorthin gehen wollte, und Nicole gefragt. Ihre Antwort aber war Nein gewesen, und ein Teil von ihm hatte ihre Zurückweisung nicht akzeptieren können.

Zu der Zeit war Fletcher sehr von sich überzeugt. Nicht nur weil er ein überdurchschnittlich guter Schüler und allseits beliebt war, sondern auch ein Star auf dem Footballfeld. All das stieg ihm damals ganz schön zu Kopf. Erst als er älter und reifer geworden war, hatte er erkannt, dass sein Benehmen Nicole gegenüber unverzeihlich gewesen war.

Er gestand sich die Wahrheit ein. „Du hast recht. Hauptsächlich ging es um mein verletztes Ego.“

Nicole wollte keine alten Geschichten aufwärmen, aber da sie vielleicht noch sechs Monate in Wickham Falls bleiben und Fletcher in der Zeit vermutlich noch öfter begegnen würde, sollten sie sich aussprechen. „Du warst so daran gewöhnt, dass die Mädchen sich geradezu überschlugen, um dich auf sie aufmerksam zu machen, dass du nicht akzeptieren konntest, dass ich nicht mit dir zum Abschlussball gehen wollte.“

„Es war nicht nur das, Nikki.“

Sie schaute ihn an. „Was denn noch?“

„Dein Vorwurf, dass ich mit mehreren Cheerleaderinnen gleichzeitig etwas hätte. Nur zu deiner Information, ich habe nie mit einem Mädchen geschlafen, das auf unsere Schule ging.“

Nicole erstarrte. „Wenn das so war, warum hast du dann gesagt: ‚Was ist los, Nikki? Bist du eifersüchtig, weil ich dich nicht gefragt habe, ob du mit mir schlafen willst?‘“

Fletcher schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Du weißt es nicht. Hast du mich so unattraktiv gefunden, dass du dir nicht vorstellen konntest, mit mir ins Bett zu gehen?“

„Nein, nein“, versicherte er schnell. „Es war genau das Gegenteil. Ich hielt dich immer für eins der klügsten und hübschesten Mädchen an der Schule, aber ich traute mich wegen deines Vaters nicht an dich heran.“

Sie sah ihn an, als ob er den Verstand verloren hätte. Andrew Campos war Richter in Wickham Falls gewesen, bevor er ans Strafgericht in Charleston berufen wurde. „Was hatte mein Vater mit all dem zu tun?“

Fletcher schwieg einen Moment, bevor er erwiderte: „Hast du dich nie gefragt, warum die meisten Jungs nicht mit dir geredet haben?“

„Nein. Warum haben sie es nicht getan?“

Er grinste. „Sie hatten Angst vor Richter Campos.“

Ihr verschlug es kurz die Sprache. „Willst du damit sagen, dass sie meinen Vater als eine Art Monster betrachtet haben?“

„Nicht als Monster, Nikki. Nur als jemanden, mit dem sie nichts zu tun haben wollten, falls du behaupten solltest, dass sie versucht hätten, die Situation auszunutzen.“

„Das ist absurd. Und du hattest keine Angst vor ihm, als du mich zum Abschlussball eingeladen hast?“

Sein Grinsen wurde breiter. „Nein, weil ich dachte, dass es hoffentlich nicht das letzte Mal sein würde, dass ich dich um ein Date bitte. Außerdem hätte ich nichts getan, das du nicht gewollt hättest.“

„Wie mit mir zu schlafen?“

„Ich habe es dir schon einmal gesagt, ich habe mit keinem Mädchen an unserer Schule geschlafen, und ich hatte nicht vor, mit dir anzufangen.“

Nicole war ein wenig erleichtert, dass er sie nicht als Trophäe mit dem Titel „Tochter des Richters“ betrachtet hatte, mit der er vor seinen Freunden hätte prahlen können. Außerdem stimmte es – die meisten Jungs hatten tatsächlich kaum mit ihr geredet. Ihr bester Freund war der Junge von gegenüber gewesen, der sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlte, aber Angst davor hatte, sich dazu zu bekennen. Sie war die perfekte Tarnung für ihn gewesen.

„Danke für deine Ehrlichkeit.“ Sie lächelte schwach.

„Heißt das, dass du meine Entschuldigung annimmst?“

„Wie ich schon gesagt habe, es ist Geschichte, Fletcher.“

„Das ist weder ein Ja noch ein Nein, Nikki.“

Sie wandte sich ab und starrte aus dem Seitenfenster. Wenn Fletcher Absolution brauchte, sollte er sie haben. „Ja, Fletcher, ich verzeihe dir.“

Sie hakte das Thema innerlich ab und konzentrierte sich auf die bevorstehende Auseinandersetzung mit den Schwiegereltern ihres Bruders. Mittlerweile verstand sie Reggie, der sich bei ihr über die beiden beklagt hatte, wenn er wieder einmal Schecks ausgestellt hatte, damit sie ihre Rechnungen bezahlen konnten.

„Genießen deine Eltern ihren Ruhestand?“

Fletchers Frage riss Nicole aus ihren Gedanken.

Nachdem ihre Eltern in Rente gegangen waren, hatten sie ihr Haus Reggie und Melissa als Hochzeitsgeschenk überschrieben. Sie lächelte. „Oh ja. Sie leben in einer bewachten Wohnanlage mit allen Annehmlichkeiten, die man sich nur wünschen kann.“ Ihr Lächeln schwand. „Aber wenn Mom über Reggie spricht, wird sie traurig. Sie betet jeden Tag, dass er die ersten neunzig Tage ohne Rückfall übersteht.“ Ihr Bruder hatte es geschafft, seine Sucht vor den Menschen in The Falls zu verbergen, bis er mit einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

„Darf sie ihn besuchen?“, fragte Fletcher.

„Nein.“

„Ist das nicht ziemlich hart?“

„Ja und nein. Ja, weil die Familie im Ungewissen über die Fortschritte des Patienten bleibt. Nein, weil die Gefahr besteht, dass Bezugspersonen den Kranken unbewusst in seiner Sucht bestärken. Als ich meinen Eltern erzählt habe, dass Reggie eine stationäre Therapie braucht, fanden sie eine private Einrichtung knapp eine Meile von ihnen entfernt. Das Schwierigste war, Reggie davon zu überzeugen hinzugehen.“

„Wie hast du es geschafft?“

„Ihm wurde klar, dass er Hilfe brauchte, nachdem seine Söhne ihn mit einer Kanüle im Arm bewusstlos im Badezimmer gefunden hatten. Sie waren schwer traumatisiert, sodass ich entschieden habe, sie zu einem Therapeuten zu schicken.“

„Richtig, Nikki. Sucht ist eine Krankheit, die die ganze Familie betrifft.“

„Wie recht du hast“, erwiderte sie leise. Reggies Abhängigkeit von Opiaten betraf nicht nur seine Kinder, Eltern und Schwester, sondern auch seine Schwiegereltern.

„Du kannst mich hier absetzen“, sagte sie, als Fletcher in den Parkplatz vor dem Gerichtsgebäude einbog. „Ich weiß es zu schätzen, dass du mich gefahren hast. Für den Rückweg nehme ich ein Taxi.“

„Das brauchst du nicht. Ich fahre dich zurück“, bot Fletcher an. „Ich warte hier, während du deinen Mandanten verteidigst.“

Nicole sah ihm in die Augen. „Ich bin die Beklagte.“

„Das ist ein Scherz, oder?“

„Ich wünschte, es wäre so“, entgegnete sie. „Die Großeltern meiner Neffen prozessieren gegen mich, weil sie auf gerichtlich festgelegtem Besuchsrecht bestehen.“

„Hast du es ihnen verboten, die Kinder zu sehen?“

„Nein, aber es ist sehr kompliziert.“

„Wenn das so ist, begleite ich dich.“

Lächelnd legte sie die Hand auf seinen Unterarm. „Ich kann dir versichern, dass ich keine Verstärkung brauche.“

Fletcher schaute auf ihre Hand. „Wenn du mit Leuten aus Mineral Springs zu tun hast, kannst du jede Unterstützung gebrauchen.“

„Sei nicht albern, Fletcher. Dies hier ist kein Spiel zwischen verfeindeten Football-Teams.“ Niemand wusste, wann genau die Rivalität zwischen Wickham Falls und Mineral Springs begonnen hatte, aber es hatte sie schon gegeben, als sie auf der Highschool waren, und es gab sie mehr als fünfzehn Jahre später immer noch.

Autor

Rochelle Alers
Seit 1988 hat die US-amerikanische Bestsellerautorin Rochelle Alers mehr als achtzig Bücher und Kurzgeschichten geschrieben. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Zora Neale Hurston Literary Award, den Vivian Stephens Award for Excellence in Romance Writing sowie einen Career Achievement Award von RT Book Reviers. Die Vollzeitautorin ist Mitglied der...
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