Dem Himmel entgegen

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Als Ella einen Job als Pflegerin bei dem wortkargen Harris und seiner kleinen Tochter Marion annimmt, hofft sie, ihr eigenes Leben endgültig hinter sich lassen zu können. Zu schmerzhaft waren die Erfahrungen, die sie als Kinderkrankenschwester in der Notaufnahme machen musste. Doch auch in der wildromantischen Einsamkeit South Carolinas lässt ihre Vergangenheit sie nicht zur Ruhe kommen, denn sie spürt, dass sie Tochter und Vater schneller in ihr Herz schließt, als ihr lieb ist. Harris scheint nur seine Pflegestation für verletzte Greifvögel im Kopf zu haben - bis eines Tages Marions Mutter unerwartet wieder auftaucht ...


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955762438
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Mary Alice Monroe

Dem Himmel entgegen

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Deutsche Erstveröffentlichung

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

 

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Skyward

Copyright © 2003 by Mary Alice Kruesi

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Claudia Wuttke

Titelabbildung: Corbis Images, Düsseldorf

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-243-8

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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CONTRETEMPS

Though the world’s dark heart brought me here,

where time was hiding in the unleashed sea,

I will stay in this fragile place

of broken trees and wounded birds

that teach me patience as I watch

them fill the bared branches

like clusters of singing leaves.

I will follow a passing flock of plovers,

who think faster than we can see

when they suddenly turn

and flash their snowy undersides

in one bright act of collected caring consciousness.

They must have heard a warning

in the lost language of the river wind.

But the silent merlin – in pursuit

disarmed, confused, and angry – cackles at his lazy gods.

I see the breath of another god, moving

beneath still wings of the osprey and the eagle

in flight. I see countless angels, rising from the river

with open hands and upturned palms

to hold the wings in place as the animals glide over

this sanctuary and pull the sky back into universe.

Majory Wentworth

Die Figur des Lijah in dieser Geschichte wurde von Gullah, der Tradition der afro-amerikanischen Erzähler (griots) inspiriert. Die Gullah-Sprache ist so reich an Worten und so komplex in ihrer Struktur wie die ganze Kultur, und ich hatte das Glück und die Ehre, von Königin Quet, Oberhaupt der Gullah/Geechee-Gemeinschaft, beim Schreiben von Lijahs Passagen unterstützt zu werden. Trotzdem habe ich mir die Freiheit genommen, Wörter zu ersetzen, um es dem Leser einfacher zu machen, den Text in seiner Gesamtheit zu verstehen. Und obwohl der Dialog nicht gänzlich der Gullah-Tradition entspricht, habe ich mich bemüht, die einzigartigen Qualitäten und den Rhythmus dieser bedeutenden Sprache zu bewahren.

1. KAPITEL

Raubvögel: (auch Raptatores genannt) besitzen charakteristische Merkmale, die sie von anderen Vögeln unterscheiden. Sie haben spitze, hakig gekrümmte Schnäbel, um ihre Nahrung zu zerlegen, kraftvolle Beine mit scharfen, gebogenen Krallen an den Füßen, um die Beute zu töten, und eine außerordentliche Sehfähigkeit. Auf dem Gebiet der USA und Kanadas verzeichnet man 38 unterschiedliche Arten von Greifvögeln. Die Spezies der Raubvögel wird in folgende Subkategorien eingeteilt: Bussarde, Habichte, Falken, Weihe, Milane, Adler, Fischadler und Eulen.

Ein kalter, rauer Wind wehte die südkalifornische Küste entlang. Er riss an dem eisbedeckten gelblichen Schlickgras und trieb dichten grauen Nebel von der See an Land. Der dunkelhäutige alte Mann hielt inne, legte den Kopf schief und horchte in den Himmel. Er konnte die Veränderung wie ein Flüstern im Wind hören. Es war kalt. Der Mann zog die Schultern hoch, stellte den Kragen seiner abgetragenen Wolljacke auf, der nun bis an seinen Hut reichte, und vergrub seine Hände tief in den Taschen. Langsam ging er weiter, ließ aber seinen Blick gen Himmel gerichtet.

Der alte Mann musste schon fast eine halbe Meile gelaufen sein, als ein heller, klagender Schrei das Lied des Windes übertönte. Er hielt an, angespannt, erwartungsvoll, und versuchte, durch den dichten Schleier zu sehen, der über der Sumpflandschaft hing. Es war ein friedlicher, ein stiller Morgen. Die blasse Mondsichel schien noch am Himmel. Plötzlich brach ein majestätischer Weißkopf-Seeadler aus dem Nebel hervor. Seine großen, geraden Flügel waren weit ausgestreckt, als er über das Wasser glitt.

“Da bist du!” murmelte der Mann tief befriedigt. Er legte seine großen, knorrigen Hände um den Mund und ahmte mit einem scharfen, klaren Pfiff den Ruf des Vogels nach.

Der Adler zog seine Kreise am Himmel. Die kraftvollen Flügel schwangen majestätisch auf und nieder. Er drehte eine Runde über dem Sumpf, dann endlich erwiderte er den Ruf.

Das ermutigte den alten Mann. Er hob die Hände zum Mund und pfiff erneut, lauter und nachdrücklicher als zuvor. Und der Adler reagierte. Er wendete und flog direkt auf den Mann zu.

Diese Augenblicke genoss Harris Henderson. Er blinzelte und ließ seinen Blick über die weite, offene Wiese schweifen, die von großen, schlanken Kiefern umgeben war. Das Gras war trocken, und der Boden war vom Morgenfrost bedeckt. In nur einem Tag hatte der Winter Einzug ins Land gehalten. Die angenehm milden Temperaturen der letzten Zeit waren unter den Gefrierpunkt gefallen. Er atmete tief ein und fühlte die feuchte Kälte, die sich in seinen Lungen ausbreitete. Die Morgenluft trug den Duft von brennendem Holz – Zeder, wie er vermutete – zu ihm herüber. Der Geruch war so intensiv, dass er meinte, ihn fast schmecken zu können.

Er neigte den Kopf und blickte auf den schlanken Bussard mit den rötlichen Schwanzfedern, den er mit seinen dicken Lederhandschuhen an seine Brust presste. Maggie Mims, eine kräftige Frau, deren Haare in der gleichen Farbe wie die Federn des Vogels leuchteten, schaute ihn aufgeregt an. Ihre Augen funkelten.

Sie nickte kurz.

Harris hielt das Tier nun von seiner Brust weg. Mit der Linken umklammerte er die Flügel des Bussards, und mit der rechten Hand hatte er die Beine gegriffen. Sofort verschärfte sich der wachsame Blick des Vogels, er öffnete seinen Schnabel und versuchte mit aller Macht, seine Flügel zu befreien.

“Ich weiß, du willst fort”, sagte Harris mit ruhiger Stimme.

Er wartete geduldig, bis das Tier sich beruhigt hatte. Sein Blick war voller Bewunderung, voller Liebe. Die Bussarddame war ein wunderschönes Exemplar, mit cremefarbenem Brustgefieder und einem dunklen Streifen am Bauch sowie den charakteristischen roten Federn am Schwanz, die der Gattung ihren Namen gaben. Die Rotschwanzbussarde sind außergewöhnlich gute Jäger, J.J. Audubon nannte sie “die schwarzen Krieger”. Es war kaum zu glauben, dass dieser anmutige, gesunde und kräftige Vogel vor nicht einmal zwei Monaten mit Schusswunden in die Tierklinik eingeliefert worden war. “Jetzt dauert es nicht mehr lange.”

Der Bussard drehte den Kopf, als er Harris’ Stimme hörte, und blickte ihn kämpferisch an – genau diese Wildheit, diese Aggressivität war nötig, um in Freiheit zu überleben. Jeder Muskel im Körper des Vogels war angespannt, alle Sinne auf die Flucht gerichtet. Harris spürte die Erregung des Tieres am eigenen Leib.

In diesem kurzen Moment vor dem Flug versuchte Harris, seinen Geist mit dem des Vogels verschmelzen zu lassen. Er hatte Geschichten von Schamanen gelesen, die diese alte Kunst beherrschten, Mythen von Indianern, deren Geist mit den Adlern aufstieg – Legenden, die beiläufig oder im Scherz erzählt wurden. Noch nie hatte er seine Gedanken mit jemand anderem geteilt, aber in seinem tiefsten Inneren glaubte er, dass in diesen Märchen und Mythen auch ein Funken Wahrheit steckte. Sicher gab es Menschen, die auf einer besonderen, einer Gefühlsebene mit den Vögeln kommunizierten. Er wusste es. Er hatte es gesehen.

Und er litt darunter, keiner von diesen Menschen zu sein. Obwohl er sehr talentiert war, fehlte ihm dieser Instinkt – diese seltene Gabe –, Verbindung aufzunehmen und seinen Geist mit den Tieren aufsteigen zu lassen.

Im Augenblick des Losfliegens bekam Harris eine Ahnung dieser geistigen Verbindung, dieses Geschenks. Wenn der Vogel die Schwingen ausstreckte und sich in die Lüfte erhob und Harris die Geräusche der Flügel und den Luftzug auf seinen Wangen wahrnahm, wusste er für einen Moment, wie es sein musste, zu fliegen. Dann konnte er sich vorstellen, aufzusteigen und die Luft an seinem Körper zu fühlen.

“Fertig?” fragte Maggie.

Der Bussard spürte die bevorstehende Freiheit. Der Griff seiner Klauen um Harris’ Arm wurde fester. Eine Windböe stieß unter seine Federn, doch er zuckte nicht. Die Augen des Tieres waren geradeaus gerichtet, und sein Atem war in der kalten Morgenluft sichtbar. Der Augenblick war gekommen.

“Okay, meine Schönheit”, sagte Harris sanft zu dem Vogel. “Jetzt schicken wir dich nach Hause.”

Er hob den Arm und öffnete gleichzeitig seine Hand. Der Bussard ließ los, schlug ein paar Mal mit den Flügeln und erhob sich in die Luft. Harris seufzte tief, als der Vogel hoch über ihm schwebte.

Der Rotschwanzbussard stieg höher und immer höher. Harris ließ das Tier nicht aus den Augen, verfolgte den Flug und schätzte die Stärke des Vogels ein. Er achtete auf die Gleichmäßigkeit der Bewegungen, um ausschließen zu können, dass der gebrochene Flügel doch noch nicht vollständig verheilt war. Das Überleben in der Wildnis war hart, und ein Raubvogel musste unbedingt erfolgreich bei der Jagd sein, wenn er eine Chance haben wollte. Dieser Vogel jedoch zeigte keine Schwächen mehr, keine vorsichtige Zurückhaltung oder Schonung, und Harris empfand tiefe Freude darüber, dass die Arbeit der Tierauffangstation einmal mehr erfolgreich verlaufen war.

Es war gelungen, auch diesen Vogel, Nummer 1985, zu retten und auszuwildern.

“Wir sollen hier nicht jagen.”

Brady Simmons deutete mit dem Lauf seines 22er-Kaliber-Gewehrs auf ein Schild mit der Aufschrift “Jagen verboten”, das an einer alten, knorrigen Eiche angebracht war. “Steht doch so auf dem Schild, stimmt’s?” sagte er und achtete dabei darauf, es mehr wie eine Frage und nicht wie eine lakonische Feststellung klingen zu lassen.

Sein Vater rieb sich das stoppelige Kinn und erwiderte: “Ich seh kein Schild.”

“Billy Trumplins Dad sagt, dass wir mächtigen Ärger kriegen können, wenn sie uns hier erwischen. Vor allem, wenn wir Vögel jagen. Die Jagdsaison ist vorbei.”

Roy Simmons drehte langsam den Kopf, verengte die Augen und sah seinen ältesten Sohn scharf an. Seine Stimme klang zwar leise, aber dennoch gefährlich. “Willst du mir sagen, was ich zu tun habe, Junge?” knurrte er.

Brady wich zurück. “N… nein, Sir.”

Sein Vater bemerkte den Respekt seines Sohnes. Seine Augen blitzten. “Unsere Familie jagt hier schon seit Menschengedenken. Es ist nicht falsch, sich ein bisschen von dem zu nehmen, was da ist.” Er schulterte sein Gewehr. “Außerdem sind wir nicht zum Spaß hier, sondern um was zu essen auf den Tisch zu bringen. Diese Baumfreunde, die mir das verbieten wollen, sollen ruhig herkommen. Denen werd ich’s schon zeigen.”

Brady nickte kurz und blickte auf die geballten Hände seines Vaters. Er schwieg. Die Whiskeyfahne seines Vaters erfüllte ihn mit Angst und Verachtung.

Roy Simmons griff nach dem Schild, riss es vom Baum und schleuderte es auf den Boden.

Unbewegt beobachtete Brady, wie sein Vater mit der schlammig verkrusteten Sohle seines Schuhs auf das Schild trat. Was für ein Idiot, dachte er bei sich. Er war es leid, seinen Vater darüber schimpfen zu hören, dass die Regierung Land vom Volk gestohlen hätte. Wie konnte den Menschen überhaupt etwas gestohlen werden, was ihnen gar nicht gehörte? Im Übrigen interessierte es ihn nicht, wer das Land besaß – er wollte nur so schnell wie möglich so weit wie möglich weg aus dieser Hölle auf Erden.

Tief befriedigt drehte sein Vater sich um und betrat bestimmt das verbotene Gelände. “Komm schon”, rief er über die Schulter. “Trödel nicht rum.”

Der Wald lag noch in dunklem Schweigen an diesem nasskalten, frühen Morgen. Wenn Brady über die gefrorenen Blätter stapfte, entstand ein Geräusch, das in der Stille des Waldes laut und gefährlich klang. Unzählige Terpentinkiefern wuchsen hoch in den Himmel und standen so eng beieinander, dass man sich leicht verirren konnte, wenn man den Weg nicht kannte. Brady hatte schon immer die Sumpfkiefern bevorzugt, deren lange Nadeln sich im Wind bogen. Sie hatten etwas Majestätisches an sich, wie sie in den Himmel ragten, mit einem mächtigen Stamm und kerzengerade – die Herrscher des Kiefernwaldes. Er liebte sie, auch wenn sein Vater sie hasste. Für ihn waren sie bloß Unkraut, denn ihre Rinde brannte kaum, und sie gaben schlechtes Feuerholz ab. Brady hatte Geschichten aus einer Zeit gehört, als die riesigen Sumpfkiefern das Bild der Wälder prägten. Das war lange bevor die Kettensägen ihr zerstörerisches Werk verrichtet hatten. Dieses Bild hätte Brady gerne gesehen.

Während sein Vater und er sich zwischen den dicht gedrängten Baumstämmen bewegten, sah Brady, wie das Licht der aufgehenden Sonne durch die Blätter brach und dabei den Frost wie Diamanten funkeln ließ. In den dichten Zweigen über seinem Kopf hörte er Eichhörnchen fiepen und etwas weiter entfernt einen Kokardenspecht gegen einen Baumstamm trommeln.

“Jetzt schleich schon nicht so! Wenn du dir nicht die ganze Nacht mit deinen nichtsnutzigen Freunden um die Ohren geschlagen hättest, wärst du jetzt auch nicht so kaputt. Hat lange gedauert, bis du endlich aufgestanden bist. Dabei habe ich dir doch gesagt, dass wir heute Morgen jagen gehen.”

Brady spuckte aus, um den säuerlichen Geschmack seines kargen Frühstücks loszuwerden, das aus trockenen Biskuits bestanden hatte. Er versuchte, mit dem massigen, breitschultrigen Mann in der Tarnjacke Schritt zu halten. Wenigstens ist das für längere Zeit das Letzte, was ich von dem Alten hören werde, dachte er. Denn um die Tiere nicht zu verschrecken, würde er ihm von hier an nur noch zuflüstern, was zu tun war, oder aber ihn anstoßen.

Roy Simmons fragte seinen Sohn nie, was ein guter Platz zum Jagen wäre oder welches Wild er gerne jagen würde. Brady fühlte sich eher wie ein Lakai neben dem talentierten Jäger, der besser als die meisten anderen wusste, wo es Hasen gab, ergiebige Austernbänke oder wo man am besten Vögel aufscheuchen konnte. Und danach suchten sie auch an diesem Morgen. Vielleicht fanden sie einen Fasan oder sogar Wachteln … sie brauchten etwas Besonderes für das Weihnachtsessen am nächsten Tag.

Fast alles, was sie aßen, hatte ihr Vater gejagt oder gefischt. Die siebenköpfige Familie lebte größtenteils von der Hand in den Mund und versorgte sich selbst. Seine Mutter gab sich viel Mühe, um aus allem, was sein Vater mitbrachte, ein schmackhaftes Gericht zu zaubern, aber der schien nie zufrieden zu sein. Und seit das umliegende Land zum staatlichen Naturschutzgebiet erklärt worden war, war es schwieriger geworden. Mehr und mehr Menschen jagten das immer weniger werdende Wild. Roy Simmons musste länger und vor allem geschickter jagen, und doch war die Ausbeute meist gering. Seine stets hungrigen Kinder litten darunter.

Eigentlich ging Roy Simmons lieber allein auf die Jagd, aber seit vor ein paar Tagen die Schulferien begonnen hatten, nahm er seinen ältesten Sohn Brady mit auf seine morgendlichen Ausflüge. Meist jedoch kamen sie mit leeren Händen heim. Jeden Tag erlebte Brady, wie sich die Verzweiflung seines Vaters in Zorn wandelte. Er folgte dem stampfenden, schweren Schritt seines Vaters und hoffte nur, dass dieser seine Wut nicht an ihm auslassen würde.

Mehr als eine Stunde hatten sich Brady und sein Vater durch den Marion National Forest geschlagen, ohne auch nur ein Tier zu erlegen. Mittlerweile waren sie einige Meilen von dem heruntergekommenen Haus und der Scheune, die seine Familie ihr Zuhause nannte, entfernt. Das Stückchen Land, auf dem die Simmons wohnten, war vor langer Zeit dem Urgroßvater geschenkt worden. Damals lag es zu abgelegen, um von Wert zu sein. Doch inzwischen dehnten sich die Siedlungen Charlestons immer weiter aus, und Umweltschützer sahen sich gezwungen, jedes Stückchen Land, das sie ergattern konnten, in ein Schutzgebiet umzuwandeln, um die Natur zu retten. Das armselige bisschen Boden der Simmons war ein winziges privates Fleckchen Erde, ganz umgeben von tausenden Hektar Nationalparks. Sein Vater nannte es immer den “Dorn im Hintern des Staates”.

“Meinst du nicht, wir sollten langsam mal umkehren?” fragte Brady. Seine Füße schmerzten, und er war müde.

“Wir gehen erst nach Hause, wenn wir etwas zum Essen gefunden haben.”

Brady seufzte leise. Er konnte kaum noch seine Augen offen halten, und seine Füße in den schweren Stiefeln waren eiskalt. Müde trottete er seinem Vater hinterher. Er hasste es, so früh am Morgen aufstehen zu müssen. Und er hasste es, in diesem verdammten Wald herumzuhängen, hungrig und frierend, wobei er sich doch nichts sehnlicher wünschte, als in sein warmes Bett zu kommen. Auch wenn er sich sein Zimmer mit seinem Bruder und dem Hund teilen musste. Niemals würde er es seinem Vater gegenüber zugeben, aber er hasste die Jagd. Es war langweilig und sinnlos, so wie die meisten Dinge in seinem Leben.

Endlich kamen sie an die Stelle, wo der Wald endete und in eine Sumpflandschaft überging. Sein Vater hielt inne, das Gewehr hing über seinem Arm, und er betrachtete die weite Ebene.

Ein scharfer Wind wehte vom Ozean herüber. Er brannte auf Bradys Wangen und erweckte die Lebensgeister in ihm. Brady ließ sein Gewehr sinken und betrachtete in stiller Ehrfurcht den wunderschönen Himmel. Der Morgen kündigte sich an, und zartrosa Streifen hingen am klaren, blassblauen Himmel. Doch eine Armada von tief hängenden, grauen Wolken zog bedrohlich den Horizont auf.

“Schau! Da!” Sein Vater stieß ihn unsanft in die Seite und deutete auf etwas.

“Wo?”

“Na, da! Direkt über dem Sumpf. Auf neun Uhr.”

Brady wendete seinen Kopf und sah einen gewaltigen schwarzen Vogel über die Landschaft schweben. Die Schönheit dieses Anblicks war überwältigend.

“Los, Junge. Nimm ihn ins Visier!”

Sein Vater hatte ihm die seltene Gelegenheit gegeben, ein Tier zu erlegen. Brady war starr vor Schreck. Wertvolle Sekunden verstrichen, während er ungeschickt versuchte, das Gewehr genau anzusetzen.

“Beeil dich, sonst verlierst du ihn!”

Nein, ich verliere ihn nicht, dachte er bei sich, wohl wissend, das diese Gedanken ihn von dem Vogel ablenken könnten. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Adrenalin schoss durch seine Adern, als er gespannt durch das Zielfernrohr sah.

“Er dreht eine Kurve”, hörte er seinen Vater sagen. “Er kommt direkt auf dich zu.”

“Ich kann ihn nicht sehen!”

“Er ist zurück in den Nebel geflogen. Macht nichts. Warte ab. Sei auf der Hut.”

Brady entsicherte die Waffe, legte seinen rechten Zeigefinger auf den Abzug und wendete seinen Blick nicht von dem Punkt, an dem der Vogel wieder auftauchen musste. Er versuchte, sich zu beruhigen, tief einzuatmen, damit er den Schuss sicher abgeben konnte und sein Ziel nicht verfehlte. Sein Vater würde ihm keine zweite Chance geben, wenn er das Tier nicht erlegte.

Okay, wo bist du? Eins … zwei … drei … Plötzlich brach der Vogel aus der Nebelwand hervor – genau an der Stelle, die Brady im Blick hatte. O ja, es war wirklich ein stattliches Tier. Ein wirklich riesiger Vogel. Er ermahnte sich selbst zur Ruhe und Besonnenheit, während er zielte. Sein Finger krümmte sich um den Abzug. Brady hielt die Luft an.

Im nächsten Augenblick atmete er aus und ließ mit einem Fluch das Gewehr sinken. “Ich kann nicht schießen. Es ist doch ein Adler.”

“Ein was? Verdammt … Das ist alles, was in diesem verdammten Schutzgebiet noch übrig ist.” Roy schüttelte den Kopf und fluchte leise. “Sie geben uns einfach keinen Platz, um zu jagen, und verbieten uns, Tiere zu schießen. Sieh nach oben! Er kommt auf uns zu. Kühn ist er, mutig, weil er genau weiß, dass wir nicht schießen dürfen. Wahrscheinlich wird er die Hühner eines anständigen Farmers reißen. Ach, zur Hölle. Los, mein Junge. Hol ihn dir!”

“Was? Das kann ich nicht tun. Das ist gegen das Gesetz!”

“Was hat denn das Gesetz mit meinem gottgegebenen Recht zu tun, zu jagen, wie es auch schon mein Vater und mein Großvater getan haben? Der Vogel ist unser Feind, hörst du?”

“Aber der Vogel hat uns doch nichts getan.”

“Das ist kein Spiel, mein Sohn, ich meine es ernst.” Zornig sah er Brady an und sagte mit leiser, bedrohlicher Stimme: “Entweder bist du auf meiner Seite, oder du stellst dich gegen mich.”

Brady zögerte.

Sein Vater schimpfte ihn verweichlicht und feige, warf ihm einen verächtlichen Blick zu und setzte sein Gewehr an.

Brady spürte, wie sich sein Brustkorb zuschnürte, und sah wieder durch sein Zielfernrohr. Sein Finger berührte den Abzug. Das ganze Leben mit seinem Vater erschien ihm wie eine endlose, qualvolle Reihe von Tests.

War er nun auf der Seite seines Vaters, oder war er gegen ihn? In eben diesem Moment, der eine Ewigkeit zu dauern schien, erkannte Brady, dass, wie auch immer er sich entscheiden würde, sein Leben nicht mehr wie vorher wäre.

Der alte Mann strahlte vor Freude und Erregung beim Anblick des majestätischen Vogels mit den mehr als zwei Metern Flügelspannweite, der im Aufwind dahinglitt. Gott wusste, was er tat, als er den Adler erschuf, dachte der Mann. Kraftvolle Schwingen, einen scharfen Schnabel und Krallen, die so lang und so gefährlich waren wie die eines Tigers. Und wie er flog … Er war sich bewusst, dass er der König der Lüfte war. Es gibt auf der ganzen Welt wohl kein schöneres und anmutigeres Tier, dachte der Mann.

Er pfiff erneut und griff in den Beutel, den er umgehängt hatte, um einen Barsch herauszuholen, den er nur für diesen Vogel mitgebracht hatte. Der Adler war mit seinem Nest und mit dem Brüten beschäftigt, und er war hungrig.

“Nun, komm her und hol dir einen Bissen”, sagte er zu dem Tier und hielt den Fisch hoch in die Luft. Wieder pfiff er, klar und laut, bewegte den Barsch hin und her und begann bedächtig, über das Feld zu laufen. Der Adler konnte ihn sehen. Der Mann erkannte das an der Art, wie er am Himmel kreiste.

Plötzlich zerriss das Geräusch eines Gewehrschusses den friedlichen, stillen Morgen. Der alte Mann stolperte vor Schreck. Er riss die Arme nach vorne, der Fisch fiel auf den Boden. Mit hilflosem Entsetzen sah er, wie das Tier am blauen Himmel flatterte, ins Taumeln geriet. Der Atem stockte dem Mann, als er sah, wie der Vogel einen Augenblick in der Luft zu hängen schien, wie die Flügel sich nicht mehr bewegten und wie das Tier dann wie ein Stein zu Boden fiel.

Der Mann schrie seine Qual heraus. Aber sein Schrei wurde hinweggetragen von dem Wind, der über die Sümpfe streifte und dem Mann den Hut vom schlohweißen Kopf fegte. Langsam setzte er sich in Bewegung, ging hölzern, mit steifen Beinen über das gefrorene Feld, bis hin zum Körper des Adlers.

2. KAPITEL

Buteos: Die schwebenden Jäger. Buteos sind mittelgroße Vögel mit breiten Schwingen und einem kurzen Schwanz. Obwohl sie langsam fliegen, sind sie doch Meister im Gleitflug und in der Jagd. Sie bilden eine vielfältige Gruppe mit unterschiedlichsten Lebensräumen und Beutetieren. Die Kategorie der Buteos umfasst den Rotschwanzbussard, den Rotschulterbussard, den Breitflügelbussard, den Präriebussard, den Rauhfußbussard und den Königsbussard.

Harris stand im rauen Wind und sah in den Himmel, bis der Bussard, der nur noch als kleiner brauner Fleck erkennbar war, ganz verschwunden war. Er suchte den Horizont ab, konnte aber keinen anderen Bussard ausmachen; lediglich ein Breitflügelgeier schwebte über die Baumkronen.

Er erinnerte sich an die Erzählungen seines Großvaters, in denen er berichtete, wie man meilenweit über die Felder laufen konnte und dabei fast alle Arten von Greifvögeln zu Gesicht bekam: den Eckschwanzsperber, den Rundschwanzsperber, Rotschwanzbussarde und Rotschulterbussarde, Falken und Weihe – sein Großvater nannte diese kleinen, schnellen Vögel “Sumpfhabichte”. Harris war damals nicht älter als fünf Jahre, als sein Großvater ihn auf seine Wanderungen durch die Felder mitnahm. Während der Ausflüge hielt sein Großvater zwischendurch immer inne, um in den Himmel zu zeigen und zu fragen: “Was ist das?” Harris hatte die Antwort stets mit kindlicher Begeisterung herausgeschrieen. Nie fühlte er sich gemaßregelt, wenn sein Großvater ihn dann korrigierte. Diese Wanderungen waren eine starke, schöne Erinnerung und markierten den Beginn von Harris’ Leidenschaft für Raubvögel. Auch sein Opa hatte Greifvögel geliebt, vor allem die Habichte, und er hatte ihm beigebracht, dass das Erkennen eines Habichts am Himmel nicht so sehr ein Talent als vielmehr eine Kunst ist. Die Farbe des Gefieders sagt bei Raubvögeln nicht so viel über die Art aus wie bei kleineren Vögeln. Er war ein kluger und geduldiger Lehrer, der seinen Enkel in die Kunst einführte, die kleinen Merkmale zu sehen und zu deuten – die Form und Neigung der Schwingen, die Geschwindigkeit der Flügelschläge –, und er lehrte ihn, seiner Intuition zu vertrauen, zu betrachten, wie das Tier sich in der Luft bewegte, bevor er es benannte. Als Harris zwölf war, starb sein Großvater, aber der Junge hatte gelernt, mit Bestimmtheit einen Raubvogel von weitem zu erkennen und zu benennen.

Harris wurde in den frühen 1960er Jahren geboren. Umweltschutz wurde in dieser Generation groß geschrieben – die Menschen sahen die Zerstörung, die z. B. DDT in der Umwelt angerichtet hatte. Schon seit seiner Kindheit hatte er mitgeholfen, Raubvögel vor dem Aussterben zu bewahren. Um die Zahl der selten gewordenen Vögel wieder so ansteigen zu lassen, dass sie den Himmel bevölkerten wie zu Zeiten seines Großvaters, hatten sie noch viel Arbeit vor sich, aber wenigstens waren sie auf dem richtigen Weg. Jedes Mal, wenn Harris ein Tier retten und in die Freiheit entlassen konnte, war er von einem Gefühl tiefer Hoffnung erfüllt.

“Harris!”

Widerstrebend wendete er seine Blicke vom Himmel und sah ein junges, dunkelhäutiges Mädchen, in sauberen, frischen Jeans und einem dicken Fleecepulli, das über die offene Ebene zu ihm herüberlief. Harris winkte ihr zu, um zu zeigen, dass er sie bemerkt hatte, und warf einen letzten Blick in den Himmel. Der Bussard war schon lange fort. Von den Rändern der Wiese zog Nebel auf.

“Mr. Henderson?” rief das Mädchen erneut, atemlos, weil sie so gerannt war. “Ich soll Ihnen sagen, dass Sherry dringend Ihre Hilfe in der Klinik braucht. Jemand hat einen angeschossenen Vogel gebracht.”

Harris stieß einen unterdrückten Fluch aus.

“Ich nehme das hier”, sagte Maggie und bückte sich nach der Ausrüstung. “Solltest du nicht eigentlich mit Marion Weihnachtsgeschenke kaufen gehen? Die Kleine spricht seit Tagen von nichts anderem mehr.”

Er nickte und half, die Ausrüstung zusammenzusuchen. Seine fünfjährige Tochter hatte ihn schon im Morgengrauen geweckt, fertig angezogen mit ihrer besten Hose und ihrem besten Pullover, das Haar mit einem rosafarbenen Plastikband zurückgebunden. Sie war so aufgeregt wegen des gemeinsamen Ferienausfluges, dass sie ihren Toast kaum anrührte und stattdessen einige Gläser Orangensaft trank – mit dem Erfolg, dass sie alle paar Minuten zur Toilette laufen musste. Während er sich auf den Weg nach Hause machte, musste Harris beim Gedanken an seine Kleine schmunzeln. Er hatte sie gefragt, ob sie ein Loch in der Leitung hätte. Das Letzte was er sah, bevor er das Haus verlassen hatte, war Marions trauriger Blick, mit dem sie ihm aus dem Fenster hinterher schaute. Harris hatte ihr zugewunken und gerufen, dass er bald wieder da sein würde, aber sie hatte nicht einmal gelächelt. Er musste den Bussard frei lassen, aber der Gedanke an sein kleines Mädchen versetzte ihm noch immer einen Stich.

“Du hast bis jetzt kein einziges Geschenk für das Kind besorgt, habe ich Recht?” fragte Maggie in die Stille hinein. Gerade liefen sie über die Wiese zum Truck, und sie musterte ihn fragend. Als er nicht antwortete, sagte sie: “Meine Güte, Harris. Hast du wenigstens schon einen Weihnachtsbaum?”

“Sicher. Der Baum steht, und die Lichter sind auch dran, du musst dir also keine Sorgen machen, Mutter Maggie”, sagte er mit einem verschmitzten Grinsen und bemerkte erleichtert, wie sich ihre Züge langsam wieder entspannten. Wenn Maggie erst einmal in Fahrt war, konnte sie so schnell nichts stoppen. “Marion und ich bummeln jeden Heiligabend durch die Stadt, nur wir beide, und sie darf sich etwas Besonderes aussuchen. Das ist sozusagen unsere Tradition.”

“Tradition?” Maggie sah ihn ungläubig an. “Ach, Henderson, mir kannst du nichts vormachen. Ich kenne dich schon zu lange. Du bist ein Einsiedler, der seinen Wald nicht verlassen würde, wenn er nicht müsste, und diese so genannte Tradition ist deine Entschuldigung dafür, die Weihnachtsbesorgungen auf den letzten Drücker zu machen, damit du nicht öfter als unbedingt nötig in die Stadt musst.” Sie war fast so groß wie Harris, und in ihren grünen Augen, mit denen sie fest in seine blickte, flammte ihr Temperament auf. “Keine Ausflüchte mehr heute! Du überlässt den Vogel mir und gehst jetzt nach Hause zu deiner Tochter, um ihr ein schönes Weihnachten zu bescheren.”

Harris grinste und hob beschwichtigend die Hände in die Höhe. “Schon gut, schon gut, ich geh ja. Um dieses Tier kümmerst du dich.”

“Aber Sherry hat gesagt, sie braucht Sie, Harris”, unterbrach das Mädchen die beiden. “Es ist ein Adler. Sie sagt, Sie müssen sich beeilen.” Der kalte Wind pfiff, und das Gesicht des Mädchens war voller Sorge.

Harris warf Maggie einen viel sagenden Blick zu und lief zu seinem Wagen, der am Rand des Feldes geparkt war. Er kümmerte sich um alle Raubvögel, die in der Klinik angeliefert wurden: Habichte, Eulen, Fischadler und Falken. Aber es waren die Adler, zu denen er sich besonders hingezogen fühlte. Seiner Meinung nach konnte es kein anderer Greifvogel mit der Anmut und der Kraft des Adlers aufnehmen. Und es war diese Stärke, die es so schwierig machte, mit diesen Tieren umzugehen. Anders als die kräftige Maggie war Sherry älter und von zierlicher, schlanker Statur, vergleichbar mit einem Wanderfalken. Obwohl sie klug war und schnell reagierte, hatte sie nicht die körperliche Kraft, um mit einem Tier wie dem Adler fertig zu werden. Wenn ein solch großer Vogel eingeliefert wurde, übernahm Harris die Behandlung.

Schweigend sprang Maggie neben ihm in den Wagen. Kieselsteine flogen zur Seite, als die Räder des Wagens sich in Bewegung setzten und Harris auf die Straße bog. Die Wiese, auf der sie die Vögel in die Freiheit entließen, war nicht weit vom Coastal Carolina Center für Raubvögel entfernt. Er stellte den Truck neben dem Haus ab und lief zwischen den Bäumen hindurch auf ein weißes Holzhaus zu, das auf Zinderblöcken stand – die Klinik. Sofort machte er Sherry Dodds aus, seine langjährige freiwillige Helferin, die in voller Schutzbekleidung und offensichtlich sehr aufgeregt neben einem hoch gewachsenen, schlanken, dunkelhäutigen Mann mit schlohweißem Haar stand. Harris Blick fiel auf etwas, das der Mann in seinen Armen hielt, und er stoppte abrupt.

Maggie griff nach seinem Arm. “Oh, mein Gott …”

Er schluckte schwer. Was er da sah, konnte er nicht glauben. Der alte Mann trug einen ausgewachsenen Weißkopf-Seeadler in seinen bloßen Armen. Die Krallen dieses Tieres konnten ganz leicht den Mantel des Mannes zerfetzen, und mit dem spitzen, scharfen Schnabel konnte er dem Gesicht Wunden zufügen wie eine Gewehrkugel.

“Vorsichtig”, warnte Harris Maggie, als sie sich langsam näherten. Sie wollten den Adler nicht erschrecken. Er schien unter Schock zu stehen, bewegte sich nicht, nur seine gelben Augen folgten jeder ihrer Bewegungen mit der typischen Aufmerksamkeit.

“Zum Glück bist du hier.” Sherry atmete erleichtert auf. Sie achtete darauf, leise zu sprechen. Selten sah man sie so angespannt. “Dieser Mann … er kam hier einfach mit dem Adler herein … auf seinen Armen! Ich wusste nicht, was ich tun sollte, so wie er ihn hält …”

Harris nickte kurz. Er kannte die Gefahren genau. Der alte Mann hatte mit einer Hand die Beine des Adlers umfasst, und das war gut, aber er hielt das Tier einfach zu nah an seinem Körper und seinem Gesicht.

Sherry schlüpfte aus der ledernen Schutzkleidung und den langen Handschuhen und reichte sie Harris. Die ganze Zeit über ließ sie den Vogel nicht aus den Augen. Während Harris die Schutzausrüstung überstreifte, begutachtete er den Adler mit geschultem Blick. Sie hatten es hier mit einem sehr großen Tier zu tun, mit glänzendem Gefieder und offensichtlich in guter Verfassung, bevor er angeschossen worden war. An den weißen Federn am Kopf konnte man erkennen, dass es sich um ein ausgewachsenes Exemplar handelte, wenigstens fünf Jahre alt.

“Entschuldigen Sie? Sind Sie der Doktor?” fragte der alte Mann. Sein längliches, wettergegerbtes Gesicht war von Sorge gezeichnet. Er benahm sich zurückhaltend, war fast gänzlich in verwaschenes Schwarz gekleidet, und trotz seiner großen, knorrigen Hände hielt er den Adler fast so zärtlich und behutsam wie eine Krankenschwester einen Säugling. Entweder ist er ein mutige, alter Hase, oder er weiß nicht, welchen Gefahren er sich gerade aussetzt, dachte Harris. Wenigstens hatte er die Klauen fest im Griff.

“Ja, das bin ich. Aber sprechen Sie jetzt nicht. Menschliche Stimmen ängstigen wilde Vögel, und im Moment wollen wir nichts weniger, als diesen alten Jungen noch mehr aufzuregen.”

“Mädchen.”

Harris verengte die Augen. Wenn er die Größe des Vogels in Betracht zog, konnte der alte Mann Recht haben. “Ich muss den Adler aus Ihren Armen holen. Hören Sie mir genau zu. Ich werde mich jetzt dem Vogel nähern und seine Beine mit den Handschuhen umfassen. Wenn ich ›loslassen‹ sage, dann lassen Sie los und entfernen sich so schnell wie möglich. Haben Sie verstanden?”

“Denken Sie, Santee würde mich verletzen?” fragte der Mann. Er schüttelte ganz leicht den Kopf. “Nein, sie würde mir nie etwas tun. Sie kennt mich.”

“Sie kennt Sie?”

Er nickte ernst. “Ich habe ihr den Namen gegeben. Sie kam zu mir, als jemand sie vom Himmel geschossen hat. Ich habe sie gesucht und gefunden – sie lag auf dem Boden. Lebend, Gott sei Dank! Von Ihnen habe ich schon gehört. Wie Sie den Vögeln helfen. Zum Glück ist das Center in der Nähe, und ich konnte gleich herkommen.”

“Sie haben den Vogel hier zu Fuß hergebracht?”

“Ich bin die große Straße heraufgekommen.”

“Wie weit sind Sie gelaufen?”

“Nicht so weit. Den Weg hinunter, vielleicht ein paar Meilen. Aber es hat länger gedauert, weil ich durch den Sumpf gehen musste.”

Harris musste fast auflachen, die Geschichte klang zu absurd. “Wie lange haben Sie den Adler bis hierher getragen?”

“Seit Sonnenaufgang bin ich unterwegs.”

Mittlerweile war es fast neun Uhr. Das bedeutete, dass der Adler seit einigen Stunden verletzt war. Harris sah den Vogel an. Das Tier erwiderte seinen Blick, nicht lethargisch oder mit hängendem Kopf, wie man es von einem Vogel unter Schock vermuten würde, sondern mit beunruhigender Gelassenheit. Nur der Schock konnte diese Regungslosigkeit erklären – und der Schock konnte tödlich sein. Harris musste handeln, wenn er das Leben des Tieres retten wollte. Er warf einen besorgten Blick auf Sherry, die sich ein neues Paar langer Lederhandschuhe angezogen hatte. Sie wartete, bereit, zuzugreifen.

“Der Vogel steht unter Schock”, erklärte er ihr.

“Das habe ich mir schon gedacht. Ein Tuch und die Beruhigungsspritze liegen bereit.”

Harris holte tief Luft, um die Beklemmung, die er in seiner Brust spürte, loszuwerden. Sein Blick begegnete dem des alten Mannes. Der schien keine Angst zu haben. “Okay. Sind Sie so weit?”

“Ja.”

Mit langsamen, bedachten Bewegungen legte Harris seine Hände, die sicher in den Schutzhandschuhen steckten, um die Beine des Adlers. “Ich habe sie. Lassen Sie los.”

Als der alte Mann seine Hände wegnahm, zog der Vogel seine Krallen zurück und wand sich in Harris’ Griff. Schnell packte Harris den Körper und die Flügel und hob den Adler aus den Armen des Mannes. Obwohl der Schuss die Flügel verletzt hatte, war das Tier noch erstaunlich kräftig und versuchte, seine Beine zu beugen, um sich während der Übergabe zu befreien. Aber Harris war erfahren und hatte die Situation schnell unter Kontrolle.

Zwar hatte sich der Adler beruhigt, aber sein Atem ging jetzt schwerer, und er schnappte nach Luft. Sherry trat vor, um ein leichtes Tuch um den Kopf des Tieres zu legen.

“Warum machen Sie das?” fragte der alte Mann.

“Das hilft, sich zu beruhigen”, erwiderte sie.

“Sie haben wirklich Glück gehabt”, sagte Harris und atmete erleichtert auf. “Wenn dieser Vogel nicht unter Schock gestanden hätte, wären Sie jetzt wahrscheinlich auch im Krankenhaus. Vergessen Sie niemals, dass es wilde Geschöpfe sind. Machen Sie nicht den Fehler, ihnen zu vertrauen.”

“Vertrauen ist nie ein Fehler”, sagte der Mann.

Er blickte Harris genauso ruhig und fest an, wie es der verletzte Adler getan hatte. Harris drehte sich unvermittelt um und wandte sich an die beiden Frauen, die neben ihm standen. “Könnt ihr bitte die Aufnahmeformalitäten mit dem Herrn regeln?”

“Schon dabei”, antwortete Maggie und machte einen Schritt nach vorne.

Harris widmete sich nun wieder dem Mann. “Wir danken Ihnen, dass Sie den Adler zu uns gebracht haben. Ich werde ihn in den OP bringen. Sie können Ihren Namen und Ihre Telefonnummer bei Maggie hinterlassen, und wir informieren Sie, wenn wir wissen, was los ist. Danke nochmals für Ihre Mühen.” Er ging zum Behandlungszimmer und ließ ihn zurück.

“Ich warte hier.”

“Wir haben kein Wartezimmer”, erwiderte Maggie freundlich. “Machen Sie sich keine Sorgen, ich rufe Sie gleich nach der Operation an. Es kann Stunden dauern.”

“Das macht nichts. Ich werde einfach draußen warten.”

Maggie schaute fragend zu Harris. In seinen Augen flackerte Verärgerung auf, aber er hatte keine Zeit, um sich mit dem Mann auseinander zu setzen. “Er kann in meinem Büro warten”, sagte er kurz, drehte sich dann um und trug den Vogel hinein.

Die Sonne ging schon unter, als Harris seinen Dienst beendete. An diesem Tag war ungewöhnlich viel los gewesen. Zwei Streifenkäuze und ein Rabengeier waren mit Kopfverletzungen eingeliefert worden, die sie von Zusammenstößen mit Autos davongetragen hatten – das Ergebnis des starken Ferienverkehrs. Nach der Operation waren die Vögel auf die Intensivstation verlegt worden. Er war ein kleiner schmaler Raum direkt neben dem Behandlungszimmer, der zwei lange Regale enthielt, auf denen zwei Reihen Käfige aufgestellt waren. Jeder davon war mit Stoff ausgelegt, der für Dunkelheit und Ruhe sorgen sollte. Stress in Gefangenschaft konnte für wilde Vögel tödlich sein, und das Vogelzentrum tat alles, um die Gefahren für die Tiere zu minimieren.

Bevor Harris das Gebäude abschloss, sah er noch einmal nach dem Adler. In der Dunkelheit seines Käfigs lag das Tier auf der Seite, noch benommen von den Betäubungsmitteln. Die Schrotkugeln, die ihn getroffen hatten, hatten ihn ernsthaft verletzt. Einige Kugeln hatten an sehr kritischen Stellen in seinem Körper gesteckt. Außerdem hatte das Tier Kopfverletzungen erlitten, als es zu Boden fiel. Ob es jemals wieder würde jagen können, musste die Zeit zeigen.

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, als er den Behandlungsraum verließ. Sein Rücken schmerzte vom stundenlangen Stehen am Operationstisch. Jetzt wünschte er sich nichts mehr, als aus seinem dreckigen Flanellhemd und seiner Jeans zu schlüpfen, seine Wanderstiefel in die Ecke zu feuern, eine Dusche zu nehmen, einen Happen zu essen und dann endlich ins Bett zu fallen. Das Telefon schwieg glücklicherweise, und er wollte Feierabend machen. Gähnend ging er an seinem Büro vorbei und sah den alten Mann noch immer dort sitzen. Er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und drehte seinen Hut nervös in den Händen. Als Harris ins Zimmer trat, sprang er auf.

“Wie geht es ihr?”

“Für einen Vogel, dem man einen Eimer voll Schrotkugeln aus dem Leib operiert hat, geht es ihr erstaunlich gut. Es war eine langwierige Prozedur.” Er schüttelte den Kopf. “Aber ich muss Ihnen sagen, obwohl sie einige ernste Schusswunden hatte, war doch kein Knochen gebrochen. Ich dachte, das Tier hätte mindestens einen Knochenbruch im Flügel, aber ich habe mich geirrt. Der Adler hat wirklich großes Glück gehabt.”

“Gott sei Dank!” seufzte der Mann.

“Ich denke, ein Teil des Dankes gebührt auch Dr. Henderson”, mischte sich Sherry gut gelaunt ein, die in diesem Moment in Harris’ Büro trat. Sie hatte ihr dunkles Haar, das von hellen Strähnen durchzogen war, unter einer Strickmütze verborgen und zog sich ihren Parka an, während sie zum Abmeldebogen ging.

“Kein Zweifel, kein Zweifel. Und ich bin dankbar. Ich weiß nicht genau, wie ich das wieder gutmachen soll. Aber als ich hier saß und wartete, dachte ich … dass ich vielleicht hier aushelfen könnte. Es müssten einige Reparaturen gemacht werden. Und ich bin ein guter Zimmermann.”

“Sie müssen das nicht wieder gutmachen”, platzte Sherry heraus. “Dafür sind wir ja da – um kranken, verletzten Vögeln zu helfen.”

“Aber das ist ja nicht irgendein Vogel. Das ist mein Vogel.”

Sherry hielt inne und sah Harris an. Er konnte in ihren Augen die Frage lesen, die ihm selbst gerade durch den Kopf schoss. Adler waren eine gefährdete Spezies, die von der Regierung der Vereinigten Staaten geschützt wurde. Niemand konnte einen Adler in irgendeiner Form besitzen. Sogar sie selbst, als Raubvogel Center und Klinik, waren angewiesen, einen Adler nicht länger als neunzig Tage bei sich zu behalten. Für eine Verlängerung des Aufenthaltes brauchten sie eine staatliche Genehmigung.

“Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihren Namen nicht mitbekommen”, sagte Harris.

“Mein Name ist Elijah. Elijah Cooper”, antwortete der Mann, streckte die Schultern und reichte Harris höflich die Hand. “Aber die meisten Leute nennen mich Lijah.”

Harris schüttelte seine Hand. Sie fühlte sich groß und überraschend stark an.

“Ich wünsche Ihnen gesegnete Weihnachten, Lijah”, unterbrach Sherry. Ihre Augen funkelten hinter der Brille, sie freute sich auf die Ferien und konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. “Dir natürlich auch, du Kauz”, sagte sie zu Harris und umarmte ihn kurz, aber herzlich. “Ich habe für Marion und dich eine Kleinigkeit unter den Baum gelegt”, flüsterte sie ihm leise zu.

“Das musst du doch nicht.” Die kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen die Frauen des Vogel-Centers ihn und seine Tochter häufig bedachten, rührten ihn immer wieder. Es schien, als hätten sie eine heimliche Abmachung getroffen, ein Auge auf ihn und Marion zu werfen, die sich ohne Mutter zurechtfinden mussten.

“Natürlich muss ich das. Vergiss nicht, dass ich morgen nicht da sein werde. Und Maggie auch nicht. Aber am 26. werde ich in aller Frühe kommen.”

“Uns wird es schon gut gehen. Hab du nur ein schönes Weihnachtsfest mit deiner Familie. Und fahr vorsichtig. Es schneit ja noch immer.”

“Mach dir um mich keine Sorgen. Sei morgen einfach nur für deine Tochter da. Die Vögel werden einen Tag allein überleben”, rief Sherry über die Schulter, während sie voller Vorfreude auf ihr Zuhause und ihre Familie zum Ausgang lief.

Harris drehte sich zu Elijah um, der geduldig lächelnd wartete, so als hätte er keine Eile, an diesem verschneiten Heiligabend irgendwohin zu müssen. Eigentlich vermied es Harris, sich mit Fremden zu unterhalten oder Smalltalk zu machen, aber die Gelassenheit und Ruhe, die von dem Mann ausgingen, reizten ihn.

“Lijah, ich will Sie nicht aufhalten, aber es gibt etwas, das ich nicht verstehe.”

Er hob den Kopf, und in seinen dunklen Augen blitzte Interesse auf.

“Wie kann der Adler Ihnen gehören? Halten Sie ihn irgendwo?”

“Ihn halten? Meinen Sie in einem Käfig oder so?” Sein runzeliges Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. “Nein, Sir. Niemand kann einen Adler halten. Erstens ist es verboten, und zweitens ist es nicht richtig. Adler sind edle Geschöpfe, sie müssen frei sein.”

“Wie meinten Sie dann, dass der Vogel Ihnen gehört?”

“Ich denke, sie hat mich adoptiert.” Lijah bemerkte, wie Harris verwirrt die Stirn runzelte, und erklärte: “Vor Jahren, als sie noch ein schwarzes Federkleid trug, flog sie einmal ganz niedrig neben mir her. Sie wissen, wie die Tiere sind … Sie schwebte dahin, neugierig, und ließ sich auf einem Ast nieder, keine drei Meter von mir entfernt. Sie beobachtete mich. Wahrscheinlich dauerte es nur einige Minuten, aber mir kam es vor, als würden wir uns eine Ewigkeit anschauen.” Er schüttelte den Kopf und lachte leise bei der Erinnerung daran. Dann zuckte er mit den Schultern: “Seitdem halten wir immer Ausschau nach einander. Ich nannte sie Santee, nach dem Fluss, an dem wir uns zum ersten Mal begegneten.”

Harris musterte den alten Mann und wusste nicht, was er von der Geschichte halten sollte. Noch nie hatte er eine derart fantastische Erzählung gehört, aber er konnte auch nicht leugnen, was er mit seinen eignen Augen gesehen hatte. Lijah hatte den Adler mit bloßen Händen in die Klinik getragen.

“Erzählen Sie mir, was heute Morgen passiert ist.”

“Also, Sir, ich lief die große Straße entlang, um Santee zu sehen. Meinen Wagen hatte ich in der Nähe abgestellt, weil ich wusste, dass sie nicht weit entfernt ein Nest hat. Sie würde früher oder später kommen, um zu jagen – das war mir klar. Und sie kam. Dann habe ich sie gerufen.”

“Sie haben sie gerufen?”

“Mmm-hmm. Etwa so.” Er hob die Hände, legte sie um den Mund, ließ sie aber wieder sinken und schüttelte mit einem bedauernden Lächeln den Kopf. “Das lasse ich lieber, sonst hört sie es und versucht zu kommen.”

Harris konnte die Verwunderung kaum unterdrücken. “Sie rufen, und der Adler kommt?”

“Das stimmt. Wie ich schon sagte, wir suchen und erwarten einander. Und sie weiß genau, dass ich immer etwas zu essen für sie dabeihabe. Na ja, heute Morgen habe ich sie also gerufen. Sie drehte eine Runde und kam auf mich zu.” Seine Miene verdunkelte sich. “In dem Moment hörte ich den Schuss. Sie haben sie angeschossen.” Er blickte gequält. “Was sind das nur für Menschen, die so etwas tun? Warum sollte jemand diese wundervollen Geschöpfe verletzen?”

“Das weiß ich nicht”, erwiderte Harris ernst. Diese Frage stellte er sich selbst immer wieder, wenn er Schrotkugeln aus Vogelkörpern operieren musste. “Haben Sie gesehen, wer auf das Tier geschossen hat?”

Lijah schwieg einen Augenblick, bevor er antwortete: “Ja, Sir, ich habe die Täter gesehen. Zumindest habe ich zwei Männer mit Gewehren im Wald erkannt, als ich Santee holen wollte. Sie standen genau dort, von wo das Geräusch des Schusses kam, und ich nehme an, dass sie es waren, die geschossen haben. Aber ich bin nicht zu ihnen gegangen, um sie zu fragen. Es ist, wie es ist.” Seine Augen blitzten auf, als er den Kopf schüttelte. “Sie waren es, da bin ich mir ziemlich sicher.”

“Sie sollten Anzeige bei der Polizei erstatten.”

“Ich habe die Polizei schon angerufen. Ihre Helferin hat mir freundlicherweise erlaubt, das Telefon zu benutzen, und die Polizisten waren da, während Sie Santee operierten. Wir haben uns unterhalten, ich habe Ihnen gesagt, was ich über die Sache weiß, und sie sind wieder gegangen.”

“Gut. Ich hoffe, sie fassen die Bastarde.”

Nachdenklich schürzte Lijah die Lippen. “Sie sagten, Sie haben Schrotkugeln aus Santee geholt? Keine Gewehrkugel?”

“Stimmt. Eine ganze Ladung. Warum?”

“Ach, es gibt keinen besonderen Grund, warum ich fragte – ich war nur neugierig.”

“Noch etwas. Dieser Adler …” Harris machte eine Pause, lächelte kurz und fuhr fort: “Santee. Sie hat eine Brutstelle. Haben Sie gesagt, ihr Nest wäre hier ganz in der Nähe?”

“Ja, Sir. Nicht so weit entfernt von hier. Sie sind gute Eltern, Santee und Pee Dee – ich habe sie nach Flüssen benannt. Das ist das zweite Jahr, in dem sie dieses Nest bebrüten. Beim letzten Mal hatten sie zwei Junge. Das ist der Grund, warum ich überhaupt hier oben im Norden bin. Ursprünglich stamme ich aus St. Helena, aber ich bin den Vögeln hinterhergereist, um sie beim Brüten zu beobachten. Manchmal übernachte ich im Zelt, manchmal kann ich bei Freunden bleiben. Es ist anstrengend, aber das nehme ich auf mich. Santee liebt den Platz zum Brüten. Ich denke, es ist der Ort, an dem auch sie geboren wurde.”

“Das könnte sein. Es ist noch früh in der Saison. Vielleicht hat sie ihre Eier noch gar nicht gelegt.”

“Kann ich Ihnen nicht sagen. Ich bin selbst gerade erst eingetroffen. Die beiden Adler scheinen aber sehr geschäftig zu sein, soweit ich das sehen konnte.”

Harris war drauf und dran, einen Vortrag darüber zu halten, dass Menschen sich von den Gelegen der Greifvögel fern zu halten hatten, um die Tiere nicht zu stören, aber er entschied sich dagegen. Der Mann kannte sich offenbar gut aus, und im Moment brauchte Harris seine Hilfe.

“Könnten Sie mir zeigen, wo das Nest ist?”

Lijah rieb sich das Kinn und runzelte die Stirn. Zögernd sagte er: “Ich denke, das kann ich machen.”

“Lijah, für das männliche Tier wird es schwierig, sich um die Jungen zu kümmern, die vielleicht schon ausgeschlüpft sind. Verdammt schwierig, wenn nicht gar unmöglich, um ehrlich zu sein. Wir müssen das Nest genau beobachten, um eingreifen zu können, wenn er es vernachlässigt.”

“Das hatte ich mir auch überlegt.”

“Wenn wir eventuell …”

Harris’ Aufmerksamkeit wurde durch ein sanftes Ziehen an seinem Hosenbein abgelenkt. Als er runtersah, blickte er in das zarte, blasse Gesicht seiner fünfjährigen Tochter. Marions Haar wurde durch ein Zopfband zusammengehalten und hing ein wenig achtlos und wirr herunter. Die Kleider, die sie heute Morgen angezogen hatte, waren nun schmutzig, und etwas Traubengelee klebte an ihrem Mund, den sie schmollend verzogen hatte.

“Daddy?”

Seine Miene hellte sich beim Anblick der Kleinen auf. “Ja, meine Süße?”

“Gehen wir jetzt einkaufen?” fragte sie quengelig.

Einkaufen. Heiligabend. Es ist schon Abend. All diese Tatsachen trafen ihn wie ein Schwall kalten Wassers. Wie konnte er nur den Ausflug vergessen? Das passierte ihm immer wieder. Er ging so in seiner Arbeit auf, das er die Zeit vergaß und auch alles andere, was er noch tun wollte.

Die Augen seiner Tochter spiegelten kindliche Erwartung und Sehnsucht wider, und er erinnerte sich an Maggies Ermahnungen. Er drehte den Kopf und sah aus dem Fenster. Obwohl es erst vier Uhr war, herrschte draußen schon Dunkelheit. Einige Schneeflocken tanzten im schwachen Licht der Außenbeleuchtung, aber der schlimmste Schneefall war abgeebbt. Harris musste sein Versprechen einhalten. Wenn er sich jetzt beeilte, könnten sie direkt in die Stadt fahren und wieder zu Hause sein, bevor es zu spät war.

“Natürlich, Schätzchen”, sagte er und streichelte ihr über den Kopf. “Gib mir noch eine Minute, um abzuschließen.” Er sah den alten Mann an, der bereits nach seinem Hut griff.

“Ich gehe jetzt besser”, wandte er sich an Harris. “Es ist Weihnachten, und es sieht aus, als hätten Sie was Schönes vor.”

“Das haben wir. Kein guter Abend, um jetzt noch draußen unterwegs zu sein, finden Sie nicht? Kann ich Sie irgendwo absetzen?”

“Nein, Sir. Vielen Dank, aber ich komme schon zurecht.”

“Aber haben Sie nicht erwähnt, dass Sie hierher gelaufen sind?”

“Ja, bin ich. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf. Meine Freunde wohnen nicht weit von hier.”

“Das nächste Haus ist aber ein gutes Stück entfernt, und man muss durch den Wald gehen. Kommen Sie, ich nehme Sie mit.”

Lijah schüttelte den Kopf und ging zur Tür. “Ich habe den ganzen Tag gesessen. Ein Spaziergang wird mir gut tun. Danke, dass Sie sich um meinen Vogel gekümmert haben. Morgen werde ich reinschauen, um zu gucken, wie es ihr geht, wenn Sie nichts dagegen haben.” Bevor er ging, beugte er sich mit einem warmen Lächeln zu Marion hinunter. “Fröhliche Weihnachten, kleines Fräulein.”

Marion lächelte schüchtern und versteckte sich hinter den Beinen ihres Vaters.

“Wir sprechen uns wieder. Ich würde wirklich gerne zu dem Nest gehen”, sagte Harris.

Lijah nickte, trat aus der Tür und zog sie leise hinter sich ins Schloss.

Harris blickte ihm noch einen Augenblick hinterher. Der Mann hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Mit einem Seufzer sah er aus dem Fenster auf die Schneeflocken, die im grau-blauen Licht des Nachmittags zu Boden schwebten. Er legte den Arm um die schmalen Schultern seiner Tochter und kniete sich neben sie.

“Siehst du dir das genau an?” fragte er. “Es ist schon sehr lange her, dass es hier in South Carolina an Weihnachten geschneit hat.” Er zog das Mädchen an sich heran und drückte es zärtlich. “Es ist das erste Mal in deinem Leben, dass du Schnee siehst. Ich denke, das wird dem alten Weihnachtsmann helfen.”

“Aber du hast mir gesagt, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt.”

Er zog die Augenbrauen hoch. “Hab ich das?”

Sie nickte.

Obwohl er den Glauben an solche Dinge wie Märchen, den Weihnachtsmann oder den Osterhasen nicht unterstützte, glaubte er doch fest an die Magie und die Schönheit, die der Natur und dem Menschen innewohnten. Das Leben war voll von harten Tatsachen, wie zum Beispiel Menschen, die eine sportliche Herausforderung darin sahen, einen Adler abzuschießen. Und auch wenn er sich hundemüde und hungrig fühlte, wollte er doch wenigstens heute Abend alles dafür tun, den Zauber lebendig werden zu lassen.

Die grellen Lichter des Kaufhauses blendeten Harris, als er mit Marion an der Hand eintrat. Überall gab es Waren im Überfluss. Wer brauchte all diese Sachen? Leuchtend rote Schleifen, goldenes Lametta und batteriebetriebene Weihnachtsmänner schienen ihn aus den Regalen anzuspringen. Verglichen mit der Ruhe, die in den Wäldern herrschte, dröhnte die laute und aufdringliche Weihnachtsmusik in seinen Ohren. Er drückte die Hand seiner Tochter und unterdrückte den drängenden Wunsch, schneller durch die Gänge zu laufen. Andere Kunden rannten durch das Geschäft und rempelten einander in einer Art blinder Kaufwut an. Er konnte es nicht erwarten, endlich wieder draußen zu sein.

“Daddy, ich hab Durst.” Marions Gesicht schaute aus der Kapuze des pinkfarbenen Parkas heraus, den sie von einer von Maggies Töchtern geerbt hatte. Er war ihr zu klein, viel zu eng und die Ärmel waren zu kurz. Harris wollte ihr einen neuen Mantel kaufen, wenn sie schon einmal hier waren, aber dann dachte er nach. Das Geld war knapp, und in South Carolina war der Winter kurz. Die Jacke musste also noch ein bisschen länger halten.

“Du hast was getrunken, bevor wir losgefahren sind und an der Tankstelle auch. Du kannst doch unmöglich schon wieder Durst haben.”

“Hab ich aber. Kann ich was davon haben?” fragte sie, während sie auf ein bläuliches Mixgetränk in der Auslage einer Snackbar deutete.

“Später vielleicht.”

Marion zog erschöpft an seinem Arm und quengelte: “Ich hab aber jetzt Durst, Daddy.”

Sie klang sehr bestimmt und forderte seine volle Aufmerksamkeit. Er wandte die Augen von den Spielsachen und sah sie an. Ihr Gesichtchen war gerötet, und ihre Augen schimmerten glasig. Wenn er es genau bedachte, hatte sie den Saft heute Morgen in sich hineingeschüttet, als wäre sie kurz vor dem Verdursten. Er fragte sich, ob sie etwas ausbrütete.

“Ich sag dir was”, sagte er und kniete sich neben sie. “Zuerst holen wir dein Geschenk, und wenn du Lust hast, gehen wir ganz schick essen. Du darfst alles bestellen, was du magst. Wie klingt das?”

“Okay”, erwiderte sie matt und warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Getränkemaschine.

Es war seine Schuld, dass sie so spät dran waren, und trotzdem war er ein bisschen enttäuscht. Er hatte gehofft, dass sie sich über den Ausflug freuen und nicht hinter ihm hertrotten und jammern würde. Als sie die Abteilung mit den Puppen erreichten, breitete er die Arme aus und sagte mit der Euphorie eines Marktschreiers: “Hast du jemals so viele Puppen auf einmal gesehen, Marion? Und zu Weihnachten kannst du dir aussuchen, welche du willst. Na los. Egal welche.”

Marion ließ seine Hand los und schlich die Regale entlang. Lustlos und mit hängenden Schultern betrachtete sie die Puppen. In ihrem Gesicht war keine Spur von Freude oder Erwartung zu erkennen.

Er seufzte auf und kniete sich neben ihr auf den Boden. “Was ist denn los, Süße?”

Sie zuckte die Schultern.

“Aber du hast doch gesagt, dass du dir eine Puppe zu Weihnachten wünschst.”

Sie schüttelte den Kopf.

“Oh.” Harris war erstaunt, fasste sich aber schnell wieder. “Das macht nichts. Du musst dir keine Puppe aussuchen.”

Zum Glück habe ich noch keine besorgt, dachte er bei sich. Kinder änderten ihre Meinung alle paar Minuten. “Hier gibt es jede Menge Spielzeug. Spiele, Kuscheltiere, Sportsachen … Hey, wie wäre es mit einem Fahrrad?”

Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn mit leeren Augen an. “Daddy, du weißt, was ich mir zu Weihnachten wünsche.”

In ihrem blassen, schmalen Gesicht spiegelte sich die Sehnsucht eines einsamen Kindes wider. Es brach ihm fast das Herz. Marion war eigentlich kein weinerliches Kind. Ganz im Gegenteil. Sie wünschte sich selten etwas für sich selbst. Nachdenklich nahm er sie in den Arm und setzte sie auf sein Knie. Er rang nach Worten.

“Süße, du weißt, dass ich dir deine Mommy zu Weihnachten nicht herholen kann. Wir haben doch darüber gesprochen. Das geht nun mal nicht. So ein Wunsch ist Unsinn.”

Marion schob schmollend die Unterlippe vor. “Das ist gar kein Unsinn.”

“Ich weiß, entschuldige. Warum suchst du dir nicht eine Puppe aus, die wie Mommy aussieht? Wäre das nicht gut? Sieh dir die Puppen da an. Die sind sehr hübsch, genau wie sie.”

Wenn sie ihn mit ihren großen, treuen blauen Augen so ansah, erinnerte sie ihn so sehr an ihre Mutter, dass es wehtat. Er küsste ihre zarte Wange. “Na los, geh schon.”

Mit einem resignierten Seufzen drehte Marion sich um und sah erneut die Auswahl an Puppen an. Nach einigen Momenten zeigte sie auf eine Barbie, die ein glitzerndes, leuchtend pinkfarbenes Ballkleid trug. Harris dachte, es sei die grellste und auffälligste Puppe auf dem Regal – und die passendste. Fannie liebte bunte Farben. Er griff nach der Barbie.

“Das ist eine gute Wahl, meine Kleine. Sie ist wirklich hübsch. Wie willst du sie nennen?” Einen kurzen Augenblick lang stockte ihm der Atem – er hoffte, sie würde die Barbie nicht nach ihrer Mutter benennen.

Marion verzog angestrengt das Gesicht, während sie nachdachte. “Lulu”, verkündete sie dann.

Er lächelte. “Perfekt. Du bleibst schön hier und guckst dir die Puppen an. Ich gehe schnell zur Kasse und kaufe die Barbie. Nicht weggehen, hörst du? Versprochen? Daddy ist gleich wieder da, gut so?”

Marion nickte, und er lief mit der Barbie zur Kasse. Offensichtlich war er nicht der Einzige, der auf den letzten Drücker noch Weihnachtseinkäufe machte, aber nur zwei Kassen waren geöffnet, und so hatten sich lange Schlangen gebildet. Ungeduldig stellte er sich an und warf immer wieder angstvolle Blicke über die Schulter, um Marion in der Spielzeugabteilung im Auge zu behalten. Die Schlange schien sich langsam im Rhythmus des Liedes “White Christmas” zu bewegen, das aus den Lautsprechern plärrte. Harris sehnte sich nach der Stille, die bei ihnen zu Hause herrschte, und trommelte nervös mit den Fingern auf der Verpackung in seiner Hand. Schritt für Schritt näherte er sich der Kasse und hatte genug Zeit, die Last-Minute-Weihnachtsgeschenke zu betrachten: dekorierte Lebkuchen, rote Weihnachtsplüschsocken, die mit Süßigkeiten gefüllt waren, ein kleines Plüschrentier und weihnachtliches Geschenkpapier mit Schleifen. Endlich war er an der Reihe. Er legte das Geschenk aufs Band, suchte einige Scheine aus seiner abgegriffenen Lederbörse und reichte sie dem Kassierer. In Gedanken überschlug er die Kosten für das Abendessen und überlegte, ob er noch genügend Geld bei sich hatte.

In solchen Momenten grübelte er darüber nach, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, sein Leben dem Schutz von Vögeln zu widmen. Die meisten Biologen, die mit der Pflege und dem Schutz der Natur beschäftigt waren, konnten diese Bedenken nachvollziehen. Es war ein schwieriger Job, der viel Zeit und einige Opfer abverlangte. Außer Frage stand, dass sie die Arbeit liebten und sich nicht vorstellen konnten, etwas anderes zu tun, aber man musste auch einiges aufgeben und viele Abstriche machen, vor allem, wenn es um das Privatleben ging – ganz zu schweigen vom Bankkonto. Er seufzte. Während er seine Geldbörse in die Tasche steckte, wusste er, dass seine Antwort ja lautete – er wollte nichts anderes tun, als Vögel zu retten.

Er hob den Kopf und sah eine Menschenansammlung in der Spielwarenabteilung. Einige Leute beugten sich über etwas oder jemanden, der am Boden lag.

“Marion!” stieß er angsterfüllt hervor und rannte los. Er kämpfte sich zwischen den Menschen hindurch und fand seine Tochter auf dem Boden liegend vor. Ihr Gesichtchen war aschfahl, und ihre Augen waren verdreht. Die Lider zuckten. Harris’ Herz hämmerte wie verrückt. Er kniete sich hin, nahm seine Tochter in den Arm und fing mit zitternden Fingern an, ihre Kapuze und den Parka zu öffnen.

“Sie fiel einfach um, als wäre sie ohnmächtig geworden”, erklärte eine ältere Dame. “Ich hab es gesehen.”

Ein kleines Rinnsal Blut sickerte aus ihrem Mund. Hatte sie sich auf die Zunge gebissen? Er versuchte, ihren Mund zu öffnen, aber ihre Kiefer waren krampfartig aufeinander gepresst. Schreckliche Gedanken schossen durch seinen Kopf, während er versuchte festzustellen, was Marion hatte. Epilepsie? Ein Fieberkrampf? Die Angst schnürte ihm die Luft ab, und seine Hände zitterten. Dies war kein Habicht und auch kein Adler. Dies war seine Tochter, und er wusste einfach nicht, was er tun sollte.

Er blickte gegen eine Wand aus Menschen, die sich um ihn und seine Tochter gebildet hatte, sein Augen spiegelten seine Panik wider, als er rief: “Kann jemand einen Krankenwagen rufen?”

3. KAPITEL

Accipiter: Die blitzschnellen Wald-Jäger. Accipiter sind sehr flinke, entschlossene Jäger. Ihre kurzen, abgerundeten Flügel und langen Schwänze sind wie geschaffen für schnelle Sprints und die Möglichkeit, sich geschickt durch Äste und Buschwerk zu schlängeln, um Jagd auf andere Vögel zu machen. Die Familie der Accipiter umfasst unter anderem die Eckschwanzsperber, Rundschwanzsperber und Habichte.

Harris war sich nie bewusst gewesen, wie ein paar Wochen ein ganzes Leben verändern konnten. In weniger als einem Monat war seine hart erarbeitete Routine, seine ganze Welt, völlig aus den Fugen geraten. Er war immer der Meinung gewesen, alles unter Kontrolle zu haben. Und manchmal meinte er hören zu können, wie die Mächte des Himmels über diese Arroganz lachten.

Trotzdem konnte er sich glücklich schätzen. Er wusste das. Die Dinge könnten schlimmer sein, und er hatte weiß Gott schon Schlimmeres durchstehen müssen.

Er stand im Wohnzimmer des kleinen “Cape Cod”-Land-Hauses und betrachtete seine Tochter, die friedlich auf dem Sofa lag. Sie versank fast in einem Berg aus Kissen und war in eine alte, gelb-braune Wolldecke gehüllt. Ihre neue Puppe Lulu hatte sie fest im Arm. Mit ihren blauen Augen, die umrahmt waren von blassen Wimpern, sah sie sich aufmerksam die Zeichentrickfilme an, die im Fernsehen liefen. Die blonden Haarsträhnen kräuselten sich hinter ihren spitzen Ohren, die einen kleinen Tick vom Kopf abstanden. Einige zarte Sommersprossen blühten über ihrer Stupsnase.

Wenn man sie so ansah, erschien sie einem wie ein normales fünfjähriges Mädchen, das Fernsehen schaut.

Aber so war es nicht.

Marion hatte Juvenile Diabetes.

Die Zuckerkrankheit. Er konnte sich einfach nicht damit abfinden. Als der Arzt im Krankenhaus ihm die Diagnose mitgeteilt hatte, fühlte er sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Er konnte nur mit offenem Mund dastehen und den Arzt anstarren. Von allen Möglichkeiten, die in seinem Kopf herumgespukt hatten, erschien ihm Diabetes die abwegigste zu sein. Damit hatte er nicht gerechnet. Sicher, er wusste ein paar Dinge über die Krankheit. Diabetes bedeutete, dass im Körper zu viel Zucker war. Menschen, die an dieser Krankheit litten, brauchten Insulin. Aber es waren doch nur alte Menschen, die Zucker bekamen – keine kleinen Kinder. Keine Fünfjährigen, die noch nie ernsthaft krank gewesen waren.

Später jedoch, als er sich schlau gemacht hatte, erkannte er die Symptome, die Marion schon lange hatte, die er aber so richtig nie wahrgenommen hatte. Der übermäßige Durst, der erhöhte Harndrang, der Gewichtsverlust, Gereiztheit – all das waren Anzeichen, die auf Typ-1-Diabetes, die seltenste und gefährlichste Form dieser Krankheit, hingewiesen hatten.

Er fühlte sich schuldig. Heimtückische, fortwährende Selbstvorwürfe, die ihn nicht losließen, nagten an ihm. Er fragte sich, wie er es so weit kommen lassen konnte, wie er ihren immer schlechter werdenden Gesundheitszustand so ignorieren konnte, dass sie erst umfallen und einen fiebrigen Krampfanfall bekommen musste. Er fühlte sich wie der schlechteste, der erbärmlichste Vater auf der ganzen Welt.

Doch für Schuldgefühle hatte er eigentlich gar keine Zeit. Die Krankheit beeinflusste das ganze Leben. Nichts war mehr einfach. Er konnte Marion nicht einmal einen Snack bereiten, ohne daran zu denken, wie viele Broteinheiten sie zu sich nahm und was das für Auswirkungen auf ihren Zustand haben könnte. Zum ersten Mal seit Marions Geburt hatte Harris Angst vor der Verantwortung für sein Kind.

Er sah wieder auf seine Tochter, die sich auf dem Sofa zusammengerollt hatte und fernsah. Wie süß und unschuldig sie aussah. Und wie dieser Eindruck täuschte. Er schüttelte den Kopf, atmete tief ein und wappnete sich für das, was jetzt kam.

“Marion? Es ist Zeit, den Test zu machen.”

Sofort wich der friedliche Ausdruck aus ihrem kleinen Gesicht, sie zog die Knie an den Körper, schlang ihre Arme um die Beine und schrie: “Nein!”

“Komm schon, Süße. Du weißt, dass wir das tun müssen.”

“Nein!”

Harris seufzte auf. Ihm stand schon wieder ein Kampf bevor. Während er sich ihr näherte, verkroch sie sich in der Sofaecke. Wie einer seiner Vogel-Patienten war sie bereit, sich zu verteidigen. Schützend hatte sie die Arme vor den Körper gehoben und sah ihren Vater wild entschlossen an.

Harris ging ganz langsam und vorsichtig auf sie zu, wobei er ununterbrochen beruhigend auf sie einredete. Dann griff er schnell zu, hielt sie fest. Marion reagierte augenblicklich – sie schrie und tobte und wehrte sich aus Leibeskräften, wie es auch die Tiere in der Klinik taten.

“Nein! Ich will nicht! Nein, nein, nein!”

Ihre Schreie hallten im Raum wider und dröhnten in seinem Kopf. Obwohl sie so zart und zerbrechlich wirkte, war sie erstaunlich stark – und raffiniert. Immer, wenn er sie hochheben wollte, streckte sie die Beine von sich, begann zu treten und mit ihren winzigen Fäusten zu boxen, wobei sie vom Sofa rutschte.

“Was, in Gottes Namen, ist denn hier los?”

Harris erkannte Maggies Stimme zwischen dem Kreischen und Schreien seiner Tochter. Und auch Marion hatte Maggie gehört. Für einen kurzen Moment hörte sie auf – um dann mit noch mehr Kraft weiterzukämpfen. Er hielt sie noch fester, während sie versuchte, sich aus seiner Umklammerung zu winden.

“Oh nein, dass machst du nicht”, sagte er zu ihr und hob sie auf das Sofa zurück.

“Es hört sich an, als fände hier ein blutiger Kampf statt”, stellte Maggie fest und sah sich um.

“Das wäre entschieden leichter als das hier”, erwiderte Harris über die Schulter. “Ich muss ihr in den Finger stechen, um den Blutzucker zu messen. Aua, Marion, hör auf, mich zu treten.”

Maggie gluckste vor Vergnügen und ging auf die beiden zu. “Ich denke, es wäre hilfreich, wenn du ihr zuerst einmal die Schuhe ausziehst.”

“Wenn du mir hilfst?”

Maggie streckte die Arme aus und griff, wie sie es von den Vögeln her kannte, mit schlafwandlerischer Sicherheit nach Marions Beinen. Einige Sekunden später hatte sie dem Kind die Schuhe ausgezogen. Sie hielt die Beine immer noch fest. Das schien Marion noch wütender zu machen, und sie versuchte wie wahnsinnig, zu treten und sich aus dem Griff zu winden. Ihr Gesicht verfärbte sich vor Anstrengung rot.

“Jesus, sie ist stärker als ein Virginiauhu.”

“Sie beißt auch wie einer. Schnell, pack ihre linke Hand.”

Maggie hielt Marions Hand. Das Kind kreischte mittlerweile hysterisch.

“Jetzt muss sie gerade Luft holen. Schnell!”

Harris wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn, zielte, stach in den Finger und drückte in Bruchteilen von Sekunden den Teststreifen gegen den Blutstropfen, der aus der winzigen Wunde quoll.

“Geschafft!” triumphierte er.

Marion schrie noch einmal wütend auf und rollte sich dann – besiegt, erschöpft und weinend – zwischen den Kissen auf dem Sofa zusammen. Der Kampf hatte sie viel Kraft gekostet.

“Es muss noch einen anderen Weg geben”, sagte Maggie, während sie ihre Arme auf Wunden untersuchte.

“Wenn es den gibt, wüsste ich gerne, wie er aussieht.” Er wollte Marions Kopf streicheln, aber sie schlug seine Hand zur Seite.

“Ich hasse dich!” brüllte sie zornig, rutschte vom Sofa und rannte in ihr Zimmer, als wäre sie auf der Flucht.

Harris fuhr sich durchs Haar. Die Tür zum Kinderzimmer wurde mit aller Macht zugeschlagen.

Maggie verdrehte die Augen. “Wie oft müsst ihr das machen?”

“Sechs Mal am Tag muss ich den Blutzucker messen, drei Mal muss ich ihr Insulin spritzen. Mindestens. Das bedeutet sechs bis neun Stiche mit der Nadel pro Tag.”

“Meine Güte!”

“Ja. Zuerst hat sie versucht, tapfer zu sein, aber jetzt ist es zu einem täglichen Krieg geworden.”

“Ich mag es fast nicht sagen – es scheint, als würdest du ihn verlieren.”

Er senkte den Kopf. “Das ist das Problem. Ich darf nicht verlieren. Ihr Leben hängt davon ab.” Erschöpft griff er nach dem Testgerät, warf einen Blick auf den Wert und nickte, zufrieden mit dem Ergebnis.

“In den ersten Wochen nach dem Krankenhaus habe ich es vermasselt und ihre Werte nicht gecheckt. Sie machte einen guten Eindruck, und ich dachte, ich könnte mal eine Messung überspringen. Im nächsten Moment wurde sie schwach, begann zu schwitzen, und ihre Hände zitterten. Gott sei Dank gibt es Traubenzucker. Aber ich kann dir sagen, das hat mich zu Tode geängstigt.

“Jetzt geht es ihr gut. Und das ist alles, was zählt.”

“Du hast Recht. Ich werde mich darum kümmern, dass es ihr auch weiterhin gut geht.” Er blickte Maggie an, um ihre Reaktion auf seine nächste Äußerung besser beurteilen zu können. “Ich habe übrigens eine Pflegerin engagiert, die hier wohnen und sich den ganzen Tag um Marion kümmern wird.”

Maggie machte große Augen. “Die hier wohnen wird? Hier? Aber, Harris, das Haus ist viel zu klein. Wo soll sie schlafen?”

“Sie kann in meinem Zimmer wohnen. Ich werde mich in meinem Büro einrichten.”

“Das wird dir auf Dauer zu eng. Und ich spreche nicht über die Raumaufteilung und die Möblierung.”

“Vielleicht. Aber ich muss das tun. Wenigstens im Moment.” Maggie wollte etwas erwidern, doch Harris hob abwehrend die Hände. “Es ist alles in die Wege geleitet, Maggie. Ich habe eine Anzeige geschaltet, und sie hat bereits zugesagt zu kommen. Bitte. Mach mir jetzt keine Vorhaltungen. Was ich brauche, ist Unterstützung. Marion und ich brauchen Unterstützung.”

Maggie wollte noch eine Menge sagen, aber sie presste die Lippen aufeinander. Sie nickte und schlang ihre Arme um Harris. Für sie war es keine Frage, für die beiden da zu sein. In den fünf Jahren, in denen Harris und sie Seite an Seite gearbeitet hatten, hatten sie gelernt, wie wichtig Ruhe und Umsicht in ihrem Job waren. Wenn sie miteinander sprachen, dann nur das Nötigste. Meistens ging es um die Patienten oder was noch zu tun war. Harris und Maggie verstanden sich auch ohne Worte. Obwohl Maggie die Glucke des Vogelcenters war und oft und gerne ihre Meinung preisgab, mischte sie sich so gut wie nie in Harris’ Privatleben ein. Die wichtigsten Informationen tauschten sie kurz aus, so dass man im Bilde war, was gerade zu Hause passierte. Bob ist entlassen worden. Marion hat die Grippe. Die Kinder haben heute Ferien bekommen und sind zu Hause. Die Waschmaschine hat den Geist aufgegeben. Ihre Loyalität und Verbundenheit war tief und ehrlich – und obwohl die Freundschaft niemals thematisiert wurde, wurde sie auch nicht in Frage gestellt.

“Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du mich brauchst”, sagte sie.

“Das werde ich machen.”

Harris klopfte leise an Marions Zimmertür. Sie antwortete nicht. Besorgt horchte er an der Tür und war erleichtert, nichts zu hören. Schlimmer wären laute Schluchzer gewesen – und Flüche, wie gemein ihr Daddy doch war. Behutsam öffnete er die Tür, um sie nicht zu wecken, falls sie schlief. Er steckte den Kopf durch den Spalt und sah sie auf dem Bett liegen und mit Lulu spielen. Ihr Kopf schnellte hoch, als sie ihn hörte, ihre Augen blitzten vor Neugierde, doch im nächsten Moment sah sie ihn wütend an.

“Darf ich reinkommen?”

“Nein!”

“Aber ich komme trotzdem rein.” Er ging zu ihr, sammelte unterwegs schmutzige Kleider vom Boden auf und setzte sich zu ihr ans Bett. “Hasst du mich immer noch?”

Schmollend schob sie die Unterlippe vor und kämmte inbrünstig das Haar ihrer Barbie. “Ich hasse die Piekser.”

“Das weiß ich. Aber die Piekser sind einfach nötig wegen deiner Diabetes.”

“Ich hasse Jabetes.”

Ein bittersüßes Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit. Er lehnte sich zu ihr hinüber, um das weiche Haar auf ihrem Kopf zu küssen. “Oh, mein Lieblingsparfüm”, sagte er und roch an ihren Haaren.

“Ich trage doch kein Parfüm, Daddy”, erwiderte sie, wie sie es immer tat, wenn er das sagte. Das war ein kleines Spiel zwischen den beiden, und ihre Antwort signalisierte ihm, dass der Sturm vorüber war.

“Ich muss kurz mit dir reden.”

Geduldig wartete er, bis sie das enge, glitzernde Kleid über die stattlichen Brüste der Puppe gezogen hatte und sie zur Seite gesetzt hatte. Endlich blickte sie ihn aufmerksam an, und er begann, leise und vorsichtig zu sprechen.

“Wir haben ein Problem. Oder, vielmehr, ich habe ein Problem. Ich bin nicht besonders gut darin, mich um dich zu kümmern.”

Marion schaute ihn mit großen Augen verwundert an. Damit hatte sie nicht gerechnet.

“Du brauchst jemanden, der dir deine Medizin gibt und der deine Ernährung überwacht.”

“Aber du kannst das doch tun.”

Er schüttelte den Kopf. “Nein, das kann ich nicht. Wir wissen beide, dass es nicht funktioniert.”

“Ich werde dich nicht mehr treten …”

“Süße, es ist nicht nur das. Natürlich ist es das auch …”, sagte er grinsend, um sie ein bisschen zu ärgern. Er zog sie an sich und drückte sie liebevoll. Marion legte ihren Kopf auf seine Brust. “Ich arbeite sehr viel. Und ich bin oft weg. Du aber brauchst jemanden, der immer ein Auge auf dich hat.”

“Warum kann Maggie sich denn nicht um mich kümmern?”

“Maggie arbeitet in der Klinik. Mit den Vögeln.”

“Wieso bekommen die Vögel immer alles?” Sie setzte sich auf und schaute ihn trotzig an. “Ich bin doch auch krank.”

Harris erschrak ein bisschen über die Abneigung, die sie den Tieren gegenüber verspüren musste, um solch einen Vergleich zu ziehen. “Die Vögel sind meine Arbeit, Süße. Aber du, du bist mein Herz, mein Leben.”

Das schien sie zu besänftigen. Sie seufzte und lehnte sich wieder zurück an die Brust ihres Vaters. “Du meinst also, ich bekomme einen neuen Babysitter? Wie Katie?”

“So in der Art. Erinnerst du dich, dass Katie abends nach Hause ging? Ich habe jemanden eingestellt, der hier wohnen und schlafen wird.”

“Sie wird hier bei uns wohnen? In unserem Haus?”

“Ja.”

Marion drehte sich, um ihm in die Augen schauen zu können. In ihrem Gesicht spiegelte sich deutliches Interesse wider. “Ist sie dann so etwas wie eine Mutter?”

“Um Gottes willen, nein”, sagte er und lachte leise. Er bemerkte, dass sie traurig wurde und sich ihr Blick trübte, und setzte sanft hinzu: “Ja gut, vielleicht ein bisschen. Sie wird dir vorlesen, Essen kochen und dir morgens beim Anziehen helfen. Und vor allem wird sie dafür sorgen, dass du regelmäßig deine Medizin bekommst.”

“Du meinst, die Spritzen?”

“Ja, die auch.”

Marion verzog das Gesicht. “Ich will gar nicht, dass sie kommt. Sie ist nicht meine Mommy. Und das ist unser Haus.”

“Hör auf. Das ist die falsche Einstellung. Ihre Aufgabe ist es, dir zu helfen, und deine Aufgabe ist es, dir helfen zu lassen. Du musst uns erlauben, uns um dich zu kümmern.” Er griff in die Brusttasche seines Hemdes und zog einen Brief heraus. Nachdem er ihn geöffnet hatte, hielt er ihn in das Licht der Nachttischlampe.

“Ich habe eine Anzeige in der Zeitung aufgegeben und einige Antworten bekommen. Miss Majors heißt die Frau, die ich für dich ausgesucht habe. Sie ist eine Krankenschwester, also weiß sie, was Diabetes ist und was sie tun muss. Sie kann das viel besser als ich.”

“Aber ich will, dass du bei mir bist und mich versorgst.” Ihre Stimme klang eher ängstlich als streitlustig.

“Möchtest du, dass ich den Brief vorlese?”

“Mir egal.”

Harris räusperte sich und begann zu lesen.

Lieber Mr. Henderson,

Autor

Mary Alice Monroe
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