Der Earl und die spanische Rebellin

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Als Alejandra einen schwer verwundeten Engländer auf dem Schlachtfeld findet, bringt sie ihn ins Haus ihres Vaters, des spanischen Rebellenführers. Vom ersten Moment an spürt sie ein unsichtbares Band zu dem Fremden mit den wachsamen hellblauen Augen und dem Haar wie gesponnenes Gold. Doch als sie entdeckt, dass er kein einfacher Soldat ist, sondern Captain Lucien Howard, Earl of Ross, muss er schleunigst wieder verschwinden! Zuvor allerdings erliegt sie dem Begehren, das zwischen ihnen brennt, und gibt sich einer Liebesnacht in seinen Armen hin. Mit ungeahnten Folgen …


  • Erscheinungstag 16.02.2021
  • Bandnummer 610
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502573
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Die Engländer erklären, auf dem Meer keine Neutralität mehr anzuerkennen, ich werde sie zu Lande nicht mehr anerkennen.

Napoleon Bonaparte

A Coruña, Spanien – 16. Januar 1809

Captain Lucien Howard, Earl of Ross, vermutete, dass seine Nase gebrochen war. Wahrscheinlich auch sein Hals, denn er konnte sich nicht bewegen. Auf ihm lag sein Pferd. Es hatte den Kopf zur Seite gedreht, die braunen Augen waren leblos. Es war ein gutes Tier gewesen, hatte ihn den ganzen schweren Weg von Lissabon durch den Schnee der kantabrischen Berge und die von Schlamm und Eis rutschigen Pässe hierhergebracht. Er fluchte leise und wandte sich ab.

Jeder Atemzug schmerzte, eine besorgniserregende Erkenntnis in Anbetracht der Tatsache, dass er sich weit entfernt von jeder medizinischen Hilfe befand. Noch ein Tag, und Napoleon und seine Generäle würden überall am Hafen sein. Es war zu Ende, die Briten hatten verloren, der harte Winter hatte auch den letzten Widerstand aufgezehrt, zusammen mit dem Durcheinander bei den Seetransporten aus dem südlichen Vigo.

Liebe Güte, wäre er nicht so schwer verletzt gewesen, dann hätte er vielleicht gelacht, aber das würde ihn vermutlich umbringen. Es war so verdammt kalt, sein Atem bildete kleine Wolken, und vom Meer her war Nebel aufgezogen, der sich mit dem Rauch der Schlacht vermengte, der dicht über dem Tal hing.

Lucien hatte keine Angst vor dem Tod. Es war das Sterben, das beunruhigte, dessen Länge und Breite, das Ausmaß und die damit verbundene Hilflosigkeit.

Er legte den Kopf zurück und sah hinauf zum Himmel in der Hoffnung, dass es schnell gehen würde. Er konnte nicht beten, diese Art von Glaube hatte er schon vor langer Zeit verloren, vor sehr langer Zeit. Er konnte nicht einmal mehr die richtigen Worte finden und um Vergebung bitten oder Buße tun. Im Namen des Königs und des Vaterlands hatte er Männer getötet, gute wie schlechte, aber wenn man einmal das Weiße im Auge des Feindes gesehen hatte, dann besaßen die alten Treueschwüre und Versprechen nicht mehr so viel Wert wie einst.

Ein Mann war ein Mann, welche Sprache er auch immer sprechen mochte, und meistens gab es eine Familie, die irgendwo auf seine Rückkehr wartete. So wie seine eigene Familie es tat. Bei diesem Gedanken packte ihn ein Schmerz, der noch stärker war als der bisherige, aber Lucien war entschlossen, nicht mit Tränen in den Augen zu sterben, und er zwang sich, an etwas anderes zu denken.

Es war spät, so viel wusste er, die Sonne stand knapp über dem Horizont, und vom Tag war nur noch wenig übrig. Er sah die Reihe der Pechfackeln, ein Stück weit entfernt, bei den Olivenbäumen und Aloehecken, wo man nach denen suchte, die noch lebten. Er brachte nicht genügend Kraft auf, um zu rufen, während er hier lag, mit einer Mauer aus groben Steinen auf der einen Seite und einer Art Garten auf der anderen.

Lucien meinte, Orangenblüten riechen zu können und wilde Blumen, aber sicher täuschte er sich. Es erstaunte ihn, wie warm ihm plötzlich wurde, als Frieden ihn überkam und er ganz unerwartet Reue bekannte, was er schon längst hätte tun sollen.

„Vergib mir, Jesus, denn ich habe gesündigt.“ Jetzt, am Ende seines Lebens, fiel es ihm gar nicht so schwer. Er lächelte. Nein, es war überhaupt nicht schwer.

Der englische Soldat war bedeckt vom Blut seines Pferdes, die Wärme, die der tote Körper des großen Tieres noch ausstrahlte, rettete ihn, erlaubte ihm zu leben in der eisigen Kälte an diesem Januarmorgen in Galicien.

Aber nicht mehr lange. Sein blondes Haar war rot von der Blutlache, in der sein Kopf lag, und aus einer Wunde am Hals sickerte immer mehr Blut. Der Tag schickte das erste Licht über den Himmel, und so weit das Auge sehen konnte, war der Boden von Leichen übersät. Engländer und Franzosen, dachte sie, im Tode nah beieinander wie Freunde. Nur Generäle könnten die Ansicht vertreten, dass irgendetwas auf der Welt ein solches Opfer wert wäre. Die Jugend beider Länder war vernichtet, ehe sie überhaupt nur eine Gelegenheit gehabt hatte zu leben. Sie fluchte laut über die Sinnlosigkeit des Krieges und nahm dem Soldaten den goldenen Siegelring ab, um ihn ihrem Vater zu geben.

Als er die Augen öffnete, wirkte das Weiße darin im Licht des frühen Morgens beunruhigend, beinahe durchsichtig.

„Noch – nicht – tot?“ In der Frage, die in gebrochenem Spanisch gestellt wurde, lagen Enttäuschung und Resignation.

„Wo tut es weh?“

Er lächelte. „Wo – nicht?“

Seine hohen Wangenknochen waren zerschrammt, und er hatte einen tiefen Riss in der Lippe, aber auch von oben bis unten mit den Zeichen des Krieges versehen, war er noch schön, zu schön, um hier einsam und vergessen zu sterben. Ihr Zorn bestärkte sie noch in ihrem Entschluss, und sie kratzte den Schneematsch mit dem Fuß zur Seite, um sich auf den festen Boden neben ihm stellen zu können.

Sie nahm eine abgebrochene Zaunlatte, schob sie unter den Hals seines Pferdes, und dann gelang es ihr, den Kopf weit genug anzuheben und den Leichnam zu drehen, sodass er von dem Mann herunterglitt, wobei der Schlamm überallhin spritzte.

Er stöhnte, es war ein Laut, wie man ihn unwillkürlich macht, wenn großer Schmerz sich Bahn bricht und nicht auszuhalten ist.

„Schrei nur, Engländer, wenn du willst“, sagte sie zu ihm. „Ich würde es auf jeden Fall tun. Deine Freunde wurden auf dem Seeweg evakuiert, und die Franzosen sind in der Stadt, also wird dich niemand hören.“

Liebe Güte, wie sehr hatte sie das alles satt, diesen eisernen Willen und den männlichen Stoizismus. Der Tod dauerte ewig, und wenn Männer, die ihren letzten Atemzug weit entfernt von zu Hause taten, nicht weinen konnten, wer sollte es dann tun?

Sie sicher nicht. Und auch nicht ihr Vater. Nicht die Offiziere, die mit ihren Pferden sicher auf dem Weg nach Hause waren, auf der wilden und stürmischen Bucht von Biskaya. Andere Pferde waren führerlos in den Straßen von A Coruña unterwegs, auf der Suche nach Hilfe, ihre zahlreicheren unglücklicheren Artgenossen lagen tot auf den Klippen, die die Bucht überragten. Man hatte ihn in einem unbeholfenen Akt des Mitleids die Kehlen durchgeschnitten.

Besser tot als der Gnade des Feindes ausgeliefert. Einst hätte sie diesen Satz vielleicht geglaubt. Jetzt glaubte sie an nichts und niemanden mehr. Der Zorn, den sie in sich trug, beunruhigte sie zuweilen, aber meistens dachte sie nicht darüber nach. Adan und Bartolomeu hatten sie jetzt erreicht, ihre Trage aus Leinwand hatten sie dabei.

„Wollen Sie, dass wir ihn zurückbringen?“

Sie nickte. „Vorsichtig anheben.“

Als Tomeu sich hinhockte, wischte er eine von Schlamm bedeckte Epaulette ab. „Er ist ein capitán.“ Es ließ sich nicht leugnen, dass es mattes Gold war, was sie da sahen, und ihr sank der Mut. Ihr Vater war nicht mehr fest überzeugt von einem Triumph der Spanier, und er distanzierte sich von der Politik der Region. Ein Offizier wäre bei Enrique weniger willkommen als ein einfacher Soldat. Komplizierter. Schwerer zu erklären.

„Dann müssen wir dafür sorgen, dass er sich erholt, um für unsere Sache zu kämpfen.“

Aus irgendeinem Grund bekam der Mann, der da vor ihr lag, auf einmal Bedeutung. Ein Hinweis auf den Sieg oder ein Zeichen für die Niederlage? Das vermochte sie nicht zu sagen. Sie wusste nur, dass er die verletzten Finger der linken Hand in ihre gelegt hatte, als suchte er Trost, und dass sie trotz aller Vorsätze, das nicht zu tun, ihn festhielt und versuchte, seine eiskalte Haut zu wärmen.

Als sie ihn auf die Leinwand rollten, stöhnte er wieder, und sie erhaschte einen ersten Blick auf die Wunden an seinem Rücken. Der Stoff seines Hemdes bestand nur noch aus Streifen, dazwischen kam das offene Fleisch zum Vorschein.

Da ist, dachte sie, mehr als nur ein Säbel zum Einsatz gekommen, und es ist eine Menge Hass im Spiel gewesen. Durch den Blutverlust zitterte er, daher nahm sie ihren Poncho aus Wolle ab und breitete ihn über ihm aus, zog ihn hoch bis unter sein Kinn.

Tomeu sah sie stirnrunzelnd an. „Wozu die Mühe? Er wird ohnehin sterben.“ Die harte Wahrheit, die sie nicht hören wollte, obwohl in seinem Tonfall auch Wut mitschwang. „Sie kommen und sie gehen. Am Ende ist es immer dasselbe. Der Tod holt sie alle.“

„Padre Nuestro que estàs en los cielos …“ Leise betete sie das Vaterunser und legte den reich verzierten Rosenkranz auf ihn, damit er ihn beschützte, als sie sich auf den Heimweg machten.

Der Junge, der auf dem Feld bei ihm gewesen war, war auch jetzt an seiner Seite, saß schlafend auf einem Stuhl, einen Hut tief ins Gesicht gezogen. Um die Kälte, die ihn umfing, irgendwie zu vertreiben, schüttelte Lucien den Kopf und fragte sich, wo zum Teufel er sich befinden mochte. Nicht auf den Schlachtfeldern, auch nicht auf dem Weg nach Hause, und ganz sicher war er nicht in der Hölle, denn er lag auf einem frischen Baumwolllaken, und über ihn hatte man eine warme Wolldecke gebreitet.

Er drehte den Kopf ein Stück und versuchte, den Stimmen zu lauschen, die von draußen aus weiter Ferne zu ihm drangen. Spanisch. Da war er ganz sicher. Die schweren Dachbalken und weiß verputzten Wände sagten ihm außerdem, dass sich dieses Haus irgendwo auf der Iberischen Halbinsel befand und dass der Mann, dem es gehörte, sehr reich sein musste – wer immer er sein mochte.

Sein Blick fiel auf den Burschen. Jung war er. Mager. Ein Arbeiter. Lucien begriff nicht, was er hier machte. Warum war er nicht draußen und kümmerte sich um eines der vielen Dinge, die auf einer großen und gut funktionierenden Hacienda zu erledigen waren? Welcher Herr würde ihm erlauben, einfach in einem Krankenzimmer zu sitzen und nichts zu tun?

Sein Blick fiel auf den Knöchel über einem ausgetretenen Stiefel, aber in demselben Moment traf ihn ein interessierter Blick aus grünen Augen.

„Sie sind wach?“

Es war der Dialekt aus Léon, aber darunter lag etwas, das er nicht zuordnen konnte.

„Wo bin ich?“ Er antwortete in derselben Sprache und sah den überraschten Ausdruck des Jungen.

„In Sicherheit.“

Das kam nach wenigen Sekunden.

„Wie lange – bin ich schon hier?“

„Seit drei Tagen. Sie wurden auf dem Schlachtfeld oberhalb von A Coruña gefunden an dem Morgen, an dem die Engländer auf dem Seeweg fortgebracht wurden.“

„Und die Franzosen?“

„Die genießen mit Sicherheit die Vorzüge des Krieges. Ich nehme an, dass Soult mit seiner Armee auf Napoleons Befehl in die Stadt gekommen ist. Viele von ihnen sind dort.“

„Um Himmels willen.“

Bei diesen Worten bekreuzigte der Junge sich, Lucien sah im Kerzenlicht die kleine Bewegung als direkte Folge seines Fluchs.

„Wer sind Sie?“ Diese Frage kam so leise, es war beinahe ein Flüstern.

„Captain Howard von den Achtzehnten Leichten Dragonern. Haben Sie Neuigkeiten vom englischen General Sir John Moore?“

„Sie haben ihn in der Nacht begraben, auf der Anhöhe in der Nähe der Ruinen der Zitadelle. Es heißt, er starb umgeben von seinen Offizieren. Ein Schuss in die Brust.“

Schmerz durchzuckte Lucien. „Woher wissen Sie das?“

„Dies ist unser Land, Capitán. Die Stadt liegt nicht einmal drei Meilen von hier entfernt, und in der Gegend passiert nur wenig, von dem wir nicht erfahren.“

„Wir.“

Das Schweigen, das darauf folgte, war verräterisch.

„Gehören Sie der Guerillabewegung an? Sind Sie einer der Soldaten von El Vengador? Dieses Gebiet steht unter seinem Kommando, nicht wahr?“

Der Junge ging darauf nicht ein, sondern stellte selbst eine Frage. „Wo haben Sie Spanisch gelernt?“

„Fünf Monate in Spanien bringen gewisse Vorteile mit sich.“

„Aber nicht so gute Sprachkenntnisse.“ Es war unüberhörbar, dass ihm nicht geglaubt wurde.

„Ich höre aufmerksam zu.“

Lucien sah, dass an dem schmalen Hals seines Gegenübers der Puls schneller schlug und eine Hand zur Faust geballt wurde. Ein abgebrochener Fingernagel und die Reste einer Wunde am Daumen. Alte Verletzungen. Zarte Finger. Zierlich. Sensibel. Linkshändig. Aus kleinen Bewegungen ließ sich so vieles ablesen.

Sie hatte Angst vor ihm.

Das Wort kam ihm einfach so in den Sinn. Es waren die Knöchel, dachte er später, und die schlanken Arme.

„Wer sind Sie, señorita?“

Bei diesen Worten stand sie auf, legte ihm eine Hand um den Hals und drückte zu. „Wenn Sie zu irgendjemandem auch nur ein Wort darüber sagen, werden Sie tot sein, desconocido, ehe Sie dazu kommen, Ihren Satz zu vollenden. Haben Sie das verstanden?“

Er sah sich um. Die Tür war geschlossen, die Wände waren dick. „Sie haben – mir nicht das Leben gerettet, um – mich jetzt zu töten.“

Er hoffte, dass er recht hatte, denn er konnte kaum noch atmen. Als sie ihn losließ, hasste er die Erleichterung, die er dabei empfand, wieder tief Luft holen zu können. Es machte ihn verletzlich, so am Leben zu hängen.

„Die anderen werden auf Ihre Vermutungen nicht so nachsichtig reagieren, wenn Sie sie so gedankenlos äußern, und jeder hier würde mich mit seinem Leben beschützen.“

Er nickte und wandte den Blick ab von diesen grünen Augen.

„Ich nehme daher an, dass Sie die Tochter des Hauses sind.“ Er benutzte jetzt die kastilianische Hochsprache und sah, wie sie erstarrte, aber sie antwortete nicht und war verschwunden, ehe er noch etwas sagen konnte.

Wer zum Teufel war das, dieser Fremde mit den hellblauen Augen, denen nichts entging, dem Haar, das aussah wie gesponnenes Gold, und einem Körper, der die Spuren des Krieges trug?

Kein einfacher Soldat, so viel war sicher. Die Leichten Dragoner hatten mit Paget vor San Cristobel gekämpft, und doch war er östlich von Piedralonga gefunden worden, das gut zwei Meilen weit entfernt lag und unter Hopes Zuständigkeit fiel. Verunsichert runzelte sie die Stirn.

Captain Howard hatte zuerst den Dialekt aus Léon gesprochen und war dann auf Kastilianisch fortgefahren, mühelos hatte er die Sprache gewechselt. Ein Fremder, der ihnen allen gegenüber gefährlich werden konnte, und sie war diejenige gewesen, die ihn hierhergebracht hatte. Sie sollte ihrem Vater und den anderen von diesen besorgniserregenden Widersprüchen erzählen. Sie sollte ihn von hier fortbringen, weit weg von der Hacienda, wo er dann zusehen müsste, wie er zurechtkam. Aber stattdessen …

Stattdessen trat sie in ihrem Zimmer ans Fenster und sah hinaus auf das dunkle Meer, das sich unter ihr erstreckte. Dieser capitàn hatte etwas an sich, das sie an sich selbst ebenfalls erkannte. Ein Eindringling, der von allen anderen isoliert blieb und von Gefahr umgeben war. Und er zeigte auch keine Furcht, denn als sie ihm mit der Hand die Luft abgedrückt hatte, hatte er sich nicht gegen sie gewehrt. Sondern er hatte abgewartet. Als hätte er gewusst, dass sie loslassen würde.

Fluchend schloss sie die Fensterläden gegen die Dunkelheit.

Lucien lag wach und lauschte. Er lauschte auf das leise Rascheln eines Dienstbotenrockes und die schweren Schritten im Korridor vor der Tür von jemandem, der die Lichter löschte. Den Geräuschen nach zu urteilen, befand sich das Gebäude am Meer. Als seine Retterin an ihm vorbeigegangen war, hatte er das Salz gerochen und gleichzeitig gehört, wie Wellen an einen Strand schlugen. Drei Meilen, hatte sie gesagt, waren es bis A Coruña, und doch war hier das Meer näher, höchstens eine Meile weit entfernt und sogar weniger, falls der Wind aus Norden kam, wie es vor drei Tagen der Fall gewesen war. Jetzt hatte der Wind nachgelassen, denn die Fensterläden klapperten nicht mehr. An drei Stellen hielten schwere Schlösser die Läden zusammen, und an ihrer Patina erkannte Lucien, dass die Beschläge alt sein mussten. Unterhalb des Schiebefensters sah er Kratzer in dem weißen Verputz, Striche, die jemand dort hineingeritzt haben musste. Wofür sie wohl standen? Wochentage? Stunden? Monate? Aus der Ferne vermochte er das nicht richtig zu erkennen.

Warum waren die hier hinterlassen worden? Es würde nicht mehr als einen Moment dauern, die Striche zu entfernen. Ein bisschen weißen Kalk darüber, und die Striche wären verschwunden.

Auf einem kleinen Holztisch neben seinem Bett lag eine Bibel, darüber hing ein reich verziertes goldenes Kreuz, und daneben stand eine Bronzefigur von Jesus mit der Dornenkrone.

Katholisch und gläubig.

Lucien fühlte sich diesem geschlagenen Christus verbunden, der Hals tat ihm weh, und immer wieder durchfuhr scharfer Schmerz seinen Rücken. Die Wunden, die ihm ein Franzose mit seinem Säbel zugefügt hatte, als er versucht hatte, gegen General Hopes hintere Ränge zu reiten. Jetzt war ihm heiß, er spürte das brennende Fieber in den Händen, und seine Vorderzähne taten schrecklich weh, aber er war zu müde, um den Arm zu heben und den Schaden zu ertasten. Er wünschte, das magere Mädchen würde wiederkommen, ihm etwas Wasser bringen und sich zu ihm setzen, aber nur die Stille war da, um ihm Gesellschaft zu leisten.

Es war Morgen, als sie zurückkam, noch ehe das silbrige Licht den Tag gebracht hatte, und dieses Mal kamen andere mit ihr.

Der Mann neben ihr war, so vermutete Lucien, um die fünfzig, ein großer Mann, der die auffallende scharlachrote und hellblau gefärbte Jacke eines Husaren aus Extremadura trug. Begleitet wurde er von zwei jüngeren Männern.

„Ich bin Señor Enrique Fernandez y Castro, auch bekannt als El Vengador, Capitàn. Wie es aussieht, haben Sie von mir gehört?“

Lucien betrachtete die harten dunklen Augen und den großen Schnurrbart des Guerilla-Anführers. In diesem Teil der Welt war er ein bedeutender Mann, der gefürchtet wurde. Er sah seiner Tochter absolut nicht ähnlich.

„Wenn die englischen Soldaten nicht zurückkehren, dann wird es für die Sache der Spanier wenig Hoffnung geben, Capitàn.“ Hochkastilianisch. In seinen Worten lag nicht einmal der Hauch eines anderen Dialekts, nur der reine arrogante Tonfall der Aristokratie.

Lucien war ehrlich, was seine eigene Einschätzung der Situation betraf. „Nun, die spanischen Generäle haben sich keinen Gefallen getan, señor, und es ist ein Glück, dass bei den Franzosen ein solches Chaos herrscht. Hätte Napoleon persönlich die Mühe auf sich genommen, auf die Iberische Halbinsel zu kommen, und das Ganze nicht seinem Bruder überlassen – ich glaube nicht, dass irgendetwas übrig geblieben wäre.“

Der ältere Mann fluchte. „Spanien kann keine Männer gebrauchen, die eine Krone an sich reißen, und die königlichen Bourbonen haben nicht die Macht zurückzuschlagen. Nur Partisanen und Ihresgleichen werden die Franzosen aus Spanien vertreiben, denn auch die Armee ist in dieser Beziehung nutzlos.“

Insgeheim stimmte Lucien zu, aber das sagte er nicht. Die juntas waren zersplittert und im Wesentlichen ineffektiv. John Moore und die britischen Expeditionstruppen hatten das auf die harte Weise herausfinden müssen, durch das Versprechen einer spanischen Streitkraft, die niemals kam. Stattdessen gerieten sie in eine Auseinandersetzung.

Das Mädchen hörte aufmerksam zu, ihr Blick unter dem Rand der Kappe wachsam. Diese Kappe schien sie immer zu tragen. Allerdings hatte sie an diesem Tag eine andere Jacke an. Wahrscheinlich hatte sie das Kleidungsstück von einem englischen Fußsoldaten gestohlen. Das Scharlachrot passte zu ihrer Hautfarbe. Doch dann wandte er den Blick schnell wieder ab. Sie hatte ihn bereits gewarnt, und so viel zumindest schuldete er ihr.

Der ältere Mann trat zurück, und an seinem Gürtel blitzte Metall auf. „Während wir hier reden, trampeln Soult und Ney durch den Norden, aber der Süden ist noch frei.“

„Weil die britischen Expeditionstruppen die gesamte Opposition mit sich brachten, als sie hierherkamen.“

„Vielleicht“, meinte der andere Mann und sah ihn nachdenklich an. „Warum sprechen Sie unsere Sprache so gut?“

„Ehe ich nach Madeira ging, war ich einige Zeit in Dominica.“

„Da spricht man einen anderen Dialekt.“ Es war still im Raum und die Atmosphäre angespannt.

Zum ersten Mal seit Tagen lächelte Lucien. „Jeder meiner Lehrer sagte, ich sei sehr sprachbegabt, und ich habe mich eine ganze Weile in Spanien aufgehalten.“

„Warum wurden Sie hinter den englischen Linien gefunden? Die Achtzehnten Dragoner waren meilenweit entfernt. Warum waren Sie nicht bei ihnen?“

„Unter General Moore habe ich die Küste für den Transport der Briten erkundet. Ihre Ankunft verspätete sich, und er machte sich Sorgen.“

„Ein Spion also.“

„Ich persönlich ziehe es vor, als Offizier des Geheimdienstes bezeichnet zu werden.“

„Wortklauberei.“ Aber der ältere Mann lachte, und die Spannung ließ nach.

Als Lucien einen kurzen Blick auf das Mädchen warf, stellte er fest, dass sie ihn mit gerunzelter Stirn beobachtete. Auf ihrer Wange war eine Wunde zu sehen, die allmählich blau wurde. Am Tag zuvor war die noch nicht da gewesen.

Unterschwellige Strömungen.

Dem älteren Mann gefiel Luciens Anwesenheit im Haus nicht, und die katalanische escopeta in seinem Waffengurt war nicht weit. Ein falsches Wort konnte genügen, um über Luciens Schicksal zu entscheiden. Er blieb stumm, während er seine Möglichkeiten abzuwägen versuchte und zuhörte, als der andere Mann sprach.

„Jeder Mann und jede Frau in Spanien ist bewaffnet mit einem Fläschchen Gift, einer Garrotte und einem Messer. Hier ist Napoleon nicht der Befreier, und seine Truppen werden nicht triumphieren. Der Tilsiter Vertrag war sein Höhepunkt, aber jetzt beginnen seine Macht und sein Ruhm zu verblassen. C’est le commencement de la fin, Capitàn, und das wissen die Franzosen.“

„Ich nehme an, das ist etwas, das Talleyrand gesagt hat? Voller Hoffnung und Poesie.“ Gerüchteweise hatte Lucien gehört, dass der geschickte französische Bischof hinter dem Rücken seines Kaisers versuchte, den Frieden auszuhandeln, um die Gewinne, die während der Französischen Revolution erworben werden konnten, zu halten und am besten noch zu mehren.

El Vengador trat vor. „Sie wissen eine Menge. Aber unsere Informationskanäle funktionieren, und man muss vorsichtig sein mit dem, was man Fremden gegenüber erwähnt, nicht wahr, Capitàn? Am besten behalten Sie Ihre Geheimnisse für sich.“

Und das sollte auch für die Feinde gelten? War das eine Warnung, versteckt unter dem Mantel der Politik? Schlicht, einschüchternd. Lucien unterdrückte den Impuls, einen Blick auf seine Retterin in der Ecke zu werfen.

Er nickte, ohne es so zu meinen, und war erleichtert, als der andere Mann sich zurückzog.

„Sie werden per Schiff nach England geschickt. Tomeu wird Sie hinbringen. Aber ehe Sie uns verlassen, möchte ich Sie um etwas bitten. Ihr Rang wird es Ihnen ermöglichen, Zutritt zu den höheren Kreisen des englischen Militärs zu erlangen, und wir möchten erfahren, was das britische Parlament hier in Spanien gegen die Franzosen plant. Jemand wird zu Ihnen Kontakt aufnehmen und dabei dies hier tragen.“ Er holte eine Rubinbrosche aus seiner Tasche und zeigte sie ihm. Ein großer Stein, in Gold gefasst, das im Licht funkelte. „Jede Information, die Sie in die Hände bekommen, kann hilfreich sein. Manchmal ist es eine Kleinigkeit, die den Unterschied macht.“

Und damit war er fort. Die anderen begleiteten ihn, nur seine Tochter blieb zurück.

„Er vertraut Ihnen.“ Sie sprach leise und trat an sein Bett. „Wäre das nicht der Fall, hätte diese Begegnung nicht so lange gedauert.“

„Weiß er, dass ich weiß, dass …“ Mit einer Geste deutete er auf sie.

„Dass ich ein Mädchen bin? Oh ja. Haben Sie seine Warnung nicht gehört?“

„Warum hat er Sie dann bei mir gelassen? Jetzt?“

Sie lachte. „Das können Sie nicht erraten, Capitàn?“ Ihre grünen Augen funkelten, und sie sah ihn an mit einem Blick, der zeigte, dass sie ihren Wert kannte. Für die Sache. Für ihren Vater. Für die Handlungen einer Guerillabewegung, deren Leben von stichhaltigen Informationen und loyalen Boten abhing.

„Verdammt. Sie sind es, die er schicken wird?“

„Eine Frau kann sich in vielen Kreisen bewegen, zu denen ein Mann keinen Zugang hat.“ In ihren Worten lag eine Herausforderung. Sie hob das Kinn, und die Schwellung an ihrer Wange war deutlicher zu sehen.

„Wer hat Sie geschlagen?“

„An einem Ort, an dem Krieg herrscht, können Gefühle schon mal heftig sein.“

Zum ersten Mal errötete sie in seiner Gegenwart, und er griff nach ihrer linken Hand. Ihre Haut war seidenweich.

„Wie alt sind Sie?“

„Bald dreiundzwanzig.“

„Alt genug, um zu wissen, wie gefährlich Tricks sein können, oder? Alt genug, um zu wissen, dass nicht alle Männer – freundlich sind?“

„Sie warnen mich vor dem männlichen Appetit?“

„So könnte man es auch ausdrücken, nehme ich an.“

„Dies ist Spanien, Capitàn, und ich bin kein kleines Mädchen mehr.“

„Sie sind verheiratet?“

Sie antwortete nicht.

„Sie waren verheiratet, aber er ist tot.“

Voller Entsetzen starrte sie ihn an. „Woher wissen Sie das?“

Er deutete auf ihren Ringfinger. „Die Haut ist heller dort, wo Sie einen Ring getragen haben. Genau hier.“

Sie spürte die Angst wie einen Kloß in ihrer Kehle. Sie spürte auch andere Dinge, Dinge, auf die sie kein Recht hatte, und sie entzog sich seiner Berührung und ging ans Fenster. In ihren Schläfen pochte es, und ihr wurde ein wenig übel.

„Wie werden Sie gerufen? Von Ihren Freunden?“

„Lucien.“

„Meine Mutter hat mich Anna-Maria genannt, aber mein Vater hat diesen Namen nie gemocht. Als ich fünf Jahre alt war, hat er ihn geändert, und ich wurde Alejandra, die Verteidigerin der Menschheit. Ein anderes Kind hat er nicht, wissen Sie.“

„Der Junge, den er immer wollte, wurde ihm also vorenthalten, und deswegen musste er sich mit Ihnen begnügen?“

Sie schien überrascht zu sein. „So etwas lesen Sie von dem Gesicht meines Vaters ab, einfach indem Sie ihn ansehen?“

Er kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Er erlaubt Ihnen, sich wie ein Junge zu kleiden und über die Schlachtfelder des Krieges zu ziehen. Zweifellos hat er Sie im Schießen ausgebildet und darin, wie man ein Messer benutzt, aber Sie sind klein und schmal, und dies ist eine gefährliche Zeit und ein gefährlicher Ort für eine Frau.“

„Was, wenn ich Ihnen sage, dass das mir zum Vorteil gereicht, Capitàn? Was, wenn ich sage, Sie denken genau wie die anderen und beachten die Maus nicht, sondern nur den Löwen?“

Er warf einen Blick auf ihre Wange.

„Ich habe ihm das Handgelenk gebrochen.“ Als er lächelte, wurde die Wunde an seiner Lippe gedehnt, und Blut trat hervor.

„Warum hat er Ihnen wehgetan?“

„Er war der Meinung, die Engländer sollten in den Armen des Feindes verrotten, weil sie uns verraten haben, indem sie so überstürzt das Land verlassen haben.“

„Eine harte Sicht der Dinge.“

„Mein Vater ist derselben Meinung, aber jeder Krieg hat seinen Preis, das sollten Sie von allen Menschen am besten wissen. Der Arzt hat gesagt, Ihr Rücken wird für immer gezeichnet sein.“

„Meinen Sie damit, ich werde überleben?“

„Dachten Sie, Sie würden nicht?“

„Wären Sie nicht gewesen, sicher nicht.“

„Es ist noch Zeit genug zum Sterben, Capitàn. Die Seereise wird nicht sehr bequem sein, und bei so tiefen Wunden kann es immer zu Entzündungen und Fieber kommen.“

„Ihr Verhalten am Krankenbett ist besserungswürdig, señorita. Wenn man einen hilflosen Patienten versorgt, versucht man gewöhnlich, ihm Hoffnung zu schenken.“

„Sie wirken auf mich nicht besonders hilflos, Capitàn Howard.“

„Mit einem Rücken, den man in Streifen geschnitten hat?“

„Nicht einmal damit. Und Sie sind schon früher verwundet worden. Madeira oder Dominica waren wohl gefährliche Orte?“

„Kaum. Unser Regiment war zurückgelassen worden, um sich in der Karibik abzumühen und da zu verrotten, weil die Politiker diese reichen Inseln nicht aufgeben wollten.“

„Denn wer von den Mächtigen wäre schon tapfer genug, um für Gerechtigkeit Geld aufs Spiel zu setzen?“

Er lachte. „Genau, wer?“

Von seinem Lachen wandte Alejandra sich ab. Sicher wusste er, wie schön er war, selbst mit seiner verletzten Lippe und dem geschwollenen Auge. Er hätte weinen sollen mit der Wunde an seinem Hals und der an seinem Rücken, doch er lag da, suchte den Raum und jeden seiner Besucher mit Blicken nach Hinweisen ab und nach den Antworten auf Fragen, die sie in seinen hellblauen Augen lesen konnte. Wie mochte ein solcher Mann sein, wenn er unverletzt und im Besitz all seiner Kräfte war?

So unbezähmbar und gefährlich wie ihr Vater.

Dieser Gedanke hätte sie beinahe dazu gebracht zu gehen, aber sie rührte sich nicht von der Stelle.

„Mein Vater glaubt, dass der Krieg hier auf der Spanischen Halbinsel noch so viele Jahre weitergehen wird, dass noch viele gute Männer sterben. Er sagt, Spanien wird es sein, das der Gier des Kaisers ein Ende setzen wird, und das ist der Grund, warum er sich zu dem Mann entwickelt hat, der er nun ist. El Vengador. Der Rächer. Er glaubt nicht mehr an die Macht von Armeen und Soldatenehre. Er ist davon überzeugt, dass der Sieg nur dadurch errungen wird, dass man sich aller möglichen Listen und Finten bedient und beständig Informationen sammelt.“

„Und das glauben Sie auch? Werden Sie deshalb nach England kommen und Ihre Rubinbrosche tragen?“

„Es hat einmal eine Zeit gegeben, da war ich ein anderer Mensch, Capitàn. Dann haben die Franzosen meine Mutter umgebracht, und ich habe mich meinem Vater angeschlossen. Die Rache ist es, die uns alle hier jetzt umtreibt, und Sie würden klug daran tun, das nicht zu vergessen.“

„Wann ist sie gestorben?“

„Vor beinahe zwei Jahren, aber mir kommt es wie ein ganzes Leben vor. Mein Vater hat sie abgöttisch geliebt, mehr als alles andere auf der Welt.“

„Auch mehr als Sie?“

Wieder sah er einen Anflug von Zorn, der sofort verschwand.

Er wandte sich ab und spürte den Schmerz seiner eigenen Verluste. War seine Gruppe von Anführern in Sicherheit, oder waren sie in den Wirren des Abtransports zurückgelassen worden?

Wohl ein Dutzend Mal oder mehr war er auf den Leuchtturm gestiegen, der der Turm des Herkules genannt wurde, um nach dem Geschwader Ausschau zu halten, das am grauen und kalten Atlantik auftauchen sollte. Aber die Schiffe waren bis zur elften Stunde nicht erschienen, und seine Agenten hatten ihn gewarnt, dass der französische General Soult sich näherte und dass der Hauptteil der französischen Armee nicht weit dahinter folgte.

Er dachte an John und Philippe, an Hans und Giuseppe und all die anderen aus seiner bunt zusammengewürfelten Truppe aus Deserteuren und Taugenichtsen, eine Gruppe, die wegen ihrer Sprachkenntnisse und ihrer jeweiligen Talente ausgewählt worden war. Er hatte sie ausgebildet und vorbereitet, jedes kleinste Häppchen an Information wurde in das große Ganze eingefügt, sodass es entziffert werden konnte, um entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können.

Das Wichtigste in einer Armee war, dass die Kommunikation reibungslos verlief, und seine Aufgabe war es gewesen, dafür zu sorgen, dass jede Botschaft übermittelt und dass jeder Befehl, jede Anweisung befolgt wurde. Manchmal war da noch mehr. Ein abgefangenes Dossier von den Franzosen, eine Nachricht, die in Hände gefallen war, in die sie nicht gehörte, oder ein persönlicher Brief von unschätzbarem Wert.

Seine Gruppe war eine exotische Mischung von Männern unterschiedlichster Nationalitäten, die nur vage mit der englischen Armee verbunden war, und er hatte Angst vor dem, was ihnen zugestoßen sein könnte, wenn sie zurückgelassen worden waren.

„Waren viele Tote auf dem Feld, als Sie mich gefunden haben?“

„Ja. Franzosen ebenso wie Engländer. Aber wären die Boote nicht in den Hafen gekommen, hätte es noch mehr gegeben. Die Einwohner von A Coruña haben die Briten gut geschützt, als sie in losen Verbänden auf das sichere Meer hinausfuhren.“

Dann hatte sich das also erledigt. Jeder Mann war selbst für sein Überleben verantwortlich – er konnte nichts für sie tun, denn so, wie es aussah, hing seine eigene Zukunft an einem seidenen Faden.

Er fühlte die Hitze in seinem Körper und die Anspannung, und dass er seine Schultern und seinen Rücken kaum spürte, erfüllte ihn mit Sorge. In seiner linken Hand empfand er wieder die stechenden Schmerzen, und sein Magen – war leer.

Er lächelte, und das Mädchen, das ihm gegenüberstand, runzelte die Stirn. Vielleicht durchschaute sie ihn und begriff, dass er nur so tat als ob.

Er war nicht hungrig gewesen, jeder Gedanke an Essen weckte Brechreiz in ihm. Aber er hatte etwas getrunken, kleine Schlucke Wasser, um seinen Mund zu befeuchten und die wunden Stellen zu lindern, die er an seinen Lippen fühlte.

Vermutlich sah er schrecklich aus. Er wünschte, er könnte erbrechen, dann würde er vielleicht das Gefühl des Verlustes loswerden. Oder auch nicht.

„Haben Sie Familie?“

Eine andere Frage, eine typisch weibliche, wie er fand.

„Meine Mutter und vier Geschwister. Wir waren zu acht, ehe mein Vater und mein jüngster Bruder ertranken.“

„Das ist eine große Familie. Manchmal wünschte ich …“ Sie vollendete den Satz nicht, und Lucien sah, wie sie schwer schluckte.

Man gab nichts Persönliches preis. Niemals. Das war eigentlich eine eherne Regel in der Gefangenschaft nach dem Krieg, denn alles konnte gegen einen verwendet werden bei der Folter. Dass er freimütig von seiner Familie gesprochen hatte, wirkte auf eine andere Weise. Er hoffte, dass eine geteilte Vertraulichkeit, ein Band der Menschlichkeit, ihn würde schützen können. Versuche, mit dem, der dich gefangen hat, ins Gespräch zu kommen, und baue eine Freundschaft auf. Dann ist das Risiko geringer, dass der Feind dich tötet.

Das Blatt konnte sich jederzeit wenden, und jeder Mann und jede Frau in dieser Ecke Spaniens würde das wissen. Schlachten wurden gewonnen, dann verloren und dann wieder gewonnen. Nur die Zeit zählte, und wenn dreitausend kämpfende Männer aus Frankreich an den Grenzen deines Landes standen und noch dazu unter Napoleon Bonapartes persönlichem Befehl, dann gab es keinen Zweifel darüber, wie das ausgehen würde.

Wenn England nicht schnell mit seinen Streitkräften zurückkehrte, dann würde Spanien dasselbe Schicksal ereilen wie fast jedes andere Land in Europa.

Bei diesem Gedanken begann ihm der Kopf zu dröhnen.

Am nächsten Nachmittag kam das Mädchen zurück, um Lucien vorzulesen, und auch am übernächsten, und mit gekonnter Betonung trug sie ihm den ersten Abschnitt von Cervantes’ Don Quixote vor.

Lucien hatte das Buch viele Male gelesen, und sie ebenfalls, so wie es schien, denn manchmal sah sie auf und rezitierte den Text aus dem Gedächtnis.

Es gefiel ihm, ihrer Stimme zu lauschen, und er sah ihr gern zu – die Abenteuer des glücklosen Ritters von La Mancha zauberten tiefe Grübchen in ihre Wangen. Ihm fiel auf, dass sie die freie Hand oft benutzte, um eine Gegebenheit mit einer Geste zu betonen oder zu unterstreichen, und als ihre Jacke zurückrutschte, sah er weiße Narben über den bläulichen Adern an ihrem Handgelenk.

Als sie mit dem Buch fertig war, schlug sie es zu, lehnte sich in dem Ledersessel zurück und betrachtete ihn. „Die Schrift ist die Sprache der Seele, meinen Sie nicht auch, Capitàn?“

Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu nicken. „Als Soldat war Cervantes fünf Jahre in Gefangenschaft. Ich nehme an, das war der Stoff für diese Geschichte.“

„Das wusste ich nicht.“

„Vielleicht kam er da zum ersten Mal auf die Idee, seinen wahnsinnigen Helden zu erschaffen. Die schwelende Ungewissheit während einer Gefangenschaft zwingt einen dazu, Fragen zu stellen und Prioritäten neu zu setzen.“

„Ist das bei Ihnen so?“

„Allerdings. Ein Gefangener fragt sich immer, ob dies der Tag ist, an dem er lebend keinen Nutzen mehr hat für die, die ihn gefangen halten.“

„Sie sind kein Gefangener. Sie sind hier, weil Sie verletzt sind. Zu verletzt, um transportiert zu werden.“

„Meine Tür ist verschlossen, Alejandra. Von außen.“

Das beunruhigte sie, und sie runzelte die Stirn. „Die Dinge sind nicht immer so, wie sie erscheinen“, gab sie zurück und stand auf. „Mein Vater gehört nicht zu der Sorte Männern, die Sie grundlos töten würden.“

„Was wäre denn ein Grund? Er will, dass ich fortgehe. Ich bin eine Last, von der er wünschte, sie nicht zu haben.“ Er hob eine Hand und stellte fest, dass sie zitterte. Heftig.

„Dann strengen Sie sich an, damit Sie gesund werden, verdammt.“ Sie stieß die Worte voller Zorn hervor. „Wenn Sie zur Tür gehen können, können Sie auch bis zur Veranda gehen. Und wenn Sie das schaffen, dann können Sie immer weiter und weiter gehen. Und dann könnten Sie auch fortgehen.“

Statt einer Antwort griff er nach der Bibel, die neben seinem Bett lag, und reichte sie ihr. „So wie dieser Mann hier?“

Verwundert öffnete sie das Buch an der Stelle, an der er das goldfarbene Band als Lesezeichen eingelegt hatte.

Hilf mir. Ich vergebe dir.

Von zitternder Hand mit einem Kohlestift geschrieben, war der Staub mit der Zeit und dem Gebrauch verwischt worden und hatte auf der gegenüberliegenden Seite einen Abdruck hinterlassen. Als sie zu den Strichen sah, die auf der gegenüberliegenden Wand unterhalb des Fensters in den Verputz gekratzt worden waren, wusste Lucien genau, was diese Zeichen zu bedeuten hatten.

„Er war auch ein Gefangener in diesem Raum?“

Sie bekreuzigte sich, das Gesicht in einem Ausdruck des Schmerzes erstarrt und leichenblass.

„Sie wissen gar nichts, Capitàn. Überhaupt gar nichts. Und sollten Sie das jemals gegenüber meinem Vater erwähnen, wird er Sie umbringen, und ich wäre nicht in der Lage, ihn daran zu hindern.“

„Aber Sie würden es versuchen?“

Die Luft um sie herum schien stillzustehen, Staub stieg von der alten Bibel auf und schwebte in der Luft, ein Augenblick für die Ewigkeit. Und er verlor sich in ihren grünen Augen, hatte ihnen nichts entgegenzusetzen, wie eine Motte in der dunklen Nacht, die im Licht verglüht.

Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte, aber das war es nicht, was ihn anzog. Es waren ihre starken Emotionen, ihr Zorn, der ebenso stark war wie seiner. Sie ging mit Büchern ebenso geschickt um wie mit der Klinge, und das Geheimnis, das er in ihren Augen lesen konnte, vereinte Wissen und Trauer.

Sie waren beide Ritter, die gegen Windmühlen kämpften in einem kontinentalen Krieg, die kleine Hoffnung, sie könnten etwas bewirken, verebbte in dem nationalistischen Wahnsinn.

Spanien, Frankreich, England.

Zum ersten Mal in seinem Leben stellte Lucien sein Leben als Soldat infrage und auch die Folgen der Schlacht für sie alle, und er empfand Sehnsucht.

Er war fest davon überzeugt, dass Alejandra den Mann kannte, der diese Nachricht geschrieben hatte. Der Puls an ihrem Hals pochte noch immer zu schnell, und sie leckte sich über die Lippen, um die Angst zu vertreiben.

Er sah zu, wie sie die Seite aus der Bibel trennte, ehe sie ihm das Buch zurückgab. Das vom Alter brüchig gewordene Blatt riss sie in kleine Stücke und steckte sie in ihre Tasche.

Als sie kehrtmachte und das Zimmer verließ, wog das Buch schwer in seiner Hand.

Gütiger Himmel. In der darauffolgenden Stille blätterte er das Buch durch, bis sein Blick auf einen weiteren Abschnitt fiel, der mit einem Kohlestift markiert worden war. Das Alte Testament, Matthäus 6 Vers 14. „Und wenn du den Menschen vergibst, die gegen dich sündigen, dann wird der himmlische Vater auch dir vergeben.“

Ganz offensichtlich suchte Alejandra, die Tochter des El Vengador, weder Vergebung noch Absolution. Lucien fragte sich, warum.

Sehr viel später erwachte Lucien, schreckte durch großen Schmerz ins Bewusstsein zurück, und Alejandra war wieder da, saß auf dem Stuhl neben seinem Bett und beobachtete ihn. Als er zufällig einen Blick auf den Tisch neben dem Bett warf, bemerkte er, dass die Bibel entfernt worden war.

„Der Arzt hat gesagt, Sie müssen trinken.“

Er versuchte ein Lächeln. „Brandy?“

Sie spitzte die Lippen und hob ein Glas mit Sirup aus Orange und Minze. „Dies ist gesüßt, und der Honig wird Ihnen helfen, gesund zu werden.“

„Danke.“ Er nippte an dem Getränk und genoss es, als die kühle Flüssigkeit ihm durch die Kehle rann.

„Trinken Sie nicht zu viel“, riet sie ihm. „Sie müssen sich erst wieder daran gewöhnen.“

Als er sich zurücklehnte, runzelte er die Stirn. Die Benommenheit war beunruhigend. Wenn er sich übergab, dann würde es mit ziemlicher Sicherheit nicht Alejandra sein, die anbieten würde sauber zu machen. Er schluckte und zählte bis fünfzig.

Nach einer Weile sprach sie wieder. „Sind Sie ein religiöser Mann, Capitàn Howard?“

Das war nicht die Art Frage, die er erwartet hatte. „Ich wurde im anglikanischen Glauben erzogen, aber es ist eine Weile her, seit ich eine Kirche besucht habe.“

„Wenn der Glaube auf die Probe gestellt wird, dann leidet der Körper.“ Sie sagte das, als hätte sie es irgendwo gelesen, ein Ratschlag, der sie beeindruckt hatte.

„Ich glaube, es sind die Franzosen, die mit meinem Leid am meisten zu tun haben, señorita.“

„Gottes Macht im Hinblick auf Ihre Heilung zu unterschätzen könnte in Ihrer Lage fatal sein. Wenn Sie es wollen, kann ein Priester Ihnen die Absolution erteilen.“ Aus ihren Worten sprach Unmut.

„Nein.“ Er hatte nicht gewollt, dass das so endgültig klang. „Wenn ich sterbe, dann sterbe ich. Wenn nicht, dann nicht.“

„Schicksal, meinen Sie? Glauben Sie daran?“

„Ich glaube, dass das Schicksal die Menschen heimsucht, wenn sie nicht handeln. So etwas Ähnliches hat vor langer Zeit Buddha, der Prophet, gesagt.“

Sie lächelte. „Ihre Religiosität ist also eklektizistisch? Sie nehmen sich hier ein Häppchen und da ein Stück? Wie es gerade am besten zu Ihrer Situation passt?“

Autor

Sophia James
Romane von Georgette Heyer prägten Sophias Lesegewohnheiten. Als Teenager lag sie schmökernd in der Sonne auf der Veranda ihrer Großmutter mit Ausblick auf die stürmische Küste.
Ihre Karriere als Autorin nahm jedoch in Bilbao, Spanien, ihren Anfang. Nachdem ihr drei Weißheitszähne gezogen wurden, lag sie aufgrund starker Schmerzmittel tagelang flach. Die...
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