Die Geheimnisse des Earls

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Niemals wird Lady Adelaide Ashfield den furchtbaren Lord Berrick heiraten, den ihr Onkel für sie bestimmt hat! Der einzige Ausweg: Sie nimmt den spontanen Antrag von Gabriel Hughes, Earl of Wesley, an. Seit sie dem so arroganten wie rätselhaften Lebemann in einer rauschenden Ballnacht in London begegnet ist, lässt er ihr Herz insgeheim höherschlagen. Doch was empfindet er für sie? Ist es für ihn nur eine Scheinehe? Als Gabriel ihr ein schockierendes Geständnis macht, fürchtet sie, dass ihr die ersehnte Erfüllung in seinen Armen für immer versagt bleibt …


  • Erscheinungstag 20.10.2020
  • Bandnummer 607
  • ISBN / Artikelnummer 9783733748258
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

London 1812

Das vertraute Gefühl der Sinnlosigkeit umfing Gabriel Hughes, den Earl of Wesley, raubte ihm den Atem und damit auch jede Wärme, als er so dasaß, mit einem Glas voll guten Brandys und einer halb aufgerauchten Zigarre.

Willige Frauen, verkleidet als Elfen, Nymphen und Najaden, umringten ihn, der Stoff ihrer knappen weißen Tuniken entblößte üppige nackte Brüste. Ein Dutzend anderer Männer hatten bereits ihre Begleiterinnen für die Nacht gewählt und waren einer nach dem anderen in den Zimmern verschwunden, die von der Halle abgingen. Hier waren die Lichter gedämpft, und der Rauch der heruntergebrannten Kerzen ringelte sich hinauf zur Decke. Der Tempel der Aphrodite war ein Ort der Lust und der gut bezahlten Liaisons. Und dieser Tempel war voll bis zum letzten Platz.

„Ich würde Ihnen sehr gern meine Vorzüge im Bett zeigen, monsieur“, flüsterte die schöne Blonde neben ihm ins Ohr. Ihr aufgesetzter französischer Akzent überdeckte kaum den schweren Ost-Londoner Slang. „Ich habe schon oft gehört, wie Ihr Name erwähnt wurde, und es heißt, Sie hätten auf diesem Gebiet sehr viel Geschick.“

Hätten … Das Wort hallte in seinem Kopf wider wie ein Schuss in einer Stahlkammer. Gabriel trank den letzten Schluck Brandy aus und hoffte, dass der starke Alkohol Gefühle in ihm wecken könnte, die er schon seit langer Zeit nicht mehr empfunden hatte. Oder dass er Erinnerungen auslöschte. Wie sehr er die hasste. Sein Herz schlug schneller, als er die Unruhe zu vertreiben versuchte. Der dumpfe Schmerz unerfüllter Erwartung war keine Empfindung, nach der er sich sehnte.

„Ich bin Athena, Mylord.“

„Die Schwester des Dionysos?“

Sie sah ihn verwirrt an und schob den Stoff von ihren milchweißen Schultern, während sie sich vorbeugte und ihre weichen Brüste dabei gegen seinen Arm drückten. „Diese Schwester kenne ich nicht, Mylord, aber heute Nacht kann ich Ihnen gehören. Ich kann Ihnen sehr viel Vergnügen bereiten, wenn Sie das wünschen.“

Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie irgendetwas über die griechischen Götter wusste, aber trotzdem verspürte er Enttäuschung – eine Frau, die einfach nur schön war und sonst nichts. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die vollen Lippen, befeuchtete sie und wartete auf eine Reaktion. Ihre geweiteten Pupillen ließen vermuten, dass irgendein Opiat im Spiel war, eine Hure ohne Scham und ohne Schranken, die vom Leben vermutlich enttäuscht war. Gabriel spürte so etwas wie eine Verbindung zu ihr und lächelte.

„Das ist sehr großzügig, Athena, aber ich kann dieses Angebot nicht annehmen.“

Schon kreisten die Dämonen über ihm, kamen näher, und als ihre Finger seine Lenden berührten, wäre er um ein Haar zurückgezuckt. „Und woran liegt das, monsieur? Der Tempel der Aphrodite ist der Ort, an dem Träume wahr werden.“

Oder Albträume, dachte er, als die Vergangenheit ihn einholte.

Die Schreie, während das Feuer um sich griff, der unerträgliche Schmerz brennenden Fleisches und dann die Dunkelheit, die den Schmerz betäubte.

Gabriel hasste es, wenn diese Erinnerungen kamen, unerwünscht und beängstigend. So plötzlich, dass er sich nicht gegen sie wehren konnte. Er stand auf und hoffte, dass Athena nicht sah, wie seine Finger zitterten, als er das Glas auf den niedrigen Tisch stellte. Lauf, befahl ihm sein Körper, noch als er langsam durch das Zimmer schritt, fort von den erotischen Exzessen, der Leidenschaft, der Begierde. Er fürchtete zu ersticken, als er endlich draußen war, weil er die frische Nachtluft nicht einatmen konnte, während die Übelkeit heftiger wurde.

Um ein Haar wäre er mit dem Honourable Frank Barnsley und einem anderen Mann zusammengeprallt, als er den Garten des Etablissements betrat und sich abwandte. Auf seiner Oberlippe bildeten sich Schweißperlen. Er wusste, ihm blieben nur noch wenige Augenblicke, um das zu verbergen, was als Nächstes kommen würde.

Zu seiner Linken standen Bäume, dicht, grün, und mit so viel Haltung, wie er eben noch aufzubringen vermochte, schaffte er es bis dorthin, wo er vor Blicken geschützt war. Er beugte sich vornüber, war kaum noch bei Bewusstsein. Es wurde noch schlimmer. Die Eindrücke, die er soeben im Tempel der Aphrodite gewonnen hatte, drohten ihn zu überwältigen: der Geruch der schweren Parfüms, das üppige nackte Fleisch, Orgien der Lust. Alles verbunden mit einem anderen Ort, einer anderen Zeit. Schuldgefühle stiegen in ihm auf, Panik drohte. Sein Herz raste, er spürte nur noch Angst, das Gefühl zu fallen war so überwältigend, dass er sich auf den Boden setzte und die Arme um den festen Stamm eines jungen Baumes legte. Ein Fixpunkt. Das einzig Stabile in seiner sich drehenden, taumelnden Welt.

Er beugte sich zur Seite, erbrach sich einmal, dann noch zweimal, rang nach Luft und versuchte zu verstehen.

Sein Leben. Seine Schande.

An diesem Abend den Tempel der Aphrodite zu besuchen und sich davon Heilung zu erhoffen war ein riesiger Fehler gewesen. Er musste sich hinlegen, in der Dunkelheit, in der Stille. Die Einsamkeit machte ihm Angst, als die Tränen zu fließen begannen.

„Ich hege nicht den Wunsch, irgendjemanden zu heiraten, Onkel.“ Miss Adelaide Ashfield fürchtete, dass ihre Stimme einen schrillen Klang hatte, und mäßigte ihren Tonfall. „Hier in Northbridge bin ich mehr als glücklich, und mein Erbe kann gleichmäßig unter deinen Kindern verteilt werden, oder unter ihren Kindern, wenn ich sterbe.“

Alec Ashfield, Viscount Penbury, lachte nur. „Du bist jung, meine Liebe, und so etwas darfst du nicht sagen. Abgesehen davon haben meine Nachkommen mehr, als sie jemals brauchen werden, und wären dein Vater und deine Mutter noch unter den Lebenden, möge Gott ihren armen dahingeschiedenen Seelen gnädig sein, würden sie mir die Meinung sagen, weil ich dich erst so spät in die Gesellschaft einführe.“

Adelaide schüttelte den Kopf. „Es war nicht deine Schuld, dass Tante Jean einen Monat vor meiner ersten Saison starb oder dass Tante Eloise im darauffolgenden Sommer kurz vor der zweiten Saison krank wurde.“

„Aber ich hätte dich daran hindern sollen, eine übertrieben lange Trauerphase einzuhalten. Du hast das reife Alter von dreiundzwanzig Jahren erreicht, ohne dass du in die Londoner Gesellschaft eingeführt worden wärest. Das bedeutet, dass du nicht mehr in dem Alter bist, in dem man eine großartige Verbindung eingehen kann, denn du stehst nicht mehr in der Blüte deiner Jugend. Wenn wir noch länger warten, meine Liebe, wirst du eine alte Jungfer werden. Eine alte Jungfer werden und bleiben. Ein Blaustrumpf wie deine geliebten Großtanten, die sich stets um das Leben anderer gekümmert haben.“

„Jean und Eloise waren sehr glücklich, Onkel Alec. Sie haben ihre Unabhängigkeit genossen.“

„Sie waren alte Jungfern, meine Liebe, ohne die Hoffnung auf eine vorteilhafte Verbindung. Man musste sie nur ansehen, um das zu verstehen.“

Zum ersten Mal seit Beginn der Unterhaltung lächelte Adelaide. Vielleicht waren ihre Tanten eher unscheinbar gewesen, aber sie hatten über einen raschen Verstand verfügt, und ihr Leben war niemals langweilig gewesen.

„Sie sind gereist, Onkel, und sie haben gelesen. Sie wussten mehr über Heilkunde als so mancher Arzt. Bücher haben ihnen eine Welt eröffnet, die weit entfernt war von der Last der Verantwortung, die eine verheiratete Frau tragen muss.“

„Lasten wie Kinder, Liebe, Lachen. Du kannst nicht wissen, wie sich siebzig Jahre in deiner eigenen Gesellschaft anfühlen, und gegen Einsamkeit gibt es kein Heilmittel. Das kann ich dir aus eigener Erfahrung berichten.“

Sie wandte sich ab. Josephine, Onkel Alecs Frau, war jahrzehntelang krank gewesen, hatte in ihrem Zimmer gesessen und Stickereien gefertigt für Menschen, die keinen Bedarf dafür hatten.

„Eine Saison ist alles, worum ich dich bitte, Adelaide. Eine Saison, damit du siehst, was du vielleicht verpasst, wenn du dich hier in den abgelegenen Gefilden des ländlichen Sherbornes versteckst.“

Adelaide runzelte die Stirn. Dieser Vorschlag war neu. Er bot ihr eine begrenzte Zeit an. „Du würdest mich nicht zu einer weiteren Saison drängen, wenn die erste sich als Fehlschlag erweist?“

Alec schüttelte den Kopf. „Wenn es bis dahin niemanden gibt, der um deine Hand anhält, jedenfalls niemanden, der dir gefällt, dann werde ich meine Pflicht deinen Eltern gegenüber als erfüllt ansehen und du kannst hierher zurückkommen. Selbst wenn du dich bereit erklärst zu einer halben Saison, wäre ich schon glücklich.“

„Von April bis Juni? Nur so lange?“

„Anfang April bis Ende Juni.“ In den Worten ihres Onkels lag ein stahlharter Unterton.

„Also gut. Drei Monate. Zwölf Wochen. Vierundachtzig Tage.“

Alec lachte. „Und nicht einer weniger. Das musst du mir versprechen.“

Adelaide ging zum Fenster und blickte über die Landschaft rings um Northbridge hinweg. Sie wollte nicht fort von hier. Sie wollte nicht in das Blickfeld der Gesellschaft treten, an der sie wenig interessiert war. Sie wollte in ihrem Garten bleiben und in der Nähe ihrer Krankenstation, wollte jenen in Northbridge helfen, die so viele verschiedene körperliche Leiden hatten. Das war ihre Welt, die Welt, die sie verstand. Die Tinkturen und Salben, die getrockneten Kräuter und Wurzeln aus dem Wald. Hier fühlte sie sich sicher.

„Da ich auch eine entsprechende Garderobe, einen Platz zum Wohnen und eine Anstandsdame brauche, erscheint mir das sehr viel Aufwand für nichts zu sein.“

„An all diese Dinge habe ich gedacht, und eine meiner Verwandten, Lady Imelda Harcourt, wird dich begleiten.“ Als sie Onkel Alec unterbrechen wollte, hob er die Hand. „Mir ist bewusst, dass sie ein wenig langweilig ist und manchmal auch anstrengend sein kann, aber sie ist außerdem eine angesehene Witwe und verfügt zweifellos über gute Kontakte innerhalb des ton. Und ich werde London besuchen, sooft ich kann, während du dort bist. Bertram wird sich ebenfalls kümmern wollen, er hat mir versprochen, dass er seine Spielgewohnheiten inzwischen unter Kontrolle hat.“

Das Herz wurde ihr noch schwerer. Nicht nur Lady Harcourt, sondern auch noch ihr Cousin? Was könnte sonst noch schiefgehen?

Doch Onkel Alec war noch nicht fertig. „Ich hatte eigentlich nicht vor, das zu erwähnen, aber jetzt scheint der ideale Zeitpunkt zu sein, um dieses Thema anzusprechen. Mr. Richard Williams von Bishop’s Grove hat mich aufgesucht in der Hoffnung, während deines Aufenthalts in der Stadt dein geschätzter Begleiter sein zu dürfen. Ein weiterer Pfeil in deinem Köcher, sozusagen, denn wir wollen nicht, dass es dir an Verehrern mangelt. Eines Tages wirst du dankbar sein für so viel Umsicht. Hier bist du gut bekannt, Adelaide, aber in London könnte es schwierig sein, andere Menschen kennenzulernen, und ein erster Eindruck ist immer wichtig.“

Adelaide war sprachlos. Ihr wurden drei Personen aufgehalst, die kaum als angenehme Gesellschaft zu bezeichnen waren, und ihr Onkel erwartete von ihr Dankbarkeit? Es gelang ihr gerade noch, nicht aus dem Zimmer zu laufen und ihn zu Ende anzuhören.

„Die Männer werden wissen, dass du ein Vermögen besitzt, und einige von ihnen können sehr skrupellos in ihren Versprechungen sein. Großer Reichtum bringt ganz eigene Probleme mit sich, meine Liebe, und du wirst in deinem Urteilsvermögen sehr vorsichtig sein müssen. Wähle einen Verehrer, der selbst stark ist, vielleicht jemand, der über ein ähnlich großes Vermögen verfügt. Einen guten Mann. Einen soliden Mann. Einen Mann mit Vermögen und Vernunft. Halte dich fern von jenen, die nur eine reiche Frau suchen, damit sie in die Spielhöllen zurückkehren können, oder jenen, deren Familiensitz schon vor Jahren verfallen ist.“

„Ich bin sicher, ich werde genau wissen, von wem ich mich fernhalten muss, Onkel.“ Insgeheim hoffte sie, dass jeder männliche Angehörige des ton sich von ihr fernhalten und dass sie nie wieder mit solchen Belanglosigkeiten behelligt werden würde.

Die Arztpraxis befand sich in einem diskreten Teil der Wigmore Street, und aus den Büchern, die er während der letzten Monate erworben hatte, wusste Gabriel mit Gewissheit, dass Dr. Maxwell Harding der größte Experte war, wenn es um Krankheiten ging, die die persönlicheren Bereiche eines Mannes betrafen.

Um ein Haar wäre er nicht hingegangen, aber seine Verzweiflung und die Mutlosigkeit, die sein Zustand ihm verursachte, hatten ihn veranlasst, den ersten möglichen Termin wahrzunehmen.

Niemand sonst saß im Wartezimmer, und der Angestellte hinter dem großen Schreibtisch wirkte ausgesprochen desinteressiert. Immerhin das fand Gabriel erfreulich. Er spielte mit dem Gedanken, einfach einen falschen Namen anzugeben, als die Tür hinter ihm geöffnet wurde und ein älterer Mann heraustrat.

„Sie sind Lord Wesley, nicht wahr? Ich bin Dr. Maxwell Harding. Ihren Namen habe ich natürlich in der Stadt gehört, aber ich hatte bisher nicht das Vergnügen, Sie kennenzulernen. In meinem Arbeitsgebiet sind Sie jemand, dem viele meiner Patienten gern nacheifern würden, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Sein Händedruck war feucht, und er zog danach ein Taschentuch hervor, um sich mit einer nervösen Geste die Stirn abzuwischen. „Bitte folgen Sie mir.“

Die rätselhafte Andeutung des Arztes verwirrte und beunruhigte Gabriel. Er wollte nicht, dass dieser Arzt seinen Namen kannte oder seinen Ruf. Ganz gewiss wollte er nichts von anderen Patienten hören, die ihre eigenen geschlechtlichen Erkrankungen hatten und in ihm eine Art Lösung zu sehen schienen.

Ihm wurde beinahe so übel, wie er sich vor einer Woche vor dem Tempel der Aphrodite gefühlt hatte, aber als die Tür des Sprechzimmers hinter ihm geschlossen wurde, nahm er sich zusammen. Harding war schließlich ein Arzt, und er hatte den Hippokratischen Eid geleistet, sich um das Wohlergehen seiner Patienten zu kümmern. Alles würde in Ordnung gehen. Dr. Harding trat jetzt zu einem Schrank, nahm eine Karaffe und zwei Gläser heraus und goss beide bis zum Rand voll.

„Ich weiß, warum Sie hier sind, Mylord“, sagte er endlich, als er Gabriel eines der Gläser in die Hand drückte.

„Sie wissen es?“ Gabriel trank einen großen Schluck von dem überraschend guten Brandy und wartete ab. Stand es ihm irgendwie ins Gesicht geschrieben, sein Problem, oder war es an dem besorgten Ausdruck seiner Augen zu erkennen? Nahmen diejenigen, die durch diese Tür kamen und um Hilfe suchten, eine besondere Haltung ein, oder gingen sie auf eine bestimmte Art und Weise? War es vielleicht seine Hoffnungslosigkeit oder die Angst?

„Sie sind wegen des Honourable Frank Barnsley gekommen, oder? Er sagte, Sie hätten ihn seltsam angesehen, als Sie ihm kürzlich begegneten. Als wüssten Sie es. Er hat angedeutet, dass Sie möglicherweise herkommen und mit mir reden würden. Er sagte, sein Vater sei ein guter Freund von Ihnen.“

„Barnsley?“ Gabriel verstand nicht, wohin dieses Gespräch führen sollte, und nahm sich vor zu gehen, sobald er ausgetrunken hatte. Dies war weder die rechte Zeit, noch war es der rechte Ort, um seine Seele bloßzulegen, und dieser Arzt schwitzte in beunruhigender Art und Weise.

„Seine Vorliebe für Männer“, fuhr Harding fort. „Er sagte, Sie seien ihm und Andrew Carrington im Garten eines gut besuchten Bordells begegnet und hätten gesehen, wie sie einander umarmten, und er frage sich, ob Sie vielleicht Erkundigungen einziehen würden …“

Zorn veranlasste Gabriel, sein Glas möglichst vorsichtig auf einen neben ihm stehenden Tisch zu stellen. Harding war nicht nur ein Klatschmaul, er war auch ein Arzt ohne jedes Gefühl für Vertraulichkeit oder Professionalität. Vor dieser Ansprache hatte er keine Ahnung gehabt von den erotischen Vorlieben dieser beiden Männer, und es ging ihn auch nichts an. Aber da für Harding Diskretion offensichtlich ein Fremdwort war, fürchtete Gabriel, dass er auch über seine Probleme tratschen würde, wenn er diese dem Arzt anvertraute. Er war verdammt dankbar, dass er das nicht getan hatte.

Wenn er Barnsley und Carrington das nächste Mal im Club sah, würde er den beiden einen Drink spendieren als stumme Geste der Dankbarkeit. Aber den geschwätzigen Arzt würde er nicht ungeschoren davonkommen lassen. Drohend baute er sich vor ihm auf.

„Mr. Frank Barnsley ist ein anständiger und ehrenwerter Mann. Wenn ich höre, dass Sie irgendetwas über ihn herumerzählen, zu irgendjemandem, irgendwann, werde ich zurückkommen, und ich verspreche Ihnen, danach wird nie wieder jemand Ihre Stimme hören. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?“

Der Arzt nickte kurz und verängstigt, und Gabriel verließ das Sprechzimmer. Er eilte aus dem Gebäude, trat in den Sonnenschein und den frischen Wind hinaus in dem Gefühl, den Geiern entkommen zu sein, die über ihm kreisten. Teils voller Erleichterung, teils bedroht von Verzweiflung.

Er würde es niemals jemandem erzählen können. Niemals. Er würde allein mit seinem Problem fertig werden müssen, allein und in stiller Zurückgezogenheit. Entweder würde es ihm eines Tages besser gehen oder eben nicht, und die Vorstellung vieler trauriger Jahre überkam ihn wie eine schreckliche Erkenntnis.

Seine Wirklichkeit. Seine Strafe. Seine Vergeltung.

Aber dieser Tag war für ihn auch ein Aufschub gewesen, ein unbeholfenes Umgehen dessen, was hätte passieren können. Im ganzen ton war er bekannt für sein Geschick im Umgang mit dem anderen Geschlecht, und als die Gerüchte um seine erotischen Fähigkeiten immer lauter wurden, hatte er nichts dagegen unternommen. Sein Niedergang beruhte auf Lügen.

So weit ist es mit mir gekommen, dachte er, als er die Straße hinunterging bis zu seiner Kutsche, die, um seine Identität zu schützen, gut zweihundert Meter von der Praxis des Arztes entfernt stand, und er wünschte sich, die Dinge wären anders. Er wäre anders, sein Leben, seine Geheimnisse, sein Ehrgefühl, seine Moral, sein Anstand wären anders.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er an all die herrlichen Ideale geglaubt, die das britische Militär ihm eingetrichtert hatte. Integrität. Loyalität. Tugend. Prinzipien. Aber jetzt tat er das nicht mehr. Dieser Traum war vor dem Angesicht der Wahrheit schon lange verblasst.

Bei allem, was er tat, war er allein und klammerte sich doch an das Leben, wie eine Motte nach dem Licht strebte, nur um daran zu verbrennen. Es gab nichts und niemanden für ihn.

Er war immer allein gewesen und würde es auch immer sein.

2. KAPITEL

Nach zwei Wochen in London hatte Adelaide das Gefühl, schon einen ganzen Monat in der Stadt zu sein, und dies war der vierte Ball, den sie an ebenso vielen Abenden besuchte. Dieselbe Pracht, dieselben Leute, dasselbe langweilige Geplapper, das sich nur um Heiratsaussichten drehte, um Aussehen und darum, wie viel Geld ein Verehrer besaß.

Sie war dessen müde, allerdings war an diesem Abend die Menschenmenge noch größer, und nicht alle Gäste entsprachen dem hocheleganten Erscheinungsbild des ton. Offenbar eine weniger elitäre Zusammenkunft, entschied sie, und daher etwas interessanter. Lady Harcourt neben ihr schien nicht zufrieden zu sein.

„Lord und Lady Bradford schätzen die wechselhaften Zeiten, heißt es, und das kann man an einigen der anwesenden Gäste erkennen – viel Geld, aber keine wirkliche Klasse. Vielleicht hätten wir gar nicht kommen sollen, Penbury?“

Ihr Onkel lachte und trank sein Glas leer. „Adelaide ist kein dummes kleines Mädchen, Imelda, und ich bin sicher, sie kann entscheiden, mit wem sie sprechen möchte und wem sie lieber aus dem Weg geht. Tatsächlich scheinen selbst diejenigen, die einen ehrwürdigen Titel tragen, dieser Tage großzügiger im Umgang zu sein und sich weniger darum zu kümmern, wie ein Vermögen gewonnen oder verloren worden ist.“ Er ließ den Blick zu der Gruppe in einer Ecke schweifen.

In genau diesem Augenblick hob der Größte von ihnen sein Glas und sagte etwas, das die anderen zum Lachen brachte. Adelaide bemerkte, dass er einen schweren Silberring an einem Finger trug und dass die Manschetten seines Hemdes kunstvoll bestickt waren. Er verkörperte alles, was sie an einem Mann nie gemocht hatte, ein Dandy und ein Geck, gut aussehend, geradezu schön, und offenbar wusste er das. Fast jede Frau im Saal blickte in seine Richtung.

Von ihrem Platz neben einer dicken Marmorsäule aus beobachtete auch sie ihn. Aus reiner Faszination, wie sie vermutete, war doch die Länge seines Haars ebenso ungewöhnlich wie jeder seiner Züge.

„Der Earl of Wesley ist der schönste Mann am Hofe des Königs, würden Sie das nicht auch sagen, Miss Ashfield?“ Miss Lucy Carrigans Stimme erhob sich über das Geplapper der anderen, atemlos und bewundernd. „Es heißt, dass sein Londoner Stadthaus einen Spiegel an jeder Wand hat, sodass er sich aus allen denkbaren Winkeln sehen kann.“

„Und damit prahlt er?“

Lucy Carrigan, die stets die Stirn runzelte, blickte jetzt noch strenger drein. „Nun, Miss Ashfield, wenn Sie so schön wären, würden Sie dann nicht den Wunsch verspüren, sich zu betrachten?“

Bei so einem Gedanken konnte Adelaide nur lachen. Himmel, dieses Mädchen meinte das ernst. Sie bemühte sich, ihre Belustigung zu verbergen und eine freundliche Antwort zu geben.

„Vielleicht würde das so sein.“

„Meine Cousine Matilda sagt, dass Lord Wesley sie einmal geküsst hat, als sie sehr viel jünger war, und sie hat nie vergessen, welche Gefühle sein Können in ihr geweckt hat. Inzwischen ist sie längst verheiratet, aber dennoch bringt sie dieses Thema alle paar Monate wieder zur Sprache.“

„Und ihrem Gatten macht es nichts aus, das zu hören?“

„Oh, Norman kann kaum etwas dagegen haben. Lord Wesley selbst hat die beiden einander vorgestellt und sie damit auf den Weg in den heiligen Stand der Ehe gebracht.“

„An den er glaubt?“

„Wie bitte?“

„Der Earl? Ist er verheiratet?“

Als Antwort erhielt sie nur perlendes Lachen. „Oh, liebe Güte, nein. Ein Mann wie er wird sich kaum an eine einzige Frau binden, allerdings heißt es, dass er schon einmal nahe daran war.“

„Nahe daran?“

„Mit Mrs. Henrietta Clements. Sie verlor ihr Leben bei einem schrecklichen Unfall, vor einigen Monaten. Man munkelte, sie habe ihren Ehemann für Wesley verlassen. Das war ein Skandal und noch Wochen danach Gesprächsthema.“

Gewöhnlich hielt Adelaide sich von solchem Gerede fern, aber vierzehn Tage Leben im ton hatten ihr die Skrupel genommen, und Lucy Carrigan erwies sich mit ihrem Geplauder als sehr informativ.

„Und dem Earl brach es das Herz?“

„Oh nein, ganz im Gegenteil. Für eine Weile hat niemand ihn zu Gesicht bekommen, aber dann begann er sehr viel Zeit in der Gesellschaft leichtlebiger Frauen mit zweifelhafter Moral zu verbringen.“

„Sie meinen die Londoner Bordelle?“ Adelaide war nicht ganz sicher, wovon ihr Gegenüber sprach.

Lucy Carrigan errötete sichtlich und senkte die Stimme. „Keine Dame, die auf ihren Ruf hält, sollte jemals zugeben, über solche Dinge Bescheid zu wissen, Miss Ashfield. Nicht einmal unter Freunden.“ Lucy ließ den Blick über denjenigen gleiten, über den sie gerade sprachen, und auch Adelaide betrachtete ihn.

Der Earl of Wesley war groß und breitschultrig, und der nach der neuesten Mode hauteng geschnittene Abendfrack mochte nicht recht zu seinem Körperbau passen, aber die Arroganz seiner Haltung war nicht zu übersehen, ebenso wenig wie die kunstvoll gebundene Krawatte, die den gerade angesagten Stil repräsentierte. Sie hatte gehört, dass dieser Knoten „der mathematische“ genannt wurde, wegen der drei schwierigen und exakten Falten.

Er stand mit dem Rücken zur Wand und ließ niemand aus den Augen. Er beobachtete jeden. Sogar sie. Rasch wandte sie den Kopf ab, als der Blick aus seinen goldbraunen Augen zufällig auf ihr Gesicht fiel.

Lady Harcourt neben ihr plapperte etwas über die Hitze im Raum und die laute Musik. Adelaide war es leid, ihre ständigen Klagen anhören zu müssen, und bedeutete ihrer Anstandsdame, dass sie den Ruheraum für die Damen aufsuchen wollte. Leise zog sie sich dann zurück, froh, dass Imelda nicht darauf bestand, sie zu begleiten.

Als Adelaide den Salon durchquerte, erregte eine kleine Sitzbank ihre Aufmerksamkeit. Davor standen Topfpflanzen in einer Reihe und gewährten einen gewissen Schutz vor Blicken. Sie sah sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand sie beobachtete, schob die Pflanzen zur Seite und schlüpfte durch die enstandene Lücke. Dann setzte sie sich und streckte die Beine aus. Durch die hohen Fenster konnte sie hinunterblicken in den Garten.

Wenigstens für einen Moment war sie der verrückten und lächerlichen Welt entkommen, in der sie der Gesellschaft präsentiert wurde, und sie hatte die Absicht, jeden Augenblick davon zu genießen.

„Zehn Wochen noch“, murmelte sie. „Zehn verdammte Wochen noch.“

Dann hörte sie von der Seite her ein Geräusch und drehte sich danach um. Erschrocken stellte sie fest, dass dort ein Mann stand. Und nicht irgendein Mann, sondern der arrogante Earl of Wesley.

Ohne den Kreis von Bewunderern und Anhängern wirkte er bedrohlicher und gefährlicher. Fast wie eine andere Person als die, die sie vor ein paar Minuten noch beobachtet hatte. Als er sie jetzt ansah, erschien ihr der helle Goldton seiner Augen verwirrend.

„Zehn verdammte Wochen noch – und dann geschieht was?“

Das Licht einer flackernden Kerze, die ein Stück weit weg stand, fiel auf ein Grübchen in seiner rechten Wange. Im Schein der Flamme hatte er das Gesicht eines Engels. Eines gefallenen Engels, verbesserte sie sich, denn in seinem Ausdruck lag etwas, das von Finsternis und gefährlichen Tiefen sprach.

„Bis ich nach Hause zurückkehren kann, Mylord. Bis meine schreckliche Saison endlich vorüber sein wird.“ Über diese ehrliche Antwort war sie selbst überrascht. Gewöhnlich fiel es ihr schwer, mit Fremden zu sprechen. Vor allem mit Männern, die den gesamten ton in ihren Bann zogen, so wie dieser hier.

„Ihnen gefallen der Glanz und die Intrigen des Hoflebens nicht, Miss …?“

„Miss Adelaide Ashfield aus Northbridge Manor.“ Als er sie fragend ansah, fuhr sie fort: „Das liegt in Sherborne, Mylord, in Dorset. Ich bin die Nichte von Viscount Penbury.“

„Ahhh.“ Das Grübchen wurde tiefer. „Dann sind Sie reich und verfügen über gute Verbindungen?“

„Wie bitte?“ Sie konnte nicht glauben, dass er so etwas auch nur erwähnte. War das nicht der Gipfel der Dreistigkeit?

„Ich vermute, dass Sie eine reiche Erbin sind, die auf der Suche nach einem Ehemann in die Stadt gekommen ist.“

„Nein“, erwiderte sie abweisend.

Er machte ein paar Schritte auf sie zu. Aus der Nähe war er noch schöner als aus der Ferne. Hätte sie sich einen Mann ausdenken müssen, der männliche Kraft und Stärke symbolisierte, dann wäre er das gewesen. Bei diesem Gedanken lächelte sie.

„Sie finden die Gesellschaft und ihr Streben nach vorteilhaften Ehen amüsant?“ Er wirkte beinahe erheitert.

„Nein, das tue ich nicht, Sir. Ich finde sie demütigend und beschämend. Der einzige wahre Vorzug, den ich aufweisen kann, ist mein Reichtum, und dadurch bin ich … bin ich ein leichtes Ziel für Männer mit zweifelhaftem finanziellem Hintergrund.“

Sein Lachen schien von Herzen zu kommen. „Diese Beschreibung von Verzweiflung könnte auf die Hälfte der Lords im ton zutreffen, Miss Ashfield. Mich selbst eingeschlossen.“

„Sie sind … mittellos?“ Sie konnte nicht glauben, dass er so offen zu ihr sprach.

„Nicht ganz, aber ich bewege mich darauf zu.“

„Das tut mir sehr leid.“

Seine Heiterkeit verschwand vollständig. „Das muss es nicht. Ein solcher Status bringt Freiheiten mit sich, die einfach unwiderstehlich sind.“

Wieder war sie erstaunt. Seine Worte klangen nicht wie die eines oberflächlichen, arroganten Dandys. Tatsächlich war dies die erste Konversation, die sie wirklich genoss, seit sie Dorset verlassen hatte.

Er sah sich um. „Wo ist Ihre Anstandsdame, Miss Ashfield? Ich kann mir kaum vorstellen, dass es ihr gefallen würde, wenn Sie sie sich so allein in meiner Gesellschaft befinden.“

„Oh, Lady Harcourt ist dort hinten bei den anderen und beschwert sich über das Gedränge und den Lärm. Ich sollte mich im Ruheraum aufhalten, wissen Sie, aber ich habe mich stattdessen hier versteckt.“

„Eine Entscheidung, die Sie vielleicht noch bedauern werden.“

„Aus welchen Gründen, Mylord?“

Jetzt war der Blick aus seinen goldfarbenen Augen eiskalt. „Unter den tonangebenden Mitgliedern des ton kann man leicht seinen Ruf verlieren, wie wenig Sie auch selbst dazu beigetragen haben mögen.“

„Ich verstehe nicht.“

Er lächelte. „Bleiben Sie in der Nähe Ihrer Anstandsdame, Miss Ashfield, sonst werden Sie es eines Tages bereuen.“

Eine kurze Verneigung, und dann war er fort. Nur ein Hauch von Sandelholz in der Luft blieb zurück.

Adelaide holte tief Luft und schob die Pflanzen zur Seite. Sie ließ den Blick durch den Salon schweifen, in dem sich die Gäste drängten. Ganz plötzlich wirkte der Raum größer und furchteinflößender als zuvor, es lag etwas in der Luft, das sie nicht richtig ausmachen konnte, ein leises, warnendes Geflüster.

Die letzten Wochen im ton hatte sie als Spiel und als Herausforderung angesehen, aber vielleicht ging es weder um das eine noch um das andere. Wegen eines Fehlers in eine Ehe gezwungen zu werden wäre eine Katastrophe und würde ihr ganzes Leben verändern. Ohne noch einmal innezuhalten, eilte sie zurück zu Lady Harcourt.

Sie hätte nicht allein sein sollen, dachte Gabriel, als er beobachtete, wie die ungewöhnliche Miss Adelaide Ashfield an ihm vorbeihastete, zurück in die Sicherheit. Sie war so ganz anders als die anderen, die neu in die Gesellschaft kamen, dass er kaum glauben konnte, dass sie dazugehörte. Sie war älter und sehr viel … faszinierender. Ja, das war das richtige Wort. Sie schien nicht so berechnend und doppelzüngig zu sein wie fast alle anderen Debütantinnen, die er bisher getroffen hatte. Und außerdem war sie hoch gewachsen, ihr Kopf reichte ihm bis zum Kinn, und bei seiner Größe war das etwas, das nur sehr selten vorkam. Und sie war nicht blond, sondern brünett, ihr Haar hatte die Farbe von dunkler Schokolade. Ihre Augen hatten einen seltenen Blauton: ein klares Dunkelblau, darin eine Spur von Schmerz, den die Brillengläser nicht verdecken konnten. Seiner Meinung nach trug sie diese Brille nur, um mehr wie ein Blaustrumpf und weniger attraktiv zu wirken. Er konnte sich nicht erinnern, jemals eine junge Frau gesehen zu haben, die auf einem Ball eine Brille trug. Eine weitere Besonderheit, die ihn anzog.

Männer, die während der Saison nach London kamen, in der Hoffnung, eine gefügige, üppige Blondine kennenzulernen, würden sich für Miss Adelaide Ashfield aus Sherborne nicht interessieren.

„Zur Hölle“, fluchte er, aber er folgte ihr immer noch mit Blicken, sah zu, wie sie an anderen Gästen vorbeieilte.

Er hatte ihr Angst gemacht. Das war gut. Wenn es ihr bei diesem Aufenthalt während der Saison wirklich nicht um eine Heirat ging, dann sollte sie sich an der Seite ihrer Anstandsdame halten, die sie endlich erreicht hatte. Ein anderer Mann gesellte sich zu ihr, und Gabriel erkannte in ihm den Pechvogel Bertram Ashfield, der zweifellos gerade aus dem Kartenzimmer neben dem Salon kam. Er wirkte niedergeschlagen und glücklos.

Ein größerer Mann hatte sich ebenfalls zu der Gruppe begeben, sein bleiches Gesicht zeigte ein Lächeln. Er himmelte Miss Ashfield an, schien sie mit Komplimenten zu überschütten. Ein Verehrer. Er sah, wie sie von ihm abrückte, und gewann den Eindruck, dass eventuelle zärtliche Gefühle nicht erwidert wurden.

Vielleicht log sie nicht. Vielleicht war sie wirklich nur gezwungenermaßen hier. Die Szene wurde noch interessanter, als Frederick Lovelace, der Earl of Berrick, in Begleitung von Viscount Penbury selbst hinzutrat. Der Earl mit dem Kindergesicht zeigte denselben hoffnungsvollen Ausdruck wie der größere Mann zuvor.

Gabriel lächelte. War Miss Ashfield vielleicht eine Sirene, die die Gabe besaß, Männer anzuziehen, obwohl das gar nicht ihre Absicht war?

Das sah man ja schon an ihrer verdammten Wirkung auf ihn!

Er sprach selten mit den Debütantinnen, und wenn, dann schon gar nicht so lange wie mit Miss Ashfield. Und dennoch wünschte er, er würde sie noch einmal allein treffen, irgendwo, sodass sie weiter miteinander reden und er diese ruhige und leise Stimme hören konnte, die keine Gefühle zurückhielt und so vernünftig wirkte.

Die Musiker intonierten einen Walzer, und Gabriel sah zu, wie Berrick Miss Ashfields Arm nahm und sie auf die Tanzfläche führte. Alle Debütantinnen brauchten eine Erlaubnis, um den Walzer zu tanzen, und er fragte sich, wer von Almack’s Patronessen ihr die Erlaubnis dazu gegeben haben mochte.

Anscheinend kannte Miss Ashfield die Schritte nicht und stolperte ständig über ihre eigenen Füße. Berrick hielt sie fester und zog sie enger an sich, damit sie ihm leichter folgen konnte.

Verdammt! Warum mischte sich die Anstandsdame nicht ein? Oder der Onkel? Sah denn niemand sonst, wie ungehörig so viel Nähe war? Er blickte sich um, aber niemand achtete auf das Paar.

Vielleicht war Frederick Lovelace mit seiner Werbung schon weiter gediehen, als Miss Ashfield hatte durchblicken lassen? Fluchend wandte Gabriel sich zur Tür. Ausnahmsweise einmal früh aufzubrechen würde ihm guttun. Vielleicht würde er endlich etwas Schlaf finden.

Adelaide sah, wie Lord Wesley zur Tür eilte, wie er zielstrebig hinausging, und wie die anderen ihn dabei beobachteten. Einen langen und lächerlich peinlichen Augenblick lang hatte sie zuvor das Gefühl gehabt, er würde sie noch immer im Blickfeld haben, und sie hatte gehofft, dass er sie zum Tanz aufforderte.

Stattdessen führte der Earl of Berrick sie durch die Schritte, hielt sie zu fest und zu nah an seinem Körper. Zum Glück war der Walzer gleich vorbei, und dann würde sie behaupten, Kopfschmerzen zu haben, und könnte ebenfalls gehen. In diesem Augenblick war sie froh, eine ältere Anstandsdame zu haben und eine, die mehr als froh sein würde, sich früh zu Bett begeben zu können.

Ihrem Onkel würde das natürlich nicht gefallen, aber selbst er hatte wegen der ständigen gesellschaftlichen Veranstaltungen und der spätabendlichen Soireen angefangen zu schwächeln. Bertie würde natürlich bleiben, ein Gefangener der Kartenzimmer, in der Hoffnung auf einen Gewinn, der sich niemals zu ergeben schien.

„Ich würde Ihnen gern morgen einen Besuch abstatten, Miss Ashfield.“

Ihr Tanzpartner wirkte so ernsthaft, wie ein Mensch nur ernsthaft wirken konnte. Wollte er als Bewerber um ihre Hand auftreten? Sie betete zu Gott, dass das nicht der Fall sein würde, aber als er ihre Finger drückte und ihr tief in die Augen sah, wusste sie, dass diese Hoffnung vergebens war.

„Sie sind ein vernünftiges Mädchen, verfügen über Verstand und sind in der Lage, diesen auch zu benutzen.“

Sie lächelte und hasste ihre aufgesetzte Freundlichkeit so sehr, dass es wehtat. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals in ihrem Leben so viele Menschen getäuscht zu haben wie hier in London.

„Meine Mutter, die Countess, würde Sie mögen.“

Die Musik endete genau in dem Augenblick, als Adelaide dachte, gleich müsste sie in schallendes Gelächter ausbrechen, und Lord Berrick blieb nichts anderes übrig, als sie zu ihrer Anstandsdame zurückzubegleiten.

Ausnahmsweise hatte die finstere Miene von Lady Harcourt etwas Beruhigendes an sich, und Adelaide nahm ihre Hand.

„Vielleicht sollten wir aufbrechen?“

Es gelang der älteren Dame nicht, die Erleichterung zu verbergen, die ihr deutlich ins Gesicht geschrieben stand, als sie sich auf ihren Schützling stützte und sie sich gemeinsam den Weg durch die Menge in Richtung Ausgang bahnten.

In dieser Nacht träumte Gabriel von pastellfarbenen Roben und melodischen Walzern, und von einer Frau in seinen Armen auf der Tanzfläche, die nach Limonen duftete und nach Hoffnung. Das Haar trug sie offen, und ihre Augen spiegelten die Farben der Blumen, von denen sie umgeben waren.

Aber etwas stimmte nicht. Die leichte Stimmung des Traums verschwand, und Besorgnis nahm ihren Platz ein. Er durfte sie nicht küssen. Sonst würde sie Bescheid wissen. Er musste sich distanzieren von ihren sanften Berührungen, musste einen Weg finden zu gehen, ohne dass Fragen gestellt wurden. Aber sie hing an ihm wie eine Klette, und die einzige Möglichkeit, sie loszuwerden, bestand darin, sie nach unten zu drücken, immer weiter, bis sie reglos unter dem Marmorfußboden der zerstörten Kapelle lag und der schimmernde Stoff ihres Kleides und ihre bloßen Füße nach Schwefel rochen.

Aus der Gestalt von Adelaide Ashfield schälte sich Henrietta Clements heraus, deren blondes Haar mit Blut verschmiert war.

Er wollte schreien, aber er brachte keinen Laut hervor, er versuchte davonzulaufen, doch er konnte die Füße nicht bewegen, und der brennende Schmerz an seinem rechten Oberschenkel weckte ihn aus dem Schlaf in das kalte graue Licht des beginnenden Morgens.

Kaum vermochte er zu atmen, sein ganzer Körper war starr vor Angst, und der Zorn, der tagsüber still in ihm ruhte, tobte jetzt mit voller Macht.

Er wusste, dass Henrietta aus Angst zu ihm gekommen war. Angeblich war ihr Mann daran beteiligt, Napoleon finanziell zu unterstützen, und Gabriel observierte Randolph Clements schon seit ungefähr einem Monat in dem Bestreben, mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Dem Geheimdienst war zu Ohren gekommen, dass der Mann enge Verbindungen zu radikalen Kreisen in London unterhielt, und man wollte herausfinden, mit wem genau er Kontakte pflegte.

Ein einfaches Ziel. Eine leichte Aufgabe. Aber das bisschen Aufmerksamkeit, das er Henrietta Clements gewidmet hatte, hatte sich zu etwas anderem ausgewachsen, etwas, das er von Anfang an als gefährlich hätte einstufen müssen.

Er lachte, aber es lag keine Freude darin. Seit dem Feuer war Randolph Clements untergetaucht, vermutlich versteckte er sich in der Wildnis des Grenzgebiets im Norden, oder vielleicht hatte er ein Schiff nach Frankreich genommen. Es spielte keine große Rolle mehr. Wenn Clements sich für den Tod seiner Frau rächen wollte, dann würde Gabriel das beinahe begrüßen, würde das doch das Ende bedeuten der traurigen Existenz, zu der sein Leben geworden war.

Das Feuer auf Ravenshill hatte ihn zerstört, in jeder Hinsicht, jeder Wunsch nach weiblicher Gesellschaft und Intimität war Schmerz und Zorn gewichen.

Jahrelang hatte er Herzen und Versprechen gebrochen, während er das Begehren unglücklich verheirateter Frauen zur Erreichung seiner Ziele benutzt hatte. Informationen darüber, wie ein Land im Krieg zu schützen war, ließen sich auf mehr Arten gewinnen, als man sich vorstellen konnte, und er hatte seine patriotische Pflicht ohne Klagen erfüllt.

Die Gerüchte, die über ihn kursierten, hatten ihm geholfen, geheime Informationen zu sammeln, während eine befriedigte Geliebte neben ihm schlief. Es war nicht schwer, den Schreibtisch eines Ehemanns zu durchsuchen, seinen Safe oder eine Aktenmappe, ohne dass es jemand bemerkte. Und die Gefahr, die es mit sich brachte, den Schlupfwinkel des Feindes zu betreten, hatte einen Teil des Reizes ausgemacht.

Bis Henrietta Clements kam.

Als er bemerkte, dass er mit der Hand über die verletzte Haut an seinem rechten Oberschenkel strich, hielt er inne und berührte stattdessen den Ring aus Gold und Silber, den er drei Monate zuvor bei Rundell und Bridges, den bekannten Juwelieren in Ludgate Hill, gekauft hatte.

„Es ist ein christliches Zeichen, das da in den Reif graviert wurde, Mylord, und natürlich kommt das eingravierte Wort aus dem Lateinischen. Fortuna, die Herrin des Glücks, und wer bräuchte davon nicht noch eine gehörige Portion.“

Der Verkäufer, ein sehr ernsthafter junger Mann, den Gabriel noch nie zuvor in dem Geschäft gesehen hatte, schien sehr daran interessiert zu sein, das Spirituelle zu erklären. „Das Glück kommt natürlich nur, wenn der Betreffende daran glaubt. Ein Talisman zum Beispiel ist nur so stark wie die Überzeugung, mit der man ihn trägt. Wir haben Kunden, die bereit sind zu schwören, dass es funktioniert. Die Geburt eines gesunden Kindes. Die Heilung eines komplizierten Armbruchs. Ein Husten, der nach monatelangen schlaflosen Nächten endlich kuriert werden konnte.“

Wie ist es mit der Fähigkeit, wieder erotische Freuden zu empfinden?

Glaubte er daran? Konnte er es sich leisten, das nicht zu tun? Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er über solchen Unsinn gelacht, aber jetzt griff er mit der Leidenschaft des frisch Bekehrten nach jedem Strohhalm. Er hatte ein Vermögen bezahlt für diese fragwürdige Unterstützung und sie seitdem jeden Tag getragen. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er den Ring nicht einfach vom Finger ziehen und in die Themse werfen sollte. Denn Monate ohne irgendeinen Hinweis auf seine Wirkung waren vermutlich ein ausreichendes Zeichen dafür, dass der Ring keine Kraft besaß.

Doch die Hoffnung brachte ihn dazu, ihn weiterhin zu tragen, auch wenn seine eigene Verfassung sich kein bisschen zum Besseren gewandelt hatte.

Eine Woche später akzeptierte Gabriel trotz all seiner Bemühungen, sich etwas anderes einzureden, endlich die Tatsache, dass er impotent war.

In dem dunklen Zimmer in dem Haus in der Grey Street blickte er an sich hinunter zu dem Körperteil, der sich nicht geregt hatte, und dachte, dass dies nun der Punkt war, an den das Leben ihn gebracht hatte. Welche Ironie. Als wollte das Schicksal sich über ihn lustig machen.

Die Frau im Bett war schön, üppig, reizvoll – ein Mädchen vom Land mit einer Mischung aus Frische, Vernunft und einer Sinnlichkeit, die erst noch erweckt werden wollte. Sie saß da und beobachtete ihn, nur in ein sauberes, besticktes Batisthemdchen gehüllt, auf den ungeschminkten Lippen ein stilles Lächeln.

„Ich fürchtete, mein erster Kunde würde alt und hässlich sein, Sir. Ich hatte mich sogar gefragt, ob ich das tun könnte, was meine Tante von mir verlangte, aber jetzt sehe ich, dass diese Arbeit vermutlich weniger schwer ist als meine letzte. Ich habe in einer Weberei gearbeitet, müssen Sie wissen. Aber die wurde geschlossen. Ich und hundert andere Mädchen schufteten dort, und das Licht tat meinen Augen weh, und wir durften nie Pause machen. Nicht so wie das hier, Sir. Niemals so wie das. Niemals liegend im Warmen, mit einem guten Glas Wein.“

„Dann bist du noch Jungfrau?“ Seine Stimmung sank bei dem Gedanken, was das bedeutete.

Sie schüttelte den Kopf. „Mary hat gesagt, ich solle behaupten, ich wäre Jungfrau, weil das besser bezahlt würde, aber ich gehe sonntags zur Kirche, Sir, und ich könnte nicht mit einer Lüge leben.“

Wenigstens dafür war Gabriel dankbar. Das erste Mal sollte für jede Frau etwas Besonderes sein. Daran glaubte er voller Überzeugung.

„Mein Jack ist gestorben, ehe wir heiraten konnten. Eines Tages wurde er krank, und am nächsten Tag war er tot. Ich hatte Glück. Zwar hatte ich mich angesteckt, war lange krank, aber ich habe überlebt.“

All diese Informationen wurden so leicht dahingesagt, dass er ruhig zuhörte. Zum ersten Mal seit langer Zeit verspürte Gabriel nicht den verzweifelten Wunsch, der Gesellschaft einer halb nackten Frau zu entkommen. Selbst die drohende Übelkeit schien bei ihren Worten nachzulassen, als wirkten diese Informationen beruhigend.

Autor

Sophia James
Romane von Georgette Heyer prägten Sophias Lesegewohnheiten. Als Teenager lag sie schmökernd in der Sonne auf der Veranda ihrer Großmutter mit Ausblick auf die stürmische Küste.
Ihre Karriere als Autorin nahm jedoch in Bilbao, Spanien, ihren Anfang. Nachdem ihr drei Weißheitszähne gezogen wurden, lag sie aufgrund starker Schmerzmittel tagelang flach. Die...
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