Der wagemutige Earl und die schöne Erbin

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"Heirate mich!" Ungläubig schaut Lennox die wunderschöne Mercy Rutherford an. Seit sie seinen Weg gekreuzt hat, steht das Leben des adligen Erfinders Kopf. Soll er der Liebe mit dieser freiheitsliebenden Amerikanerin eine Chance geben? Er muss sich schnell entschließen, denn Mercys schrecklicher Verlobter, vor dem sie geflohen ist, hat sie nun in Schottland aufgespürt. Die Ehe mit Lennox ist Mercys letzte Rettung! Aber so verarmt, wie Lennox ist, kann er unmöglich eine reiche Erbin heiraten. Das verbietet ihm seine Ehre. Doch tollkühn geht Mercy noch weiter: Wenn keine Heirat, dann soll Lennox ihr zumindest eine sinnliche Nacht schenken …


  • Erscheinungstag 11.08.2020
  • Bandnummer 356
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749231
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Da, Miss Mercy! Sehen Sie doch nur!“ Ruthies Stimme drohte zu kippen. „Ein Monstrum! Eins von diesen schottischen Ungeheuern, genau wie in den Geschichten, die man uns erzählt hat!“

„Unsinn, Ruthie.“ Mercy Rutherford versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren und gleichzeitig ihre Zofe zu beruhigen.

Ruthie jedoch wollte von Beruhigung nichts wissen. Mit beiden Händen umklammerte sie Mercys rechten Oberarm und lehnte sich mit dem Oberkörper über sie, um einen Blick aus dem linken Kutschenfenster zu werfen.

Nein, um ein Ungeheuer handelte es sich nicht, dafür aber um eine der merkwürdigsten Erscheinungen, die Mercy je gesehen hatte: einen Bootskörper mit Rädern und einem Schweif, der hinter einem gewaltigen Segel hervorragte. Das Erstaunliche und Beängstigende an dem Gebilde war, dass es in der Luft schwebte wie ein riesiger, missgestalteter Vogel, der genau auf sie zuflog.

„Ich wusste es, Miss Mercy. Ich wusste es. Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass ein Unheil passieren würde, als ich diese drei Elstern sah?“

Ruthie erblickte in allem und jedem die Vorboten von Unheil.

„Wenn es kein Ungeheuer ist, Miss Mercy, was ist es dann?“

Mercy wusste es nicht. Ein Gebilde wie dieses hatte sie noch nie gesehen.

„Ist es ein Drache?“

Die Bezeichnung passte so gut wie jede andere.

„Er wird mit uns zusammenstoßen, Miss Mercy.“

Es sah ganz danach aus. Ruthie war nicht die Einzige, die sich fürchtete. Die Pferde begannen in Panik zu wiehern, und der Kutscher, den Mercy in Inverness angeheuert hatte, brüllte Befehle, während er alles tat, um das Gespann unter Kontrolle zu behalten.

Am liebsten hätte Mercy die Augen geschlossen und sich eingeredet, sie schliefe – und würde wach werden wie gewöhnlich, weil die Zofe neben ihrem Bett stand, das Tablett mit Kaffee, Toast und der Vase mit einer einzelnen knospenden Rose aus dem Gewächshaus in den Händen.

Der Tag, der vor ihr lag, würde genauso sein wie tausend andere Tage zuvor. „Der Juwelier ist da mit ein paar Schmuckstücken zu Ihrer Auswahl, Miss Mercy“, würde Ruthie sagen. Oder: „Sie müssen das neue Ballkleid noch einmal anprobieren, Miss Mercy.“ Oder: „Der Koch hat Konfekt für Sie zubereitet. Soll ich Ihnen etwas davon bringen?“

Unwesentliche Einzelheiten, die ihr Leben ausmachten; ein Leben, das rundherum sorglos sein sollte. Ein Leben, dem sie vor ein paar Wochen entflohen war.

Würde sie etwa daran zugrunde gehen, dass sie frei sein wollte?

Die Kutsche hielt an, ruckte jedoch gleich darauf unsanft vorwärts, als die Pferde durchzugehen drohten. Mercy konnte es ihnen, nachdem sie abermals aus dem Fenster geblickt hatte, nicht verdenken. Der Drache kam näher. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie sich vermutlich darüber gewundert, wie etwas, das so gar nicht nach einem Ballon aussah, es fertigbrachte, in der Luft zu bleiben. Jetzt allerdings, da wirklich Gefahr drohte, ging ihr anderes durch den Sinn. Direkt neben der Straße befand sich ein See oder jedenfalls eines jener Gewässer, das die Schotten als Loch bezeichneten. Mercy war ziemlich sicher, dass weder Ruthie noch der Kutscher, Mr. McAdams, schwimmen konnten.

Wenn Schreien etwas geholfen hätte, hätte sie in das Wiehern der Pferde und Ruthies Gejammer eingestimmt. Aber es nützte nichts, wenn sie alle in Panik verfielen. Jemand musste die Ruhe bewahren.

Inzwischen flog der Drache niedriger und kam immer näher. Ein Mann, der in dem bootsähnlichen Mittelteil des Gebildes saß, lenkte ihn.

„Wenden“, sagte sie halblaut. Natürlich konnte er sie nicht hören, aber vielleicht hörte Gott ihr zu. „Bitte mach, dass er wendet.“

Der Mann flog weiter schnurgerade auf sie zu.

Würde sich jemand finden, der ihre Eltern davon benachrichtigte, dass sie umgekommen war? Sie hatte ihnen einen Brief geschrieben – mit einer ausführlichen Erklärung, weshalb sie diese Reise angetreten hatte. Doch wenn sie nicht nach Hause zurückkehrte, wie sollten ihr Vater und ihre Mutter jemals herausfinden, was ihr zugestoßen war?

Merkwürdig. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie vielleicht den Tod finden würde in Schottland.

Fluchend justierte Lennox Caitheart eines der Seile, die das Höhenruder seines Fluggeräts bewegten. Die Kutsche auf der Landstraße unter ihm hätte eigentlich nicht da sein sollen. Auf dieser Strecke fuhr sonst nie eine Kutsche.

Die Straße war die inoffizielle Grenze zwischen seinem Land und dem der Macrorys, und er hütete sich, sie zu überschreiten.

Ben Uaine zählte nicht. Der Berg gehörte Schottland, nicht den Macrorys, obwohl sie die Herrschaft über alles beanspruchten, worauf ihr Blick fiel.

Nein, die Kutsche hätte nicht da sein sollen, und darum flog er jetzt genau auf sie zu. Die Windböen waren genau wie berechnet, er hatte den Windsack und den Stander wochenlang beobachtet, die unterschiedlichen Windstärken morgens, mittags und abends gemessen.

Und nun drohte eine einfache, zufällig auf der Straße entlangfahrende Kutsche seinen ersten wirklichen Erfolg zu einem kompletten Desaster zu machen.

Wenn er versuchte, dem Gefährt auszuweichen, würde er geradewegs auf den See zusteuern. An sich nicht der schlechteste Landeplatz, doch wenn er auf das Wasser aufschlug, war sein Cayley-Nachbau nur noch Schrott. Er hielt auf das Tal zu, genau wie geplant, und hätte die Maschine sicher zu Boden gebracht, doch die verdammte Kutsche befand sich genau zwischen ihm und dem Punkt, auf dem er aufsetzen musste.

Mercy faltete die Hände. Wenn man in Lebensgefahr geriet, half Beten. So wurde es jedenfalls behauptet.

Sie war nicht römisch-katholisch wie Ruthie. Aber für den Allmächtigen hörte sie sich bestimmt ebenso panisch an wie ihre Zofe, auch wenn sie nicht einmal einen Rosenkranz besaß.

Vielleicht hätte ich diesen tollkühnen Botendienst nicht übernehmen sollen, Herr. Ich tat es aus Mitleid. Verdiene ich dafür nicht mildernde Umstände?

Sicherlich nicht. Das Rechte aus unrechten Beweggründen zu tun, war beinahe genauso verwerflich, wie Unrecht aus rechten Motiven zu begehen. So oder so, Mercy hätte wetten können, dass die Verbindung von recht und recht Gott lieber war als die von recht und unrecht.

Aber es handelte sich tatsächlich um einen Liebesdienst für ihre Tante und ihre Großmutter. Die beiden hatten in North Carolina gelebt, als der Bürgerkrieg ausgebrochen war. Zugegeben, auch für Mercy und ihre Familie hatte der Krieg Einschränkungen gebracht, doch in New York waren sie lange nicht so gravierend gewesen. Ihr Haus war nicht dem Erdboden gleichgemacht worden. Niemand hatte ihre Ernte verbrannt. Sie waren nicht um ein Haar verhungert im vergangenen Jahr.

Als der Bote ihres Vaters aus North Carolina zurückgekehrt war, ohne ihre Großmutter und ihre Tante angetroffen zu haben, war ihre Mutter zusammengebrochen. Entgegen allen Hoffnungen hatte der mit Dollarnoten gefüllte Koffer nichts ausrichten können. Ihre Großmutter und ihre Tante hatten North Carolina verlassen. Sie waren nach Schottland abgereist, dem Geburtsland der Großmutter.

Mercy hatte beschlossen, das Geld nach Schottland zu bringen, um sicherzustellen, dass die beiden Frauen die Unterstützung bekamen, die ihre Mutter für sie vorgesehen hatte. Um ehrlich zu sein, wäre ihr jeder Grund recht gewesen, zu entkommen, aber sie hätte sich niemals vorstellen können, in einer Kutsche zu sitzen und jeden Augenblick damit rechnen zu müssen, dass ein von Menschenhand konstruierter Drache auf sie herniederstürzte.

Das Gebilde war fast genau über ihnen, sein Sinkflug begleitet vom panischen Wiehern der Pferde und Ruthies fieberhaftem Gemurmel an ihrem Ohr.

Im nächsten Moment schien das Kutschendach abgerissen zu werden. Diesmal kniff Mercy die Augen zu, befreite ihren Arm aus Ruthies Umklammerung und legte ihn der Zofe um die Schulter. Ruthie stand seit Mercys siebzehntem Geburtstag in ihren Diensten, elf Jahre also inzwischen. Wenn ihr ein Tod in der Fremde beschieden war, würde wenigstens Ruthie bei ihr sein.

Ein schwacher Trost für ihre beiden Familien.

Mercy seufzte lautlos. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Mutter ihr verzieh und ihr Vater sie verstand.

Die Kutsche kippte zur Seite, während Ruthie ihr ins Ohr betete. Mercy verstand nicht einmal die Hälfte dessen, was die Zofe sagte – wahrscheinlich, weil es Latein war. Ruthie versäumte niemals eine Messe. Vielleicht würde Gott deshalb mit Nachsicht auf sie herabblicken. Auch Mercy ging jeden Sonntag zur Kirche, aber Presbyterianer erschienen ihr weit weniger inbrünstig in der Ausübung ihres Glaubens.

Mit der Linken griff sie nach der Lederschlaufe über dem Fenster, den anderen Arm immer noch um Ruthie gelegt. Ein entsetzliches Ächzen war das Letzte, was sie hörte, ehe die Kutsche sich überschlug.

2. KAPITEL

Ihr Gesicht war nass. Mercy versuchte den Kopf zu bewegen, der zwanzigmal schwerer zu sein schien als noch vor wenigen Minuten. Sie schob sich etwas aus der Stirn und erkannte, dass es ein Sitzpolster war.

Die Kutsche hatte sich überschlagen. Sie lag auf der Seite, und alles, was auf dem Fußboden gestanden hatte, war im Kutscheninneren herumgeschleudert worden, einschließlich des Picknickkorbs, den man an diesem Morgen für sie gepackt hatte. Ein großes Stück durchdringend riechender Käse lag nur wenige Zoll neben ihrer Nase. Wahrscheinlich war eine der Weinflaschen zerbrochen, und der Wein hatte sich wohl über ihr Gesicht ergossen.

Ruthie lag reglos auf der anderen Seite der Kutsche. Ihr Kopf ruhte auf den ausgestreckten Armen, es schien, als schliefe sie. Allerdings war sie erschreckend blass, und als Mercy sie ansprach, reagierte sie nicht.

Irgendwie schaffte Mercy es, näher zu ihr zu rutschen.

Auf einmal ging das Kutschendach auf, fast so, als würde es von der Hand eines Riesen abgeschält. Nein, korrigierte Mercy sich stumm. Keinem Riesen. Einem ganz normalen Mann.

Er blickte auf sie herunter. „Alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Ich glaube nicht, nein.“

„Sie sind Amerikanerin“, stellte er überflüssigerweise fest.

Mercy blinzelte zu ihm hoch. „Waren Sie es, der den Drachen gesteuert hat?“

„Den was?“

„Den Drachen. Das Monstrum. Nennen Sie es, wie Sie wollen.“

„Es ist ein Fluggerät.“

„Was auch immer, Sie müssen wahnsinnig sein!“

Er antwortete nicht darauf, runzelte nur die Stirn. „Sie bluten.“

Sie berührte ihre Wange. Als sie die Finger betrachtete, waren sie blutverschmiert. Also doch kein Wein.

„Werden Sie ohnmächtig?“

„Sie hätten es verdient“, erwiderte Mercy knapp. Sie war unendlich wütend auf ihn, doch mit einem Mal erschien es ihr viel zu anstrengend, es ihm zu sagen.

„Sie haben meine Zofe getötet“, warf sie ihm stattdessen vor. „Sie sind nicht nur wahnsinnig, sondern auch ein Mörder.“

„Wohl kaum.“ Er warf einen Blick auf Ruthie. „Sie atmet, aber wir müssen sie hier herausbringen.“

Mühelos riss er den Rest des Kutschendachs ab und bog ihn beiseite.

Dann hoben er und der Kutscher Ruthie aus dem Wrack, und die Zofe kam zu sich. Mercy atmete auf.

Sie selbst hatte beschlossen, seine Hilfe abzulehnen, Idiot, der er war, und aus eigener Kraft aus dem Gefährt zu klettern. Im nächsten Moment stellte sie fest, dass ihr Fuß irgendwo eingeklemmt war, und die Worte ihrer Mutter kamen ihr in den Sinn.

Es ist sein Stolz, der deinen Vater manchmal in Schwierigkeiten bringt, Mercy. An sich ist Stolz eine gute Sache, aber nicht, wenn er zu Hochmut wird.

Kurz darauf kam der Fremde zurück, um auch sie zu holen.

„Ich kann meinen Fuß nicht bewegen.“ Es ärgerte sie, dass sie ihn um Hilfe bitten musste.

Er erwiderte nichts darauf, kletterte in die Kutsche und entfernte einen Teil des Rahmens. Dann schob er die Arme unter ihre Achseln und zog sie umstandslos aus der Kutsche auf eine Wiese in der Nähe der Straße.

Mercy lag da und blickte in den blauen schottischen Himmel. Wenigstens regnete es nicht.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er nüchtern.

„Wie geht es Ruthie?“

„Ich glaube, sie hat sich den Arm gebrochen.“

Mercy schloss die Augen.

„Ich muss Hilfe für sie holen.“

„Ich habe ein wenig Erfahrung, was das Schienen von Brüchen angeht.“

Sie hob die Lider und bewegte vorsichtig den Kopf, bis er in ihrem Blickfeld auftauchte.

„Sie haben ihr den Arm gebrochen, und jetzt wollen Sie ihn schienen?“

„Etwas Besseres fällt mir nicht ein.“

„Ehrlich gesagt, ich möchte nicht, dass Sie sie behandeln.“

„Es ist mir egal, was Sie möchten.“

„Sind Sie immer so grob?“

„Ja.“

„Sie sollten sich entschuldigen.“ Mercy zeigte mit dem Finger auf ihn. „Für Ihre Einstellung und dafür, dass Sie uns gerammt haben.“

Er beachtete sie nicht. Stattdessen ging er zum Kutscher, sprach mit ihm und wies dabei auf den Fuß des Hügels.

„Ich bringe Ihre Bekannte zu mir nach Hause“, informierte er Mercy anschließend kurz angebunden. „Dort kann ich sie behandeln. Bis ich zurück bin, wird der Kutscher auf Sie aufpassen.“

Natürlich würde Mr. McAdams das tun. Er war ein freundlicher Mensch. Sie hatte ihn in Inverness eingehend befragt. Er war außerordentlich höflich gewesen und bereit, sie hierherzubringen. Natürlich hatte sie ihm ein kleines Vermögen gezahlt, um ihm die Entscheidung zu erleichtern.

Ruthie lag im Gras. Ihre Augen waren geschlossen, als sei sie erneut ohnmächtig geworden. Ohne ein weiteres Wort hob der Fremde sie auf seine Arme. Dann ging er los, den Hügel hinunter in Richtung des Sees.

Auf die Ellbogen gestützt, blickte Mercy den beiden nach, bis sie verschwunden waren, dann ließ sie sich ins Gras zurücksinken. Ihr dröhnte der Schädel, und wahrscheinlich blutete sie wieder.

Kurz darauf kam Mr. McAdams zu ihr.

„Ich fürchte, die Kutsche ist ein Wrack, Miss Rutherford. Aber Mr. Caitheart sagte, er kann uns ein Gefährt borgen.“

„Ist das sein Name? Caitheart?“

Mr. McAdams nickte. Er war ein stämmiger Mann, aber andererseits waren Kutscher immer beleibt. Sie brauchten Kraft, um die eigensinnigen Zugpferde zu lenken. Dass Mr. McAdams gerne und viel aß, war eine lässliche Sünde verglichen mit jenen, die er stattdessen hätte haben können.

Die Sünde des Stolzes zum Beispiel.

Mercy drehte leicht den Kopf. Zu ihrer Linken stand das Ungeheuer, das Mr. Caitheart gesteuert hatte. Es sah nicht einmal entfernt nach einem Drachen aus, nur nach einem zersplitterten Stück Holz mit zwei Fetzen Leinwand. Es erinnerte sie an eine Libelle – eine verwundete Libelle, die gelandet war, um sich zu erholen. Oder zu sterben.

Die Reise nach Schottland war eine Dummheit gewesen, selbst wenn es sich um einen Liebesdienst handelte. Und Ruthie mitzunehmen hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Nicht dass sie New York je ohne die Zofe verlassen hätte. Allein schon, weil sie auf ihren Ruf achten musste. Außerdem war Ruthie ihre einzige wirkliche Freundin. Aber nun hatte sie noch etwas auf dem Gewissen, nämlich Ruthies Unversehrtheit.

Mr. McAdams hatte die Pferde ausgespannt. Nun ging er zu ihnen, ließ die Hand über die Flanken der Tiere gleiten, untersuchte sorgfältig ihre Beine, eines nach dem anderen. So diskret wie möglich tastete auch Mercy nach ihren Beinen. Gott sei Dank trug sie eine Krinoline unter ihrem dunkelblauen Reisekleid, die um einiges bequemer war als ein Reifrock, besonders in der Kutsche.

Sobald sie zu dem Ergebnis gekommen war, dass anders als bei der bedauernswerten Ruthie alles in Ordnung war, setzte sie sich auf. Nur der Kopf tat ihr immer noch weh, doch das war alles.

Eine halbe Stunde verging, und es hatte nicht den Anschein, als ob Mr. Caitheart bald wieder zurückkommen würde. Auch schien Mr. McAdams an nichts anderem Interesse zu haben als an seinen Pferden.

Nun gut, dann musste sie eben selbst herausfinden, wie es Ruthie ging. Mercy atmete tief durch. Sie war nach Schottland gereist, um ihre Unabhängigkeit unter Beweis zu stellen, und sie würde genau jetzt damit anfangen.

Als sie aufstand, wurde ihr ein klein wenig schwindlig. Es dauerte einen Moment, bis die Welt um sie herum aufhörte, sich zu drehen. Dann raffte Mercy ihre Röcke, setzte sich in Bewegung und machte einen Bogen um die hohen purpurfarben blühenden Pflanzen, die stachelig waren und fast gefährlich wirkten. Sie war Disteln noch nie so nahe gekommen, aber sie wusste, wie sie aussahen. Den Kaminsims im Salon ihres Sommerhauses zierten Schnitzereien von Disteln und anderen schottischen Pflanzen. Auf diese Weise ehrte ihr Vater die Herkunft ihrer Mutter, auch wenn ihre Mutter noch nie in Schottland gewesen war.

Bei ihrer Großmutter war es eine andere Geschichte. Dass sie vierzig Jahre in North Carolina gelebt hatte, glaubte man nicht, wenn man sie sprechen hörte. Und die Geschichten, die sie erzählte, verrieten, dass sie ihr Leben lang unter Heimweh nach Schottland gelitten hatte.

Als Erstes ging Mercy zur Kutsche. Mr. McAdams hatte ihre Habseligkeiten herausgeholt und am Straßenrand aufgereiht. Als sie ihr Retikül und den Handkoffer gefunden hatte, den sie seit ihrer Abreise aus New York mit Argusaugen bewachte, trat sie zu dem Kutscher.

„Sind die Pferde unverletzt, Mr. McAdams?“

„Scheint so, Miss Rutherford. Sie haben sich bloß zu Tode geängstigt.“

Mercy streckte die Hand aus und strich dem Pferd, das ihr am nächsten stand, über die Nüstern. Sie war keine besonders gute Reiterin, aber auf dem Sommersitz hielt ihre Familie Pferde, und sie mochte die Tiere.

„Ich mache mich auf den Weg und sehe nach, wie es Ruthie geht.“ Sie runzelte die Stirn. „Mr. Caitheart scheint so bald nicht zurückzukommen, und ich möchte sicherstellen, dass mit ihr alles in Ordnung ist.“

Der Kutscher nickte.

Mercy zögerte. Aus einem unerfindlichen Grund fühlte sie sich verantwortlich für Mr. McAdams’ Kutsche. Hätte er nicht eingewilligt, sie zu ihrer Großmutter zu bringen, wäre er Mr. Caitheart, diesem Idioten, niemals über den Weg gelaufen.

Das demolierte Gefährt sah aus wie ein platt getretener Käfer. Nur die Räder waren noch intakt.

Mr. Caitheart hatte sich nicht einmal für sein Verhalten entschuldigt. Und er schien nicht das geringste Bedauern zu verspüren, dass er ihre Reisepläne durchkreuzt hatte.

Neben der Straße lagen ein paar große Felsbrocken. Mercy hätte nicht sagen können, ob es sich um eine natürliche oder von Menschen gemachte Anordnung handelte; sie setzte sich auf den breitesten von ihnen, suchte in ihrem Retikül und zog eine ihrer Visitenkarten heraus. Sie schrieb ein paar Instruktionen auf die Rückseite, dann begab sie sich wieder zu dem Kutscher.

„Gehen Sie damit zu der Adresse in Inverness“, wies sie ihn freundlich an. „Es ist eine der Reedereien meines Vaters. Man wird Ihnen dort eine Entschädigung für Ihre Kutsche zahlen.“

Sie würde ihrem Vater die Kosten aus ihrem eigenen Vermögen erstatten.

Mr. McAdams nahm die Karte entgegen, sah ihr ins Gesicht, sah auf die Karte, sah ihr wieder ins Gesicht.

„Vielen Dank, Miss.“

„Das alles tut mir furchtbar leid, Mr. McAdams.“

Der Kutscher zuckte mit den Schultern. „Was für einen bestimmt ist, geht nicht an einem vorbei, wie wir in Schottland zu sagen pflegen.“

Zum Glück hatte sie den Spruch schon einmal gehört und wusste, was er bedeutete. Was einem widerfuhr, widerfuhr einem eben.

Sie griff nach dem Koffer und ihrem Retikül und ging los. Als sie den Hügel umrundet hatte, blieb sie offenen Mundes stehen. Sie hatte angenommen, Mr. Caitheart wohne in einem jener Cottages, von denen sie nach ihrer Abreise aus Inverness so viele gesehen hatte. Die weiß gekalkten Häuschen mit den Strohdächern waren ausgesprochen pittoresk, aber nicht besonders groß.

Mr. Caitheart jedoch lebte in einem festungsartigen Schloss. Auch davon hatte sie einige gesehen, Ruinen zumeist, die schroff in die Höhe ragten.

Bei dem Schloss, das vor ihr lag, handelte es sich jedoch um eine wuchtige, aus hellem rötlichem Backstein errichtete Bastion auf einem Felsvorsprung über dem See.

Auf drei Seiten von Wasser und einem schmalen Streifen Land umgeben, gruppierte sich die Anlage um einen Turm mit wenigstens vier Stockwerken. An ihrem entferntesten Punkt, dort, wo der Hügel sich über dem Tal erhob, war die Ringmauer an einigen Stellen beschädigt, insgesamt jedoch unzerstört.

Das eigentliche Schloss erstreckte sich zwischen dem Bergfried und der Mauer. Ein Teil des ehemaligen Dachs musste eingestürzt sein, denn es war mit rohen Holzbohlen notdürftig gedeckt. Dass ein so altes Gemäuer noch immer bewohnt wurde, erschien Mercy fast wie Magie, doch andererseits war das Land, auf dem sie sich bewegte, schon besiedelt gewesen, als ihr eigenes Land noch nicht einmal entdeckt worden war.

Die Zufahrtsstraße zu dem Schloss führte zu einer Brücke über einen schäumenden Fluss. Mercy überquerte sie, dankbar für das eiserne Geländer zu beiden Seiten.

Es gab noch einen weiteren Turm in der Anlage, der jedoch eingestürzt war und nur noch aus hüfthohen Mauerresten bestand. Davor endete die Straße in einem kreisrunden Vorplatz, auf dem Kutschen problemlos wenden konnten.

Einmal war sie Gast in einem Haus gewesen, das im Umland von New York lag und einem Schloss ähnelte. Es gehörte einem Freund ihres Vaters und war angeblich die Kopie jener alten irischen Festung, aus deren Steinen es erbaut war. Doch ansonsten barg das luxuriöse Haus keinerlei Ähnlichkeit mit dem Ort, an dem sie sich gerade befand.

Es gab keine Tür zu dem Turm. Mercy durchquerte ihn und betrat einen Bereich, der einmal ein Vorraum gewesen sein musste. Es war dämmrig dort, denn das Sonnenlicht drang nur ein Stück weit herein. In der Luft hing ein modriger Geruch, vermutlich von dem Steinfußboden, der aussah, als sei er noch nie gefegt worden. Ein paar Schritte weiter erkannte Mercy eine bronzefarbene Metalltür mit einem Messingring, der von einem Seil in der Mitte herabhing.

Mercy zog daran und hörte ein gedämpftes Läuten.

3. KAPITEL

Als es läutete, runzelte Lennox die Stirn, blendete das Geräusch jedoch umgehend aus. Er wusste, wer vor der Tür stand, diese arrogante Amerikanerin, die ihm gesagt hatte, er sei wahnsinnig. Sie war nicht die Erste. Auch würde sie nicht die Letzte sein.

Die Menschen erfassten nicht, woran er arbeitete. Und er vergeudete seine Zeit nicht mit dem Versuch, es ihnen zu erklären. Brieflich tauschte er sich mit ein paar Bekannten über das Thema aus, aber ansonsten war es einfacher, nicht über seine Experimente zu sprechen.

Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf die junge Frau vor ihm. Gott sei Dank war Irene, seine Haushälterin, auf dem Markt, sonst hätte sie ein Heidentheater gemacht, weil er die Verletzte auf dem Küchentisch untersuchte.

Miss Gallaghers Haar hatte den rötlichen Farbton von Herbstlaub, ihre strahlend grünen Augen den der Wiesen im Tal, und ihre rosig überhauchten Wangen erinnerten ihn an die Begeisterung eines Kindes, wenn der erste Schnee fiel.

Bei der Untersuchung ihres Arms hatte sie keinen Laut von sich gegeben. Dass sie sich auf die Lippe biss, war der einzige Hinweis auf Schmerzen. Ansonsten starrte sie Connor an.

Connor war groß, er überragte Lennox um Haupteslänge. Andererseits gab es nur wenige Menschen, die Connor nicht überragte, und außer für seine Körpergröße war er als Friedensstifter bekannt. Connor hasste Streit.

Er stammte aus einem Nachbarort, wo Lennox ihn angeheuert hatte, und war seit vier Jahren bei ihm. Lennox hatte einige seiner Erfindungen verkaufen können und von dem Geld dringend benötigte Ersatzteile angeschafft, ein paar Reparaturen ausführen lassen, außerdem Lebensmittelvorräte gekauft und Connor und Irene eine Art Entlohnung gezahlt.

Zu seiner eigenen Verwunderung erinnerte Connor ihn an einen Schwan. Trotz seiner Größe bewegte er sich voller Anmut, und wenn er nach einem Werkzeug griff oder eine Schraube festzog, schienen seine Hände einer erstaunlichen Choreografie zu folgen. In erhabener Ruhe glitt er durch seine Arbeitsabläufe, selbst wenn es Schwierigkeiten gab. Allerdings verhielt er sich völlig anders, seit Miss Gallagher in der Küche aufgetaucht war; ein Umstand, der von seiner Weigerung, von ihrer Seite zu weichen, nur noch unterstrichen wurde.

Unerschütterlich stand Connor neben dem Tisch und hielt Miss Gallagher die Hand. Um ihr Unterstützung zu bieten, wie er behauptete. Vom ersten Moment an, da die beiden einander erblickt hatten, verhielten sie sich wie zwei Wesen, die sich nach einer langen Trennung wiederbegegnet waren.

Lennox hatte so etwas noch nie erlebt, aber dem Gesichtsausdruck Connors war eindeutig zu entnehmen, dass er die Küche unter keinen Umständen verlassen würde.

Wieder läutete es an der Eingangstür. Lennox ging darüber hinweg und verknotete die Bandage, die Miss Gallaghers Arm an der Schiene fixieren sollte, bis der Bruch verheilt war.

„Möchten Sie eine Tasse Tee?“, fragte Connor fürsorglich, als Lennox ihr aufhalf, und setzte hinzu: „Lennox kann Ihnen etwas gegen die Schmerzen geben. Die Medizin schmeckt bitter, aber in starkem Tee fällt es nicht so auf.“

Lennox hatte Connor noch nie so beflissen erlebt, aber natürlich bekamen sie nicht oft weiblichen Besuch. Außer Irenes Schwester natürlich, doch die beiden Frauen waren in ihren Fünfzigern.

Hoffentlich würde Miss Gallagher ablehnen. Nun, da er ihren Arm geschient hatte, wollte Lennox, dass sie ging, je schneller, umso besser. Sie war eine Fremde auf der Durchreise, niemand, den Connor je wiedersehen würde.

„Ich habe ihnen unsere Kutsche angeboten“, informierte er Connor sachlich. „Würde es dir etwas ausmachen, sie zu begleiten und das Gefährt zurückzufahren, wenn sie angekommen sind?“

In seinem Stall standen ein paar Clydesdales, Arbeitspferde, die er einem Freund abgekauft hatte. Sie passten nicht so gut zueinander wie Mr. McAdams’ Gespann, aber sie würden genügen.

Lennox wusste nicht, ob er Connor einen Gefallen tat oder die Situation nur schlimmer machte. Auch wenn Connor und die Zofe sich ohne Worte auf Anhieb mochten, würde wahrscheinlich nichts dabei herauskommen. Sie war Gast in Schottland, und es gab keinen Grund für sie, hierzubleiben.

Er räumte seine Sachen zusammen und wandte den beiden den Rücken zu. Wenn sie sich gefühlvoll in die Augen schauen wollten, musste er ja nicht zusehen.

Männer verloren den Verstand, wenn sie verliebt waren. Selbst Liebe auf den ersten Blick verdrehte ihnen den Kopf.

Lennox machte die Schranktür auf, und es läutete zum dritten Mal. Er musste öffnen gehen. Zweifellos handelte es sich um die Amerikanerin, die ihm noch einmal vorwerfen würde, dass er wahnsinnig war, oder ihn beschimpfen wollte, weil er Miss Gallagher beinahe umgebracht hatte. Das traf zwar nicht zu, dennoch fühlte er sich schuldig. Er hätte Connor bitten sollen, Wache zu stehen und sicherzustellen, dass niemand die Straße nach Inverness benutzte.

Ein Kutschenunfall hatte seinen Bruder das Leben gekostet. Und nun hatte er um ein Haar selbst eine solche Katastrophe herbeigeführt, wenn auch aus Versehen.

Er hatte nicht das Gefühl, dass es klug war, sich zu entschuldigen. Die Amerikanerin – erst die dritte Person aus Amerika, die er kennengelernt hatte, Miss Gallagher ausgenommen – sah nicht so aus, als würde sie eine Entschuldigung zu schätzen wissen. Stattdessen würde sie sie wahrscheinlich als Eingeständnis seines Wahnsinns betrachten.

Sie war attraktiv, doch ein hübsches Gesicht ging nicht notwendigerweise mit einem guten Charakter einher. Schöne Frauen waren schwierig, hauptsächlich weil sie wussten, dass sie schön waren. Anstatt ihr Aussehen als von Gott gegeben zu betrachten, schienen sie zu glauben, es sei eine Auszeichnung, die sie von anderen Frauen abhob, besser machte und irgendwie besonders.

Er hätte eine unscheinbare Frau mit einem guten Herzen jemandem wie der Amerikanerin, die anscheinend sehr geübt darin war, arrogant daherzureden und sich auch so zu benehmen, in jedem Falle vorgezogen.

Dies hier war Schottland, und er war Schotte. Was das bedeutete, hatte sie offenbar nicht begriffen. Er war weder jemand, dem man Befehle erteilte, noch hatte er etwas übrig für Menschen, die ihn beschimpften.

Es läutete noch einmal. Lennox knallte die Schranktür zu und verließ die Küche.

Mercy hatte die Klingel vier Mal betätigt, und obwohl sie selbst das Läuten vernahm, fragte sie sich, ob jemand in der Burg es hörte. Aber sie konnte ja nachsehen, ob es eine zweite Tür in der Ringmauer gab.

In diesem Moment ging die Tür auf, und er stand auf der Schwelle. Sie hatte zuvor nicht auf sein Aussehen geachtet. Zweifellos wegen des Unfalls und aufgrund ihres Schreckens.

Mr. Caitheart war außerordentlich attraktiv. Er hatte ein kantiges Gesicht mit einem wie gemeißelt und sehr eigensinnig wirkenden Kinn. Seine Nase erinnerte sie an die eines römischen Heerführers, dessen Büste sie einmal im Museum gesehen hatte. Seine Wangenknochen sprangen hervor, und auch sie vermittelten den Eindruck von Sturheit. Sein schwarzes Haar war noch genauso zerzaust wie nach dem Unfall, so als habe er sich nicht einmal die Zeit genommen, es in Ordnung zu bringen.

Er besaß die durchdringendsten und blauesten Augen, die sie je gesehen hatte, und als er sie wortlos anstarrte, verspürte sie absurderweise den Wunsch, sich zu rechtfertigen und für die Störung zu entschuldigen.

„Wie geht es Ruthie?“, fragte sie stattdessen ohne lange Vorrede.

„Gut.“ Er trat beiseite, als rechne er damit, dass sie unaufgefordert ins Haus kommen wolle.

Sie blieb, wo sie war.

„Und ihr Arm?“

„Ich habe ihn geschient und fixiert“, erwiderte er ruhig. „Wenn Sie Ihr Reiseziel erreicht haben, sollten Sie ihn untersuchen lassen.“

Seine Stimme war interessant, tief und bezwingend. Besonders mit seinem Akzent. Beinahe hätte Mercy ihn gebeten, weiterzusprechen, vorausgesetzt, er wurde dabei nicht ungehobelt.

Er runzelte die Stirn. „Sie bluten immer noch.“

„Es ist nichts Schlimmes.“ Sie zuckte die Schultern. „Nur eine kleine Platzwunde.“

„Kopfwunden bluten immer.“ Zu ihrer Überraschung streckte er die Hand aus und umfasste ihren Arm.

„Sie hören sich an, als wären Sie Arzt, Mr. Caitheart.“

„Wir sind hier in den Highlands, Miss. Hier muss man sich auf vielen Gebieten auskennen. Es gibt nicht an jeder Ecke einen Arzt. Sie müssen behandelt werden.“

Damit zog er sie in sein Schloss. Alles andere als eine höfliche Einladung, aber ihr blieb keine Wahl, als mit ihm zu gehen.

4. KAPITEL

In dem Vorraum – sie zögerte, ihn als Foyer zu bezeichnen – war es dunkel gewesen. Der Raum, den sie nun betrat, war von Sonnenlicht erhellt und viel größer, als sie erwartet hatte.

Sie befreite ihren Arm aus Mr. Caithearts Griff und ließ den Blick zu der Gewölbedecke und den Bleiglasfenstern hoch oben in der Wand schweifen. Im ersten Moment hätte sie geschworen, dass sie sich in einer ehemaligen Kapelle befand, doch dann erkannte sie, dass die Fenster keine religiösen Motive zeigten, sondern Szenen von Schlachten, und dass das viele Rot in den Fenstern wohl Blut darstellte.

Wimpel und Flaggen hingen an den Wänden, dazu Totschläger, Schwerter und anderes Kriegsgerät, das aussah, als könne man damit jemanden unsanft ins Jenseits befördern.

Mercy betrachtete die beiden Kamine an den einander gegenüberliegenden Wänden und fragte sich, ob sie den Saal wirklich wärmten. Der Sommer im Hochland war wie der Herbst in New York. Selbst jetzt, mitten im Juli, fröstelte sie. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie es im tiefsten Winter hier war.

Das Sonnenlicht malte helle Flecken auf den Steinfußboden. Bis auf ein paar Bänke entlang der Wände und zwei thronartige Sessel vor einem der beiden Kamine war der riesige Raum unmöbliert.

„Wo sind wir hier?“

„In der Stammeshalle.“ Er marschierte weiter.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Er ging ihr durch einen überdachten Gang voraus, durch dessen offene Fenster eine angenehme Sommerbrise hereinwehte, und führte sie in eine geräumige Küche, in der es schwach nach Fisch roch.

Ein mannshoher Wandkamin beherrschte den Raum. An einem schmiedeeisernen Gestell hingen Kochtöpfe, ein Teekessel und verschiedene andere Gefäße, die nur darauf zu warten schienen, dass das Feuer angezündet wurde. Die Scheite waren mindestens sechs Fuß lang und sahen aus, als würden sie eine Woche lang brennen. Während der Wintermonate war dies wahrscheinlich der wärmste Ort im gesamten Schloss.

Der Raum wurde von zwei sich gegenüberliegenden Fenstern erhellt. Auf dem Sims des einen stand ein gutes Dutzend Tontöpfe mit Pflanzen. Das andere Fenster ging auf den See hinaus. Der Blick auf die sinkende Sonne über dem Wasser musste atemberaubend sein.

Ein rechteckiger Tisch mit Stühlen und Schemeln stand vor dem Kamin. Dort saß Ruthie. Ihr bandagierter Arm lag in einer Lederschlaufe eng am Körper.

Als sie eintraten, stand der Mann, der neben Ruthie gesessen hatte, auf und lächelte Mercy zu. Er war sehr groß, hatte dunkelbraunes Haar und warme braune Augen.

Unwillkürlich erwiderte Mercy das Lächeln.

„Connor Ross“, stellte Mr. Caitheart ihn misslaunig vor.

Konnte er sich überhaupt anders als unhöflich benehmen?

„Willkommen auf Duddingston Castle“, begrüßte Connor sie freundlich.

Wenigstens wusste sie jetzt den Namen des Schlosses. „Danke.“ Mercy nickte lächelnd und ging zu Ruthie.

„Wie fühlst du dich?“

„Viel besser, Miss Mercy.“ Ruthie lächelte zittrig. „Connor hat mich überredet, eine Tasse stärkenden Tee zu mir zu nehmen.“

„Und etwas Medizin“, setzte Connor eilfertig hinzu. „Gegen die Schmerzen.“

„Oh, Ruthie, es tut mir so leid.“

Sie schoss Mr. Caitheart einen Blick zu. Ermunterte ihn ihre Bemerkung nicht, sich ebenfalls zu entschuldigen? Immerhin waren sie wegen seiner sonderbaren Drachenmaschine in diese Situation geraten.

Er blieb stumm, fasste erneut nach ihrem Arm und drückte sie auf einen Stuhl am Kopfende des Tischs.

Sie wollte ihn schon fragen, woher er das Recht nahm, sie derart grob zu behandeln – vielen Dank auch! –, als er sich über sie beugte und die Wunde an ihrem Kopf zu untersuchen begann. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihren Koffer und ihr Retikül neben sich abzustellen.

„Es ist nur eine kleine Platzwunde“, wiegelte sie ab.

„Sie ist größer, als Sie denken.“

„Mir fehlt nichts“, beharrte sie störrisch.

„Das denken Sie.“

Er ging zum Schrank, nahm eine Tasche und eine Flasche Whisky heraus, dann trat er wieder an ihre Seite und stellte beides auf dem Tisch ab.

„Das ist wirklich nicht nötig …“, begann sie erneut, doch er unterbrach sie umstandslos.

„Sie haben eine Schnittwunde am Kopf, Miss Mercy.“

Sie musste ihm sagen, dass sie nicht Miss Mercy war, jedenfalls nicht für ihn. Die angemessene Anrede war Miss Rutherford. Aber die schottische Aussprache ihres Vornamens war so faszinierend, dass sie schwieg.

„Lennox, ich nehme Miss Ruthie mit nach draußen in den Garten. Die Sonne wird ihr guttun.“

Lennox nickte geistesabwesend. Er war damit beschäftigt, Mercys Haar von verklebtem Blut zu säubern.

„Könnten Sie wohl etwas sanfter sein?“, beschwerte sie sich ungnädig.

„Könnten Sie aufhören, dauernd an allem herumzumäkeln?“

Sie mochte es, wie er sprach, auch wenn sie nicht mochte, was er sagte. Hätte er versucht, nur ein ganz kleines bisschen freundlicher zu sein, wäre er außerordentlich charmant gewesen.

Andererseits ging sein Benehmen sie nichts an. Sobald Mr. McAdams die Ersatzkutsche angespannt hatte, würden sie losfahren. Sie würde ihn nie wiedersehen.

Daher und weil sie entschlossen war, keinen Ton von sich zu geben, egal, was er tat, stellte sie keine Fragen, als er mit einer Waschschüssel zum Tisch zurückkam. Er zog einen Stuhl hervor und setzte sich viel zu dicht vor sie, dann nahm er ein paar Gazestreifen, tauchte sie in das Wasser und reinigte die Wunde.

„Gut, dass Sie keinen Spiegel haben“, sagte er halb zu sich selbst. „Sie sind blutverschmiert.“

„Ich habe einen Taschenspiegel. Und ich habe mir die Wunde angesehen und weiß, dass es nur ein Kratzer ist.“

Er antwortete nicht darauf, schüttelte nur den Kopf.

Lennox Caitheart war der unfreundlichste Mann, den sie kannte. Eine Schande nur, dass er so umwerfend aussah.

„Mir geht es wirklich gut“, beteuerte sie noch einmal.

Er begnügte sich nicht damit, ihr die Stirn abzutupfen, sondern untersuchte auch ihre Kopfhaut in der Umgebung der Wunde. Als er eine empfindliche Stelle berührte, schnappte sie unwillkürlich nach Luft.

„Das ist es, was ich meine, Miss Mercy. An der Stelle haben Sie noch eine Verletzung.“

„Nennen Sie mich Miss Rutherford oder Mercy, um Himmels willen! Sie sind doch nicht meine Zofe!“

„Nein, wahrhaftig nicht“, entgegnete er grollend. „Ich bin auch nicht Ihr Diener. Ein Umstand, den Sie sich merken sollten.“

Sie hatte die Augen geschlossen, doch nun riss sie sie auf. Er stand viel zu dicht bei ihr. Sie konnte seinen Atem an ihrer Wange spüren.

„Das ist wirklich nicht nötig. Sobald wir an unserem Reiseziel ankommen, lasse ich die Wunde versorgen.“

„Dann könnte es zu spät sein“, erwiderte er ungerührt.

„Wie meinen Sie das?“

Er wollte sie beunruhigen, da war sie ganz sicher.

„Sie müssen die Wunde nähen lassen“, klärte er sie auf. „Sonst blutet sie immer weiter.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er zum Spülstein und betätigte die Wasserpumpe. Als er seine Hände gewaschen und abgetrocknet hatte, trat er wieder vor sie hin.

„Ich werde Ihnen etwas Haar abschneiden müssen.“

Sie hätte am liebsten die Hände auf die Stelle gepresst, doch es tat zu weh. Auch konnte sie spüren, dass die Wunde, nachdem sie gereinigt worden war, heftig blutete.

„Worauf warten Sie?“

Sie war stolz auf ihr Haar. Es war dunkelbraun mit rötlichen Glanzlichtern, dicht und leicht zu frisieren. Und da stand er vor ihr und behauptete, er müsse es abschneiden. Nicht irgendwo, sondern mitten auf dem Kopf! Sie würde absolut lächerlich aussehen mit einer kahlen Stelle am Scheitel.

„Müssen Sie wirklich? Mir das Haar abschneiden?“

Er starrte sie an, und bei dem Blick seiner intensiv blauen Augen hatte sie das Gefühl, dass er sie vollkommen durchschaute, ihre Eitelkeit sah und sie verachtete.

„Ich bin nicht eitel, Mr. Caitheart. Es ist nur so, dass ich meine Familie besuchen will. Die Angehörigen meiner Mutter. Ich kenne keinen von ihnen, außer meiner Großmutter und meiner Tante, und es ist Jahre her, dass ich die beiden zuletzt gesehen habe. Ich würde es vorziehen, ihnen nicht kahlköpfig gegenübertreten zu müssen.“

„Ich verspreche Ihnen, dass ich nur abschneide, was absolut sein muss. Sie werden nicht kahlköpfig sein, das versichere ich Ihnen.“

Er nahm ihr Nicken als Zustimmung, und im nächsten Moment trat er noch dichter vor sie.

Er hätte sie warnen sollen vor dem, was er vorhatte. Er nahm die Flasche und goss Whisky auf die Wunde. Vor Schmerz schrie sie auf.

„Es ist doch nur ein bisschen Whisky! Wollen Sie ein Beißholz, ehe ich weitermache?“

„Wird es noch schlimmer?“, fragte sie ängstlich.

„Möglich. Wie tapfer sind Sie?“

Bis zu diesem Moment hätte sie geschworen, dass sie sich ganz schön mutig gezeigt hatte. Immerhin hatten Ruthie und sie ganz allein den Atlantik überquert, waren von Inverness aus durchs Land gereist. Es war ein großartiges Abenteuer gewesen und hatte einiges an Mut erfordert, aber dieser Mr. Caitheart zweifelte ihr Selbstbild gewaltig an.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie ehrlich.

„Nun, ich nehme an, wir werden es herausfinden.“

Es war falsch gewesen, sich über sie lustig zu machen, aber er hatte nicht widerstehen können.

Er hatte sich geirrt; sie war nicht einfach schön. Sie hatte etwas Besonderes an sich. Ihr Gesicht war ein perfektes Oval, ihr Mund hatte die perfekte Größe. Ihre Brauen schienen dazu gemacht, die Aufmerksamkeit auf ihre weit auseinanderstehenden braunen Augen mit den langen Wimpern zu lenken. Als er sie betrachtete, färbte sich ihr kamelienheller Teint rosig, und sie presste ärgerlich die Lippen zusammen.

Er mochte ihren Akzent mit den scharfkantigen, spröden Konsonanten.

Es würde sich nicht vermeiden lassen, dass er ihr wehtat. Es war ihm ernst gewesen mit seiner Frage nach ihrer Tapferkeit. Ihre Antwort hatte ihn verblüfft, weil sie sekundenlang darüber nachgedacht hatte.

Sie war eine Fremde in diesem Land und in seinem Haus. Sobald sein Akt der Nächstenliebe und Sühne vollbracht war, würde er sie nie wiedersehen – ein Umstand, den er zu seinem Erstaunen bedauerte und der ihn flüchtig in Erwägung ziehen ließ, sie nach ihrer Adresse zu fragen. Um ihr zu schreiben.

Worüber? Seine verzweifelten Bemühungen, ein Dach über dem Kopf zu behalten? Seinen Drang, das Fliegen möglich zu machen? Seine Einsamkeit? Was zur Hölle sollte er ihr erzählen? Etwa, dass er sich fragte, wie er im nächsten Vierteljahr Connors und Irenes Lohn zahlen sollte? Dass er einen Gemüsegarten brauchte? Oder von seinen schlaflosen Nächten, die er damit verbrachte, ruhelos in den Räumen seines Schlosses herumzuwandern?

Er war schlecht gelaunt. Wahrscheinlich, weil dieser Kutschenunfall ihm einen anderen in Erinnerung gerufen hatte.

Je eher er mit ihr fertig war, umso eher konnte sie aufbrechen. Er würde sie so schnell wie möglich vergessen.

5. KAPITEL

Vorsichtig teilte Lennox ihr Haar und drückte die Wundränder zusammen.

Nur mit äußerster Anstrengung schaffte Mercy es, nicht aufzuschreien vor Schmerz. Der Letzte, vor dem sie jammern wollte, war dieser Mann. Er würde sie als Schwächling betrachten. Oder als noch etwas Schlimmeres.

Er griff in die Tasche, zog Gegenstände heraus, die aussahen wie Nähzeug. Sie schloss die Augen und schwor sich, sie nicht mehr zu öffnen, bis er fertig war.

Sie hörte, wie Flüssigkeit in eine Schüssel gegossen wurde, und hob unwillkürlich die Lider.

„Was ist das?“

„Whisky. Ich weiche den Faden darin ein.“

Sie schloss die Augen.

„Singen Sie?“

„Ob ich singe?“, fragte sie verblüfft.

„Wenn ja, hätte ich nichts dagegen, wenn Sie sich mit Singen ablenken.“

„Während Sie mir die Wunde nähen?“ Sie zog die Stirn in Falten. „Ich habe eine recht gute Stimme.“ Sie machte ein Auge einen Spalt weit auf und stellte fest, dass er sie ansah. „Sie auch, wollten Sie sagen, richtig?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich kann nicht einmal einen Ton halten. Machen Sie die Augen wieder zu.“

Sie atmete tief ein und tat, wie er ihr geheißen.

Er schnitt ihr Haar, und jedes Mal klang das Klappen der Schere wie ein Donnerschlag. Aber sich an seine Ankündigung haltend, schnitt er nicht viel. Wenigstens hoffte sie das.

Besser, sie dachte sich eine Erklärung für ihre Großmutter aus, eine, die den Unfall mit keinem Wort erwähnte. Sonst würde sie sich endlose Predigten anhören müssen.

Es war unverantwortlich von dir, New York zu verlassen.

Was du getan hast, war übereilt und dumm, und du kannst froh sein, dass du noch am Leben bist.

Gedanken wie diese beschäftigten sie, während Lennox ihre Kopfhaut mit Whisky begoss. Sie hielt die Hände ineinander verklammert und hoffte, dass sie tapfer sein würde.

Der erste Stich, wenn auch ihre Haut ein wenig betäubt war durch den Alkohol, fühlte sich an, als stieße man ihr einen Speer in den Schädel. Sie gab einen Schmerzenslaut von sich, doch Lennox machte einfach weiter.

Die Wunde hatte wieder zu bluten begonnen, wenn sie die Wärme auf ihrer Stirn richtig deutete. Es konnte allerdings auch der Whisky sein. Der Himmel mochte wissen, ob er genug verwendet hatte. Sie würde nicht nur annähernd kahlköpfig vor ihrer Großmutter erscheinen, sondern obendrein auch noch nach Alkohol riechen. Und die arme Ruthie kam mit einem geschienten Arm in der Schlinge.

Wie in aller Welt sollte sie ihrer beider Erscheinung erklären, ohne zuzugeben, dass sie einen Unfall gehabt hatten?

Lennox trat zurück. Sie machte die Augen auf und sah ihn an. „Sind Sie fertig?“

„Beinahe.“

Noch einmal holte sie tief Luft und zwang sich, sich zu entspannen.

„Sie sind bemerkenswert tapfer.“ Er tupfte ihr die Stirn mit dem weißen Verbandszeug ab.

„Danke, aber das finde ich nicht. Nicht wirklich.“

„Sie haben nicht geschrien.“

„Ich glaube, ich habe noch nie geschrien“, sagte sie nachdenklich. „Schreien liegt mir nicht.“

Er trat einen weiteren Schritt zurück und betrachtete sie.

Sie hätte ihn gern gefragt, ob er ihre Einschätzung teilte. Stattdessen hielt sie den Mund, was ihr nicht leichtfiel angesichts der Tatsache, dass er sie immer noch anstarrte.

„Ich dachte, Sie seien eine herrische Frau. Aber ich habe meine Meinung geändert. Sie werden zornig, weil Sie Angst haben. Das missverstehen die Menschen wahrscheinlich als Arroganz.“

Sie wusste nicht, worauf sie zuerst reagieren sollte, darauf, dass er sie herrisch genannt hatte, oder darauf, dass ihm aufgefallen war, dass sie sich gefürchtet hatte.

„Natürlich hatte ich Angst“, sagte sie einfach. „Ihr Drache hielt direkt auf uns zu.“

„Es ist kein Drache.“

Sie seufzte. „Gut denn, Ihr Luftschiff. Dennoch, es war beängstigend, es einfach über uns schweben zu sehen. Ich finde, dass ich mich ziemlich gut gehalten habe angesichts dessen, was geschehen ist. Und ich war ganz sicher nicht arrogant.“

Aber sie hatte ihn als wahnsinnig bezeichnet. Vielleicht war es das, was er meinte.

„Es tut mir leid, dass ich Sie beschimpft habe“, setzte sie ernst hinzu. „Ich hätte nie damit gerechnet, dass ich in Schottland ein Luftschiff sehen würde.“

„Wir sind hier nicht völlig rückständig, Mercy. Bei uns gibt es massenhaft Männer mit Zukunftsvisionen und Unternehmergeist.“

Da versuchte sie, ihre Taktlosigkeit nach dem Unfall wiedergutzumachen, und alles, was sie erreichte, war, ihn noch mehr zu verärgern. Von Kindesbeinen an hatte man ihr gutes Benehmen beigebracht. Wieso war es dann so schwierig, mit diesem Schotten zu reden?

„Sie haben mir nicht zugehört“, sagte sie in der Überzeugung, dass er schuld war an dem Verständigungsproblem.

„Wie bitte?“

„Sie haben meinen Versuch, versöhnlich zu sein, als Beleidigung aufgefasst. Nichts könnte weiter entfernt sein von der Wahrheit.“

Er war dabei, seine Instrumente und das Verbandsmaterial zusammenzusammeln, doch er nahm sich die Zeit, sie anzusehen und zu lächeln. Hätte sie dieses Lächeln schon früher gesehen, sie wäre wahrscheinlich sehr viel höflicher gewesen.

Er war nicht einfach nur gut aussehend. Zweifellos warfen sich ihm die Frauen zu Füßen. Schmachteten ihn an. Redeten sich ein, wie sehr sie ihm gefallen würden, wenn er ihnen nur einen zweiten Blick schenkte.

„Dann sollte ich es sein, der sich entschuldigt“, sagte er in ihre Gedanken hinein.

„Um ehrlich zu sein, Ihr Luftschiff sieht tatsächlich aus wie ein Drache.“

„Vielleicht haben Sie recht“, räumte er ein. „Es ist nach dem Vorbild eines lenkbaren Gleiters konstruiert.“

„Wie man es auch bezeichnet, es ist ziemlich gefährlich, nicht wahr?“

„Vielleicht, ja. Aber gilt das nicht für alles im Leben? Ihre Reise von Amerika hierher, zum Beispiel. War sie nicht auch gefährlich?“

„Erst ab dem Moment, da Sie mit unserer Kutsche kollidierten.“

Wieder lächelte er sie an.

Eine Weile lang musterte sie ihn wortlos. „Danke, dass Sie sich um meine Verletzung gekümmert haben.“

„Gern geschehen. Seien Sie vorsichtig, wenn Sie sich das Haar waschen, und lassen Sie die Fäden in ein zwei Wochen ziehen.“

„Haben Sie viel abgeschnitten?“

„Sie werden wahrscheinlich nicht einmal bemerken, dass etwas fehlt.“

Sie bezweifelte es, wahrscheinlich wollte er nur nett sein. Sie konnte es ihm wenigstens gleichtun.

„Es tut mir leid, wenn ich den Eindruck erweckt habe, dass ich arrogant oder herrisch bin. Das wollte ich nicht.“

„Es war mein Fehler, und ich habe mich geirrt. Ich neige dazu, schönen Frauen Schlechtes zu unterstellen.“

Ein Gespräch mit ihm war nicht einfach. Er brachte sie immer wieder durcheinander. Erst verhielt er sich grob und ungehobelt, dann bezichtigte er sie der Arroganz, und jetzt sagte er, sie sei schön. Wenn er vorgehabt hatte, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, so war es ihm gelungen.

Noch nie hatte jemand sie als schön bezeichnet. Ihre Eltern, ja, aber … Und natürlich Gregory, aber er wollte sie heiraten. Als James Rutherfords Tochter hätte sie so reizlos wie ein Feldstein sein können, er hätte sie trotzdem als umwerfend bezeichnet.

Sie konnte spüren, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, und das weder wegen der Stiche noch wegen des Whiskys und auch nicht wegen des Unfalls. Ihre Verlegenheit machte sie stumm. Gleichzeitig hätte sie ihn gern gefragt, weshalb er sie schön fand. Was an ihrer Erscheinung ihn darauf brachte. Aber solche Fragen stellte man nicht. Sie waren unschicklich.

Es war Zeit, Ruthie herbeizuholen und aufzubrechen.

Am Morgen hatte Mr. McAdams gesagt, dass es nicht weit war bis zum Haus ihrer Verwandten. Bis zu dem Unfall waren sie drei Stunden unterwegs gewesen. Vielleicht sollte sie mit dem Kutscher sprechen und herausfinden, was er als weit betrachtete. Sie hatte keine Vorstellung, wo sie waren und wie lange es dauerte, zum Besitz der Macrorys zu gelangen.

Zu ihrer Verwunderung drängte es sie, Lennox zu sagen, dass sie ihn niemals vergessen würde, dass sie jedem von dem Aufenthalt in seinem Schloss erzählen würde, wenn sie zurück in Amerika war. Je nach Zuhörerschaft würde sie vielleicht auch erwähnen, wie attraktiv er war, ganz sicher aber nicht verraten, wie sie sich zu Anfang gegenseitig angefaucht hatten.

„Danke für alles.“ Sie hielt inne. „Auch ich habe Sie falsch eingeschätzt. Vielleicht neige ich dazu, attraktiven Männern Schlechtes zu unterstellen.“

„Dann ist es gut, dass wir uns nicht wiedersehen werden.“

Wie dumm von ihr, Enttäuschung zu verspüren bei seinen Worten. Natürlich würden sie einander nie wiedersehen, wenn sie das Schloss verlassen hatte, aber musste er deswegen so erleichtert aussehen?

„Sie haben recht“, erwiderte sie entschlossen. „Es ist Zeit, dass wir uns auf den Weg machen. Danke auch, dass Sie uns Ihre Kutsche borgen. Bis zu unserem Reiseziel scheint es nicht weit zu sein. Als wir heute Morgen losfuhren, erwähnte Mr. McAdams, dass wir Aultbean in wenigen Stunden erreichen würden.“

„Aultbean?“, fragte er auf dem Weg zum Spülstein.

Sie nickte. „Der Ort liegt in der Nähe des Anwesens meiner Verwandten. Den Macrorys.“

Er drehte sich zu ihr um und sah sie an. Sein Lächeln war jäh verblasst, und er musterte sie mit dem gleichen durchdringenden Blick, mit dem er sie anfangs betrachtet hatte.

„Bei der Familie Ihrer Mutter handelt es sich … Sie sind eine Macrory?“

„Gewissermaßen, würde ich sagen. Mein Name ist Rutherford, aber meine Großmutter mütterlicherseits hieß Macrory. Ehe sie heiratete, natürlich.“

„Dann sehen Sie zu, dass Sie umgehend von hier verschwinden!“

Ohne ein weiteres Wort verließ er die Küche. Mercy sah ihm verständnislos hinterher.

6. KAPITEL

Minutenlang saß Mercy einfach nur da und versuchte sich einen Reim auf das gerade Geschehene zu machen. Anscheinend kannte Lennox die Familie ihrer Mutter und mochte sie nicht.

Auch gut. Je schneller sie aufbrachen und ihre Reise fortsetzten, desto besser. Sie erhob sich, ein wenig zu rasch offenbar, denn ihr wurde schwindlig. Sie hielt sich an der Tischplatte fest und wartete, bis der Raum sich nicht mehr drehte.

Als die Tür aufging, wandte sie sich um in der Absicht, Lennox wegen seiner Abneigung gegen die Macrorys zu befragen. Doch es waren Connor und Ruthie, die in den Raum traten.

„Für den Fall, dass Sie Lennox suchen, weiß ich nicht, wo er ist“, sagte Mercy an Connor gewandt. „Er schien beleidigt, als ich ihm unser Reiseziel nannte.“

„Macrory House.“ Connor blickte zwischen Ruthie und ihr hin und her. „Als ich es erfuhr, wusste ich, dass es ihm nicht gefallen würde.“

„Was in aller Welt haben ihm die Macrorys angetan?“

„Sein älterer Bruder verliebte sich in eine Macrory. Sie brannten durch und kamen bei einem Kutschenunfall ums Leben.“

„Beide?“

Er nickte. „Wie auch immer, seitdem haben die beiden Familien kein Wort mehr miteinander gewechselt.“

Was für eine traurige Geschichte.

„Dass ich mit den Macrorys verwandt bin, wenn auch nur entfernt, macht mich zu einer unerwünschten Person auf Duddingston Castle, fürchte ich.“

„Er meint es nicht so, Miss Rutherford. Aber Robert war sein älterer Bruder und hat ihn praktisch erzogen, nachdem ihre Eltern tot waren.“

Sie erwiderte nichts darauf. Was hätte sie auch sagen sollen?

Die Sonne hatte Ruthie gutgetan. Sie war nicht mehr so blass wie nach dem Unfall.

„Wie geht es dir?“, fragte Mercy dennoch besorgt. „Glaubst du, du kannst dir eine Kutschfahrt zumuten?“

„Es ist nicht weit“, schaltete Connor sich ein. „Die Stelle, an der der Unfall passierte, liegt fast auf dem Land der Macrorys.“

„Wirklich?“

Connor nickte. „Sie könnten es zu Fuß erreichen.“ Er warf einen Blick auf Ruthie. „Heute natürlich nicht, nicht nach dem Unfall.“

Ruthie schwieg. Einen Ausdruck von Anbetung in den Augen, die Wangen rosig überhaucht, blickte sie zu Connor auf.

Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Mercy die Zofe gewarnt, ihre Gefühle so bereitwillig zu enthüllen. Es war nicht gut, sich verletzbar zu zeigen, besonders in der Fremde. Abgesehen davon konnte ohnehin nichts aus der Sache mit Connor werden. Er war Schotte. Ruthie war Amerikanerin.

Aber wer war sie, jemandem Ratschläge in Liebesangelegenheiten zu geben?

Sie hatte sich von dem anfänglichen Kriegstaumel mitreißen lassen, hatte Gregory in seiner makellos blauen Uniform hinterhergewinkt, als er mit seinem Regiment in die Schlacht gezogen war und ihr sein Schwur, die Union zu schützen, noch in den Ohren geklungen hatte. Ihr Entschluss, auf ihn zu warten, hatte festgestanden; eine der zahllosen Frauen, die die Zeitungen durchforsteten auf der Suche nach Informationen über das Regiment des Geliebten, die Verbandsmaterial anfertigten, Socken strickten und beteten, dass die Soldaten heil nach Hause kamen. Nach einer Weile jedoch war die berauschende Hochstimmung des Kriegsbeginns der Wirklichkeit und dem Entsetzen gewichen. Und als der Krieg sich vier lange Jahre hingezogen hatte, war ihr bewusst geworden, dass sie einen schrecklichen Fehler gemacht hatte.

Sie liebte Gregory nicht. Sie war nicht einmal sicher, ob sie ihn mochte. Aber sie konnte einen Verehrer, der für die Union focht, nicht zurückweisen. Ihr Vater wäre außer sich gewesen, hätte sie es getan.

Doch als der Krieg vorüber war, wurden ihre Differenzen unübersehbar. Gregory war nach Hause gekommen in der Erwartung, dass sie umgehend heiraten würden, ohne dass er lange um sie warb. Die Hochzeit mit ihr war eine unverbrüchlich vereinbarte Sache, eine Mission, die er bereits abgeschlossen hatte. Weshalb sollte er ihr den Hof machen, wenn feststand, dass sie seine Ehefrau würde?

Er hasste den Süden, doch ihre Mutter war in North Carolina geboren und aufgewachsen. Ihrem Vater gegenüber war er unterwürfig, und sie hatte sich zu fragen begonnen, ob er sie vielleicht nur deshalb heiraten wollte, weil sie die Tochter von James Gramercy Rutherford war. Mit seiner eigenen Familie verband ihn keine Zuneigung, weil seine Mutter sich, wie er behauptete, zu sehr in sein Leben einmischte und seine Schwestern zu beschäftigt waren mit ihren oberflächlichen Zerstreuungen. Nachdem Mercy sie kennengelernt hatte, fand sie seine Familie sehr angenehm – selbst seinen Vater, den er selten erwähnte. Es beunruhigte sie, dass Gregory ihre Gefühle nicht teilte.

Er war ehrgeizig, wie die zahllosen Gelegenheiten bewiesen, bei denen er sich mit ihrem Vater traf, um über die Zukunft dieses oder jenes seiner Unternehmen zu diskutieren. Er wusste, dass es keinen Erben gab, der in die Fußstapfen ihres Vaters treten konnte, und er hatte längst beschlossen, dass er derjenige sein würde, der Rutherford beerbte, indem er sein Schwiegersohn wurde.

Wahrscheinlich hätte sie Gregory geheiratet, wäre da nicht eine Äußerung von ihm gewesen, eine schlichte Bemerkung, die ihr wie ein Hinweis auf ihre Zukunft erschien und sie dazu brachte, alles noch einmal zu überdenken.

Sie war eines Abends nach unten gekommen, um ihn zu begrüßen, und er hatte sie stirnrunzelnd gemustert.

„Ich mag dieses Kleid nicht, Mercy. Das blaue gefällt mir besser. Und hast du auch eine andere Frisur? Sie steht dir nicht.“

Genauso würde er in ihrer Ehe mit ihr umgehen. Sie würde keine eigenen Entscheidungen fällen dürfen. Die Farbe ihres Kleides, die Art, wie sie sich frisierte, die Menschen, mit denen sie Umgang pflegte, wie sie ihre Zeit verbrachte – all das würde von den Launen ihres Ehemanns diktiert. Wo sie bisher den Vorschriften ihrer Eltern gefolgt war, würde nun Gregory über sie bestimmen.

Der Krieg hatte vieles verändert. Sie hatte gelesen, dass von Frauen verlangt wurde, Arbeiten zu übernehmen, die sie nie zuvor ausgeführt hatten. Sie hielten Geschäfte am Laufen, während ihre Ehemänner im Krieg waren. Sie brachten Saat aus, verkauften ihre Erzeugnisse, bildeten Genossenschaften, in denen sie sich gegenseitig halfen. Die Zeiten, da Frauen unterwürfig zu sein hatten und keine Stimme besaßen, gehörten der Vergangenheit an.

Aber all diese Veränderungen und Fortschritte waren irgendwie an Gregory vorbeigegangen. Alles, was eine Frau für ihn sein sollte, war eine gehorsame Gattin.

Ihre Eltern hatten in ihr nie die Erwachsene gesehen, und Gregory würde sie ebenfalls immer als Spielzeug betrachten.

Seine Bemerkung an jenem Abend hatte die Saat zu ihrer Rebellion gelegt.

Als sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie ihn nicht heiraten würde, war Gregory wütend geworden. Zweifellos, weil er seine Felle davonschwimmen, seine ehrgeizigen Pläne durchkreuzt sah. Ihre Versicherung, dass ihr Vater ihn nicht entlassen würde, nur weil sie nicht mehr verlobt waren, hatte ihn nicht besänftigen können.

Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass er sich weigern würde, ihre Entscheidung zu akzeptieren.

Sie zu bedrängen hatte nichts gebracht. Ebenso wenig wie seine ständigen Besuche und die vielen Geschenke. Unglücklicherweise betrachteten ihre Eltern seine neu erwachte Aufmerksamkeit als Beweis seiner Zuneigung.

Eines Morgens hatte sie mit ihrer Mutter geredet und das Thema Verlobung angesprochen.

„Ich will Gregory nicht heiraten.“ Es fiel ihr schwer, die Worte auszusprechen.

Sie hatte die Wünsche ihrer Eltern nie missachtet und sich ihnen kaum je widersetzt. Sie wollte ihre Mutter nicht verletzen, nichts lag ihr ferner, als ihrer Mutter Kummer zu bereiten. Denn das Leben war nicht immer leicht gewesen für Fenella Rutherford, obwohl sie die Gemahlin eines reichen Mannes war.

Ihre Mutter wirkte erstaunt, sagte jedoch nichts darauf. Ihr unerwartetes Schweigen war wie eine Leere, und Mercy beeilte sich, sie zu füllen.

„Nicht dass er kein bewunderungswürdiger Mann wäre, Mutter. Oder keinen guten Ehemann abgäbe.“

„Aber warum hast du die Verlobung dann gelöst, Mercy?“

Mercy senkte den Blick und knetete fahrig ihre Hände. „Wir passen nicht zueinander.“

„Während des Krieges hast du Gregory sehr unterstützt.“

Sie nickte. Das stimmte. Welche Frau würde die Verlobung mit einem Soldaten lösen, der für sein Land kämpft?

„Und Gregory scheint deine Sicht der Dinge auch nicht zu teilen, Mercy.“

Wie brachte sie ihrer Mutter bei, dass Gregory sich in Wahrheit nichts aus ihr machte, dass er sie auch heiraten würde, wenn sie zwei Köpfe hätte, solange sie nur James Rutherfords Tochter war?

Sie überlegte hin und her, wie sie es ausdrücken sollte. Es war wichtig, dass ihre Mutter sie verstand.

„Ich will ihn nicht heiraten, Mutter. Ich kann mir nicht vorstellen, mein Leben mit Gregory zu verbringen.“

Autor

Karen Ranney
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