Die Lady und das Biest

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"Die Lady und das Biest!" So betitelt man Major Reynolds und seine schöne Begleiterin Isabella. Sie steht ihm bei, auch wenn alle sich gegen ihn verschworen haben. Im Walzertakt schweben sie gemeinsam durch die Ballsaison und mit jedem Tanz schlägt sein Herz mehr für Isabella. Doch schon bald ist der Lord in großer Sorge - denn es wird überdeutlich, dass seine Auserwählte ihm irgendetwas verschweigt …


  • Erscheinungstag 27.06.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733717285
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Dies ist ein angesehenes Haus. Wahrlich nichts für jemanden wie Sie.“

Lady Isabella Knox, die Schwester des Duke of Middle­bury, war gerade dabei gewesen, ihre Handschuhe abzustreifen – nun hielt sie jedoch inne. Ihr Hund Rufus legte den Kopf ein wenig schief und sah sie abwartend an. Er wedelte mit seiner Rute, die gegen den beschmutzten Saum ihres Reisekostüms schlug.

„Ich bitte Sie, Gnädigste, weisen Sie mich nicht ab!“ Die junge Dame, zu der die Stimme gehörte, war offenbar wohlerzogen und schien den Tränen nahe zu sein.

„Im ‚Hogshead‘ wird man Sie aufnehmen.“ Die kalten, abweisenden Worte der Wirtin waren deutlich aus der Schankstube zu vernehmen.

„Oh, aber bitte …“ Mit einem Schluchzer brach sie ihr Flehen ab.

Langsam zog sich Isabella die ziegenledernen Handschuhe von den Fingern. Ihr Blick glitt erst zur halb geöffneten Tür der Schankstube und dann die Treppe hinauf nach oben, wo ein äußerst bequemer Privatsalon auf sie wartete. Neugierde ist eine Sünde, mahnte sie sich.

Hinter ihr erklangen die energischen Schritte von Partridge, ihrer Zofe.

„Frische Luft, pah!“, grummelte die Frau und ließ den Regenschirm scharf zuschnappen. „Überall nur Schmutz und Pfützen und gaffende Bauerntölpel …“

Isabella hob den Zeigefinger. „Pst, Partridge, still!“

„Ich flehe Sie an, bitte …“

Das Mädchen klang fast wie Felicity, ihre Nichte! Kurz entschlossen steuerte Isabella den Schankraum an.

„Das wäre ja unerhört, wenn ich Sie hier unterbrächte, wo doch Ihre Ladyschaft im Haus ist!“

Rasch stieß Isabella die Tür auf und erfasste die Situation mit einem Blick: In dem Raum mit der niedrigen Balkendecke und dem großen Kamin hatte sich die untersetzte Wirtin – in weißer, gestärkter Schürze, mit einem Witwenhäubchen auf dem Kopf – vor einem hübschen Mädchen aufgebaut, dem Tränen über die Wangen rannen. Zu den Füßen der Weinenden stand eine Reisetasche.

Die Wirtin sah kurz auf und beeilte sich, untertänig zu knicksen. „Eure Ladyschaft.“

„Mrs Botham.“ Isabella wandte den Blick sofort wieder der Fremden zu. Ja, sie war Felicitys Ebenbild: dunkelhaarig und recht zierlich. Sie schien gerade erst dem Schulzimmer entwachsen zu sein. „Ich konnte Ihr Gespräch nicht überhören. Scheuchen Sie das arme Kind doch nicht meinetwegen hinaus auf die Straße.“

Die Wirtin straffte die Schultern, setzte eine äußerst selbstgerechte Miene auf und erwiderte: „Das ‚Hogshead‘ wird für die hier genügen.“

Isabella nahm das Mädchen weiter in Augenschein: Es trug eine adrette, mit Bändern verzierte Strohschute und über dem Musselinkleid eine offenbar ebenso maßgeschneiderte Pelisse aus feinster Baumwolle. „So, meinen Sie?“

Sie hatte sich bemüht, recht freundlich zu klingen, doch Mrs Bothams Wangen röteten sich daraufhin deutlich.

Nun knickste auch die Kleine. „Bitte, Madam, ich möchte nicht ins ‚Hogshead‘.“ Haltung und Stimme des Mädchens zeugten von guter Abstammung.

„Dort sollten Sie auch nicht hin. Wo befindet sich Ihre Kammerjungfer?“

Das Mädchen errötete. „Ich habe keine, Madam.“

„Ich führe ein anständiges Haus!“, warf die Wirtin ein.

„Eben.“ Isabella zog den zweiten Handschuh aus. „Folglich muss das Kind hierbleiben“, stellte sie fest.

Dankbar lächelte das Mädchen sie an.

„Leider habe ich gerade nichts Passendes frei, Mylady.“ Die Wirtin lächelte bemüht höflich.

„Das kann ich kaum glauben.“ Isabella verlor langsam die Geduld.

„Jedenfalls nichts, was für die Bedürfnisse einer so jungen Person angemessen wäre.“

Das Mädchen errötete. „Ein Zimmer kann ich nicht bezahlen“, flüsterte es. „Ich dachte … ich hatte gehofft, ich könnte im Dienstbotentrakt schlafen, aber …“

„Kein Geld und keine Zofe?“ Neugierig musterte Isabella die Unbekannte. „Sie sind in einer äußerst misslichen Lage, Liebes, nicht wahr?“ Die Angesprochene kämpfte mit den Tränen. „Wenn Sie mögen, können Sie sich mit meiner Zofe das Zimmer teilen.“

Partridge, die Isabella in den Schankraum gefolgt war, schnaufte erstaunt.

Die Wirtin sog scharf die Luft ein und rang um Fassung. „Ein gefallenes Mädchen kommt mir nicht ins Haus!“

„Aber das bin ich nicht, Madam, wirklich nicht!“

Kümmert mich das überhaupt, fragte sich Isabella. Gleich darauf kam sie zu dem Schluss, dass dies in Anbetracht des so jungen Mädchens, das sich offensichtlich in einer Notlage befand, völlig belanglos war. „Ein Feldbett ins Zimmer meiner Zofe“, forderte sie energisch, „und bringt Erfrischungen in meinen Salon!“

Abermals atmete Mrs Botham tief ein, nickte dann fast unmerklich.

„Kommen Sie mit, Liebes.“ Lächelnd streckte Isabella dem Mädchen eine Hand entgegen, die es daraufhin dankbar umklammerte.

„Meine Tasche?“

„Einer der Hausknechte wird sie hinaufbringen, nicht wahr, Mrs Botham?“

Die Wirtin lächelte verkniffen, nickte jedoch erneut geflissentlich.

„Folgen Sie mir hinauf, ein Tasse Tee wird Ihnen guttun“, sagte Isabella sanft. Mit Rufus auf den Fersen verließ sie zusammen mit dem Neuankömmling den Schankraum. Partridges Kopfschütteln ignorierte sie. „Ach, und nennen Sie mir doch Ihren Namen, meine Liebe!“

„Ich heiße Harriet. Harriet Durham.“

„Sagen Sie, Kindchen, wie kommt es, dass Sie derart in der Klemme stecken?“

Harriet schoss die Röte ins Gesicht. Sie senkte den Blick auf die Tasse in ihrer Hand. „Ich bin … fortgelaufen.“

„Fortgelaufen?“ Forsch sah Isabella das Mädchen an. „Von Ihren Eltern?“

„Meine Eltern sind tot.“ Harriet hob den Kopf. „Ich lebe bei meinem Großvater.“

„Und ihm sind Sie davongelaufen?“

„Ja.“ Das Mädchen erschauerte heftig. „Und vor Major Reynolds.“

„Major Reynolds? Wer ist das?“

Wieder traten Harriet Tränen in die Augen. „Ich soll ihn heiraten.“

„Und das ist nicht Ihr Wunsch?“

Sie schüttelte heftig den Kopf.

Isabella setzte nun die Tasse auf der glänzend polierten Tischplatte ab.

„Sagten Sie denn Ihrem Großvater, dass Sie diesen Major nicht heiraten möchten?“

Harriet nickte. „Natürlich tat ich das. Er nannte mich strohdumm, schrie mich an und …“ Sie stellte nun ihre Tasse ab und zog mit zitternden Händen ein Taschentuch aus dem Ärmel hervor. Das spitzenumsäumte Tüchlein war bereits durchweicht.

Während Harriet sich die Augenlider trocken tupfte, nahm Isabella ihre Tasse erneut auf und trank nachdenklich einen Schluck Tee. „Wie alt sind Sie, Liebes?“, fragte sie schließlich.

„Siebzehn.“

So alt wie Felicity. Zu jung, um in einer Welt wie dieser völlig auf sich allein gestellt zu sein. „Meine Liebe, wenn du erlaubst, nenne ich dich Harriet.“ Als Isabella sah, dass die Kleine eifrig nickte, fuhr sie fort: „So sag mir doch, wohin dein Weg nun führen soll?“

„Ich will zu meiner Tante Lavinia.“ Harriets Mundwinkel zuckten. „Nur war mir nicht klar, dass die Fahrt mit der Postkutsche derart lange dauern und ein Zimmer im Gasthof so viel kosten würde …“, brachte sie tränenerstickt hervor.

Isabella beugte sich zu Rufus hinunter und tätschelte ihn sanft. Er schlug die Augen auf, eines war blau, eines braun. „Wo wohnt deine Tante?“

„In Penrith. Im Lake District.“

„Mein liebes Kind, hast du auch nur den Hauch einer Ahnung, wie weit das ist?“

„Ist es sehr weit von hier?“ Harriet zerrte nervös an ihrem Taschentuch.

„Erwartet deine Tante dich denn?“

Ein Kopfschütteln war die Antwort.

„Aber du bist dir gewiss, dass sie dich aufnehmen wird?“

„Oh ja! Sie hat mir versichert, dass ich bei ihr immer willkommen bin, nur … nur mein Großvater verbot mir, sie jemals zu erwähnen …“

„Was hat sie getan, dass er ihr einen derartigen Groll entgegenbringt?“

„Sie liebte Mr Mortlock. Großvater hatte ihr auf den Kopf zugesagt, der sei nicht gut genug für sie. Da nannte Tante Lavinia ihn einen Tyrannen – und heiratete Mr Mortlock trotzdem!“ Harriets Tonfall zeugte eindeutig von Bewunderung. „Aber ihr Gatte starb bald, und Großvater meinte damals, das geschähe ihr nur recht. Seitdem lebt sie allein.“

„Wann war das?“

„Als ich noch ein Kind war.“

Die Kleine war noch immer ein Kind. Zu jung, um in eine Ehe gedrängt zu werden. Und auch zu jung, um ganz allein durch halb England zu reisen. Isabella blickte aus dem Fenster, wo sich langsam die Dämmerung über die Dächer von Stony Stratford senkte. „Ich werde dich mit mir nehmen“, sagte sie. „Nach London.“

„Oh nein!“ Vor Aufregung ließ Harriet das Taschentuch fallen. „Major Reynolds ist dort! Wenn er mich findet …“

„Er wird dich nicht finden“, erklärte Isabella entschieden, „denn du wirst in meinem Haus wohnen. Und wenn wir von deiner Tante Nachricht erhalten haben, dass sie dich aufnimmt, dann kannst du getrost zu ihr weiterfahren.“

„Aber Major Reynolds …“

Isabella sah das Mädchen amüsiert an. „Ist er etwa ein Oger?“

„Ein Oger?“

„Du weißt schon, solch ein hässlicher, riesiger Unhold wie aus den Märchen.“

Erneut erschauerte Harriet. „Oh ja – ja, genau das ist er!“

„Dann werde ich dich vor ihm beschützen!“

„Er wird sehr wütend sein. Mein Großvater hat die Verlobungsanzeige schon an die Zeitungen geschickt.“

Für einen kurzen Augenblick geriet Isabellas Überzeugung ins Wanken. Wenn das Verlöbnis bereits öffentlich gemacht worden war, würde es einen Skandal geben …

Das Mädchen war nicht älter als Felicity und hatte keine Eltern, die ihr liebevoll zur Seite standen und sie beschützten.

Sie reichte dem Mädchen ihr eigenes Taschentuch, welches Harriet dankbar ergriff, und bat: „Erzähl mir von dem Major.“

„Er ist Soldat.“

Isabella unterdrückte ein Lächeln. „Ja, Liebes, das dachte ich mir schon. Ist er alt?“

„Alt? Oh ja, Madam. Bestimmt so alt wie Sie.“ Harriet stieg Röte in die Wangen. „Ich meine, viel älter. So alt wie mein Vater … also, so alt wie mein Vater wäre, wenn …“ Sie stockte.

Ich werde nicht zulassen, dass die Kleine mit jemandem verheiratet wird, der alt genug ist, ihr Vater zu sein.

„Und … und sein Wesen … er sieht so streng aus und …“

„Also zusammengefasst, ganz und gar ein Oger.“ Isabella sprach beiläufig. „Und ist er hässlich?“

Harriet schüttelte sich angewidert. „Sein Gesicht ist von Narben verunstaltet, Madam. Und er schreit und …“

„Major Reynolds hat dich angeschrien?“, fiel Isabella ihr erstaunt ins Wort.

„Das nicht, Madam“, erwiderte das Mädchen ernst. „Aber er ist vom Militär, daher weiß ich, dass er mich anschreien wird.“

Isabella verkniff sich ein Lächeln. „Hast du Erfahrung mit Männern vom Militär?“

Eifrig nickte Harriet. „Sie stampfen mit den Füßen auf und sind immer so laut.“

Jäh dämmerte es Isabella. „Dein Großvater ist Soldat!“

„Er ist ein Colonel, Madam.“

Isabella hatte sich entschieden. „Morgen reist du mit mir nach London und bleibst bei mir, bis wir wissen, dass deine Tante dich aufnehmen wird.“

Ängstlich warf Harriet ein: „Und Ihr Gemahl, Madam? Wird er das denn erlauben?“

„Ich bin unverheiratet. In London lebt eine verwitwete Cousine bei mir. Sie geht nur selten aus und wird sich freuen, eine solch angenehme Gesellschaft zu bekommen.“

Das Mädchen riss die Augen auf. „Sie sind unverheiratet?“

„Genau.“ Isabella lächelte. „Ich weiß, es ist ein wenig merkwürdig, aber ich lebe sehr bequem auch ohne einen Gatten!“

„Wie geht es der Kleinen?“, wollte Isabella wissen. Sie saß im Nachtgewand am Frisiertisch und bürstete ihr Haar.

„Schläft.“

„Partridge!“ Isabella lachte. „So viel Missbilligung in nur einem Wort?“

Die Zofe schwieg.

Isabella legte die Bürste, deren Silber im Kerzenlicht schimmerte, zurück auf die Kommode. „Sicherlich würden Sie mir raten, mich aus der Angelegenheit herauszuhalten, und Sie hätten bestimmt recht damit, Partridge.“

Isabella wandte sich wieder ihrem Spiegelbild zu und griff erneut nach der Bürste. Gedankenverloren zupfte sie ein paar lange Haare heraus und wickelte sie um ihren Zeigefinger, wo sie im Kerzenschimmer glänzten wie Goldfäden.

Für ein paar Tage würde sie Harriet eine Mutter sein, auch wenn man sie ganz bestimmt nicht dafür halten konnte. Sie beide waren einfach zu verschieden: Harriet dunkel, klein und zierlich, wohingegen sie selbst hochgewachsen und blond war. Demeter, die Göttin der Ernte, hatte ein Bewunderer einmal zu ihr gesagt und ihr sogar ein entsprechendes Gedicht gewidmet: An Demeter mit dem weizengold’nen Haar

Isabella schnaubte fast unhörbar. Sie neigte sich dichter an den Spiegel, doch in dem schwachen Licht waren die zarten Fältchen nicht zu sehen, die sich um ihre Augenwinkel zogen. Und ich bin erst neunundzwanzig. Zu jung, um Harriets Mutter zu sein.

„Sie wird nicht lange bleiben“, sagte sie laut. „Morgen schreibt sie ihrer Tante – und ihrem Großvater.“

Und auch an diesen Major Reynolds würde Harriet schreiben und um Verzeihung bitten müssen, weil sie ihn sitzen gelassen hatte. Das gebot die Höflichkeit, selbst einem Oger gegenüber.

Endlich durchbrach Partridge ihr eigenes Schweigen. „Sie ist keines von Ihren kleinen Haustieren, Miss Isabella. Ich hoffe nur, Sie werden das Ganze nicht irgendwann bedauern.“

2. KAPITEL

Major Nicholas Reynolds seufzte. Er legte die Feder nieder und schob den Brief zur Seite, an dem er gerade geschrieben hatte. „Was sagte ich dir beim letzten Mal, Charlie?“

„Dass du meine nächsten Schulden nicht mehr begleichen würdest“, antwortete sein Neffe mürrisch.

„Ganz genau.“ Noch einmal seufzte Nicholas. Er rieb sich die Stirn. „Weigert sich dein Vater, dir einen Vorschuss zu geben?“

„Ich habe nicht danach gefragt“, murmelte Charlie düster. „Sie kennen ihn, Sir. Er würde toben!“

Wie gut Nicholas das wusste! Er musterte seinen Neffen, der nach der neusten Mode frisiert war, das blaue Jackett mit den großen Goldknöpfen und den stark gepolsterten Schultern verengte sich zur Taille extrem, und es musste ihn eine gute Stunde gekostet haben, sein Krawattentuch in solch komplizierte Falten zu legen.

Was für ein Stutzer! Für solche Modenarren war Nicholas eigentlich seine Zeit zu schade. Doch unter dem geckenhaften Aufzug steckte ein einfacher junger Mann in mächtigen Schwierigkeiten.

Nicholas fuhr mit den Fingerspitzen leicht über die große Narbe, die quer über seine Wange verlief. „Hör zu, ich kaufe deinen Rappen. Was willst du für ihn haben?“

„Was?“ Verblüfft sah Charlie ihn an.

„Wie viel verlangst du für ihn?“

„Aber … aber ich mag ihn!“

„Dann lerne, nicht über deine Verhältnisse zu leben.“

Erneut errötete der Jüngling und senkte den Blick. „Also gut“, brummte er schließlich mürrisch. Als Nicholas ihm kurz darauf eine Geldrolle reichte, besann er sich jedoch wieder seiner Manieren, stammelte verlegen einen Dank und verbeugte sich zum Abschied.

Nicholas schaute ihm nachdenklich hinterher. „Charlie, würdest du dich gern in die Armee einkaufen?“

Die Hand schon auf der Klinke, blieb sein Neffe irritiert stehen. „Sir?“

„Ein Offizierspatent. Wärst du interessiert?“

Charlie machte große Augen. „Danke, Sir, aber …“

Du bist lieber ein Geck als ein Mann.

„Melde dich, falls du es dir anders überlegst.“ Nicholas griff zu seiner Feder und beugte sich wieder über den begonnenen Brief. Als die Tür sich schloss, sah er nicht mehr auf.

Eine Stunde später hatte er seine Geschäftskorrespondenz abgeschlossen. Daheim auf dem Land würde er nun ausreiten, doch in London hatte er am Reiten nur wenig Vergnügen. Die Straßen und Parks waren in seinen Augen viel zu stark bevölkert. Hier bot sich kein Platz für einen wilden Galopp.

Außer man ritt hinaus nach Richmond.

Nicholas schaute aus dem Fenster. Frische Luft, genau die brauchte er jetzt! Er stand auf und schob den Stuhl zurück.

Ein Hausdiener klopfte und trat ein. „Ihre Post, Sir.“

Missmutig betrachtete Nicholas den Stapel Einladungen auf dem silbernen Tablett. Auch das gefiel ihm nicht an London – all die Bälle und Gesellschaften, wo es nicht ums Tanzen ging, sondern lediglich darum, potenzielle Ehepartner auszukundschaften. Kriterien wie Aussehen, Abstammung oder Vermögensstand wurden haarklein abgeschätzt. Als wäre man Vieh auf einer Auktion. „Ab ins Feuer damit.“ Er hatte sich seine Braut schon gewählt. Der Heiratsmarkt – und all die verstohlen taxierenden Blicke – lagen endlich hinter ihm.

Der Bursche stutzte. „Sir?“

„Ach, geben Sie schon her!“ Ungeduldig ging Nicholas auf den Diener zu und nahm den Poststapel vom Tablett. „Und sorgen Sie dafür, dass Duoro in zwanzig Minuten gesattelt ist.“

Flüchtig blätterte er an seinem Schreibtisch die Briefe durch, warf Einladungen ungelesen weg, fand jedoch einen Brief von Colonel Durham, den er zur Seite legte. Und da war ein weiterer Brief mit einem Adressvermerk in weiblicher Schrift, die ihm unbekannt war. Er öffnete ihn mit dem Messer, faltete ihn auf, hielt jedoch inne, da sein Butler eintrat.

„Sir? Lord Reynolds möchte kurz mit Ihnen sprechen.“

Angewidert schloss Nicholas die Augen. Dann legte er den Brief fort. „Schicken Sie ihn herein, Frye.“

Als sein Bruder eintrat, war es Nicholas, als sähe er sich selbst im Spiegel – nur war das Spiegelbild bleicher und fülliger. Man würde sie beide sowieso nie verwechseln können – nicht nur wegen der Narbe. Während Nicholas sich lieber schlicht kleidete, legte Gerald Wert auf Auffälligkeiten: hoch am Hals arrangierte Krawattentücher, exotisch gemusterte Westen, prunkvolle Uhrketten, Diamantnadeln und allerlei sonstige Preziosen.

Die Brauen finster gerunzelt, stieß Gerald hervor: „Du hast meinem Sohn Geld gegeben!“

„Ich habe ihm seinen Rappen abgekauft.“

„Um seine Schulden zu decken!“

Nicholas zuckte nur mit den Schultern. „Was er mit dem Geld macht, ist allein seine Sache.“

„Er hat bei mir ein wirklich großzügiges Auskommen“, grollte Gerald verbittert. „Und dennoch kann er nie …“ Wütend starrte er Nicholas an. „Und du! Warum wendet er sich ausgerechnet an dich?“

Weil du nur deine endlosen Moralpredigten loslässt. „Er ist mit einer ziemlich leichtsinnigen Truppe unterwegs. Vielleicht sollte er sich neue Freunde suchen.“

„Und du unterstützt ihn noch, indem du seine Schulden zahlst!“

Nicholas seufzte. „Ach, weißt du …“

„Ich verlange, dass du meinem Sohn ab sofort kein Geld mehr gibst“, zischte Gerald.

„Ich habe ihm nichts gegeben“, konterte Nicholas gereizt. „Ich hab ihm dieses verdamme Pferd abgekauft!“

„Außerdem muss ich dich bitten, ihm nicht mehr solche Flausen in den Kopf zu setzen!“

„Was meinst du?“

„Die Armee!“

„Ich glaube nicht, dass er interessiert ist“, sagte Nicholas trocken. Allerdings würde es dem Jungen sicher guttun, zu lernen, dass das Leben aus mehr als Mode und Glücksspiel bestand.

„Ich würde es ihm sowieso verbieten!“

„Er ist volljährig. Wenn er zur Armee will, kann er gehen.“

„Nicht wenn ich da noch ein Wörtchen mitzureden habe!“

Nicholas versuchte, ruhig zu bleiben. „Nun gut, ich werde es ihm gegenüber nicht mehr erwähnen.“

„Halt dich auch dran“, fauchte Gerald. „Er achtet viel zu sehr auf das, was du ihm erzählst.“

„So? Das ist mir bisher gar nicht aufgefallen.“

„Er sieht zu dir auf, betrachtet dich als Held.“ Auch das klang verbittert.

Nicholas fühlte sich plötzlich unbehaglich. Er wandte sich ab. „Du hast mein Wort, dass ich mit ihm nicht wieder darüber sprechen werde.“

Doch Gerald, hartnäckig wie eh und je, gab sich damit nicht zufrieden. „Ich kann mir für ihn nichts Schlimmeres vorstellen als die Armee.“

„Ein bisschen Disziplin täte dem Jungen ganz gut.“

Gerald versteifte sich. „Unterstellst du, dass es meinem Sohn an Disziplin mangelt?“

„Ich unterstelle gar nichts“, brauste nun auch Nicholas ungeduldig auf. „Ich sage nur, dass eine solche Erfahrung meiner Ansicht nach gut für ihn wäre.“

„Gott bewahre, dass mein Sohn wird wie du!“

„Oder wie du!“, entgegnete Nicholas zutiefst gereizt.

Geralds Kopf schnellte hoch. „Was willst du damit sagen?“

Nicholas seufzte resigniert. Warum endeten Gespräche mit seinem Bruder immer in Streiterei? „Sonst noch etwas? Ich habe nämlich noch Geschäftliches zu erledigen.“ Er ging hinüber zum Schreibtisch, setzte sich dahinter und griff nach dem schon geöffneten Brief.

Nach kurzem Zögern machte Gerald auf dem Absatz kehrt. „Ich sehe dich heute Abend bei Augusta“, warf er noch über die Schulter, dann ließ er die Tür hinter sich ins Schloss krachen.

Missmutig ließ Nicholas den Brief sinken. Verflucht, Gussies Ball! Um abzusagen, war es jetzt zu spät. Er rieb sich das Gesicht und spürte unter seinen Fingern die feinen Unebenheiten der Narbe auf seiner Wange. Warum nur mussten sie immer streiten?

Nun ja, das war schon seit ihrer Kindheit so. Obwohl Gerald der Ältere war, der den Titel geerbt hatte, wandte sich jeder, der Hilfe brauchte, an Nicholas. Dass das auch für Geralds Sohn galt, machte es nur schlimmer. Nicholas seufzte erneut und sah auf das Schreiben vor sich nieder. Es war sehr kurz gehalten.

Werter Herr Major,

ich bedauere es sehr, doch leider sehe ich mich nicht imstande, Sie zu ehelichen. Bitte verzeihen Sie mir.

Harriet Durham

Ungläubig rieb er sich den Nasenflügel, sprang dann auf und schenkte sich einen Brandy ein. Sehr bedächtig trank er ihn aus, ging zurück zum Schreibtisch, nahm sich Colonel Durhams Brief vor und öffnete ihn.

Im gleichen Moment klopfte es.

„Was ist?“, rief Nicholas stirnrunzelnd, und der Butler trat ein.

„Colonel Durham wünscht Sie zu sprechen, Sir.“

Nicholas biss die Zähne zusammen. „Führen Sie ihn herein.“

„Und Ihr Pferd, Sir?“

Kurz schloss er die Augen, in seinem Kopf breitete sich ein dumpfer Schmerz aus. „In zwanzig Minuten, Frye.“

„Sir, das Wetter …“

Tatsächlich, ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass es sacht zu regnen begonnen hatte. Verdammt! „Zwanzig Minuten“, wiederholte er. Wenn er sich nämlich nicht bald bei einem Galopp austoben konnte, würde er irgendetwas zerschlagen.

Er atmete tief ein und wandte sich dem Colonel zu, den Frye unterdessen hereingeführt hatte.

Der Colonel hatte seine einstige stolze, soldatische Haltung beibehalten und gebärdete sich, als trüge er noch immer eine Uniform. Doch seine Schläfen waren mittlerweile ergraut, und tiefe Furchen durchzogen das stets missmutig wirkende Antlitz.

Nicholas verneigte sich leicht. „Ich wollte gerade Ihren Brief lesen, Sir.“

„Sparen Sie sich die Mühe“, entgegnete der Mann barsch. „Ich hatte gehofft, Aufruhr vermeiden zu können, doch es ist zu spät.“

„Brandy, Sir? Oder soll Frye lieber einen leichten Rotwein bringen?“

„Brandy“, knurrte der Colonel, woraufhin der Diener das Zimmer verließ.

Er ist verlegen, dachte Nicholas, verlegen – und wütend.

Nicholas ging zu der Kommode, auf der die Flasche stand, und füllte zwei Gläser, eines halb voll für sich, das andere für den Colonel machte er randvoll. Er reichte es ihm und bat: „Setzen Sie sich doch, Sir.“

Steif nahm Colonel Durham Platz.

„Ich erhielt einen Brief von Ihrer Enkelin. Wenn ich es recht verstehe, wünscht sie, das Verlöbnis aufzulösen.“

Vor Zorn lief der Mann rot an. „Ich muss Sie für das Betragen meiner Enkelin um Vergebung bitten.“

Nicholas ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. „Könnte ich mit ihr sprechen, Sir?“

Der Colonel lachte rau. „Sofern Sie sie finden können!“

Nicholas runzelte die Stirn „Verzeihung?“

„Das dumme Ding ist weggelaufen, weil sie nicht Ihre Frau werden will.“

„Sie hätte es mir nur sagen müssen, dann hätte ich meinen Antrag zurückgenommen.“ Nicholas sprach bewusst gelassen.

„Das ist doch lächerlich!“, rief der Colonel. „Und genau das sagte ich ihr ja auch!“

Der Major sah sein Gegenüber an. „Sie hat mit Ihnen darüber gesprochen?“

Der Colonel nickte.

„Und was genau meinten Sie zu ihr?“

„Dass es ihre Pflicht ist, Sie zu heiraten.“

Langsam wallte Zorn in Nicholas auf. „Und daraufhin lief sie davon?“

Des Colonels Gesicht färbte sich nun tiefrot. „Sie hat mich zum Narren gehalten.“

Nein, dachte Nicholas, mich macht sie zum Narren! „Wo ist sie jetzt?“

„Ich weiß es nicht. Und es ist mir auch völlig gleichgültig! Für mich ist sie gestorben!“

Nicholas schob sein Glas von sich. Der Colonel war ein engstirniger Mann, der gern Leute einschüchterte – das hatte er nur zu gut gewusst, ehe er um Harriets Hand anhielt. Doch das Mädchen, das noch so jung war, nun zu verstoßen … es war ein Verbrechen! „Sie ist doch erst siebzehn. Sie können unmöglich …“

„Was geht Sie das an?“

Nicholas bedachte ihn mit einem kalten Blick. „Es geht mich sehr viel an. Wenn Sie sich erinnern, Sir, ist sie mit mir verlobt.“ Und vor mir davongerannt.

Der Colonel kniff die Lippen zusammen, bevor er antwortete: „Irgendjemand, der sich gern in anderer Leute Angelegenheiten einmischt, hat sie aufgenommen.“ Er kramte in seiner Tasche und warf ein paar gefaltete Blätter vor Nicholas auf den Schreibtisch. „Sehen Sie selbst!“

Nicholas glättete die Bögen. Zwei Briefe.

Lieber Großvater,

ich werde von nun an bei meiner Tante leben. Ich weiß, die Pflicht gebietet es mir, Major Reynolds zu heiraten, doch bringe ich das einfach nicht übers Herz.

Deine Enkeltochter Harriet

Das Schreiben stammte schon von vor vier Tagen!

Unbehaglich druckste Colonel Durham auf dem Stuhl herum, als hätte er die unausgesprochen gebliebene Anklage vernommen. „Ich dachte, es sei ein Leichtes, sie zu finden und zurückzu­holen.“

Und was dann? Nicholas sprach es nicht aus, denn die Antwort konnte er sich denken: Der Colonel hatte Harriet zu der Heirat zwingen wollen. Und ich sollte niemals davon erfahren. Wütend biss er die Zähne zusammen und las nun auch den zweiten Brief, welcher auf den Vortag datiert war.

Lieber Großvater,

bitte sorge dich nicht um meine Sicherheit. Eine gütige Wohltäterin nahm mich in ihre Obhut, bis ich zu meiner Tante reisen kann.

Deine Enkeltochter Harriet

„Wer ist diese Wohltäterin?“

„Das interessiert mich nicht!“

Ein wenig vorwurfsvoll äußerte Nicholas: „Das sollte es aber. Die Sicherheit Ihrer Enkelin liegt ganz in deren Hand.“

Der Colonel sah nun so aus, als würde er gleich im Boden versinken wollen. „Ohne deren Einmischung hätte ich Harriet längst zurück. Die Sache wäre stillschweigend beigelegt worden! Jetzt aber …“

„Es kann immer noch diskret behandelt werden“, erklärte Nicholas ruhig, obwohl er die Hände unwillkürlich zu Fäusten ballen wollte. Stattdessen spreizte er nun die Finger flach auf dem Tisch. „Es braucht ja niemand zu erfahren, weshalb das Verlöbnis gelöst wurde.“

Der Colonel wandte den Blick ab. „Auf dem Weg hierher ging ich kurz in meinen Club.“ Er räusperte sich. „Mag sein, dass ich dort unbesonnen … sagen wir, ein paar Worte verlor.“

Nicholas stieß stumm die Luft aus. Was der Colonel damit zugab, war klar: Heute Abend würde ganz London von Harriets Flucht wissen.

„Das dumme Ding!“, wütete der Colonel. „Wenn ich diese ungehorsame Göre in die Finger bekäme, würde sie meine Reitgerte zu spüren bekommen!“

Angewidert sah Nicholas ihn an. „Ich werde eine Nachricht an die Zeitungen schicken, in der verkündet wird, dass meine Verlobung mit Ihrer Enkelin aufgelöst ist.“ Er stand auf und verneigte sich andeutungshalber. „Und nun guten Tag, Sir.“

Zutiefst unwillig verzog der Colonel das Gesicht und öffnete den Mund, offenbar wollte er zunächst noch etwas loswerden, doch dann überlegte er es sich anders, erhob sich steif und nickte knapp. „Guten Tag.“

Nicholas schaute ihm nach. Unbändiger Zorn hämmerte in seinem Kopf. Noch einmal nahm er die Briefe auf. Ich weiß, die Pflicht gebietet es mir, Major Reynolds zu heiraten, hatte das Mädchen geschrieben, doch bringe ich das einfach nicht übers Herz.

Wutentbrannt zerknüllte er die Blätter. Nun würde er ganz von vorn anfangen müssen: Gesellschaften oder Bälle über sich ergehen lassen, tanzen und höflichst Konversation betreiben, um sich dann erneut ein Mädchen auszuwählen, das still und fügsam und noch leicht formbar war zu einer Frau, wie er sie sich wünschte – während die Meute verstohlen und unter hämischem Geflüster zusah.

3. KAPITEL

Ein entzücktes Seufzen entfuhr Isabella, als sie sich im Ballsaal umsah. „Wie ich diesen Londoner Charme liebe!“

„Da bin ich ganz deiner Meinung.“ Trotz der Zustimmung schaute die Gefährtin recht düster drein.

„Plagt dich schon wieder das Kopfweh, Gussie?“

„Kopfweh?“ Augusta Washburnes Miene erhellte sich. „Aber nein, Schätzchen, ich ärgere mich.“

„Warum das?“ Isabella musterte erneut die glamouröse Umgebung. Kostbarste Stoffe, überall funkelnde Juwelen und, wo immer man hinsah, der Glanz unzähliger Lüsterkerzen. Der Saal war zum Bersten gefüllt, und lautes Stimmengewirr wetteiferte mit der Musik der kleinen Kapelle. Gussies Ball war unzweifelhaft ein Erfolg.

„Wegen dieser Sache mit Nicholas“, begann Gussie. „Alle reden darüber.“

„Über Nicholas?“

„Meine Liebe, welch ein grässliches Gedränge!“ Lady Faraday stürzte sich auf Augusta. „Man kann sich ja kaum rühren!“ Sie trug eine leuchtend roséfarbene Robe mit einer Unmenge Rüschen an den unvorteilhaftesten Stellen und einen Turban mit drei langen Straußenfedern, die heftig wogten, als sie sich an Isabella wandte. „Isabella, Herzchen, endlich bist du mal wieder in der Stadt!“

„Sarah, wie geht es dir?“, antwortete Isabella höflich, doch Lady Faraday, der die Neugierde förmlich aus den Augen sprang, hatte sich schon wieder zu Augusta umgedreht: „Was musste ich da über deinen Cousin hören? Sag, ist es wahr? Ihm ist die Zukünftige davongelaufen?“

Augusta erstarrte. Sie schaute zu Isabella und hauchte fast tonlos: „Ja.“

Isabellas Freude an dem Ball begann, sich leicht zu trüben. „Dein Cousin?“

„Major Nicholas Reynolds.“

Entsetzt starrte Isabella die Freundin an. „Der Oger? Das ist dein Cousin?“

„Oger?“ Lady Faraday kicherte.

„Oger?“, zischte Augusta und runzelte die Stirn. „Wer, bitte schön, hat ihn denn so genannt?“

Isabella biss sich fast die Zunge ab. Bin ich eine dumme Gans! „Major Reynolds ist dein Cousin?“

Augusta nickte.

„Und seine Verlobte ist ihm davongerannt!“, rief Lady Faraday. „Nun sag schon, Augusta …“

Ihr schadenfroher Ton war zu viel für Isabella. „Sarah, mir scheint, Mrs Drummont-Burrel sucht deine Aufmerksamkeit.“

„Oh, wirklich? Bitte, entschuldigt mich …“

Missmutig schaute Isabella ihr nach. Wieso wusste die größte Klatschbase Londons von Harriets Flucht? Das Kind hatte doch seine Briefe gerade erst kurz zuvor geschrieben, und schon hatte ein Tratschmaul wie Sarah …

„Ein Oger!“ Augusta war empört. „Wo hast du das gehört?“

„Oh … ich hatte eine Menge Besucher“, entgegnete Isabella geistesgegenwärtig. „Du weißt ja, wie das ist, wenn man gerade erst wieder in die Stadt kommt.“

Mit Empörung in der Stimme fragte Augusta: „Sicher, aber wer sagte das?“

Die Versuchung zu lügen war groß. Isabella schürzte die Lippen und betrachtete angestrengt ihren Fächer. „Ich hörte es … ich glaube, es war die Person, die Miss Durham Unterschlupf gewährt.“ Nun ja, das war immerhin nicht ganz gelogen.

„Mit welchem Recht …“, zischte Gussie. „Wer, zum Henker, ist sie?“

Isabella ließ den Fächer zuschnappen. „Keiner, den ich bisher getroffen habe, weiß das“, sagte sie wahrheitsgemäß. Ihr war äußerst unbehaglich zumute. „Ich wusste gar nicht, dass Major Reynolds dein Vetter ist.“

„Ach, um drei Ecken. Er ist Lord Reynolds Bruder.“

Isabella spürte, wie ihre Knie butterweich wurden. Der Major gehörte zum Adel? „Ich habe ihn, glaube ich, noch nicht kennengelernt.“

„Wenn das so ist – er wird heute hier sein.“ Augusta sah sich suchend im Saal um. „Ich werde dich ihm vorstellen.“

„Oh …“ Plötzlich nervös, folgte Isabella ihren Blicken. „Aber vielleicht kommt er ja gar nicht … wegen des Geredes …“

„Nicholas ist kein Feigling!“

„Oh“, wiederholte Isabella. Sie schluckte. „Ich freue mich, ihn zu treffen.“

Nicholas war stehen geblieben und blickte hinüber zur anderen Straßenseite. In den Boden gesteckte Fackeln brannten dort am Fuße der Eingangstreppe, und ein roter Teppich war die Stufen hinab ausgerollt worden. Er rüstete sich für das, was nun auf ihn zukam: all die Gaffer und Klatschbasen.

Ich muss nicht dahin. Ich kann einfach umkehren und wieder gehen.

Doch dem Gedanken folgte Zorn über sich selbst. Er war an herüberstarrende Fremde gewöhnt – dank der Verunstaltung in seinem Gesicht –, und er wollte verdammt sein, wenn er sich vor den Tratschmäulern versteckte! Er überquerte die Straße, erklomm die Stufen, reichte Hut und Handschuhe einem Bediensteten und schritt dann die breite, geschwungene Treppe hinauf.

Er kam recht spät, der Ball war bereits voll im Gange. Die Luft im Saal war stickig, der Blumenschmuck begann schon zu welken.

Gerade wurde ein Kontertanz gespielt. Nicholas verharrte unter dem Türbogen und musterte die Reihe der Tanzpaare. Debütantinnen in pastellfarbenen Roben, Offiziere in Uniform und Matronen mit Straußenfedern im Haar.

„Mein Lieber! Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben, dich heute hier zu sehen!“

Nicholas drehte sich um. „Gussie!“ Er verbeugte sich. „Du musst mir verzeihen.“

„Schon geschehen.“ Lachend reckte seine Cousine sich auf, um ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen.

„Gut siehst du aus“, sagte Nicholas lächelnd. Mit ihrem schimmernden braunen Haar, den blitzenden dunklen Augen und den vielen kleinen Sommersprossen auf der Nase ähnelte Gussie eher einem Schulmädchen als einer Mutter von drei Kindern.

Seine Cousine beachtete das Kompliment jedoch nicht. Fest umklammerte sie seine Hand. „So, Nicholas, du darfst jetzt nicht weglaufen.“

Ihm verging das Lächeln. „So schlimm?“

„Du kennst den Londoner Tratsch.“ Augusta verdrehte genervt die Augen. „Aber du musst unbedingt tanzen, bevor du dich nebenan hinter den Spielkarten verkriechst.“

„Ist das ein Befehl, Gussie?“

„Ja, denn du weißt, was sie sonst alle über dich sagen werden.“

Und wie er das wusste! Aus genau diesem Grund hasste er London – jedermann gaffte und maß sich Urteile über Fremde an.

„Ich habe dir den nächsten Tanz freigehalten. Einen Walzer.“

„Welch glücklicher Zufall.“ Er bemühte sich um ein unbeschwertes Lächeln.

Strahlend legte Gussie eine Hand auf seinen Arm, als die Musik schwieg und die Tänzer das Parkett verließen.

Nicholas lachte über ihre Freude. Mit ihr zu scherzen ließ ihn die neugierigen Blicke vergessen, die auf ihn gerichtet waren. Zwar zeigte niemand mit dem Finger, doch viele drehten sich neugierig nach ihm um. Ignorier sie, befahl er sich. Schließlich hatte er gelernt, sich würdevoll und respektabel zu geben und seine verunstaltete Wange niemals zu verbergen. Es würde ja auch nicht ewig so gehen, nur allzu bald würden die Londoner ein neues Thema finden, über das es sich zu tratschen lohnte.

Er sah sich im Saal um. Am anderen Ende erblickte er Gerald. Und da stand auch Gussies Gemahl Lucas, an seiner Seite eine umwerfende Blondine in blauer Robe. Anerkennend betrachtete Nicholas die Dame eine Weile; ihm gefielen ihre Größe und ihre wohlgeformten Rundungen. Und der volle Mund.

Während sie einen freien Platz auf dem Tanzparkett suchten, plauderte Gussie ununterbrochen, doch als die Musik einsetzte, senkte sie die Stimme. „Nicholas, es tut mir wirklich leid, was da passiert ist.“

Nicholas starrte an ihr vorbei. Mir auch. Er fing einen Blick auf – den einer Matrone in leuchtend rosafarbener Robe und mit Federn im Haar, die ertappt errötete, kaum dass er sie ansah, und sich hastig abwandte.

„Ich sollte dich warnen …“ Gussie verzog gerade das Gesicht.

„Weshalb?“ Er versuchte zu lachen.

„Nicholas, sie nennen dich Oger.“

Wenn der Name nicht den Nagel auf den Kopf treffen würde, hätte er herzlich darüber gelacht. Doch er passte perfekt – zu dem vernarbten Gesicht, der davongelaufenen Braut. Ein Oger.

Zorn wallte in ihm auf, wuchs mit jedem Tanzschritt und lag bitter auf seiner Zunge …

„Denk einfach nicht daran!“, flüsterte Gussie ihm zu, als die Musik verklungen war.

Nicholas lächelte gezwungen. „Werde ich nicht, versprochen.“

„Gut! Nun muss ich dich mit einer ganz besonderen Freundin von mir bekannt machen. Ihr Name ist Isabella“, sagte Gussie und schob eine Hand in seine Armbeuge. „Lady Isabella Knox. Sie hat gerade mit Lucas getanzt. Siehst du sie irgendwo?“

Die Blonde? Er sah sie. Groß und elegant stach sie zwischen den Debütantinnen und Matronen hervor. Ihr Haar hatte eine außergewöhnliche Farbe, wie reifer Weizen im Sonnenlicht. Sofort besserte sich seine Stimmung.

Autor

Emily May
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