Die sinnlichste Versuchung - Fünf süße Sünden

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DIE SÜßESTE ALLER SÜNDEN von CHRISTINE MERRILL

Wenn er der Versuchung nachgibt, wird er die Frau, die er liebt für immer ruinieren! Sam darf Lady Evelyn aufgrund seiner Herkunft niemals den Hof machen. Denkt er zumindest … Am Tage ihrer Verlobung mit einem anderen erfährt Sam jedoch, dass er jahrelang an eine Lüge geglaubt hat. Ist es nun zu spät für ein Happy End?

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MISS MELANIES SINNLICHSTE VERSUCHUNG von AMANDA MCCABE

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  • Erscheinungstag 18.03.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751506328
  • Seitenanzahl 720
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Christine Merrill, Kate Hoffmann, Lori Wilde, Marion Lennox, Amanda Mccabe

Die sinnlichste Versuchung - Fünf süße Sünden

IMPRESSUM

Die süßeste aller Sünden erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
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© 2013 by Christine Merrill
Originaltitel: „The Greatest Of Sins“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISON
Band 26 - 2015 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Bärbel Hurst

Umschlagsmotive: shutterstock_Inara Prusakova

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751504614

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Sam kam nach Hause!

Vier schlichte Worte, und doch übten sie eine so starke Wirkung auf sie aus. Evelyn Thorne presste eine Hand auf ihr Herz und fühlte, wie heftig es schlug. Sam! Wie lange hatte sie auf seine Rückkehr gewartet? Beinahe sechs Jahre. Er war nach Edinburgh gegangen, als sie noch ein Schulmädchen gewesen war, und seither hatte sie Pläne für diesen Tag geschmiedet.

Sie war sicher gewesen, dass er zu ihr zurückkehren würde, wenn er seine Ausbildung abgeschlossen hatte. Eines Tages würde sie seine leichten, schnellen Schritte auf den Dielen in der Eingangshalle hören. Er würde Jenks, dem Butler, einen Gruß zurufen und sich heiter nach ihrem Vater erkundigen. Aus dem Arbeitszimmer würde jemand seinen Gruß erwidern, denn zweifellos wäre ihr Vater ebenso begierig wie sie darauf zu hören, wie es seinem Mündel ergangen war.

Danach würde alles wieder so sein wie früher. Sie würden zusammen im Salon sitzen oder im Garten. Sie würden ihn nötigen, sie auf Bälle und Abendgesellschaften zu begleiten, die nicht mehr so langweilig wären, weil Sam dabei war, mit dem sie reden konnte und tanzen, und den sie vor den Heiratsabsichten der anderen Mädchen beschützen konnte.

Am Ende der Saison würde er mit ihnen aufs Land zurückkehren. Dort würden sie zusammen im Obstgarten spazieren gehen und den Pfad zu dem kleinen Teich hinunterlaufen, um den Vögeln und den anderen Tieren zuzusehen, würden auf den Decken liegen, die er mitbrachte, und von dem essen, was sie mit eigenen Händen in den Picknickkorb gepackt hatte, denn sie traute der Köchin nicht zu, die besten Happen für einen Mann aufzuheben, der „kein echter Thorne“ war.

Im Vorübergehen warf sie einen Blick in den Spiegel auf dem Gang, richtete sich das Haar und strich über ihr Kleid. Würde Sam sie hübsch finden, jetzt, da sie erwachsen war? Der Duke of St. Aldric hatte sie zum hübschesten Mädchen bei Almack’s erklärt und zu einem Diamanten reinsten Wassers. Aber Komplimente gingen ihm so leicht von der Zunge, dass sie sich fragte, ob er es tatsächlich ernst meinte. Seine guten Manieren hatten ihn wohl genötigt, das zu sagen, nachdem er sie einmal gesehen hatte.

In derselben Situation hätte Sam ihr nicht geschmeichelt. Allerdings hatte er gar keine Gelegenheit dazu gehabt, denn er war für ihre erste Saison nicht zurückgekommen. Er war vor einigen Jahren von der Universität direkt zur Marine gegangen. Sie hatte die Zeit damit verbracht, in den Zeitungen nach Neuigkeiten über sein Schiff zu suchen, und sich bemüht, die Frau zu werden, die er vielleicht zu finden hoffte, wenn er zurückkehrte. Sie hatte die Tage im Kalender abgestrichen und sich jedes Mal im Dezember gesagt, dass im nächsten Jahr das Warten vorüber sein würde. Er würde nach Hause kommen, und sie würde bereit sein für ihn.

Aber die einzige Nachricht von Sam war ein knapper Brief an ihren Vater gewesen, in dem er seinen Plan dargelegt hatte, einen Posten auf der „Matilda“ anzutreten.

Ihr hingegen hatte er seit dem Tag seiner Abreise nicht ein einziges Wort geschickt. Selbst von seiner Ernennung zum Schiffsarzt hatte sie erst gehört, nachdem er in See gestochen war. Es hatte keine Gelegenheit gegeben, ihn zu einem sichereren Vorhaben zu überreden. Er war fort, und das war alles.

Drei Jahre hatte sie eine Entscheidung hinausgezögert, und so lange war sie auf dem Heiratsmarkt geblieben. Sie konnte keine Verbindung eingehen, ehe sie ihn wiedergesehen hatte. Die Leute fanden es ziemlich seltsam, dass sie noch immer keinen Antrag angenommen hatte. Wenn sie St. Aldric zurückwies, würde sie vermutlich eine alte Jungfer werden. Desinteressiert an jedem Mann. An jedem. Bis auf einen.

Ganz plötzlich klopfte es an der Haustür, kurz und heftig, und sie zuckte auf ihrem Stuhl zusammen. Es klang nicht so, wie sie es erwartet hatte. Allerdings war sie nicht sicher, welche Rückschlüsse auf die Persönlichkeit eines Menschen sich aus der Art des Klopfens ziehen ließen. Trotzdem erschreckte es sie.

Statt ihm entgegenzueilen, zog sie sich in die kleine Nische unterhalb der Treppe zurück. Das war feige von ihr. Aber diese Abgeschiedenheit bedeutete, dass sie den ersten Blick auf ihn werfen konnte, ohne dass er es wusste, und dass sie diesen Moment ganz für sich hatte. Sie musste ihre Gefühle nicht vor den Dienstboten verbergen. Sie konnte seinen Anblick genießen und an Dinge denken, die nichts zu tun hatten mit Spazierengehen im Garten und Picknicken am Bach.

Jenks durchquerte die Halle und öffnete das Portal. Seine große Gestalt verbarg den Mann an der Türschwelle. Die Bitte, eintreten zu dürfen, klang deutlich und ebenso höflich wie freundlich, doch nicht so herzlich und übermütig, wie Evelyn es sich vorgestellt hatte. Sie hatte an den Jungen gedacht, der fortgegangen war, nicht an den Mann, zu dem er geworden war. Natürlich war er immer noch Sam. Aber er hatte sich verändert, genau wie sie.

Der Mann, den sie jetzt an der Tür sah, verkörperte eine seltsame Mischung aus fremd und vertraut. Er hielt sich aufrecht wie ein Soldat, doch sie entdeckte keine der Narben und Verwundungen, die sie bei so vielen Offizieren gesehen hatte, wenn sie zurückkamen. Natürlich hatte er seine Zeit weit genug weg von den Kämpfen verbracht, unter Deck, wo er sich um die Verletzten kümmerte.

Er war noch immer blond, obwohl der rötliche Schimmer in seinem Haar dunkler geworden war, beinahe braun. Das Kindlich-Weiche war aus seinem Gesicht verschwunden, sein glatt rasiertes Kinn wirkte energisch. Seine Augen waren noch immer blau, natürlich, und sein Blick so scharf und wachsam wie stets. Aufmerksam sah er sich in der Halle um, bemerkte die Veränderungen und das, was gleich geblieben war. Nachdem er alles in Augenschein genommen hatte, nickte er kurz und erkundigte sich dann, ob ihr Vater Besucher empfing.

Der Junge aus ihren Erinnerungen hatte ein heiteres Wesen gehabt, hatte oft gelächelt und gern eine Hand ausgestreckt, um zu helfen oder zu trösten, aber der Mann, der jetzt in dem marineblauen Rock vor ihr stand, wirkte ernst. Man konnte ihn sogar finster nennen. Sie nahm an, dass das bei seinem Beruf notwendig war. Niemand wollte einen Arzt, der schlechte Nachrichten mit einem Lächeln auf dem Gesicht überbrachte. Obwohl sein Blick mitfühlend wirkte, lag ein düsterer Ausdruck in seinen Augen, als hätte er das Elend der Welt erlebt.

Sie hätte ihn gern gefragt, ob sein Leben bei der Marine so schrecklich gewesen war, wie sie es sich vorstellte. Hatte es ihn traurig gemacht, so viele verwundete Männer zu sehen und so wenig gegen ihr Leid tun zu können? Hatten die Siege, die er gegen den Tod errungen hatte, genügt, um die Schrecken des Krieges auszugleichen?

Hatte ihn das wirklich so verändert? Oder war noch etwas übrig von dem Jungen, der von ihr fortgegangen war?

Nun, da er zurück war, wollte sie ihn so vieles fragen. Wo war er gewesen? Was hatte er dort getan? Und vor allem – warum war er von ihr fortgegangen? Sie hatte geglaubt, dass aus ihnen viel mehr als Spielkameraden werden könnte, wenn sie erwachsen waren.

Unwillkürlich verglich Evelyn ihn mit dem Duke, als Sam an ihr vorbeiging. Seine ernste Ausstrahlung stand in starkem Kontrast zu St. Aldric, der stets zu lächeln schien. Obwohl der Duke große Verantwortung trug, war sein Gesicht nicht so von Sorgen gezeichnet wie das von Sam. Er trat Hindernissen mit Optimismus entgegen. Aber es schien auch kaum etwas zu geben, das er nicht erreichen konnte.

Was das Aussehen anging, so konnte sie viele Ähnlichkeiten zwischen den beiden Männern entdecken. Beide waren blond und hatten blaue Augen. Aber St. Aldric war der größere von beiden, und er sah auch besser aus. In allen körperlichen Dingen war er der Überlegene. Und er besaß mehr Macht, mehr Geld, hatte Rang und Titel.

Und doch – er war nicht Sam. Sie seufzte. Kein noch so gesunder Menschenverstand vermochte ihr Herz von seiner Wahl abzubringen. Wenn sie den unvermeidlichen Antrag annahm, würde sie mit St. Aldric vermutlich einigermaßen glücklich sein, aber sie würde ihn niemals lieben.

Doch wenn der Mensch, den man mehr liebte als jeden anderen, nicht interessiert war, was blieb dann noch zu tun?

Jetzt war er direkt zu ihrem Vater gegangen, ohne sich nach ihr zu erkundigen. Vielleicht interessierte sie ihn nicht. Mit seinem Schweigen während seiner Abwesenheit schien Samuel Hastings ihr sagen zu wollen, dass er nicht auf dieselbe Weise an sie dachte wie sie an ihn. Vielleicht dachte er an sie noch immer wie an eine Jugendfreundin, und nicht wie an eine junge Dame im heiratsfähigen Alter, die ihm Gefühle entgegenbrachte.

Erinnerte er sich nicht an ihren Kuss? Danach war sie sich über ihre Gefühle ganz sicher gewesen.

Er offenbar nicht. Er hatte sich anschließend kühl und distanziert verhalten. Sie konnte einfach nicht glauben, dass er zu den Jungen gehörte, die einem Mädchen einen Kuss raubten, nur um zu beweisen, dass sie es konnten. Hatte sie etwas getan, das ihn kränkte? Vielleicht war sie zu eifrig gewesen. Oder nicht begeistert genug. Aber wie konnte er erwarten, dass sie wusste, was zu tun war? Es war ihr erster Kuss gewesen.

Der alles zwischen ihnen verändert hatte. Über Nacht war sein Lächeln verschwunden. Und kurz danach war er fortgegangen.

Selbst wenn sie ihn missverstanden hatte, so hatte sie doch erwartet, dass er ihr eine Nachricht schrieb oder wenigstens einen Abschiedsgruß. Oder er hätte einen der Briefe beantworten können, die sie ihm pflichtschuldig jede Woche geschrieben hatte. Vielleicht hatte er sie nicht bekommen. Auf einem seiner kurzen Besuche während der Semesterferien hatte sie ihn danach gefragt. Er hatte zugegeben, mit einem kurzen Nicken und einem kühlen Lächeln, dass er sie gelesen hatte. Aber er hatte nichts weiter gesagt, was angedeutet hätte, dass ihre Nachrichten ihm Trost gebracht oder Vergnügen bereitet hätten.

Jetzt spielte das natürlich keine Rolle mehr. Wenn man einmal die Aufmerksamkeit eines Dukes erregt hatte, der nicht nur reich und mächtig war, sondern auch gut aussehend, höflich und charmant, dann sollte man nicht über die Zurückweisung durch einen Arzt von unbedeutender Herkunft jammern.

Evelyn seufzte wieder. Trotzdem hatte sie in der letzten Zeit häufig darüber nachgedacht. Selbst wenn er sie nicht liebte, so war Sam doch ihr Freund gewesen, ihr liebster und engster Gefährte. Sie wollte seine Meinung über St. Aldric hören, über den Mann, über ihre Entscheidung. Ob es einen Grund gab, die Verbindung zu missbilligen …

Natürlich konnte es keinen Grund geben. Er würde sie nicht im letzten Augenblick davon abhalten, indem er ihr selbst einen Antrag machte. Und sie musste sich selbst sagen, dass es nicht gerade ein Todesurteil war, Ihre Gnaden zu werden, die Duchess of St. Aldric.

Aber wenn er sie nicht wollte, dann konnte Dr. Samuel Hastings ihr doch zumindest gratulieren. Und dann wäre es ihr vielleicht möglich, weiterzumachen.

„Ein Schiffsarzt“, sagte Anthony Thorne, der Earl of Grantham, missbilligend. „Ist das nicht eine Arbeit, die jeder Bader verrichten könnte? Gewiss hätte ein Arzt, der an einer Universität studiert hat, es besser treffen können.“

Sam begegnete dem finsteren Blick seines Wohltäters mit einer militärischen Haltung und einer ausdruckslosen Miene. Er konnte sich an eine Zeit erinnern, als das, was er tat, bei diesem Mann stets Beifall gefunden hatte. Als Reaktion darauf hatte er sich stets bemüht, dem Earl zu gefallen, und hatte Angst gehabt, ihn zu enttäuschen. Aber wie es schien, stießen seine besten Bemühungen, etwas aus sich zu machen, wie Grantham es verlangt hatte, bei diesem nur auf Zweifel und Ablehnung

Dann war es eben so. Sein Wunsch, sich zu beweisen, war in demselben Maße abgekühlt wie Granthams Zuneigung zu ihm. „Ganz im Gegenteil, Sir. Auf den meisten Schiffen müssen sie sich mit jedem Mann zufrieden geben, der sich für diese Arbeit hergibt. Da sie oftmals einen Bader für diese Aufgabe anheuern, will keiner der erste Patient sein. Ich bin sicher, dass sowohl der Kapitän als auch die Mannschaft meine Hilfe zu schätzen wussten. Ich habe mehr Gliedmaßen retten können, als ich amputieren musste. Ich habe Erfahrungen gesammelt mit vielen Krankheiten, denen ich an Land nie begegnet wäre. Es gab einige tropische Fieber, die ziemliche Herausforderungen boten. Die Zeit, in der ich nicht arbeiten musste, habe ich mit Studieren verbracht. Im normalen Tagesablauf auf einem Schiff gibt es viele Stunden, in denen man sich bilden kann.“

„Hm.“ Die schlechte Laune seines Vormunds machte Resignation Platz, als er solchen Vernunftgründen begegnete. „Wenn du keinen anderen Weg gefunden hast, Erfahrungen zu sammeln, dann musste es wohl so sein.“

„Und ich war recht weit weg von England“, fügte Sam hinzu und verlieh seinen Worten einen besonderen Unterton. „Als ich fortging, ermutigten Sie mich zu reisen.“

„Das stimmt.“ Jetzt reagierte Grantham zurückhaltend. „Und du hast keine Pläne zu heiraten? Auch dazu habe ich dich ermutigt.“

„Noch nicht, Sir. Es gab wenig Gelegenheit in einer reinen Männergesellschaft. Aber ich habe einiges Geld auf meinem Konto gesammelt und beabsichtige, eine eigene Praxis zu eröffnen.“

„In London?“, gab Grantham mit gerunzelter Stirn zurück.

„Im Norden“, beruhigte ihn Sam. „Ich kann eine Frau und Kinder ernähren. Ich bin sicher, dass es irgendwo eine Frau gibt, die nichts dagegen hat, dass …“ Er beendete den Satz nicht, er wollte nicht lügen. Sollte der Earl doch denken, was er wollte. Es würde keine Ehe geben, keine Kinder, keine solche Zukunft.

„Evelyn steht natürlich kurz vor einer ausgezeichneten Verbindung“, sagte Grantham, als wäre er froh, das Thema wechseln zu können. Sein Lächeln verriet, wie stolz er war auf seine einzige Tochter. Die Worte hatte er sehr endgültig formuliert, damit Sam sofort verstand.

Der nickte. „Das habe ich aus Ihren Briefen entnommen. Sie wird einen Duke heiraten?“

Jetzt strahlte Grantham vor Zufriedenheit. „Trotz seines Ranges ist St. Aldric ein äußerst umgänglicher Gentleman. Er ist stets so gut gelaunt und so großzügig, dass seine Freunde ihn oft den heiligen Michael nennen.

Evie hatte sich also einen Heiligen geangelt? Das war genau das, was sie verdiente. Ich sollte mich am besten so weit von ihr fernhalten wie nur möglich, dachte Sam. Seine eigene Natur war weit von der eines Heiligen entfernt. „Evelyn darf sich eine glückliche junge Dame schätzen, dass sie so einen Ehemann bekommen wird.“

„Es ist schade, dass du nicht bleiben kannst, um ihn kennenzulernen. Wir erwarten ihn heute Nachmittag.“

Das war so deutlich, als hätte er mir die Tür vor der Nase zugeschlagen, erkannte Sam. Wie ein Familienmitglied behandelt zu werden war nicht dasselbe wie tatsächliche Verwandtschaft. Nun, da er erwachsen war und einem Beruf nachging, fühlte sein Vormund sich ihm gegenüber nicht mehr verpflichtet.

„Schade, wirklich. Aber natürlich kann ich nicht bleiben“, stimmte er zu. Wie auch immer, er hatte nicht den Wunsch, diesen Heiligen kennenzulernen, der seine Evie heiraten würde, oder auch nur einen Augenblick länger unter Granthams Dach zu verweilen als unbedingt nötig. „Sie werden Lady Evelyn natürlich meine Grüße übermitteln.“ Sorgfältig achtete er darauf, ihren Titel zu benutzen, um jedes Zeichen von Vertraulichkeit zu vermeiden.

„Natürlich“, sagte ihr Vater. „Und nun möchte ich dich nicht länger aufhalten.“

„Natürlich nicht.“ Sam brachte ein Lächeln zustande und erhob sich, als hätte er diesen Besuch ohnehin nur so kurz geplant, und als hätte sein Aufbruch nichts zu tun mit diesem Hinauswurf. „Ich wollte Ihnen nur danken, Sir, und Ihnen noch einmal sagen, wie wichtig Ihre Fürsorge für mein Leben gewesen ist. Ein Brief erschien mir da kaum passend.“ Er verneigte sich förmlich vor dem Mann, der sein Wohltäter gewesen war.

Grantham erhob sich und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Dabei lächelte er ihn an, wie er es früher getan hatte. „Ich bin gerührt, mein Junge. Und es tut gut zu wissen, dass es dir gut geht. Werden wir dich noch einmal sehen, während du in London bist? Vielleicht zur Hochzeit?“

Wenn es zu spät ist, als dass ich noch irgendwelchen Schaden anrichten könnte.

„Ich weiß es nicht. Ich habe noch keine genauen Pläne gefasst.“ Wenn er ein Schiff fand, auf dem man seine Dienste gebrauchen konnte, würde er mit der nächsten Flut auslaufen. Und wenn nicht? Vielleicht gab es einen fernen Ort in Schottland oder Irland, wo ein Arzt gebraucht wurde.

„Du bist natürlich willkommen. Wir werden viel zu feiern haben. Die kleine Eve ist nicht mehr so klein. St. Aldric ist seit Beginn der Saison zu dieser Verbindung entschlossen, aber ihre Antwort steht noch aus. Ich habe ihr gesagt, dass es sich nicht schickt, mit der Zuneigung eines Dukes zu spielen. Sie will nicht auf mich hören.“ Grantham lächelte noch immer, als wäre selbst ihr Ungehorsam ein Schatz, den es zu hüten galt, und in seinem Fall stimmte das natürlich.

Wenn er ihr weiterhin jeden Wunsch erfüllt hatte, dann war sie vermutlich ein verwöhnter Dickkopf geworden. Ohne einen starken Mann an ihrer Seite würde sie über die Stränge schlagen. Ich zum Beispiel – doch Sam schob diesen Gedanken beiseite. „Mit der Zeit wird sie zur Vernunft kommen, Sir, davon bin ich überzeugt.“ Mit Glück wäre er fort, ohne dabei zusehen zu müssen. Wenn sie sich noch nicht entschieden hatte, wäre es eine Katastrophe, hier zu bleiben und das Risiko einzugehen, ihre Überlegungen mit seiner Gegenwart zu erschweren.

Er und Grantham verabschiedeten sich höflich. Nur ein paar Schritte noch, dann würde er durch das Portal treten und davonreiten. Allerdings war es unwahrscheinlich, dass er ohne einen Zwischenfall aus dem Haus gelangen würde, denn als er die Stufen zu Thornes Arbeitszimmer hinaufgegangen war, hatte er gewusst, dass sie in der Nähe der Treppe wartete.

Als er durch die Halle ging, hatte er sehr darauf geachtet, nicht allzu auffallend zu der Stelle zu blicken, an der sie sich versteckt hatte. Er wollte sie nicht sehen. Das würde den Abschied nur noch schwerer machen.

Andererseits hatte ein Teil von ihm gefürchtet, sie würde nicht hier sein, um ihn zu begrüßen. Dieser dumme Narr hatte in jedem Winkel nach ihr suchen, die Arme nach ihr ausstrecken, nach ihr rufen wollen. Die Vergangenheit konnte niemand wiederbringen, vor allem nicht, wenn man feststellte, dass das Glück nur auf Unwissenheit beruht hatte, auf einer Illusion.

Der Butler hatte ihm geöffnet, und er hatte sie nicht gesehen. Hin und her gerissen zwischen Furcht und Erleichterung, hatte er Angst gehabt, nach ihr zu fragen. Aber dann, als er an ihrem Versteck vorbeigekommen war, hatte er ihr Parfüm gerochen.

Das stimmte nicht ganz. Er hatte in der Halle den Duft einer Frau wahrgenommen, stärker werdend, je näher er der Treppe kam. Jedoch konnte er nicht sicher sein, dass sie es war. Das Mädchen, das er verlassen hatte, hatte nach Zitronenseife gerochen und nach Lavendel. Dieser neue Duft erinnerte an Indien, geheimnisvoll, schwer und elegant.

Er hätte sich einfach umdrehen und sie begrüßen sollen, wie ein alter Freund es tat. Sie hätten Höflichkeiten ausgetauscht. Dann hätte er ihr alles Gute wünschen können, und nach ein paar Worten wären sie getrennter Wege gegangen.

Aber der Duft hatte ihn betört, und er hätte all seine Sinne zusammennehmen müssen, um auch nur ein paar Grußworte zustande zu bringen. Doch wenn er es nicht geschafft hätte, sich zusammenzureißen, wie hätten dann diese Worte gelautet? Also hatte er den feigeren Weg gewählt und so getan, als bemerkte er ihre Anwesenheit nicht. Im Stillen hatte er gehofft, dass sie während seines Gesprächs mit ihrem Vater aufgeben und sich in den Salon zurückziehen würde, oder wo immer sie ihre Tage verbringen mochte.

Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Evie wie eine Lady auf einer Chaiselongue oder an einem zierlichen Damenschreibtisch saß, bereit zu einem höflichen, aber kühlen Willkommen und einem banalen Gespräch. Zu viele Jahre hatte er damit verbracht, daran zu denken, wie sie war. Er wollte nicht, dass sie sich veränderte. Er konnte sie sich im Garten vorstellen, laufend, kletternd, auf den unteren Ästen des Baumes sitzend, auf die er ihr geholfen hatte, wenn niemand da gewesen war, um ihn daran zu hindern.

Doch sich wie ein Wildfang zu verhalten, würde sie abgelegt haben, zusammen mit dem Eau de Toilette, das zart nach Lavendel duftete. Sie war eine junge Dame geworden. Sie würde eine Duchess werden. Wenn er dieser Fremden begegnet war, dann würde er vielleicht endlich frei sein von ihr und seinen Frieden finden.

In diesem Augenblick, als er den Fuß der Treppe erreicht hatte, stürmte sie aus ihrem Versteck und auf ihn zu, schmiegte sich an ihn, die Arme um seinen Nacken gelegt, und rief: „Erwischt!“ Sie küsste ihn auf die Wangen, erst auf die eine, dann auf die andere, schwesterliche, aber feste Küsse.

Sam erstarrte, körperlich ebenso wie geistig. Er hatte sich darauf vorbereitet, seine erste Reaktion auf ihre Nähe zu kontrollieren. Aber dieser unerwartete und vollständige Kontakt war einfach zu viel. Er hatte die Arme schon halb erhoben, um sie an sich zu ziehen, doch dann überlegte er es sich anders, scheute sich, sie zu berühren, war unfähig, eine angemessene Reaktion zu zeigen. „Evie!“, stieß er in einem Tonfall hervor, der so abweisend war wie seine Haltung. „Hast du denn in all den sechs Jahren keinen Anstand gelernt?“

„Kein bisschen, Sam“, sagte sie lachend. „Du glaubst doch nicht, dass du mir so leicht entkommen kannst, oder?“

„Natürlich nicht.“ Hatte er es nicht versucht und war dabei fast bis ans Ende der Welt gelangt? Wenn selbst das nicht bewirkt hatte, sie aus seinen Gedanken zu vertreiben, was sollte er dann jetzt tun? „Ich hätte dich anständig begrüßt, wenn du mir die Gelegenheit dazu gegeben hättest“, log er. Er hob die Arme und löste ihre Hände von seinem Nacken, dann trat er von ihr weg.

Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an, wobei sie, davon war er überzeugt, vermutlich seine Miene nachäffte. Dann lachte sie wieder. „Denn wir müssen immer anständig sein, nicht wahr, Dr. Hastings?“

Er trat noch einen weiteren Schritt zurück, um der zweiten Umarmung aus dem Wege zu gehen, von der er wusste, dass sie kommen würde, und ergriff ihre Hände, um zu vermeiden, ihren bebenden Körper an seinem spüren zu müssen. „Wir sind keine Kinder mehr, Evelyn.“

„Das will ich auch nicht hoffen.“ Sie bedachte ihn mit einem Blick, der zeigte, dass sie wenigstens wusste, dass sie zu einer begehrenswerten jungen Frau herangewachsen war. „Ich habe schon drei Saisons hinter mir.“

„Und hast die Hälfte aller Männer in London in deinen Netzen zappeln lassen, wie ich annehme.“ Hübsch genug dafür war sie jedenfalls. Das Haar so schimmernd wie gesponnenes Gold, die Augen so blau wie die ersten Frühlingsblumen, und Lippen, bei deren Anblick ihm das Wasser im Munde zusammenlief, so gern hätte er sie geschmeckt. Und er könnte die Rundungen ihres Körpers kennen, hätte er die Gelegenheit genutzt und sie berührt, als sie ihn küsste.

Bei diesem Gedanken wäre er beinahe in die Knie gegangen.

Sie zuckte die Achseln, als wäre es ihr egal, was die anderen Männer dachten, und warf ihm die Sorte Blick zu, unter gesenkten Lidern und langen Wimpern, die einem Mann sagten, dass die Frau vor ihm sich nur für ihn interessierte. „Und wie lautet Ihre Diagnose, Doktor, jetzt, da Sie die Gelegenheit hatten, mich zu untersuchen?“

„Du siehst gut aus“, sagte er und verfluchte diese Worte, die so wenig angemessen erschienen.

Sie machte einen Schmollmund, und aus der Verführerin wurde wieder seine Jugendfreundin. „Wenn das alles ist, was Sie zu sagen haben, dann bin ich sehr enttäuscht von Ihnen, Sir. Andere Männer haben mir bereits gesagt, dass ich das hübscheste Mädchen der Saison bin.“

„Und deswegen hat St. Aldric um deine Hand angehalten“, sagte er und erinnerte sie damit beide daran, wie viel sich verändert hatte.

Sie runzelte die Stirn, ließ seine Hände aber nicht los. „Bisher habe ich seinen Antrag noch nicht angenommen.

„Das hat dein Vater mir gerade erzählt. Er sagte, du würdest den armen Kerl hinhalten, und er muss auf deine Antwort warten. Das ist nicht fair von dir, Evelyn.“

„Es ist höchst unfair von Vater, mich in dieser Angelegenheit zu drängen“, gab sie zurück und wich damit dem Thema aus. „Und schlimmer noch, es ist höchst unwissenschaftlich von dir, eine Meinung zu äußern, die auf so wenigen Beweisen beruht.“ Sie lächelte wieder. „Mir wäre es lieber, du würdest mir sagen, was du von meiner Heirat hältst, nachdem wir etwas Zeit miteinander verbracht haben.“

„Ich stehe zu meiner früheren Schlussfolgerung“, sagte er. Das klang in seinen Ohren wie einer dieser überheblichen Dummköpfe, die lieber auf einer falschen Diagnose beharrten, als die Möglichkeit eines Irrtums einzuräumen. „Glückwünsche sind angebracht. Dein Vater sagte, St. Aldric sei ein guter Mann, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln.“

Sie warf ihm einen finsteren, beinahe strafenden Blick zu. Dann lächelte sie. „Gut zu wissen, dass ihr euch über meine Zukunft einig seid. Da du entschlossen bist, mich verheiratet zu sehen, nehme ich an, dass du vorbereitet warst, als du herkamst?“

Er war davon überzeugt, in irgendeine Art von Falle getappt zu sein. Und hier war wieder einmal ein Beweis dafür, dass Evie nicht mehr das leicht zu durchschauende Kind war, als das er sie zurückgelassen hatte. Vor ihm stand eine Frau, die sich offenbar über sein Fehlverhalten ärgerte, ihm aber nicht sagen wollte, was er Falsches gesagt hatte oder wie er das wiedergutmachen konnte. „Vorbereitet?“, fragte er vorsichtig und suchte nach irgendeinem Hinweis in ihrer Reaktion.

„Um meine bevorstehende Verlobung zu feiern“, schloss sie und wartete. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus, um ihm zu zeigen, dass er ein hoffnungsloser Fall war. „Und mir irgendetwas zu geben, das dieses Ereignis unvergesslich macht.“

„Ein Geschenk?“ Ihre Direktheit entlockte ihm ein Lächeln.

„Mein Geschenk“, sagte sie energisch. „Du kannst nicht so lange weggeblieben sein, Geburtstage und Weihnachtsfeste verpasst haben sowie eine mögliche Verlobung, ohne mir etwas mitzubringen. Muss ich deine Taschen durchsuchen, um es zu finden?“

Er stellte sich vor, wie ihre Hände über seinen Körper strichen, und sagte schnell: „Natürlich nicht. Selbstverständlich habe ich es hier.“

Er hatte gar nichts. Da war die Goldkette gewesen, die er für sie in Spanien gekauft hatte und die zu schicken er sich dann nicht traute. Ein Jahr lang hatte er sie in der Rocktasche mit sich herumgetragen und sich vorgestellt, wie die Kette an ihrem Hals aussehen würde. Dann war ihm bewusst geworden, dass das die Erinnerungen nur noch lebhafter machte, noch intensiver, und er hatte die Kette ins Meer geworfen.

„Nun?“ Sie hatte bemerkt, dass er einen Moment lang verwirrt war, und zupfte an seinen Rockaufschlägen, wieder ganz das ungeduldige Kind.

Er griff in seine Rocktasche und zog das Erste hervor, das er dort fand, ein Etui, das ein kleines Fernrohr aus Messing enthielt. „Das. Ich hatte es fast die ganze Zeit bei mir. Auf See ist so etwas sehr nützlich. Ich dachte, du könntest es auf dem Land vielleicht gebrauchen. Um Vögel zu beobachten.“

Jede andere Frau in London hätte es ihm empört zurückgegeben und sich beklagt, dass er sich nicht einmal die Zeit genommen hatte, um es zu polieren.

Doch nicht seine Evie. Als sie das Etui öffnete, glitt ein Strahlen über ihr Gesicht, als hätte er ihr eine Schmuckschatulle gereicht. Dann nahm sie das Fernrohr heraus, wischte es kurz an ihrem Rock ab, damit es glänzte, und hielt es sich ans Auge. „Oh, Sam. Das ist wundervoll!“ Sie zog ihn zum nächsten Fenster und spähte hindurch. „Die Leute auf der anderen Seite des Platzes sind so deutlich zu erkennen, als würden sie neben mir stehen.“ Sie ließ das Fernrohr sinken und strahlte ihn an. Dabei sah sie genau so aus, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte, und es versetzte ihm einen Stich ins Herz. Sie stand wieder neben ihm, so nahe, dass eine zufällige Berührung unvermeidlich war. Rasch trat er zurück, ohne auf die Flut der Erinnerungen zu achten, die ihre Nähe mit sich brachte.

„Ich werde es natürlich mitnehmen aufs Land. Und in den Hyde Park und in die Oper.“

Er lachte. „Wenn du in der Stadt tatsächlich besser sehen willst, dann werde ich dir eine Lorgnette kaufen. Wenn du dieses Ding an dein Auge hältst, wirst du aussehen wie ein Pirat.“

Verächtlich erwiderte sie: „Was interessiert es mich, was die Leute denken? So wird es viel einfacher sein, die Schauspieler auf der Bühne zu erkennen.“ Sie lächelte übermütig. „Und ich werde die anderen Leute im Publikum ausspionieren können. Das ist doch der eigentliche Grund, warum wir ins Theater gehen. Nichts in London wird mir mehr entgehen. Am nächsten Tag werde ich die Neuigkeiten verbreiten und den anderen mein Teleskop zeigen. Innerhalb einer Woche werden alle klugen Mädchen eines haben.“

„Gerissenes Geschöpf.“ Ohne zu überlegen streckte er die Hand aus und zupfte an einer ihrer honigblonden Strähnen. Sie hatte sich in seiner Abwesenheit kein bisschen verändert, war immer noch frisch, neugierig und so lebendig, dass die Luft davon zu vibrieren schien.

„Lass uns gehen und irgendetwas beobachten.“ Sie nahm seine Hand und zog ihn zu den Türen, die in den Garten führten, in dem sie immer ihr Reich gehabt hatten.

Und er war verloren.

2. KAPITEL

Er hätte es besser wissen müssen. Ehe er hierher kam, hatte er sich gegen die Versuchung gewappnet. Er hatte vorgehabt, jeden Kontakt mit ihr zu vermeiden. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er ihrem Vater versichert, dass er jetzt gehen würde. Und doch hatte er bei der ersten Berührung ihrer Hand alles vergessen und war ihr durch das Haus gefolgt wie ein Hund an der Leine.

Jetzt saß er neben ihr auf der kleinen steinernen Bank unter der Ulme, während sie mit ihrem neuen Spielzeug experimentierte. Es war genau wie an den Hunderten anderer glücklicher Nachmittage, die sie hier verbracht hatten, und es erinnerte ihn daran, wie sehr er sein Zuhause vermisst hatte und dass sie ein großer Teil davon war.

Evie hielt das Fernrohr auf den nächsten Baum gerichtet. „Da ist ein Nest. Und es sind drei junge Vögel darin, mit offenen Schnäbeln. Sie warten darauf, gefüttert zu werden. Oh Sam, das ist herrlich!“

Das war es wirklich. Er sah, wie ihre Wangen vor Freude gerötet waren, sah die vertrauten Grübchen, die immer dann entstanden, wenn sie lächelte. So aufgeregt war sie, und über etwas so Kleines wie ein Vogelnest. Aber war sie nicht immer genau so gewesen? Die personifizierte Lebensfreude und Balsam für eine müde Seele.

„Wenn du hier drehst, kannst du es einstellen.“ Er streckte den Arm aus, und einen Moment lang lag seine Hand auf ihrer. Der Schreck über diese Berührung war so heftig wie immer. Er fragte sich – empfand sie es genauso? Wenn ja, dann war sie genauso geschickt darin, das zu verbergen, wie er, denn sie zeigte keine Reaktion.

„So ist es sogar noch besser. Ich kann jede einzelne Feder erkennen.“ Sie wandte den Blick von den Vögeln ab, sah ihn an und lächelte voller Übermut. „Ich habe heute das Beste aus Ihren leeren Taschen bekommen, Sir.“

„Wie bitte?“

„Wenn du in deine Tasche gefasst und eine Schnupftabakdose hervorgezogen hättest, dann hätte ich ein Problem damit gehabt. Aber ein Teleskop gefällt mir gut.“

„War es so offensichtlich, dass ich dir nichts mitgebracht hatte?“, fragte er und seufzte.

„Der erschrockene Ausdruck auf deinem Gesicht war unübersehbar“, gab sie zu und schob das kleine Fernrohr zusammen, um es in sein Etui zurückzulegen. „Aber glaube nicht, dass du mir das hier wieder wegnehmen und mich stattdessen mit einer Halskette trösten könntest. Es gehört jetzt mir, und ich werde es nicht zurückgeben.“

„Das erwarte ich auch nicht von dir.“ Er erwiderte ihr Lächeln, und er spürte, wie die angenehme Vertrautheit ihn wieder überkam, als behagliches Schweigen sich ausbreitete. Nach sechs Jahren, nachdem er Tausende von Meilen zurücklegt hatte und sie beide erwachsen geworden waren, hatten sich die wichtigen Dinge zwischen ihnen nicht verändert. Sie war noch immer seine Seelenverwandte. Zumindest konnte er sagen, dass es nicht nur Lust war, die er für sie empfand.

Sie durchbrach die Stille. „Erzähl mir von deinen Reisen.“

„Es würde zu lange dauern, dir all das zu erzählen, was ich gesehen habe“, sagte er. Aber nun, da sie gefragt hatte, war die Versuchung groß, es zu probieren, und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. „Vögel und Pflanzen, wie es sie so in ganz England nicht gibt. Und wie der Ozean aussieht – wild oder ruhig, oder der Himmel vor einem Sturm, wenn kein Land in Sicht ist? Das beste Wort, das mir dazu einfällt, ist majestätisch. Himmel und Meer erstrecken sich, so weit das Auge reicht, in alle Richtungen, und wir sind nur ein winziger Fleck in der Mitte.“

„Das würde ich auch gern sehen“, sagte sie voller Sehnsucht.

Er stellte sich vor, wie sie neben ihm auf dem Deck lag und die Sterne betrachtete. Und dann verdrängte er schnell diesen Traum. „So wunderbar es manchmal war, so würde ich doch nicht wünschen, dass du dabei wärest, wenn das bedeutete, dass du auch alles andere siehst. Ein Kriegsschiff ist kein Ort für eine Frau.“

„War das Leben dort wirklich so hart?“

„Während der Schlachten gab es viel für mich zu tun“, gab er ausweichend zu. Das Schlimmste wollte er ihr lieber nicht erzählen.

„Aber du hast den Männern geholfen“, sagte sie, und dabei strahlte ihr Gesicht, als wäre es etwas Heldenhaftes, wenn er seine Arbeit erledigte. „Und das wolltest du doch immer tun. Ich bin sicher, dass sich das gelohnt hat.“

„Das stimmt“, sagte er. Er hatte sich nützlich gefühlt. Und es war eine Erleichterung für ihn, einen Ort zu finden, an den er zu passen schien, nach einer so langen Zeit des Zweifels.

„Wenn es dich glücklich machte, dann hätte ich auch das gern gesehen“, erklärte sie mit fester Stimme.

„Ganz gewiss nicht!“ Er wollte sie sich nicht vorstellen zusammen mit all dem Blut und dem Sterben. Und er wollte auch nicht, dass sie sah, wie hilflos er war, wenn er Dingen gegenüberstand, für die er kein Heilmittel wusste, denn dann würde er ihre Bewunderung verlieren.

Sie sah ihn an. „Hast du so vieles vergessen? War nicht ich es, die dich zum Studium der Medizin überredete? Ich habe zugesehen, wie du dich um jedes verletzte Tier gekümmert und die Gestorbenen seziert hast. Ich sage dir, in jenen Tagen hast du kaum etwas gegessen, sondern lieber die Anatomie eines Koteletts untersucht“, zog sie ihn auf.

„Ich hätte genauso gut Metzger werden können, nach dem, was ich dabei gelernt habe“, sagte er. „Aber an einem Menschen zu arbeiten ist etwas ganz anderes.“ Und manchmal war seine Arbeit der eines Metzgers nicht unähnlich.

„In Edinburgh hast du menschliche Anatomie studiert“, sagte sie. „Beim Sezieren.“

Er unterdrückte ein Lächeln und nickte. Evie war genauso furchtlos wie immer, und trotz ihrer eleganten Erscheinung nicht empfindlich.

„Ich bin sicher, dass du auch noch vieles andere getan hast.“

„Ich habe zugesehen“, korrigierte er sie. „Erst als ich die Universität verließ, konnte ich meine Fähigkeiten einsetzen. Jetzt überlege ich, ob ich nicht nach Schottland zurückkehren sollte“, sagte er, um sie beide daran zu erinnern, dass er nicht bleiben konnte. „Ich habe noch viele Freunde an der Universität. Vielleicht könnte ich Vorlesungen halten.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist zu weit weg.“

Genau deswegen hatte er es vorgeschlagen. Sie griff nach seinem Ärmel. Als könnte sie es nicht ertragen, dass ich fern von ihr bin, dachte Sam. Er überlegte, ob er ihre Hand wegschieben sollte, aber dann würden sich ihre Hände berühren, also ließ er es dabei. „Du wirst viel zu sehr mit deinem neuen Leben beschäftigt sein, um deine Zeit mit mir zu vergeuden. Ich glaube nicht, dass du mich überhaupt vermissen wirst.“

„Du weißt, dass das nicht stimmt. Habe ich dir in den vergangenen Jahren nicht oft genug geschrieben? Beinahe jede Woche, aber du hast nicht geantwortet.“ Ihre Stimme klang ganz ruhig, und er hörte den Schmerz heraus, den er ihr zugefügt hatte.

„Vermutlich, weil ich deine Briefe nicht bekommen habe“, sagte er, als wäre das nicht wichtig. „Die Postzustellung auf See ist eine schwierige Sache.“ Er hatte die Briefe oft genug bekommen. Und er hatte sie gehütet. In den Jahren, in denen sie getrennt waren, waren ihre Briefe von einem kleinen Bündel, das ordentlich von einem Band zusammengehalten wurde, so angewachsen, dass sie eine kleine Kiste füllten. Der Inhalt ihrer Briefe war ihm so vertraut, dass er ihn auswendig hersagen konnte.

„An der Universität hattest du keine Entschuldigung“, erinnerte sie ihn. „Auch damals habe ich dir geschrieben. Aber du hast auch diese Briefe nicht beantwortet. Mir erschien es, als hättest du mich vergessen.“

„Niemals“, erklärte er energisch. Das zumindest stimmte.

„Nun, ich werde nicht zulassen, dass das noch einmal geschieht. Edinburgh ist zu weit weg. Du musst in der Nähe bleiben. Und wenn du unterrichten willst, dann unterrichte mich.“

Er lachte, um seinen Schrecken zu verbergen. Das war unmöglich, aus den verschiedensten Gründen. Zwar war er nicht unwillig, sein Wissen zu teilen, doch er wagte es nicht. Sie war eine erwachsene Frau und kein neugieriges Mädchen. Mit einer Frau über die intimen Einzelheiten des menschlichen Körpers zu sprechen, wäre schwierig. Und mit Evie wäre es einfach unmöglich.

Zudem würden sie sich nach ihrer Heirat in so verschiedenen Kreisen bewegen, dass selbst ein beiläufiges Gespräch nur selten stattfinden würde. Neben einem Duke wäre er kaum etwas Besseres als ein Krämer.

„Du weißt, dass sich das nicht gehört“, sagte er schließlich. „Dein Vater würde das niemals zulassen. Und dein Ehemann ebenso wenig.“ Sie durften beide nicht vergessen, dass ein anderer Mann zwischen ihnen stehen würde.

Und mehr als das.

Er tätschelte ihre Hand auf eine Weise, die schickliche brüderliche Zuneigung zeigte. „Nein, Evie. Ich kann nicht zulassen, dass du wilde Pläne schmiedest, so, wie du es getan hast, als wir noch Kinder waren. Ich muss in mein Leben zurückkehren und du in deins.“

„Aber du bleibst doch eine Weile in London, oder?“ Sie sah zu ihm auf und blickte ihn aus ihren blauen Augen an, voller Hoffnung, ein Blick, der sein Herz fast zum Schmelzen brachte.

„Das hatte ich nicht vor.“ Warum konnte er das nicht mit festerer Stimme sagen? Das klang so, als wäre er bereit, sich überreden zu lassen.

„Du musst zum Verlobungsball bleiben. Und zur Trauung.“

Wusste sie nicht, welche Folterqual das für ihn wäre? „Ich weiß nicht, ob das möglich ist.“

Sie bewegte die Hand so, dass sie seine Finger drücken konnte. „Ich werde nicht erlauben, dass du gehst. Und wenn ich dich mit Gewalt zurückhalten müsste.“

Sie musste doch wissen, dass ihr dazu die Kraft fehlte. Aber sie hatte es oft genug versucht. Als sie noch Kinder waren, hatte sie mit ihm gerungen, um ihn auf wenig damenhafte Weise zu Boden zu werfen.

Die Vorstellung, dass sie das noch einmal versuchen könnte, löste in seinem Kopf einen Alarm aus.

„Na schön“, sagte er und rückte von ihr ab, damit sie endlich seine Hand losließ. „Aber ich denke, gleich danach werde ich gehen. Vielleicht werde ich, statt nach Schottland zu reisen, wieder zur See fahren.“

„Das darfst du auch nicht“, sagte sie und hielt ihn noch fester, ehe sie sich fasste und den Griff wieder lockerte. „Das würde dich viel zu lange viel zu weit von mir weg führen. Und auch wenn du davon nichts gesagt hast, so gehe ich doch davon aus, dass es sehr gefährlich war. Ich möchte nicht, dass du dich wieder so einer Gefahr aussetzt.“

In der Tat war es ziemlich gefährlich gewesen. Er könnte ihr stundenlang Geschichten erzählen, die sie in Staunen versetzen würden. Stattdessen sagte er: „Eigentlich nicht. Es war meine Arbeit. Nicht mehr als das. Anders als St. Aldric brauche ich eine Anstellung, um leben zu können.“ Diese Worte klangen gereizt. Er sollte nicht neidisch sein auf einen Mann, der in eine Stellung hineingeboren wurde, die er nie erreichen könnte.

Sie achtete nicht auf sein Urteil über den Duke, das kindisch geklungen hatte. „Du musst an Land eine Praxis eröffnen. Ich werde mit Vater darüber sprechen. Oder mit St. Aldric.“

„Ganz sicher nicht! Ich bin durchaus in der Lage, mir selbst eine Aufgabe zu suchen, vielen Dank.“ Bei jeder anderen wäre das Angebot einer zukünftigen Duchess, ihn zu fördern, ihm durchaus willkommen gewesen. Aber nicht von dieser Frau. Von ihr niemals.

„Deine Unabhängigkeit ist dir wichtiger als unsere Freundschaft“, sagte sie und ließ seine Hand los. „Nun gut. Wenn ich nichts sagen kann, um deine Meinung zu ändern, dann werde ich dich nicht mehr mit der Frage nach deiner beruflichen Zukunft belästigen.“

Eine Sache würde natürlich alles ändern. Drei Worte von ihr, und er würde auf die Knie fallen und alles tun, was sie von ihm verlangte.

Aber da keiner von ihnen diese drei Worte jemals sagen durfte, würde er nach Edinburgh gehen oder ans Ende der Welt, sodass er sie niemals hören würde.

3. KAPITEL

Nun gab es wirklich nichts mehr zu sagen. Mit ihrem Versprechen, sich nicht mehr in seine Angelegenheiten zu mischen, hatte sie ihn gewissermaßen entlassen. Doch Sam hatte keine Lust, sich von ihr zu trennen. Wann würde er je wieder die Gelegenheit haben, einfach so neben ihr zu sitzen, wie sie es immer getan hatten? Sie betrachtete das Etui, das das Fernrohr enthielt, als wäre darin die Antwort auf irgendein Rätsel enthalten.

Und er sah zu, wie sie die Schachtel mit den Händen liebkoste. Waren sie schon so anmutig gewesen, als er sie das letzte Mal gesehen hatte? Er erinnerte sich an kurze Finger und abgebrochene Nägel von ihren gemeinsamen wilden Spielen. Heute hatte Evie auf Handschuhe verzichtet, und er sah die elegante Form jeder Fingerspitze. Er hätte für den Rest seines Lebens so dasitzen und zufrieden ihre Finger betrachten können.

„Hier finde ich dich also? Im Garten, während du mit einem anderen flirtest. Ich schwöre, Evelyn, du bist schwerer zu fangen als ein wilder Hase. Ich darf dich wirklich keinen Augenblick allein lassen, denn dann bist du schon fort von mir.“

Sam zuckte zusammen, als er erriet, wer der Eindringling sein musste. Diese Stimme bedeutete das Ende ihres Alleinseins an diesem Nachmittag. Oder vielleicht sogar für immer, wenn er davon ausging, dass der Duke nicht dumm war. Wäre ich Evies Zukünftiger, so würde ich keinen anderen Mann in ihrer Nähe dulden, dachte er zornig. Er stand auf und drehte sich um, um seinen neuen Feind von Angesicht zu Angesicht zu begrüßen.

Wenn er eine professionelle Meinung hätte abgeben müssen über den Mann, der jetzt auf sie zukam, so hätte er ihn für einen der gesündesten Menschen gehalten, die er je gesehen hatte. Die teure, eng anliegende Kleidung betonte St. Aldrics wohlgeformten Körper. Es gab keine Spur von Fett und keine Anzeichen dafür, dass diese Figur durch Polster oder Nähte erreicht wurde. Die Muskeln waren gut ausgebildet – seine Haut, die Augen, Zähne und Haare klar, sauber und schimmernd. Auch entdeckte Sam keine Falten auf der Stirn, weder von Kummer noch von Sorge, und seine Miene zeigte nichts als gute Laune. Der Blick des Herzogs war klug und wohlwollend, sein Gang fest und entschlossen. Hätte man Sam gezwungen, ein Urteil abzugeben über das Aussehen dieses Mannes, dann würde er ihn als außerordentlich attraktiv bezeichnen. Vom Scheitel bis zur Spitze seiner Stiefel stellte dieser Kerl das perfekte Musterbeispiel eines englischen Gentlemans dar.

Dadurch kam es Sam nur noch mehr zu Bewusstsein, wie er daneben aussehen musste. Lord Grantham mochte in ihm eine Bedrohung für Evies Glück sehen. Aber mit seinem abgetragenen Rock, seiner mageren Geldbörse und seinen bescheidenen Zukunftsaussichten würde ein Duke ihn kaum bemerken. Wenn Evelyn nicht inzwischen ebenso dumm wie schön geworden war, dann würde sie keine Schwierigkeiten damit haben, den besseren Mann zu wählen.

Als wollte sie diese Ansicht unterstützen, stand auch Evie auf und streckte die Hände aus, um den Duke zu begrüßen. Sie lächelte herzlich. „St. Aldric.“

„Meine Liebe.“ Er nahm ihre Hände und hielt sie für einen Moment in seinen, und Sam empfand das unangenehme Gefühl von Eifersucht und die Gewissheit, vergessen worden zu sein. Sie zog den anderen Mann an der Hand nach vorn, so wie sie ihn, Sam, in den Garten geführt hatte, damit er neben ihr saß. Das war ein weiterer Beweis dafür, dass sie dem Duke nichts anderes als die Herzlichkeit zeigte, die sie allen lebenden Wesen entgegenbrachte.

Jetzt lächelte sie ihm mit schwesterlichem Stolz zu. „Ich habe lange gewartet, um euch einander vorzustellen, und jetzt endlich ist die Gelegenheit gekommen. Eure Gnaden, darf ich Ihnen Dr. Samuel Hastings vorstellen?“

„Der Mann, von dem Sie stets so freundlich sprechen. Und so häufig.“ Zwischen den beiden Sätzen lag eine kleine Pause, als wäre dies ein Hinweis auf Eifersucht oder vielleicht Neid auf die Aufmerksamkeit, die sie ihm schenkte.

„Eure Gnaden.“ Sam verneigte sich und erwies dem Herzog damit den gebotenen Respekt.

„Doktor Hastings.“ Zu einem Händeschütteln kam es nicht, denn dies hätte eine gewisse Ebenbürtigkeit ausgedrückt. Die frostige Miene des Dukes machte einem Lächeln Platz, nun, da er sich von der Unterlegenheit seines Gegenübers überzeugt hatte. Und dieses Lächeln galt Evie. „Ich habe mich darauf gefreut, diesen Ausbund an Tugend kennenzulernen, den du mir beschrieben hast. Ich versichere dir, dass dein Gesicht jedes Mal strahlt, wenn du von ihm sprichst.“

„Weil er mein ältester und liebster Freund ist“, sagte Evie pflichtschuldigst. „Wir sind zusammen aufgewachsen.“

Wie Bruder und Schwester. Warum sagte sie das nie? Das Leben wäre so viel einfacher, wenn sie die Bedeutung dieser Worte verstehen würde.

„Wir waren kaum je getrennt, bis er zur Universität ging“, fügte sie hinzu.

„Um ein Blutsauger zu werden“, erwiderte der Duke. Sam fühlte sich wie ein Parasit.

„Um ein Arzt zu werden“, verbesserte ihn Evie, um seine Würde zu verteidigen. „Er war schon so klug, als wir zusammen unterrichtet wurden. Gut in Mathematik und auch in Sprachen, und fasziniert davon, wie ein Körper funktioniert, überhaupt von allem Natürlichen. Sam ist der geborene Wissenschaftler. Ich bin sicher, dass er in seinem Beruf ganz großartig ist.“

„Und in all den Jahren hast du ihn nie gesehen“, sagte der Duke. „Ich werde versuchen, auf deine offensichtliche Zuneigung zu ihm nicht eifersüchtig zu sein.“ Dann sprach er das Naheliegendste aus, damit es keine Missverständnisse gab. „Da Dr. Hastings nicht früher gekommen ist, um dich mir wegzuschnappen, dann hat er seine Chance wohl verpasst.“

„Ich glaube, das hat er“, erwiderte Evie. Sie wirkte deswegen nicht bekümmert, aber Sam vermutete, dass sie ihn mit diesen Worten zum Handeln treiben wollte.

„Du vermutest?“ St. Aldric lachte wieder und tat so, als wäre das ein Scherz. „Das klingt nicht ganz so sicher, wie es mir lieb wäre. Möchtest du, dass wir uns deinetwegen duellieren? Ich werde ihn fordern, dann sehen wir, wer gewinnt.“ Auch das klang mehr wie ein Scherz als wie eine Drohung.

„Rede keinen Unsinn“, sagte Evie schnell. „Ich würde euch beide für sehr dumm halten, wenn ihr um mich kämpfen würdet.“

„Wenn es dir nicht gefällt, dann werde ich das nicht versuchen. Er war immerhin bei der Kriegsmarine. Alles wäre noch schlimmer, wenn Dr. Hastings geschickt genug wäre, mich mit einer Pistole zu besiegen.“ Der Duke lächelte Sam zu, als wollte er ihn einladen, auf den Scherz einzugehen und damit zeigen, dass er nichts für sie empfand. „Bei meinem Glück habe ich am Ende eine Kugel in der Schulter, die ein Mann herausoperieren muss, der sie da hineingeschossen hat. Er wäre ein zweifacher Held, und ich würde dich doppelt so schnell verlieren.“

„Du hast nichts zu befürchten“, wiederholte Evie.

„Du auch nicht“, erinnerte St. Aldric sie mit leiser Stimme und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

In diesem Kuss lag keine Leidenschaft. Aber Sam erkannte ihn als das, was er war: besitzergreifend. Selbst wenn die Verlobung noch nicht öffentlich gemacht worden war, so war die Frau, die zwischen ihnen stand, doch schon versprochen. Sam nickte daher St. Aldric ganz leicht zu, um ihm zu zeigen, dass die Botschaft angekommen war.

Evelyn schenkte dem Kuss nicht mehr Beachtung, als sie es bei jeder anderen Begrüßung getan hätte. Aber sie sah den Duke mit derselben heiteren Zuneigung an, die sie zuvor Sam gegenüber an den Tag gelegt hatte. „Wie ich sehe, bist du wieder mit leeren Händen gekommen.“

Statt sie wegen ihrer Gier zu schelten, lachte St. Aldric nur, als wäre das ein alter Scherz zwischen ihnen. „Ich kenne dich besser, meine Liebe. Du würdest mich sofort wegschicken, wenn ich ohne irgendein Geschenk käme.“

Wieder verfluchte sich Sam, weil er es nicht geschafft hatte, selbst so etwas zu ihr zu sagen. Aber es würde seine Eifersucht lindern, wenn St. Aldric sich als so oberflächlich erwies, wie Sam es hoffte, und ihr etwas gab, das ihr nicht gefiel.

Es zeigte sich, dass das nicht der Fall sein würde.

„Was ist es?“, fragte Evie und betrachtete neugierig die Ausbuchtung in der Rocktasche, in der sich etwas bewegte. „Gib es mir sofort. Es scheint ihm dort, wo es ist, nicht zu gefallen.“

„Und deswegen habe ich es mitgebracht. Bei dir wird es ihm besser gefallen.“ Mit zwei Fingern griff er in seine Tasche und zog eine winzige orangebraune Katze hervor, die er behutsam in Evies Schoß legte.

„Oh, Michael.“ Sie war sofort verzaubert, legte das Fernrohr beiseite und nahm das kleine Tier hoch, sodass sie sich mit ihm auf Augenhöhe befand. Es blinzelte sie an, ehe es ängstlich miaute und sich dann in ihre Handfläche kuschelte. Sie streichelte ihm den Kopf und schmiegte es an ihre Wange. Lächelnd sagte sie: „Es ist einfach perfekt.“

Und da musste Sam ihr zustimmen. Wie das Teleskop erregte auch dieses Geschenk ihre Aufmerksamkeit in einem Maße, wie es eine Halskette nie gekonnt hätte. Aber im Gegensatz zu ihm, der einfach Glück gehabt hatte, etwas Passendes in seiner Tasche bei sich zu tragen, hatte St. Aldric sich gemerkt, was ihr gefiel, und seine Überraschung im Voraus geplant.

Sie belohnte ihn mit einem so herzlichen Lächeln, dass Sam hätte schwören mögen, dass der Duke vor Freude errötete. Es war einfach schrecklich. Hätte dieser Eindringling sich nicht wie der Aristokrat benehmen können, der er war, sodass ich ihn guten Gewissens hassen könnte, dachte Sam verärgert. Hätte er nicht ein etwas weniger gut aussehender Mann sein können, mit irgendeinem Makel oder Fehler behaftet?

Stattdessen war er weiterhin einfach perfekt. Und er betrachtete Evie und das Kätzchen, als hätte er nie etwas Schöneres gesehen.

„Wie soll ich dich nennen, Kleines?“ Sie hielt das Tier wieder hoch und sah ihm in die grünen Augen. „Etwas, das zu dir passt, denn ich bin sicher, dass du ein großer Jäger wirst, wenn du alt genug dafür bist. Wie wäre es mit Orion?“

St. Aldric räusperte sich. „Ich denke, Diana wäre passender.“

Er war auch noch gebildet? Ein paar Kenntnisse der Mythologie und der Anatomie einer Katze waren noch nicht das Zeichen für ein Genie, aber immerhin bewies es, dass er kein völliger Dummkopf war.

Evie drehte das Kätzchen herum und betrachtete dessen Bauch. „Ich glaube, du hast recht.“ Dann drehte sie das Tierchen wieder zurück und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Damit war es getauft. „Dann soll es Diana heißen. Und gleich kannst du im Garten herumlaufen, bekommst eine Schüssel mit Milch, und wenn du deine richtigen Zähne bekommen hast, darfst du alle Mäuse verspeisen, die du erwischen kannst.“

„Du wirst es schrecklich verwöhnen“, sagte Sam und versuchte, wie ein älterer Bruder zu klingen.

Evie sah ihn abweisend an. „Es ist unmöglich, etwas zu verwöhnen, indem man es zu sehr liebt. Wenn ich sie ein bisschen verhätschle, wird sie nur noch anhänglicher werden und ihre Arbeit umso besser verrichten. Du kannst etwas daraus lernen und aufhören, deine Familie jahrelang zu vernachlässigen.“ Dann lächelte sie wieder das Kätzchen an und den Mann, der es ihr mitgebracht hatte.

Sie bestrafte ihn, indem sie ganz bewusst dem Duke den Vorzug gab. Und obwohl Sam genau die Eifersucht empfand, die sie in ihm wecken wollte, so zeigte er ihr das nicht. Er hätte nicht hierher kommen sollen. Wenn sie einzig St. Aldric anlächelte, so tat sie genau das Richtige. Hier war kein Platz mehr für ihn.

Und so gern er auch einen Fehler bei seinem Rivalen gefunden hätte, so gelang ihm das doch nicht. Der Duke verdiente Evie. Und sie mochte ihn offensichtlich. Er musste einfach beiseitetreten, damit die Dinge ihren Lauf nahmen. Am Ende des Sommers würden diese beiden verheiratet sein.

Ein Grund mehr, nicht mit diesem glücklichen Paar im Garten zu stehen und voller Qual zuzusehen, wie hier die Liebe erblühte. Er suchte nach einer Ausrede, um fliehen zu können.

„Evelyn!“ Lord Grantham eilte auf sie zu. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Sam eine Unterbrechung durch seinen Pflegevater als eine Verschlechterung der Situation empfunden, doch an diesem Tag bot sie ihm eine willkommene Erleichterung.

„Sie haben sie also gefunden, St. Aldric?“ Der Earl lachte laut auf und beantwortete sich seine Frage selbst. „Natürlich haben Sie das. Sie kann ja nicht verloren gehen. Und Sam?“ Er sah erstaunt aus, war aber tatsächlich vor allem verärgert. „Du bist noch immer hier bei uns? Wenn ich mich recht erinnere, hattest du dich bereits verabschiedet.“

„Ich hatte andere Pläne mit ihm“, erklärte Evelyn triumphierend. „Er hat versucht zu entkommen, ohne mich auch nur zu begrüßen. Aber ich habe ihn aufgehalten.“

„Ich bin sicher, dass er dir hätte entkommen können, wenn er nur gewollt hätte.“ Wieder eine Warnung von Grantham, die ihn auf seinen Platz wies. Sam spürte, wie seine gewöhnlich ausgeprägte Geduld allmählich sehr strapaziert wurde. Nur zu gern hätte er diesem Mann erklärt, dass er sofort gehen würde, und sei es nur deshalb, weil er dann endlich nicht mehr daran erinnert wurde, dass er hier offensichtlich einen untergeordneten Platz einnahm.

„Und er wohnt in einem Gasthaus und nicht bei uns, wie er es eigentlich tun sollte. Das ist wirklich schrecklich von ihm. Ich werde das nicht dulden“, fügte Evie hinzu, in demselben heiter-scheltenden Tonfall, in dem sie auch mit St. Aldric gesprochen hatte.

„Wenn der gute Doktor in einem Gasthaus übernachten möchte, dann steht es uns nicht zu, ihn deswegen zu tadeln“, meinte Grantham und gab die Schuld damit Sam.

„Natürlich tut es das“, sagte Evie unbeeindruckt. „Wir sind seine Familie. Ich bestehe darauf, dass er sein Gepäck holen lässt und für die Dauer seines Aufenthalts in London wieder sein altes Zimmer bezieht. Ich werde es sofort lüften und für ihn herrichten lassen.“ Sie stand auf, setzte das Kätzchen auf die Bank und hakte sich bei ihrem Vater unter.

Sam wusste, sie war zwar seine liebende Tochter, aber sie hatte auch einen eisernen Willen und war daran gewöhnt, ihren Kopf durchzusetzen. Wenn er nicht bald ging, dann würde sie Grantham so gnadenlos behandeln, dass er ihr geben würde, was sie wollte.

„Komm schon, Papa, und unterstütze mich. Ich bin sicher, dass Mrs Abbott mit mir böse sein wird, wenn sich die Pläne so plötzlich ändern.“ Sie erzählte ihm etwas über Gastfreundschaft, während sie im Begriff stand, ihre beiden Gäste sich selbst zu überlassen.

Sie lächelte beiden kurz zu, als würde das ausreichen, damit sie blieben, bis sie wieder zurück war. „Wenn die Gentlemen einen Moment auf unsere Gesellschaft verzichten könnten? Ihr müsst euch besser kennenlernen.“

„Natürlich“, sagte St. Aldric und sprach für beide. „Ich bin sicher, dass Dr. Hastings mich während deiner Abwesenheit unterhalten kann.“

Kühl sah sie Sam an. „Und rühre dich nicht von der Stelle, Samuel Hastings, ohne dich von mir zu verabschieden. Ich habe dir das letzte Mal noch nicht verziehen.“

Das hatte auch er sich noch nicht verziehen. Dieses Mal war ein Abschied das Mindeste, was er ihr schuldete. Widerstrebend nickte er, und sie nahm den Arm ihres Vaters. „Keine Angst. Es wird nicht lange dauern.“

4. KAPITEL

Was hat dieses unhöfliche Verhalten zu bedeuten, Evelyn? Du hast St. Aldric allein gelassen, wo er doch extra gekommen ist, um dich zu sehen.“

Evelyn bemerkte, dass ihr Vater an ihrer Seite vor Empörung nach Luft rang wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie lächelte ihn zärtlich an und drückte liebevoll seinen Arm. Dabei schämte sie sich ein wenig für diese offensichtliche Manipulation. Ihre Tante Jordana hatte ihr beigebracht, dass eine Dame nur mit honigsüßen Worten ihr Ziel erreichte. Aber manchmal konnte sie nicht anders, da beneidete sie die Männer um ihre Fähigkeit, mit einem vernünftigen Argument Erfolg zu haben. „Ich habe St. Aldric nicht allein gelassen, Vater. Sam ist dort.“

„Das zählt nicht“, brummte Grantham.

Evelyn wusste, sein Murren war sein letzter verzweifelter Versuch, sie zurückzuhalten. Aber da ihm das in den letzten einundzwanzig Jahren schon nicht gelungen war, fürchtete sie auch jetzt keine Strafe.

„Ich denke, es zählt sehr wohl“, sagte sie ruhig und immer noch lächelnd, packte ihn aber fester am Arm und führte ihn den Gang hinunter zur Bibliothek. Dort schloss sie die Tür hinter ihnen beiden, damit keiner der Dienstboten hören konnte, was sie zu sagen hatte. Dann ging sie zu der Fenstertür, durch die man in den Garten gelangte, und überzeugte sich davon, dass sie geschlossen war. Die Männer, die draußen miteinander sprachen, durften kein Wort hören, bis sich ihre Befürchtungen bestätigt hatten.

„Ein Arzt und ein Duke?“ Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Der einzige Grund, aus dem diese beiden ein Gespräch führen könnten, wäre eine Krankheit St. Aldrics, und du weißt ja sicher, dass dies nicht der Fall ist. Oder … du hast doch da keine Befürchtungen, oder?“ Wie immer dachte ihr Vater bereits über eine Zukunft nach, mit deren Verlauf sie sich noch gar nicht einverstanden erklärt hatte.

„Sorgst du dich, dass ich Witwe werden könnte, noch ehe ich Braut bin?“, fragte sie und zog eine Braue hoch. „Nichts dergleichen ist der Fall. St. Aldric befindet sich bei bester Gesundheit, und das ist offensichtlich für jeden, der ihn sieht. Aber Sam ist ein Mitglied der Familie. Ich halte es für wichtig, dass diese beiden sich kennenlernen. Findest du das etwa nicht?“ Sie sah ihren Vater erwartungsvoll an und hoffte, dass er sie nicht zwingen würde, ihm die Wahrheit zu entlocken.

„Wenn du annimmst, dass Hastings in deiner Zukunft eine Rolle spielen wird, dann irrst du dich. Wir haben darüber gesprochen, und er wird London in Kürze verlassen. Ich bezweifle, dass du ihn wiedersehen wirst.“

Die Endgültigkeit dieser Mitteilung stand im vollkommenen Gegensatz zu ihren Wünschen, daher ging sie nicht weiter darauf ein. „Hastings?“, schalt sie. „Also wirklich, Vater. Jetzt bist du derjenige, der unhöflich ist. Wann hast du aufgehört, ihn Sam zu nennen? Und warum? Wenn es einen Streit gab zwischen euch beiden, dann bitte ich darum, das zu bereinigen, um meinetwillen.“

„Es gab keinen Streit“, erklärte ihr Vater nachdrücklich. „Aber wir haben eine Übereinkunft getroffen, er und ich. Und alles, was getan wurde, geschah nur um deinetwillen, das versichere ich dir.“

Als ob sie vor Sam beschützt werden müsste. Die Vorstellung allein war lächerlich und nicht wert, dass sie darauf einging. „Ich mache mir Sorgen um Sam und seine Zukunft, Vater. Und das solltest du auch tun.“

„Er kommt sehr gut zurecht, auch ohne meine Hilfe“, erklärte ihr Vater.

Ist er etwa gekränkt, dass der Junge, den er groß gezogen hat, auch ohne ihn seinen Weg macht, fragte sich Evelyn.

„Sein Erfolg ist das Ergebnis seiner früheren Erziehung, davon bin ich überzeugt.“ Sie musste das Thema wechseln, denn sie wollte den Bruch kitten und ihn nicht noch größer werden lassen. Die Vorstellung, er hätte etwas beigetragen zu Sams Karriere, schien ihren Vater etwas zu beruhigen. „Und ich sehe keinen Grund, warum er nicht hier bei uns bleiben sollte, während er sich in London aufhält.“

„Dies entspricht nicht seinem Wunsch“, erklärte Grantham nachdrücklich.

„Ich bin froh festzustellen, dass du nichts dagegen hättest“, sagte sie lächelnd. Ihre Antwort passte nicht zu seinen Worten, aber es war ihr lieber, er hielt sie für unlogisch, als dass sie in Streit gerieten. Dann fügte sie hinzu, als wäre ihr das eben erst eingefallen: „Wenn er erst einmal hier wohnt, dann hast du die Gelegenheit, ihm die Wahrheit über seine Herkunft zu sagen.“

„Ich?“ Damit hatte ihr Vater nicht gerechnet, dessen war sie sicher. Er stand im Begriff, seine Haltung zu verlieren, und fand beinahe keine Worte mehr. Es dauerte einen Moment, ehe er eine Ablehnung aussprechen konnte. „Ich weiß nichts. Und was immer Samuel Hastings dir darüber erzählt hat, es ist gelogen.“

„Er – mir erzählt?“ Sie sah ihn mit einem unschuldigen Augenaufschlag an, um die Harmlosigkeit ihrer Entdeckung zu betonen. „Er hat mir überhaupt nichts erzählt. Aber ich musste nicht besonders gewitzt sein, um meine eigenen Schlüsse zu ziehen. Ich habe schließlich Augen im Kopf und kann die Wahrheit erkennen, wenn ich sie sehe. Du solltest ihm endlich die ganze Geschichte erzählen.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest“, sagte ihr Vater in dem langsamen und überlegten Tonfall, mit dem Menschen manchmal das Offensichtliche leugnen.

Evelyn seufzte. „Dann werde ich es dir erklären. Ich habe schon seit einiger Zeit Vermutungen gehegt. Aber erst jetzt, draußen im Garten, war ich ganz sicher. Wenn andere die beiden Männer zusammen sehen, wird irgendjemandem die Ähnlichkeit zwischen ihnen auffallen. Von da an ist es nur ein kleiner Schritt zu der Erkenntnis, dass der Duke of St. Aldric und Dr. Samuel Hastings einander ähneln wie Brüder.“

„Evie, du darfst dich da nicht einmischen.“ Dieses schwache Argument führte er stets ins Feld, wenn sie ihre Grenzen überschritt.

Sie ignorierte den Satz. „Du warst doch zu seinen Lebzeiten mit dem alten Duke gut befreundet, oder?“

„Natürlich, aber …“

„Und könnte er dich nicht um einen Gefallen gebeten haben, an einem Punkt in deinem Leben, als ihr befürchten musstet, keine Kinder bekommen zu können, du und Mutter?“ Falls sie zu direkt gewesen war, entschärfte sie die folgende Aussage mit typisch weiblichem Liebreiz. „Ich frage nur, weil ich weiß, dass die Leute reden werden.“

„Niemand wird reden, wenn Hastings fortgeht, so wie er es versprochen hat“, widersprach ihr Vater eigensinnig. Ihre Theorie hatte er weder bestätigt noch geleugnet. Aber sein Ausweichen war ihr Antwort genug.

„Es ist nicht fair Sam gegenüber, wenn er London wegen des Dukes verlassen muss.“ Und es war auch ihr gegenüber nicht fair. Sie wollte ihn nicht noch einmal verlieren aus einem Grund, den niemand interessieren sollte. „Wenn der Bruch zwischen euch nur besteht, weil du Angst hast, ihm die Wahrheit zu sagen, dann solltest du das besser hinter dich bringen. Denn ich liebe beide Männer, und deswegen möchte ich sie in meiner Nähe haben, solange es möglich ist.“ Sie lächelte wieder und bot ihrem Vater einen Köder, dem er unmöglich widerstehen konnte. „Ich bin sicher, St. Aldric würde sich über diese Neuigkeiten freuen. Er hat oft davon gesprochen, welche Last es ist, das einzige Mitglied seiner Familie zu sein. Du würdest ihm eine Freude bereiten, wenn du ihm sagst, wonach er sich so sehnt.“

„Ein illegitimer Sohn …“ Grantham unterbrach sich, ehe er die Wahrheit aussprach. „Wenn es denn einen solchen gäbe, würde das nichts an St. Aldrics Stellung als letzter direkter Nachkomme ändern.“

„Aber es würde etwas in seinem Herzen ändern“, widersprach Eve. „Ich kenne ihn, er ist so großzügig, dass es schon fast ein Fehler ist. Er würde seinen Reichtum mit dem Sohn seines Vaters teilen wollen. Und damit würden wenigstens seine Scherze über ein Duell zwischen ihnen aufhören. Stell dir seine Reaktion vor, für den Fall, dass sie aus irgendeinem Grund tatsächlich miteinander kämpfen würden, und er würde die Wahrheit erst erfahren, wenn einer von ihnen verletzt wird.“

„Aus irgendeinem Grund?“ Sie war zu weit gegangen. Ihr Vater hatte den Schwachpunkt in ihrer Argumentation entdeckt und sah einen Ausweg. „Wirklich, Evelyn. Spiel nicht die Naive. Du weißt ganz genau, dass sie um deine Aufmerksamkeit kämpfen würden. Wenn es zu einem Unfall kommt, dann wird das dein Fehler sein und nicht meiner. Du musst Hastings fortschicken. Ich habe mich davon überzeugt, dass dieser Mann zu vernünftig ist, um falsche Hoffnungen auf eine Verbindung zwischen euch zu hegen. Und das solltest du auch nicht tun.“

„Ich wecke keine falschen Hoffnungen.“ Daran war nichts Falsches. Nach der Zeit, die sie im Garten miteinander verbracht haben, war die Hoffnung, die sie empfand, sehr real. So wie ihre Überzeugung, was die Identität von Sams Vater anging. „Ich versuche lediglich, einen Fehler wiedergutzumachen, ehe es noch schlimmer wird. Es schmerzt beide Männer, und du hast nichts davon.“

„Du mischst dich in Dinge ein, die du nicht verstehst“, sagte er und tätschelte ihre Hand, als wäre sie noch ein Kind, und das sah er wohl auch in ihr. „Wenn das der Grund ist, warum du so unhöflich bist zu St. Aldric, dann tut es mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Ich habe in dieser Angelegenheit nichts zu sagen, denn es gibt nichts zu sagen.“

War es ihr nicht gelungen, ihn zu überreden? Das passierte so selten, dass sie einen Moment lang befürchtete, sie könnte sich getäuscht haben. Vielleicht gab es doch kein Geheimnis, das enthüllt werden sollte. „Vater …“

„Geh!“ Grantham zeigte mit dem Finger zum Garten, wieder fest davon überzeugt, die Situation unter Kontrolle zu haben. „Schick Dr. Hastings fort, ehe der Duke seiner Gesellschaft überdrüssig wird. Besuche St. Aldric, so wie er es wünscht. Ich habe nicht vor, dir in dem Durcheinander zu helfen, das du hier verursachst. Damit ist dieses Gespräch beendet und wird auch nicht fortgesetzt. Jetzt geh.“

Ihr Vater hatte die Lippen fest zu einem Strich zusammengepresst, als wollte er ihr zeigen, dass keine weiteren Worte gewechselt werden würden, bis sie ihre Pflicht erfüllt hatte – gegenüber ihm, der Gesellschaft und dem Duke.

An Sams Bedürfnisse verschwendete er keinen Gedanken. Wenn er das nicht tat, dann musste jemand anderes es tun, oder er würde wieder auf ein Schiff gehen und damit für immer aus ihrem Leben verschwinden. „Also gut. Ich werde mit St. Aldric sprechen. Aber in allem anderen irrst du dich, Vater. Wir werden noch einmal darüber reden, und beim nächsten Mal wirst du die Wahrheit sagen.“ Sie würde ihn damit, wenn nötig, Tag und Nacht plagen. Und am Ende würde sie ihren Kopf durchsetzen: Sam würde endlich erfahren, wer sein Bruder war.

In Evelyns Abwesenheit hatte sich unbehagliches Schweigen zwischen den beiden Männern ausgebreitet. Das fand Sam keineswegs überraschend. Er hatte nur selten Gelegenheit, mit einem Mann dieses Standes zu sprechen, und er hatte nicht das Recht, eine Unterhaltung zu beginnen. Der Duke wiederum hatte keinen Grund, sich mit ihm zu unterhalten. So starrten sie beide stumm das Kätzchen an, das auf der Bank saß, bis es zum Rand tappte, hinuntersprang und davonlief, um Grillen zu jagen.

Es kam Sam so vor, als sei St. Aldric das Schweigen peinlich, denn er sah sich um, als suche er nach einem Thema, um ein Gespräch zu beginnen.

Schließlich sagte er: „Evelyn hat erzählt, dass Sie in Schottland ausgebildet wurden und dann zur See fuhren.“

„Das ist richtig, Euer Gnaden.“ Sam trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und verschränkte die Hände hinter seinem Rücken.

„Die Marine ist eine ungewöhnliche Wahl für einen so gut ausgebildeten Mann. Aber ich kann verstehen, dass sie nach Abenteuern suchten.“

Sam war versucht zu erwidern, dass er Seine Gnaden nicht nach seiner Meinung gefragt hatte, aber er hatte nur einen einzigen Grund, diesen Mann nicht zu mögen, und überhaupt keinen, unfreundlich zu ihm zu sein. Dass er Evie so tiefe Gefühle entgegenbrachte, war kein Grund dafür, einem Aristokraten nicht den gebotenen Respekt zu erweisen. „Die Marine bietet eine günstige Gelegenheit, sich die Welt anzusehen“, erklärte er. „Mein Anteil am Prisengeld für aufgebrachte feindliche Schiffe genügte mir als Sold.“ Das war natürlich nichts im Vergleich zu den Einkünften eines Dukes, aber für ihn war es mehr als genug gewesen.

Der Duke nickte beifällig. „Der Kapitän der ‚Matilda‘ war sehr ehrgeizig.“

Das stimmte, aber St. Aldric hatte es so gesagt, als wüsste er darüber Bescheid. Hatte er die Mühe auf sich genommen, das herauszufinden, oder hatte Evie es ihm erzählt? „Ein sehr ehrgeiziger Kapitän, in der Tat, Sir.“ Er hatte genug verdient, um sich zur Ruhe zu setzen, an Land zurückzukehren und ein Haus und eine Familie zu haben, falls er das wünschte.

„Ihr Lebenslauf ist beeindruckend“, fuhr der Duke fort. „Abgesehen von dem kurzen Flirt mit der katholischen Kirche während Ihres Aufenthalts in Spanien.“

Er hatte also die Berichte gelesen. Und die Verwarnung des Kapitäns wegen der Zeit, die er bei den Priestern verbracht hatte. „Es war Neugier. Sonst nichts.“ Und der Wunsch, ein Heilmittel zu finden für seine geistige Unruhe – oder wenigstens die Absolution von einem Kirchenmann, der dem Beichtgeheimnis verpflichtet war. Am Ende hatte der Priester ihn voller Mitleid und Abscheu angesehen und ihm dann einen Rosenkranz und ein Gebetbuch gegeben, so wie ein Arzt eine Medizin verordnete.

Es hatte nichts geholfen.

„Es ist merkwürdig, dass Sie sich so sehr für mein Leben interessieren.“ Diese Bemerkung konnte Sam sich nicht verkneifen. Es ärgerte ihn, dass dieser Fremde sich in seine Belange mischte. „Ich habe nicht vor, Lady Evelyn mit meinen Angelegenheiten zu behelligen, falls Sie das befürchten sollten.“

„Ganz und gar nicht, Sir“, erwiderte der Duke eilig. „Ich wollte Sie nur einschätzen können.“

„Dann dürfen Sie das jetzt als abgeschlossen betrachten. Ich bin genau so, wie Sie mich vor sich sehen. Nicht mehr und nicht weniger. In Zukunft dürfen Sie mich gern direkt fragen, wenn sie etwas wissen möchten, und ich werde Ihnen nach bestem Wissen und Gewissen antworten. Um Lady Evelyns Willen, wenn schon aus sonst keinem Grund.“ Klangen die Worte weniger unhöflich, wenn er ihren Namen ins Spiel brachte?

„Ich verstehe“, sagte der Duke.

„Ich frage mich, ob Sie das wirklich tun“, sagte Sam, der dieser Spiele überdrüssig war. „Ich hätte es auch schwören können bei allem, was mir heilig ist. So ein Eid hätte für mich nicht mehr Wert als mein Wunsch, dass es Lady Evelyn gut gehen möge. Was immer Sie auch glauben mögen, für sie will ich nur das Beste.“ Und dann gab er widerstrebend zu: „Wenn das stimmt, was ich gehört habe, dann steht ihr eine sehr vorteilhafte Verbindung bevor.“

Statt darauf eine Antwort zu geben, zuckte der Duke nur mit den Schultern. Das war eine seltsame, beinahe jungenhafte Reaktion von einem so selbstsicheren Mann. „Ich hege diesbezüglich Hoffnungen. Aber die Entscheidung liegt bei der Dame, oder?“

„Ich wünsche ihr alles Gute“, fügte Sam hinzu. „Sie verdient nur das Beste, was das Leben zu bieten hat. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass sie das nicht bekommen wird.“

Als Antwort darauf bedachte der Duke ihn mit einem sehr langen Blick. Überlegte er, ob er das glauben sollte? Schließlich sagte er: „Ich freue mich, das von Ihnen zu hören. Sollte diese Zukunft für Lady Evelyn, von der Sie sprechen, mit mir zu tun haben, so werde ich mein Bestes tun, mich ihrer als würdig zu erweisen.“

Daraufhin sah Sam ihn ebenso prüfend an. Er hätte verstehen können, wenn ihm nahegelegt worden wäre, sich fernzuhalten. Aber das Verhalten des Dukes schien anzudeuten, dass er seine Zustimmung suchte. Das war nicht nötig.

Wieder entstand Schweigen zwischen ihnen. Diesmal lastete es schwerer – wie bei zwei erschöpften Männern, die miteinander gekämpft hatten und nun zwischen den Runden darauf warteten, wieder zu Atem zu kommen.

In dieser angespannten Stille erschien Eve. Als wäre sie nicht die ganze Zeit über bei uns gewesen, dachte Sam mit einem ironischen Lächeln.

Auch sie lächelte. Anscheinend ahnte sie nicht, worüber sie gesprochen hatten. „Ich bin wieder da“, erklärte sie. „Ich hoffe, dass meine Abwesenheit euch beiden die Gelegenheit gab, einander kennenzulernen.“

„Du warst kaum zehn Minuten fort, Evelyn“, gab St. Aldric zurück. „Das ist kaum genug Zeit, um eine dauerhafte Freundschaft zu begründen.“

„Aber ihr habt miteinander geredet“, sagte sie, als wollte sie einem ungeduldigen Kind eine Lektion erteilen. „Und hast du festgestellt, dass er genauso ist, wie ich es gesagt habe?“

Bei diesen Worten fragte sich Sam, was Eve über ihn erzählt hatte.

„Ich habe deine Beschreibung niemals angezweifelt“, erwiderte St. Aldric. „Aber, ja.“

„Hast du ihm also gesagt, worüber wir gesprochen haben?“

„Ich war Gegenstand eines Gesprächs?“, mischte sich Sam ein. Er mochte es nicht, wenn über ihn gesprochen wurde. Das störte ihn beinahe so sehr, wie wenn über ihn Nachforschungen angestellt wurden.

„Ich habe St. Aldric nur erzählt, dass ich mir Sorgen wegen deiner Karriere machte“, gab Evie zurück und setzte sich zwischen sie, dorthin, wo vorher die Katze gelegen hatte. Sie streckte den Arm aus und nahm seine Hand. „Du warst so lange fort, Sam. Ich habe dich vermisst. Und erzähl mir nicht, dass die Marine nicht gefährlich wäre. Selbst jetzt, da Napoleon geschlagen ist, besteht noch Gefahr. Es gibt Stürme und Piraten, und dir könnten alle möglichen Unfälle zustoßen. Nur mal angenommen, du wirst krank? Wer sollte den Arzt behandeln?“

„Evie.“ Jetzt behandelte sie ihn fürsorglich, und das in Gegenwart des Dukes. Abgesehen von all den anderen unbehaglichen Gefühlen, die sie in ihm weckte, kam nun auch noch Verlegenheit dazu.

„Ich habe mich gefragt, ob ich dich irgendwie dazu überreden kann, an Land zu bleiben.“

„Glaubst du nicht, dass ich das sehr gut allein entscheiden kann?“, fragte Sam so sanft wie nur möglich.

„Das habe ich ihr auch schon gesagt“, erklärte St. Aldric seufzend. „Aber sie will nichts davon hören.“ Einen Moment lang waren sie Gefährten im Kampf gegen einen Gegner, der genauso hartnäckig war wie Bonaparte. Aber Sam hatte gegen beide gekämpft, und Evie erschien ihm noch sturer als die gesamte französische Armee.

„Ich bin die Menschen leid, die meine Briefe nicht beantworten und meine Ängste beiseiteschieben“, erklärte Evie und hob energisch das Kinn. „Sam Hastings, du setzt auf See dein Leben aufs Spiel, und es gibt keinen Grund dafür. Ich war außer mir vor Sorge und habe für deine Rückkehr gebetet. Eine Praxis an Land wäre da weitaus sicherer. Es muss etwas für dich arrangiert werden.“

Sam holte tief Atem, ehe er sprach, und bemühte sich um ihretwillen, seinen Ärger zu unterdrücken. „Wie ich dir schon sagte, ist es mir lieber, allein meinen Weg zu machen. Ich habe mein früheres Leben in der Schuld deines Vaters verbracht, und das war nicht leicht.“ Weniger leicht, als sie es sich vermutlich vorstellen konnte. „Ich bin ihm so viel Dank schuldig, dass ich es vermutlich niemals zurückzahlen kann.“

„Für eine Anstellung musst du nicht dankbar sein“, gab sie in scharfem Ton zurück. „Durch deine ärztliche Tätigkeit wirst du beweisen, dass du es wert bist. Ich habe mit St. Aldric gesprochen, und er ist einverstanden.“ Sie warf dem Duke einen warnenden Blick zu, der ihm zeigen sollte, dass er nicht widersprechen durfte, wenn er wusste, was gut für ihn war. Dann erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht, dem kein Mann widerstehen konnte, und sie nahm die Hand des Dukes und drückte sie ebenso herzlich, wie sie es bei Sam getan hatte. „Dann ist das geklärt. Du wirst mit uns nach Aldrics Hall kommen und als Michaels Leibarzt arbeiten.“

Einen Moment lang war Sam so verblüfft, dass er nicht einmal Ärger verspürte. Jeder Arzt in England wäre über eine solche Stellung außer sich vor Freude. St. Aldric war jung, gesund und stark, zudem von liebenswürdigem Wesen, sodass eine lange und angenehme Laufbahn in seinen Diensten zu erwarten war sowie die Möglichkeit, mit einer Frau und Kindern in komfortablen Umständen zu leben.

So lange, wie er bereit sein würde, Evelyns Gemahl gesund zu erhalten. Vielleicht würde man von ihm verlangen, sie zu betreuen, wenn sie das Kind des anderen Mannes erwartete, und dass er zusah, wie ihre Kinderschar immer größer wurde. Und jetzt hielt sie ihrer beide Hände und sah von einem zum anderen, als wäre es möglich, dass sie alle drei eine einzige glückliche Familie sein würden.

„Nein.“ Er bemühte sich nicht einmal, seinen Abscheu zu verbergen, als er ihr seine Hand entzog und aufstand. „Du verlangst zu viel von mir, Evie.“ Er sah den Mann neben ihr an und versuchte, kühle Höflichkeit an den Tag zu legen. Diese Idee stammte sicherlich nicht von dem Duke, aber sie erklärte, warum er von ihm vorhin so eingehend befragt worden war. Vermutlich fürchtet er, ich könnte die Sorte Mann sein, die Evies Sympathien zu seinem eigenen Vorteil ausnutzt, dachte Sam. „Ich bitte um Entschuldigung, Euer Gnaden, aber ich muss dieses Angebot in aller Höflichkeit ablehnen.“ Vielleicht konnte St. Aldric ihr seine Beweggründe erklären. Dieser Mann würde seine Gefühle vermutlich erahnen können, falls Grantham ihm die Situation nicht ohnehin schon dargelegt hatte.

Er sah Evie an, deren schöne Augen sich mit Tränen zu füllen begannen, und dann wich er vor ihr zurück. „Ich sollte gehen. Ich hatte schon vor längerer Zeit vor zu gehen. Du hast mich dazu überredet, hierzubleiben. Aber ich hätte nicht auf dich hören sollen.“

Und führe uns nicht in Versuchung … Die Worte des Vaterunsers hallten in seinem Kopf nach. Aber sie beschützten ihn nicht vor dem entsetzen Ausdruck auf ihrem Gesicht.

„Sam, warte …“

Wenn sie noch ein Wort sagte, würde er schwach werden. Er würde ihr diese Tränen abwischen und sich mit allem einverstanden erklären, was sie wieder zum Lächeln brachte. Bis zum Abend würde sie ihn so weit haben, wieder ins Haus zu ziehen und ganz in der Nähe ihres Zimmers zu schlafen.

„Ich kann nicht.“ Ich darf nicht. „Keinen Augenblick länger. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Lady Evelyn. Und auch Ihnen, Euer Gnaden. Adieu.“

5. KAPITEL

Evie sah zu, wie Londons Straßen an dem Kutschenfenster vorbeizogen, und tappte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden der Chaise.

Es war wirklich unerträglich!

Vor ihrem Debüt war ihr von ihrer Tante Jordana eingehämmert worden, dass ihre gesamte Zukunft von ihrer Liebenswürdigkeit abhing. Dass das beinahe so wichtig war wie Aussehen und weitaus wichtiger als Intelligenz. Männer heirateten möglicherweise ein schönes Dummchen, solange es an ihren Lippen hing und nicht in Zweifel zog, was sie sagten. Aber eine Kratzbürste blieb immer eine Kratzbürste, lange nachdem die Schönheit verblüht war.

Also hatte sie ihr Bestes getan, um eine angenehme Gesellschafterin zu sein. Und auch wenn sie Widerworte nicht immer ganz unterdrücken konnte, so achtete sie doch stets darauf, dabei zu lächeln. Vielleicht war das der Grund, warum die Männer in ihrem Leben sie meistens wie ein Kind behandelten, sie abwechselnd schalten oder verwöhnten und glaubten, sie könnten sie dazu bringen, das zu tun, was sie wollten. Weil sie niemals zornig aussah, nahmen sie sie nicht ernst.

Ihr Vater log ganz offensichtlich über das, was er von Sam wusste. Sam verhielt sich ebenso ausweichend, was seine Gefühle für sie betraf, und wechselte seine Stimmungen so schnell, dass sie ihn kaum verstand.

Und St. Aldric? Gegen ihren Willen musste sie lächeln. Er würde den Teufel persönlich als Leibarzt engagieren, wenn er nur glaubte, dass sie deswegen seinen Antrag eher annehmen würde. Wenigstens war dieser Mann konsequent. Aber da sie ihn nicht liebte, spielte seine Meinung keine Rolle für sie.

Die Kutsche hielt vor dem Gasthof, in dem Sam abgestiegen war, und Evie begab sich ins Haus. Noch so ein Unsinn, dass er sein altes Zimmer abgelehnt hatte und an einem Ort blieb, der nie auch nur halb so schön sein konnte wie sein Zuhause. Schlimmer noch, sie war gezwungen gewesen, dem Kutscher, der ihn hierher gebracht hatte, die Adresse zu entlocken. Sam hatte ihr nichts darüber hinterlassen, und ihr Vater hatte erklärt, er hätte keine Ahnung, wo Hastings zu finden war, und es sei ihm auch egal.

Jetzt, da sie hier war, erzählte sie dem Wirt die Geschichte, die sie sich ausgedacht hatte, und man führte sie zu Sams Zimmer. Mutig klopfte sie an die Tür und hörte von drinnen seine Stimme: „Kommen Sie herein.“ Vielleicht erwartete er das Dienstmädchen mit dem Abendessen.

Sie lächelte. Ganz gewiss erwartete er nicht sie. Aber er musste sich an Überraschungen gewöhnen. Sie öffnete die Tür und trat ein. „Guten Abend, Dr. Hastings. Ich bin gekommen, um mit Ihnen ein Gespräch unter vier Augen zu führen.“

„Evie.“ Er erhob sich von dem Tisch, an dem er gesessen hatte, und ein Gebetbuch fiel zu Boden.

Sie hatte nicht gewusst, dass er besonders religiös war, aber Menschen änderten sich mit der Zeit.

„Was suchst du hier?“, fragte er misstrauisch. „Und warum hat man dich überhaupt hier hereingelassen? Der Gastwirt wird dich für eine gewöhnliche Dirne halten.“

„Unsinn“, sagte sie und zwinkerte dabei, um ihm ein Lächeln zu entlocken. „Ich habe ihm gesagt, dass wir verwandt sind. Ist es nicht ganz natürlich, dass eine Schwester ihren Bruder besucht?“

Er gab einen erstickten Laut von sich, als fiele es ihm schwer, die passenden Worte zu finden. Dann endlich sagte er matt: „Es war trotzdem nicht richtig von dir.“

„Aber ich durfte nicht zulassen, dass du im Zorn von mir gehst. Ich möchte nicht, dass wir uns auf diese Weise trennen. Ich will mich überhaupt nicht von dir trennen.“ Sie sah auf die Seekiste, die auf dem Boden stand. Ganz offensichtlich packte er bereits. „Und ganz gewiss möchte ich nicht, dass du auf dieselbe Weise gehst wie beim letzten Mal, ganz ohne ein Wort.“

Ihre Stimme hatte erstickt geklungen. Wenn sie nicht aufpasste, dann würde sie sich ihm zu Füßen werfen und ihn anflehen zu bleiben. „Ich werde nichts mehr davon sagen, dass ich dir eine Stellung besorgen will. Ich werde mich überhaupt nicht mehr einmischen. Aber du hast versprochen, zur Hochzeit zu bleiben, erinnerst du dich? Du hast es versprochen! Du kannst nicht das Wort brechen, das du mir gegeben hast, nur wegen eines dummen Missverständnisses. Verzeih mir.“ Sie sah ihn von unten herauf an und streckte ihm die Hand entgegen. Mit Zerknirschung, Hilflosigkeit und einem kleinen Flirt sollte sie ihn herumbekommen.

Er beachtete ihre Hand gar nicht und blieb mit dem Rücken zur Wand stehen. „Da gibt es nichts zu verzeihen. Was du getan hast, geschah aus Sorge um mich, und ich danke dir für deinen Versuch, mir zu helfen, auch wenn ich das ablehnen muss. Ich werde das tun, um was du mich bittest, und bis zur Hochzeit bleiben. Ich werde mir sogar einen neuen Rock kaufen und mir die Krawatte ordentlich binden, sodass ich dich vor St. Aldric nicht blamiere.“

Seine Miene war starr, und seine Stimme klang ausdruckslos. Was er sagte und tat, wirkte genauso falsch wie das, was sie fühlte, als sie versuchte, ihn mit ihren weiblichen Reizen zu überreden. Er hielt inne, ehe er weitersprach, als müsste er sich für die Antwort auf seine nächste Frage besonders vorbereiten. „Wann ist also diese Hochzeit, von der du so unbedingt möchtest, dass ich dabei bin?“

Sie lächelte triumphierend. „Ich weiß es wirklich noch nicht. Ich habe noch nicht Ja gesagt, erinnerst du dich? Aber wenn du vorhast abzureisen, sobald ich verheiratet bin, dann werde ich mir vermutlich mit der Entscheidung noch etwas Zeit lassen.“

Er trat so plötzlich vor, als wollte er sie für diese Frechheit packen und schütteln, dann gewann er jedoch seine Beherrschung zurück und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Evelyn, ich schwöre, dein Benehmen könnte einen Mann in den Wahnsinn treiben.“

„Das sagte man mir bereits“, erklärte sie und lächelte wieder. „Es ist gut zu sehen, dass dich das nicht kalt lässt.“ Sie trat einen Schritt auf ihn zu, um ihren Vorteil auszunutzen. „Wir standen uns einst sehr nahe, auch wenn du dir große Mühe gibst, das zu leugnen.“

„Wie Geschwister“, erklärte er mit fester Stimme.

Sie schüttelte den Kopf. Er musste wissen, was sie für ihn empfand. Sie hatte nicht versucht, ihre Liebe zu ihm zu verbergen. Aber er hatte ihr nicht die Gelegenheit gegeben, ihm ein Versprechen zu entlocken, ehe er zur Ausbildung fortging, sodass sie sich auf seine Rückkehr hätte freuen können. Jetzt waren sie allein, und einen besseren Zeitpunkt würde es nicht geben. „Du warst immer mehr als ein Bruder für mich, Sam.“

„Aber du warst immer meine geliebte kleine Schwester“, erwiderte er eigensinnig. „Und ich werde sehr stolz sein, wenn ich dich bald ‚Euer Gnaden‘ nennen darf. Jedenfalls werde ich das tun, sobald du aufhörst, den armen St. Aldric an der Nase herumzuführen.“

„Ich kann seinen Antrag nicht annehmen, solange ich nicht sicher bin, wem mein Herz gehört“, sagte sie.

Er verzog das Gesicht. „Diese Fragen wurden doch vor langer Zeit schon beantwortet, Evelyn.“

„Als du mich ohne eine Erklärung verlassen hast?“

„Du weißt, dass ich auf die Universität gegangen bin.“

„Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass du den Weg dorthin fluchtartig zurücklegen würdest. Ebenso wenig, wie ich erwartete habe, dass du heute davonläufst, mitten in einem einfachen Gespräch über deine Zukunft.“

„Eine Zukunft, die du für mich entscheiden wolltest“, erinnerte er sie.

„Und du möchtest eine andere?“ Vielleicht eine mit einem anderen Mädchen, das dasselbe für ihn empfand wie sie. Wenn es eine andere Frau gab, warum konnte er ihr das dann nicht einfach sagen? Wenn er ihr damit Schmerz ersparen wollte, dann schätzte er die Situation falsch ein. Eine einfache Erklärung für seine Zurückweisung wäre wesentlich leichter zu ertragen, als den Grund nicht zu kennen.

Wenn es eine andere gab, dann müsste die Erklärung für seine Abwesenheit irgendwo hier im Raum zu finden sein. Die andere Frau – wenn sie denn klug war –, hätte nicht gewollt, dass er vergaß, dass jemand auf seine Rückkehr wartete. Es musste eine Haarlocke geben, eine Miniatur oder einen anderen Beweis ihrer Zuneigung. Und vor ihr standen die Seekiste und die Arzttasche, und beide warteten darauf, von ihr durchsucht zu werden.

Sie strich mit den Fingern über den Rand der offenen Kiste, drehte sich plötzlich um, sank auf die Knie und betrachtete den Inhalt. Sie entdeckte keine Spur einer anderen Frau. Die Kiste, die vor ihr stand, enthielt nichts als die Instrumente seines Berufs.

In ihrer Welt war es nicht üblich, dass Gentlemen einem Beruf nachgingen. Sie kümmerte sich zwar recht geschickt um die Menschen, die auf dem Landsitz ihres Vaters lebten, auch ohne die Hilfe eines Arztes. Aber das war Wohltätigkeit, keine richtige Arbeit.

Hier jedoch lagen alle die Dinge, die ein richtiger Arzt für seine Arbeit benötigte, vor ihr. Was für eine Entdeckung! Sie hatte in den Büchern über Medizin, die ihr zur Verfügung standen, gelesen, was man mit solchen Instrumenten machte, aber gesehen hatte sie sie noch nie.

Sie lagen ordentlich aufgereiht und makellos sauber da: Lanzetten mit glatten Griffen aus Schildpatt, Knochensägen und Bohrer aus glänzendem Stahl, die beängstigend scharfen Klingen der Skalpelle, spitze Nadeln, Seide zum Vernähen der Wunden. Darunter standen, ordentlich aufgereiht, kobaltblaue Medizinflaschen und die Glasbehälter für die Blutegel.

In der Arzttasche befand sich eine Sammlung geheimnisvollerer Dinge, die schwerer zu verpacken waren, aber offensichtlich häufig benutzt wurden. Spritzen sowie Löffel und Zangen aus Silber. Sie betrachtete jeden einzelnen Gegenstand.

„Suchst du nach etwas Bestimmtem, Evelyn?“ Sam war so still gewesen, dass sie ihn beinahe vergessen hätte. Allerdings hatte ihre Neugier ihn wohl entspannt. Er stand jetzt direkt hinter ihr. Seine Stimme klang auch anders. Die erstickte Verzweiflung war einer vertrauten Mischung aus Missbilligung, Belustigung, Resignation und Zuneigung gewichen.

Sie wollte sich umdrehen und ihm ehrlich antworten: Ja, ich suche nach etwas, das mir hilft dich zu verstehen. Stattdessen sagte sie etwas, das ebenfalls der Wahrheit entsprach: „Ich bin neugierig in Bezug auf deinen Beruf.“ Sie drehte sich zu ihm um und setzte sich auf den Boden, die Füße unter den Rock gezogen.

„Und wieder einmal zeigt sich, dass die Jahre dich nicht verändert haben. Du bist immer noch eine schreckliche Schnüfflerin.“ Er war entspannt genug, um sich am Fußende des Bettes niederzulassen. „Gibt es etwas, das ich dir erklären soll?“

„Die meisten Dinge kenne ich“, gab sie zu.

„Du kennst sie?“ Das schien ihn zu überraschen.

„Ich habe gelernt“, gestand sie. „Ich habe mir medizinische Texte bestellt und sie alle gelesen.“

Ein anderer Mann hätte vielleicht daran gezweifelt, dass sie alles verstanden hatte. Aber Sam sagte nur: „Weiß dein Vater davon?“

Es war schwer, ihm in die Augen zu sehen und die Wahrheit zu beichten. Bis er fortging, hatte sie sich nie für eine Heimlichtuerin gehalten. Zwar war sie oftmals nicht derselben Meinung wie ihr Vater, aber sie hatte sich ihm nie entschieden widersetzt. Doch sie hatte vermutet, dass das im Fall ihrer medizinischen Studien nötig sein würde, und sie hatte vor ihm geheim gehalten, wie viel sie tatsächlich wusste. „Du weißt, dass er keine Ahnung davon hat. Er hätte das niemals erlaubt. Er glaubt, ich kümmere mich um die Kranken, so, wie es andere Frauen auch tun, indem ich heiße Hühnerbrühe bringe und gute Wünsche oder die Kräutertinkturen, die Mutter benutzt hätte, wenn sie noch leben würde. Aber ich möchte es besser machen.“ Plötzlich kam ihr ein Gedanke. „Du wirst ihm doch nichts davon erzählen, oder?“

Sam lachte. „Natürlich nicht.“ Dann wurde er wieder ernst. „Und ich werde auch St. Aldric nichts davon sagen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er bei seiner Frau so seltsame Hobbys erwartet.“

Wenn Sam sie liebte, wie sie es hoffte, dann hätte er diese Information zu seinem Vorteil nutzen und ihre Chancen bei dem Duke ruinieren können. Stattdessen verhielt er sich edelmütig. Sie seufzte. „Männer sind sehr verwirrend. Es ist ihnen egal, ob wir Frauen uns um Kranke kümmern oder nicht, solange wir es ohne fachliches Wissen tun. Wollen sie nicht, dass die Menschen wieder gesund werden?“ Sie legte den Kopf schief und beobachtete, wie Sam reagierte, als sie die nächste Frage stellte. „Was hältst du von meinen Bemühungen? Ist es falsch, dass ich ausprobieren möchte, was ich in den Büchern gelesen habe?“

Er dachte einen Moment lang darüber nach. „Ich glaube nicht, dass ich es gut finde. Bei meiner ärztlichen Tätigkeit habe ich viele Dinge gesehen, von denen ich nicht möchte, dass du sie erleben musst. Aber ich weiß auch, wie schwer es ist, dich von etwas abzubringen, wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast. Du bist eigensinnig, Evie. Daran werde ich nichts ändern, egal, wie sehr ich etwas missbillige.“ Zum Glück schien ihn diese Tatsache nicht zu ärgern, denn er sah sie mit der ruhigen Gelassenheit an, auf die sie gehofft hatte.

„Glaubst du, ich könnte eine gute Ärztin werden?“

„Die Kollegen würden dich natürlich nicht ausbilden“, sagte er. „Aber wenn sie es täten – klug genug wärest du. Du sagst, du kennst die Instrumente, die in meiner Tasche sind?“

Sie nickte. „Natürlich.“ Sie hielt ein Stück hoch. „Eine Zange, um Babys auf die Welt zu helfen. Die sind unnötig, weißt du. Die meisten Geburten können auf andere Weise herbeigeführt werden, wenn man geduldig ist und kleine Hände hat.“

Er sah sie verblüfft an. „Du sprichst aus Erfahrung?“

„Erinnerst du dich nicht an unser altes Haus auf dem Land? Thorne Manor liegt recht abgelegen. Der nächste Arzt ist mehrere Meilen entfernt, und wir haben gelernt, ohne ihn zurechtzukommen. Ich bin inzwischen eine recht gute Hebamme, Dr. Hastings.“

„Und darauf beschränkst du dich?“ Sie hatte Angst, dass er sie kritisieren würde. Aber diese Frage war in einem Tonfall gutmütiger Resignation gestellt, als würde er die Antwort bereits kennen.

„Vielleicht beschäftige ich mich intensiver mit der Pflege, als es manchen Menschen recht wäre“, gab sie zu. „Und vielleicht gehe ich öfter an Krankenbetten und in Geburtszimmer, als die Schicklichkeit es verlangt. Allerdings nehme ich kein Geld für die Dinge, die ich tue.“

„Nun, dann …“, sagte er mit einem ironischen Lächeln. „Solange du meine Geschäfte nicht gefährdest.“

„Ganz und gar nicht. Und ich nehme an, dass du mit Geburten wenig Erfahrung hast, da du auf einem Schiff voller Männer gearbeitet hast.“ Sie legte die Zange zur Seite. „Natürlich haben solche Instrumente ihre Berechtigung. Aber meistens komme ich ohne sie zurecht.“

Er senkte den Kopf, um sein Lächeln zu verbergen. „Dann verlasse ich mich auf diesem Gebiet an deine überlegene Erfahrung. Was willst du mich sonst noch lehren?“

Sie zeigte auf den Bohrer. „Der ist für die Öffnung des Schädels. Und das ist das Gerät, mit dem die Kopfhaut entfernt wird. Und das dient dazu, die Knochen von der Wunde zu heben.“ Sie nahm es hoch und drehte die Kurbel. Die Vorstellung, jemandem das Leben zu retten, indem man ein Loch in seinen Kopf bohrte, faszinierte sie. „Hast du so etwas jemals tun müssen?“

Er lachte wieder. „Du hast dich überhaupt nicht verändert, Evie. Du bist so schrecklich neugierig wie immer. Ja, ich habe diese Instrumente benutzt. Mal mit Erfolg. Mal ohne.“ Als wollte er das Thema wechseln, ging er zu der Kiste und holte eine Röhre aus Ebenholz heraus. „Aber ich bin sicher, dass du das hier nicht erkennst.“

Sie drehte den Gegenstand in den Händen hin und her und suchte nach irgendeinem Merkmal, das ihr half, ihn zu identifizieren. „Ich habe keine Ahnung.“

„Das überrascht mich nicht. Ich nehme an, ich besitze eines der wenigen, die es in England gibt. Ich habe es von einem französischen Chirurgen, der auf einem Schiff arbeitete, das wir aufgebracht haben. Es wird benutzt, um die Lunge und das Herz abzuhören.“

„Wie erstaunlich. Das musst du mir zeigen.“ Sie beugte sich, noch immer auf dem Boden kniend, vor und hielt es ihm hin.

Etwas an dieser Situation warnte ihn. Unschlüssig sah er einen Moment lang das Instrument an und dann sie. Schließlich holte er tief Luft, schluckte und drückte ein Ende auf ihre nackte Haut, oberhalb des Ausschnitts. Das Ohr legte er behutsam an das andere Ende. Er hielt die Röhre an verschiedene Stellen an ihrer Brust, verlangte jedes Mal, dass sie tief Atem holte. Als er fertig war, nickte er sehr ernsthaft und erklärte sie für gesund. Mit offensichtlicher Erleichterung richtete er sich auf.

Es beunruhigte ihn also, wenn sie ihm so nahe war? Er hatte seine professionellste Haltung eingenommen, ehe er sie untersuchte. Nun, diese Haltung würde ihm nichts nützen. Sie war geübt darin, den Widerstand eines Mannes zu überwinden. Allerdings waren diese kleinen, raffinierten Kniffe passend für einen Salon. Bei Sam konnte sie direkter vorgehen. Sie schenkte ihm ein reizendes Lächeln. „Jetzt muss ich das bei dir machen.“ Sie nahm ihm die Röhre weg, ohne auf seine Erlaubnis zu warten. Dann öffnete sie mehrere Knöpfe an seiner Weste, direkt unter dem Krawattentuch, und schob den Stoff auseinander.

„Evelyn!“ Er versuchte, vor ihr zurückzuweichen, und stieß dabei an das Bett, das hinter ihm stand.

Sie lachte. „Oh, Sam. Stell dich nicht so an.“ Sie legte die Röhre an und beugte sie sich vor, um zu lauschen.

Die Geräusche klangen fremdartig und hohl, verglichen mit dem, was man vernahm, wenn man einfach sein Ohr an die Brust eines Patienten legte, aber sehr viel deutlicher. Während sie aufmerksam zuhörte, bemerkte sie, wie sein Atem ein wenig stockte, als fiele es ihm schwer, ruhig ein- und aus zu atmen. Sein Herz schlug im Vergleich zu dem, was sie für normal hielt, hart und schnell. Einen Moment lang war sie beunruhigt. Vielleicht war er krank. Hatte er in seiner Abwesenheit vielleicht irgendein körperliches Gebrechen entwickelt?

Oder war der schnelle Herzschlag das Zeichen, auf das sie gehofft hatte? Sie legte eine Hand auf seine nackte Brust und fühlte, wie er die Luft anhielt, obwohl sein Herzschlag raste.

Es lag an ihr. Er mochte so tun, als stimme das nicht, aber ihre körperliche Nähe beeinflusste ihn in einer Weise, die er nicht kontrollieren konnte.

Um diese Theorie zu überprüfen, bewegte sie ihre Hand noch einmal und fühlte, wie sein Herz einen Sprung machte. Erfreut hob sie den Kopf und lächelte.

Er erwiderte ihren Blick mit einem Ausdruck, den sie nur als erschüttert beschreiben konnte.

„Nun, Dr. Hastings …“ Sie nahm die Röhre weg, ließ aber ihre Hand auf der warmen Haut seiner Brust liegen. „Sie sind heute sehr leicht erregbar.“

„Evie.“ Es war der warnende Ton eines Mannes, der Angst hatte, bei einer Indiskretion ertappt zu werden.

Sie achtete nicht darauf. „Samuel?“ Ganz leicht strich sie mit ihren Nägeln über seine Brust, wunderte sich über ihre eigene Kühnheit und wartete darauf, dass seine Abwehr zerbrach.

Doch er packte ihre Hand, schob sie weg und zog seine Kleidung zurecht, sodass die Stelle, die sie berührt hatte, nicht mehr zu sehen war. „Benimm dich nicht so unsinnig. Wenn jemand herausfindet, dass du einen Mann auf diese Weise berührst, dann würde es dir nichts nützen, wenn du erklärst, dass das mit deinem Interesse an Medizin zu tun hatte. Dein Ruf wäre ruiniert.“

„Ich berühre keinen Mann“, erklärte sie geduldig, während sie noch immer zu seinen Füßen kniete. „Das bist nur du.“

„Nur ich.“ Er seufzte tief und resigniert. „Du darfst nicht vergessen, dass wir jetzt erwachsen sind, Evelyn. Die Spiele, die vor mehr als zehn Jahren noch ganz normal waren, sind jetzt unschicklich.“

„Gibt es andere Spiele, die weniger unschicklich wären?“, fragte sie kühn. Was würde er wohl darauf antworten?

„Nein.“ Er schluckte, als fiele es ihm schwer, ihr zu antworten.

„Woran liegt es, dass du solche Angst hast vor mir, Sam?“

„Angst?“ Er wiederholte ihre Worte wie ein Papagei, um Zeit zu gewinnen, aber sie erkannte an seiner Miene, dass sie recht hatte. Er hatte Angst.

Sie beugte sich näher, um ihm ins Gesicht zu sehen, und legte ihm die Hände auf die Knie. Wenn er eine Zurückweisung fürchtete – nun, das war nicht nötig. „Habe ich mich so sehr verändert, Sam? Denn ich habe dir noch nie Angst gemacht. Du hast mich sogar einmal geküsst.“

„Habe ich das?“ Er wandte sich ab und betrachtete die Seekiste, die auf dem Boden stand. „Daran kann ich mich kaum erinnern.“

„Ich erinnere mich nur zu gut daran. Es war eine Woche, ehe du fortgingst, an einem Sommermorgen. Wir waren im Garten. Ich habe mich versteckt, und als du mich erwischt hast, hast du mich an der Taille festgehalten. Einen Augenblick lang sahst du sehr ernst aus, dann hast du mich an dich gezogen und mich auf den Mund geküsst.“

„Ah ja.“ Falls das überhaupt möglich war, so sah er jetzt noch unbehaglicher aus.

„Und kurz danach bist du fortgegangen. Nach Schottland.“

„Dich zu küssen war ein wenig dumm von mir. Wir waren beide noch sehr jung.“

„Ich war fünfzehn“, erinnerte sie ihn. „In einem Alter, in dem manche Mädchen schon verheiratet sind.“

„Und jetzt bist du einundzwanzig. Und vermutlich wirst du eine vorteilhaftere Ehe schließen, als wenn du in so jungen Jahren eine überstürzte Verbindung eingegangen wärest.“ Es klang, als wollte er versuchen, sich selbst davon zu überzeugen.

„Ich wäre jetzt vielleicht mit einem Arzt verheiratet, wenn er mich gefragt hätte.“

„Evie.“ War das alles, was er ihr sagen konnte? Diesmal sprach er ihren Namen traurig aus, aber auch voller Sehnsucht.

„Da du nicht offen sprechen willst, muss ich es tun“, sagte sie, „damit du nicht so tun kannst, als würdest du mich nicht verstehen. Wenn du mir einen Antrag machst, werde ich ihn annehmen. Wenn du willst, werde ich noch heute mit dir nach Gretna Green fahren.“

„St. Aldric …“, brachte er mühsam heraus.

„Er bedeutet mir nichts.“ Sie legte eine Hand an seine Wange. „Nichts im Vergleich zu dir.“

Endlich erlahmte seine Widerstandskraft. Er nahm ihre Hand, drückte die Handfläche an seine Lippen. Sein Mund war heiß an ihrer Haut. Sogar heißer noch, als er ihre Hand losließ und sie an sich zog, um sie zu küssen.

Autor

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