Die skandalösen Träume der schönen Zofe

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„Ich suche eine gewisse Jane Bailey.“ Bei dem Anliegen des attraktiven Gentlemans lässt die junge Zofe erschrocken das Tablett fallen. Sie ist Jane Bailey! Erstaunt erfährt sie, dass Mr. Robert Kendal sie zu ihrem Großvater bringen soll, der bisher nichts von ihr wissen wollte. Fünf Tage teilt die Zofe mit dem charmanten Adligen eine Kutsche – und verliebt sich restlos. Roberts Küsse verraten seine leidenschaftlichen Gefühle und wecken in Jane skandalöse Träume! Aber kann die Himmelsmacht der Liebe jemals den tiefen Graben zwischen ihren Welten überbrücken?


  • Erscheinungstag 16.08.2022
  • Bandnummer 623
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511322
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Januar 1800, Duxford, Cambridgeshire

Dein Papa hat uns verlassen.“

„Was? Ich verstehe nicht.“ Noch während sie sprach, durchfuhren die Worte des Arztes sie wie ein gewaltiger Schlag. Einer dunklen Woge gleich schossen sie durch ihre Ohren in ihr ganzes Sein wie ein rasch wirkendes Gift. „Verlassen?“

Der Arzt schaute gequält. „Es tut mir sehr leid, Kleines. Ich habe mich so sehr bemüht, Mr. Bailey zu retten, aber das Fieber war zu hoch.“

Hinter ihm kam eine ältere Frau, seine Gehilfin, eine blutgefüllte Schale in Händen, aus dem Schlafzimmer.

Sie haben ihn zur Ader gelassen, und trotzdem ist er gestorben? Ihre stummen Worte drangen langsam in ihr Bewusstsein. Er ist tot. Papa ist tot.

„Das kann nicht sein!“ Ihre eigene Stimme klang ihr fremd. „Ich will zu Mama.“

Ehe der Arzt sie zurückhalten konnte, stürzte sie zur Tür, blieb aber auf der Schwelle abrupt stehen. Es war das Schlafgemach ihrer Eltern – immer war dort ihr sicherer Hafen gewesen, ihre Zuflucht. Wenn es ihr nicht gut ging oder sie schlecht geträumt hatte, erlaubten sie ihr manchmal, zu ihnen in das Ehebett zu krabbeln. Sich an Mama und Papa zu schmiegen war immer ihr höchstes Glück, auch wenn sie kürzlich ihren achten Geburtstag gefeiert und nun ein eigenes Zimmerchen ganz für sich hatte.

Sie starrte auf das Bett. Dort lag er, bleich und fremd und gar nicht mehr er selbst. „Papa?“

„Ach, Jane, mein Schatz!“ Mama erhob sich von dem harten Stuhl neben dem Bett. Ihre Augen waren rot von endlosen Tränen und Schlafmangel. „Er ist dahin. Papa hat uns verlassen.“

Sie sanken sich in die Arme und weinten lange Zeit miteinander. Still schloss der Arzt die Tür.

In den folgenden Tagen begriff Jane nach und nach, dass den Vater zu verlieren mehr mit sich brachte als nur unsäglichen Kummer. Ohne das, was ihr Vater als Gehilfe von Mr. Simmons – des besten Anwalts in dem Ort Duxford – verdiente, würden sie nicht imstande sein, weiterhin im Rose Cottage, ihrem gemieteten Häuschen, zu wohnen.

Jane war alt genug, um vage zu verstehen, wie manches zusammenhing.

„Aber, Mama, wo sollen wir leben? Und woher nehmen wir das Geld für Essen?“

„Still, Kind. Wir werden schon zurechtkommen.“

Trotzdem schaute Mama besorgt, als wäre sie sich nicht ganz sicher, wie sie denn zurechtkommen sollten.

Jane überlegte gründlich. „Was ist mit Papas Familie? Er sprach einmal mit mir von meinem Großvater und sagte, sie hätten sich zerstritten. Könnten wir nicht ihm schreiben? Vielleicht …“

„Das steht außer Frage!“ Mama sprach in scharfem Ton. „Die Familie deines Vaters wollte nichts mit ihm zu schaffen haben. Daran hat sich nichts geändert – in der Tat ist es nun, da dein Vater tot ist, eher noch unwahrscheinlicher. Dein Großvater war grausam zu ihm und unversöhnlich. Es gibt kein Zurück. Sprich nicht wieder davon.“

Jane schluckte schwer. „Ja, Mama.“

Mamas Miene wurde weich. „Als ich deinen Vater kennenlernte, habe ich in einem großen Haus als Dienstbotin gearbeitet – ich war sehr tüchtig. Ich werde eine Stellung finden, und wir werden hart arbeiten, damit wir es behaglich haben.“

Ohne Papa, dachte Jane, wird mir nie wieder behaglich sein.

1. KAPITEL

Januar 1815, Beechmount Hall, Yorkshire

Robert schritt den Korridor entlang zur Bibliothek seines Onkels. Ohne anzuklopfen, trat er ein, in Gedanken immer noch bei den Rechnungsbüchern, die er zusammen mit dem Gutsverwalter durchgesehen hatte. Der Besitz stand finanziell gut da, daher bot es sich vielleicht an, an der Wegstrecke neben dem östlichen Feld ein paar neue Cottages errichten zu lassen …

„Was hat dich aufgehalten?“, bellte der Onkel.

Bei diesem Ton regte sich sofort Roberts Widerstand. Doch er verkniff sich die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, und sagte nur: „Ich war beim Verwalter.“

„Wenn ich nach dir schicke, erwarte ich, dass du umgehend herkommst.“

Sein Onkel saß aufrecht wie ein Ladestock in seinem Sessel, seine blitzenden Augen sprachen den körperlichen Zeichen vorgerückten Alters Hohn. Sein Kammerdiener hatte ihm ein stützendes Kissen hinter den Rücken geschoben, und sein Gehstock lehnte in unmittelbarer Reichweite am Kaminsims. Neben ihm auf dem Tisch stand das Glas mit dem üblichen morgendlichen Brandy, daneben eine kleine Glocke. Auf die Lösung war sein Diener verfallen, weil es seinem Herrn nicht mehr so leichtfiel, bis zum Klingelzug zu gehen. Der Mann pflegte bei seiner Arbeit in Rufweite zu bleiben, bereit, bei jedem Bedürfnis zur Stelle zu sein.

Gut.

Robert setzte sich in den gegenüberstehenden Sessel und streckte die langen Beine vor sich aus. „Und hier bin ich.“ Er atmete tief ein und rief sich ins Gedächtnis, dass es zu nichts führte, mit seinem Onkel zu streiten.

„Pah! Hätschele mich nicht! Ich bin kein Kind!“

Das ignorierte Robert und fragte nur milde: „Warum hast du nach mir geschickt, Onkel?“

„Du musst etwas für mich erledigen.“ Der Onkel nahm ein paar Blatt Papier von seinen Knien auf. „Ich habe gerade eine interessante Nachricht bekommen, und ich muss … Aber nein, ich rede besser nicht darüber … Der Bericht ist gut verfasst, trotzdem kann ich mir nicht sicher sein – Nein, nicht, bis ich sie sehe …“

Robert wartete geduldig. In den letzten Monaten verlor sich sein Onkel immer öfter in seinen Gedanken, ohne dass das jedoch eine besänftigende Wirkung auf sein aufbrausendes, zänkisches Naturell gehabt hätte.

Der Onkel wandte sich wieder ihm zu und sah ihn an. „Im vergangenen Herbst nahm ich einen Agenten aus der Bow Steet in Dienst.“

Erstaunt hob Robert eine Braue. Wie bitte? Was in aller Welt führt er im Schilde?

„Hab ihn in bar bezahlt, damit du und dieser diensteifrige neue Verwalter es nicht herausbekommt.“ Der alte Mann kicherte ob seiner Raffinesse hämisch.

„Aber, Onkel, du kannst dein Geld ausgeben, wie es dir gefällt. Du bist hier der Herr.“ Er enthielt sich des Hinweises, dass der „neue“ Verwalter schon seit fast zehn Jahren hier war.

Für diese Frechheit traf ihn ein wütender Blick. „Dass du es aussprichst, ist der sicherste Beweis für das Gegenteil!“

Robert runzelte die Stirn. „Also, da tust du uns unrecht. Ich habe dir in den letzten Jahren einigen Ballast von den Schultern genommen, doch nur als deine Stütze, nicht, um deine Autorität zu untergraben.“

Der Onkel wischte die Worte mit einer Geste weg. „Nur keine Zweifel, das will ich alles nicht zurückhaben. Was kümmern mich jetzt die Arbeit des Verwalters oder die Pächter oder mein Vermögen? Meine Tage sind gezählt, und ich habe Besseres zu tun.“

„Unsinn! Du wirst uns alle überleben – nur um es uns zu zeigen!“

Das brachte ihm ein kurzes Lachen ein. „Trotzdem, da gibt es ein paar Dinge für mich zu tun.“ Er senkte den Blick auf die Papiere auf seinen Knien, ehe er Robert in die Augen sah. „Du musst mir jemanden herbringen. Einen Besuch.“

Robert war plötzlich hellwach. „Was für einen Besuch?“

„Ihr Name ist Miss Bailey – Jane Bailey – und du wirst sie wohl …“ Er zog den Bericht zu Rate. „In Ledbury House finden oder dort im Umkreis. Das liegt bei dem Dorf Netherton in Bedfordshire.“

„Bedfordshire! Warte – du willst, dass ich die ganze Strecke nach Bedfordshire und wieder zurück reise? Kannst du nicht einen Dienstboten schicken?“

„Genau das verlange ich! Und nein, du musst das machen“, sagte sein Onkel heftig nickend. Ein Ausdruck wie Durchtriebenheit huschte kurz über sein Gesicht.

„Wer ist die Frau?“

„Gute Frage. Ehrlich gesagt weiß ich es nicht genau … der Agent stieß auf sie … hält es für möglich … aber ich kann erst sicher sein, wenn ich sie sehe, sie einschätzen kann …“

Wovon redet er?

„Was dann kannst du mir sagen? Warum hast du einen Agenten der Bow Street beauftragt?“ Robert versuchte, die Sachlage zu verstehen.

Ist er jetzt verrückt geworden?

Der alte Mann überlegte einen Moment, dann nickte er wieder bekräftigend. „Eins kann ich sagen, ich will ihr nichts Böses. Alles andere – es ist besser, wenn du es nicht weißt. Sonst sagst du vielleicht etwas zu ihr, das die Lage nur noch verzwickter machen würde.“

Das ist unannehmbar!

„Dann kann ich nicht fahren. Du verlangst schließlich nicht von mir, ein paar Meilen nach Knaresborough oder Harrogate zu reisen. Du verlangst, dass ich eine Fahrt nach Bedfordshire und wieder zurück auf mich nehme – für jede Strecke vier oder fünf Tage. Ehe ich mich darauf einlasse, muss ich wissen, was dahintersteckt.“

„Du willst mit mir verhandeln, Junge? Was traust du dich!“ Wutentbrannt funkelte der Alte Robert mit Blicken wie Blitze an. „Du wirst es tun, weil ich es dir befehle!“

„Ach so?“ Robert ließ sich träge gegen die Sessellehne sinken. „Mir scheint, als wäre das meine Entscheidung, nicht deine.“ Von Zeit zu Zeit empfand Robert es als notwendig, seinem Onkel Kontra zu geben.

Mit zornrotem Gesicht stemmte der Ältere sich halb aus seinem Sessel hoch, die Hände um die Armlehnen gekrampft, sodass die Knöchel weiß hervorstachen. Die Papiere rutschten ihm vom Schoß und flatterten auf den üppig gemusterten Teppich. „Du …!“, rief er drohend, dann sank er kraftlos wieder zurück in seinen Sessel.

Nach einer kurzen Pause bückte Robert sich und sammelte die Blätter wieder auf. Er widerstand dem Drang, etwas zu lesen, dennoch erhaschte er zufällig einen Namen – Lord Kingswood. So weit er wusste, gab es keine Verbindung zwischen jenem Gentleman und seinem Onkel. Seine Neugier wuchs zusehends.

Während er dem Onkel die Unterlagen reichte, musterte er ihn. Der alte Mann wirkte irgendwie geschrumpft, gedrückt. Vielleicht hätte ich ihn nicht so reizen sollen.

„Robert!“ Mit einer klauengleichen Hand packte er die seine. „Es ist wichtig. Ich kann dir nicht sagen, warum – noch nicht jedenfalls.“ Er schluckte. „Es ist eine Bitte. Erfülle sie mir.“

Fünf Tage hin, fünf Tage zurück. Im Winter. Übernachtungen im Gasthaus, rumpelnde Kutschen und endlose Unannehmlichkeiten.

„Also gut“, hörte er sich sagen, „dann hole ich sie für dich her.“

Zwei Wochen später, Ledbury House, Netherton, Bedfordsire

Der Tag, der Janes Leben veränderte, begann wie jeder andere. Es war einer jener Vormittage früh im Februar, an dem sich das Wetter nicht entscheiden kann, ob es noch im Winter verharren oder schon dem Frühling entgegeneilen sollte. Der blassblaue Himmel reizte mit Versprechungen von Sonnenschein, doch der böige Wind redete warmen Schals und gemütlichen Kaminfeuern das Wort.

Als Kammermädchen von Lady Kingswood, vormals Marianne Ashington, oblag es Jane, die eventuellen Bedürfnisse ihrer Herrin vorherzusehen, und dazu gehörte auch die Einschätzung des Wetters. Vielleicht wünschte Miss Marianne im Garten zu flanieren oder Freunde zu besuchen, oder vielleicht begnügte sie sich damit, zu lesen oder sich mit einer Handarbeit zu beschäftigen. Folglich musste Jane beides bereitlegen, ein leichtes Tageskleid aus Seide, wie auch ein wärmeres Ausgehkostüm aus Wolle.

Üblicherweise verbrachte die Countess viel Zeit mit ihrem kleinen Sohn, was Janes Leben erschwerte, wenn klebrige Händchen Abdrücke oder verschüttete Speisen Flecke auf den feinen Gewändern ihrer Herrin hinterließen.

Trotzdem kann man dem kleinen John fast alles verzeihen, dachte Jane, sein engelhaftes Lächeln vor Augen.

„Guten Morgen, Mylady“, sagte sie munter, während sie, wie üblich, kurz nach neun das Gemach der Countess betrat.

Sie zog die schweren Vorhänge zurück und ließ die Strahlen der bleichen Wintersonne ins Zimmer strömen. Hinter ihr folgte eins der Küchenmädchen und begann, den Kamin zu säubern. Jane musterte ihre Herrin. Die Countess gähnte und reckte sich und murmelte einen schläfrigen Morgengruß.

„Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, Mylady.“ Jane übergab einem zweiten Mädchen das Nachtgeschirr, das damit verschwand. In diesem Haus kannte jeder seinen Platz und seine Aufgabe.

„Danke, sehr gut.“ Die Countess setzte sich vorsichtig auf. „Obwohl ich Gesellschaft hatte.“ Sie zeigte auf den kleinen zerzausten Kopf neben sich.

Der Earl hielt sich geschäftlich in London auf, also hatte Master John es sich in seines Vaters Abwesenheit anscheinend zur Aufgabe gemacht, seiner Mutter Gesellschaft zu leisten.

Jane lächelte. „Guten Morgen, Master John.“

Das Kind war wach und beäugte sie ernsthaft. In der nächsten Minute, wusste Jane, würde es aus dem Bett sein und wie ein Wirbelwind durch die Gegend sausen. Mit knapp zwei Jahren war er unzweifelhaft der Liebling des ganzen Hauses. Seine Eltern wie auch das Dienstpersonal vergötterten ihn, trotzdem lief er nicht Gefahr, verzogen zu werden, denn seine Mama war nicht übertrieben nachgiebig, ebenso wenig wie …

„Da bist du ja, mein Lämmchen!“ Die Kinderfrau kam geschäftig herein, ganz gestärkte Baumwolle und liebevolle Tüchtigkeit. Sie hob den kleinen John hoch und drückte ihn an ihren üppigen Busen. „Dann wollen wir rasch deine Windeln wechseln, Schätzchen.“

Die Countess sandte ihrem entschwindenden Sprössling ein nachsichtiges Lächeln hinterher, während sie mit einem gemurmelten Dank eine Tasse Tee aus Janes Händen entgegennahm.

„Möchten Sie heute Morgen baden?“, erkundigte Jane sich, da Miss Marianne es gestern erwähnt hatte.

Die Countess schüttelte sich ein wenig. „Später vielleicht, wenn es wärmer im Raum ist. Vorerst …“ Sie warf die Bettdecke zurück. „… stehe ich auf.“

Nachdem ihre Herrin sich gewaschen hatte, half Jane ihr in ein sauberes Hemd und, nach einer kurzen Diskussion, in ein warmes Ausgehkostüm aus feiner kastanienbrauner Merinowolle. Dann faltete sie das Nachthemd, das gewaschen werden musste, um es später mit hinunterzunehmen.

Inzwischen war das Hausmädchen zurückgekommen und zündete das Feuer im Kamin an.

Da nun die Kälte langsam aus dem Zimmer wich, setzte sich die Countess auf den Hocker vor dem Frisiertisch und ließ sich, während sie ihren Tee trank, von Jane das Haar richten.

Jane lächelte innerlich. Diese Stunde hatte sie immer besonders gern. Miss Marianne hatte langes, üppiges dunkles Haar, und Jane widmete sich der Aufgabe, es zu bürsten und zu frisieren, mit Hingabe. Seit beinahe zehn Jahren bediente sie Lady Kingswood – schon als diese noch schlicht Miss Marianne Grant gewesen war und Jane, damals erst dreizehn, ihr als ihre persönliche Bedienung zugeteilt wurde. Deshalb nannte Jane sie im Stillen – und manchmal auch laut – immer noch Miss Marianne.

Bis zum Tod ihres Vaters hatte Jane sorglos in den Tag gelebt, danach hatte sie sich recht schnell daran gewöhnen müssen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das erste Jahr war besonders peinvoll. Nachdem Mamas magere Ersparnisse verbraucht waren, musste sie mit ihrer Tochter ihr kleines Cottage verlassen und sich vorübergehend Arbeit in verschiedenen Gasthöfen suchen. In jenem Winter hatten sie immer wieder zu wenig zu essen, und ihre Kleider nutzten sich zusehends ab. Im Sommer darauf fand Mama zum Glück eine Stellung in Miss Mariannes Familie und stieg schließlich zu der gehobenen Position der Haushälterin auf.

Auch Jane machte sich dort gut. Zuerst als Küchenmädchen angestellt, wurde sie bald aufgrund ihrer Wohlerzogenheit erst zum Hausmädchen in der Herrschaftsetage befördert, dann mit dreizehn Jahren bekam sie die Gelegenheit, als Miss Mariannes Zofe angelernt zu werden, und war seitdem ihrer Herrin von Jahr zu Jahr treulicher ergeben.

Als dann vor nicht langer Zeit Miss Marianne heiratete, folgten Jane und ihre Mama der jungen Frau nach Ledbury House, wo Mama nun Haushälterin war. Abgesehen von ein paar dunklen Monaten der Trennung war Miss Marianne seit Janes dreizehntem Jahr ihr Lebensmittelpunkt.

„Nun, Jane, heute dann ein bisschen Französisch, denke ich.“

„Ja, Miss M… äh, Mylady.“

Nachdem Miss Marianne entdeckt hatte, dass Jane bis zum Tode des Vaters als Tochter eines Gentlemans erzogen worden war, beschloss sie, die Ausbildung des Mädchens fortzuführen. Im Laufe der Jahre erwarb Jane auf diese Weise beachtliche Kenntnisse in Französisch, Deutsch und Italienisch, außerdem Einblicke in Geschichte und Philosophie. Dafür kam der Countess ihr natürliches Talent zu lehren zugute, denn sie hatte als Gouvernante gearbeitet, als sie nach dem Tode ihrer Eltern ihr Zuhause verlassen musste.

In Erinnerung an jene böse Zeit furchte Jane die Stirn. Miss Marianne lebte damals bei ihrem Stiefbruder Henry Grant. Dieser Mann hatte sie unsittlich bedrängt, sodass sie beschloss, ihr Zuhause mitten in finsterster Nacht zu verlassen. Zwei Monate später sahen Jane und ihre Mutter sich gezwungen, es ihr gleichzutun, da jener Master Henry versucht hatte, Jane zu vergewaltigen.

Jane überlief es kalt. Denk nicht daran!

Gott sei Dank war dieses Scheusal vor vier Jahren gestorben, sodass Marianne endlich frei gewesen war, den Mann, dem ihre Liebe gehörte, zu heiraten und außerdem Jane und ihrer Mutter Sicherheit zu bieten, indem sie sie in Dienst nahm.

Er kann uns nie mehr schaden, rief Jane sich ins Gedächtnis, während sie auf Miss Mariannes französische Konversation einging.

Und dennoch war Master Henry stets bei ihr, lauerte wie ein finsterer Schatten in ihrer Seele. Verlachte sie.

Hier in Ledbury House sind wir in Sicherheit.

Nur wie lange wohl? Seit jenem Tag, da das Fieber ihren Papa dahingerafft hatte, fühlte Jane sich, als stünde sie stets am Rande eines Abgrunds. Hunger und Ungewissheit hatten sich während jenes in Kargheit und Heimatlosigkeit verbrachten Trauerjahrs tief in ihr eingenistet. Zusammen mit ihrem Papa war noch viel mehr dahingegangen – Rose Cottage, regelmäßige Einkünfte, das tägliche Brot, warme Kleidung …

Doch Jane und ihre Mutter hatten gearbeitet und sich abgemüht, mehr als die anderen Dienstboten im Haushalt, und ihr Eifer war durch langfristige Anstellungen belohnt worden. Nach ein paar Jahren hatte Jane sich langsam etabliert gefühlt und geglaubt, ein neues Zuhause gefunden zu haben, als erneut alles ins Wanken geraten war. Ihre Dienstherrschaft kam bei einem schrecklichen Wagenunfall zu Tode, wodurch Miss Marianne verwaiste und in die Obhut ihres Stiefbruders kam.

Wieder war Jane das Zuhause, das sie lieben gelernt hatte, genommen worden; durch die üblen Absichten Master Henrys war es kein Ort mehr, an dem man sicher leben konnte. Aufs Neue sahen sie und ihre Mutter sich heimatlos und mussten von vorn beginnen.

Allerdings waren sie dann Miss Marianne nach Ledbury House gefolgt, wo sie nun seit beinahe fünf Jahren lebten.

Trotzdem fühlte Jane sich tief innerlich nicht völlig beruhigt. Stets war ihr, als lauerte irgendein Unglück, durch das sie abermals ihr Zuhause verlieren würde. Ihr Leben schien immerzu von den Launen anderer abzuhängen, und sie würde nie selbst Herrin über ihr Schicksal sein können, glaubte sie. Die Erinnerungen an Armut und Heimatlosigkeit lagen in ihr begraben und drängten von Zeit zu Zeit ans Licht, sodass sie von Ängsten übermannt wurde.

Als sie mit Mama über ihren Kummer sprach, hatte die das nicht verstehen können. „Aber hier bei Lady Kingswood sind wir in Sicherheit! Solange sie mit uns zufrieden ist, haben wir keinen Grund zur Sorge.“

„Aber wenn sie krank wird oder … oder stirbt? Wenn ein Unglück geschieht und Lord Kingswood sein Vermögen verliert? Wenn …“

„Ach, Jane, lass deine Fantasie nicht mit dir durchgehen! Ist dir denn die Vernunft ganz abhandengekommen? Warum sollte so etwas geschehen? Nun lass die Hirngespinste und denke lieber daran, wie du Miss Marianne stets zufriedenstellen kannst.“

Was Mama sagte, war vernünftig. Ich weiß doch, wie eng die Beziehung zwischen meiner Herrin und mir ist. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir gar nicht vorstellen, ihr derart zu missfallen, dass sie mich fortschicken würde. Doch es gab so viele Möglichkeiten, erneut ihr Heim zu verlieren! Sie konnte diese Furcht einfach nicht abschütteln.

Doch vorerst würde sie tun, was sie immer getan hatte – eifrig arbeiten und hoffen, so lange wie möglich bleiben zu können.

Nachdem sie den Hausmädchen aufgetragen hatte, Miss Mariannes Bett zu machen, nahm sie das Nachthemd und eilte leichtfüßig die Treppe hinunter. Einzig sie selbst, hatte sie verfügt, durfte sich um Myladys Garderobe kümmern. Um sicherzustellen, dass deren Wünschen genau entsprochen wurde, wusch und bügelte Jane alles eigenhändig und setzte es auch instand.

Auch beriet sie ihre junge Herrin in Modefragen und brütete über den Modekupfern in den Modezeitschriften der Countess, ohne sich je eine solche Eleganz für sich selbst zu wünschen. Die Beziehung zwischen ihr und Miss Marianne war ungewöhnlich – wären ihre gesellschaftlichen Stellungen nicht derart unterschiedlich gewesen, hätte sie sie vielleicht sogar als Freundin bezeichnet. Miss Marianne war die Güte in Person und behandelte Jane mit größerer Herzlichkeit und weniger Strenge, als sie sollte.

Manchmal schenkte die Countess ihr eines ihrer abgelegten Kleider; dann trennte Jane die Spitzen- und Rüschenbesätze ab, ehe sie es anzog, mochte ihre Herrin auch noch so sehr dagegen protestieren. Vermutlich suchte sie nach Möglichkeiten, nett zu sein, doch Jane selbst hielt sich an die Mahnungen ihrer Mutter, die zu sagen pflegte: „Jane, du gehörst nun zum dienenden Stand. Vergiss das nie.“

Und als Zofe und Hausangestellte sollte sie stets ordentlich, aber schlicht und schmucklos gekleidet und frisiert sein.

Doch ihr blieb die Freude, Miss Marianne gut ausgestattet zu sehen und sich der bestickten Seidenkleider und zarten spitzenbesetzten Roben und entzückenden Hüte annehmen zu dürfen.

In den Jahren ihrer späten Kindheit, als sie in den Dienstbotenquartieren im Domizil der Familie Miss Mariannes gelebt hatte, hätte sie nicht im Traum daran gedacht, einmal zu der erhabenen Stellung einer Zofe aufzusteigen. Und doch war sie es nun. Die anderen Dienstboten behandelten sie respektvoll; sie teilte sich mit ihrer Mutter eine eigene kleine Suite mit Schlaf- und Wohngemach; sie hatte ein sicheres Einkommen und sogar eine Zuwendung für Tee und außerdem die süßeste, gütigste Herrin, die eine Bedienstete sich nur wünschen konnte. Das alles ließ ihre Ängste nur noch absurder erscheinen.

Meine Lage ist gut, rief sie sich zum hundertsten Mal ins Gedächtnis, wie viele Dienstboten haben die Möglichkeiten, die Miss Marianne mir einräumt?

Wie einst Janes Papa waren auch Miss Mariannes Eltern nicht der Ansicht gewesen, dass der Geist einer Lady nicht imstande zu gelehrten Studien wäre, und hatten daher ihrer Tochter eine ausgezeichnete Bildung angedeihen lassen, und vieles davon hatte sie ihrer Zofe vermittelt.

Jane ging hinunter in die Spül-und Waschküche, wo sie während der folgenden halben Stunde außer dem Nachthemd noch einige andere feine Wäschestücke wusch. Durch das ständige Hantieren in der scharfen Seifenlauge waren ihre Hände rot und aufgesprungen. Ja, sie wusste, sie hätte die Wäscherin bitten können, die die Aufgabe gerne übernommen hätte, doch Jane war nicht bereit, die Pflege von Miss Mariannes Kleidung jemand anderem zu überlassen.

Während der Arbeit sang sie leise vor sich hin, sich sehr bewusst, dass sie eine Aufgabe und ihr Leben einen Sinn hatte. Heute schienen ihre schlimmsten Befürchtungen weit, weit weg zu sein, und die ängstliche Stimme in ihrem Innern schwieg. Ausnahmsweise.

„Also wirklich, Jane, ich habe nie eine lieblichere Singstimme als deine gehört!“ Mama beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Jane lachte. „Das sagst du immer, Mama, und ich antworte jedes Mal das Gleiche: Dein Ohr ist meiner Stimme wohlgesinnt, weil ich deine Tochter bin. Oh, ich sehe, du bist zum Ausgehen gekleidet. Soll ich irgendetwas für dich erledigen, während du fort bist?“

„Eigentlich nicht“, erwiderte Mrs. Bailey, während sie die Bänder ihrer schlichten Schute unter dem Kinn zu einer Schleife band. „Thomas bringt mich ins Dorf. Ich muss mit dem Fleischer sprechen. Oben ist alles ruhig, und Mrs. Cullen ist auch zufriedengestellt, da habe ich nun Gelegenheit, für eine Stunde auszugehen. Ich habe allen gesagt, dass du in meiner Abwesenheit zuständig bist.“

„Gut, Mama.“ Als Haushälterin ging Mrs. Bailey selten aus dem Haus, doch wenn es vorkam, galt Jane als ihre Vertretung. „Aber es wird schon nichts passieren.“

Jane widmete sich wieder ihrer Arbeit und Herrn Händels Arie.

Endlich fertig, ging sie durch die Küchentür ins Freie und hängte die nasse Wäsche zum Trocknen auf. Später würde sie die noch ein wenig feuchten Teile zum Bügeln ins Haus holen. Bis zum Abend sollte alles wieder frisch sein.

Sie verharrte einen Moment und genoss die Strahlen der blassen Wintersonne auf ihrem Gesicht.

Hier in Ledbury House war sie zufrieden, wurde ihr klar.

Jäh kam der scharfe Wind wieder auf, sodass sie hastig ins Haus eilte zu ihrer Näharbeit.

2. KAPITEL

Bumm! Bumm! Ein unaufhörliches Hämmern an der Tür drang endlich in Roberts Schlummer. Er ächzte und biss die Zähne zusammen. Sein Zimmer in dem Gasthof lag direkt über dem Schankraum, und er hatte, glaubte er, noch nie derart schlecht geschlafen wie in dieser Nacht.

Bis in die frühen Morgenstunden hatte er sich in dem schmalen Bett hin- und hergewälzt und dem lauten Geschwätz und Gelächter von, wie ihm schien, hundert in der Gegend ansässigen Bauern und Kaufleuten lauschen müssen, samt immer wieder aufklingender Gesänge. Endlich hatte der Lärm nachgelassen, und nun, nur wenige Augenblicke später – wie es ihm vorkam – tauchte der Wirt auf und peinigte ihn aufs Neue.

„Mr. Kendal? Mr. Kendal, Sir? Ich sollte Sie wecken, hatten Sie gesagt!“

„Schon gut!“ Robert stöhnte. „Ich bin wach!“

Zum Glück genügte das, um den Mann loszuwerden. Robert lag da und bedachte seine Situation. Vor fünf Tagen war er von Beechmount Hall aufgebrochen, und inzwischen war er so durchgeschüttelt worden, dass er sich fühlte, als säße er immer noch in der schwankenden Kutsche. Fünf Tage auf endlosen Straßen, praktisch gefangen im Wageninneren. Fünf Nächte in höchst unterschiedlich ausgestatteten Gasthöfen. Fünf Tage nur in der eigenen mürrischen Gesellschaft.

Heute würde er seinen Bestimmungsort erreichen – endlich! Er lag nur wenige Meilen von hier entfernt. Dessen Name war, wie alles andere dieser unerwarteten und unerwünschten Aufgabe, inzwischen fest in sein Hirn eingebrannt: Ledbury House.

In der Spülküche war das Chaos ausgebrochen. Eines der Stubenmädchen hatte sich heftig den Kopf gestoßen, und die Wunde blutete stark. Die beiden anderen Mädchen hüpften um ihre Freundin herum wie aufgescheuchte Hennen und machten eine Tragödie aus dem Unfall, der für Jane wie eine ganz gewöhnliche kleine Verletzung aussah.

„Kein Grund zur Aufregung“, sagte sie ein wenig streng, den festen Ton ihrer Mutter nachahmend. „Lasst mich sehen, ich kümmere mich darum.“

Trotzdem schrien die Mädchen Ach und Weh und versuchten, mit Handtüchern und feuchten Lappen das Gesicht ihrer Freundin zu reinigen, wobei sie überall Blutspritzer und Wasserflecken verteilten.

Jane, die in solchen Lagen notorisch ruhig blieb, drückte ein Tuch auf die Wunde, um die Blutung zu stillen. „Halt das fest!“, befahl sie.

„Herrgott, was ist denn hier los?“ Das war Mrs. Cullen, die Köchin, die, ein Tablett in Händen, hereinkam.

Die drei Mädchen wollten alle gleichzeitig erklären und redeten in schrillem Diskant und wenig deutlich durcheinander.

„Es reicht! Wer bringt nun Miss Marianne und ihrem Gast den Tee?“

Alle wussten, dass die Countess einen unerwarteten Besucher empfangen und Tee und Erfrischungen bestellt hatte.

„Ich!“

„Nein, ich!“

Verwundert runzelte Jane die Stirn. Normalerweise waren die Mädchen nicht so eifrig auf Arbeit bedacht.

Irgendetwas stimmt hier nicht.

Sie beschloss einzugreifen. „Ihr könnt beide nicht servieren, ihr habt Blut an euren Kleidern.“

Das stimmte. Missmutig betrachteten die beiden die Flecken.

Zum Glück hatte Jane nichts davon abbekommen. „Ich bringe den Tee selbst hinauf.“ Verwundert über die sichtliche Enttäuschung der Stubenmädchen nahm sie der Köchin das Tablett ab.

„Aber …“ Sarah, die dreistere der beiden, sah aus, als wollte sie Jane widersprechen. „Ja, Sarah? Was möchtest du sagen?“ Jane brachte eine recht gute Nachahmung des stählernen Blicks ihrer Mutter zustande, was die gewünschte Wirkung hatte. Sarah gab auf, wenn auch mit ziemlich störrischer Miene.

„Jane, Sie werden anschließend noch das Gebäck holen müssen“, erklärte die Köchin.

„Gewiss.“

Die Augen fest auf das Tablett geheftet, das mit den nötigen Zutaten für den Teetisch beladen war, erklomm Jane vorsichtig die hintere Treppe und stieß die Tür zum Korridor auf. Ein Lakai öffnete ihr die Türen zum Salon, und sie trat ein.

Abschätzend musterte Robert den Salon in Ledbury House – ein behaglicher, stilvoll eingerichteter Raum mit kostbaren Wandbehängen. Die Gastgeberin Lady Kingswood hatte ihn willkommen geheißen und ihm Erfrischungen angeboten. Sie war eine elegante, gut aussehende junge Frau, anscheinend einige Jahre jünger als er selbst. Immer noch hielt sie seine Karte in ihrer zarten Hand und wirkte ein wenig ratlos.

Was nur verständlich war. Immerhin wusste nicht einmal Robert selbst, warum er hier war.

„Ihr Gemahl Lord Kingswood ist nicht anwesend?“

„Nein.“

„Ah, ja …“ Sein Unbehagen vertiefte sich. Er hatte gehofft, mit dem Earl sprechen zu können. „Darf ich fragen, Lady Kindswood, ob Sie mit meinem Onkel …“ Er verbesserte sich. „… mit Mr. Millthorpe aus Arkendale bekannt sind? Es liegt im West Riding in Yorkshire.“

Sie runzelte die Stirn. „Nein, der Name sagt mir nichts. Meine Familie stammt aus Cambridgeshire.“

„Hat vielleicht Ihr Gemahl Verbindungen nach Yorkshire?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Seltsam …“ Er schüttelte dem Kopf. „Mehr als seltsam.“

Sie wartete geduldig.

„Verzeihung, Lady Kingswood. Zweifellos fragen Sie sich, warum ich hier bin.“ Ihre verwirrte Miene bestätigte das. „Lassen Sie mich erklären. Ich …“

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und ein Hausmädchen kam herein. Leicht verärgert enthielt Robert sich der folgenden Worte und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf die Sessellehne, während das Mädchen ihr Tablett neben ihrer Herrin auf einem kleinen Tisch abstellte und die Teeutensilien darauf anrichtete. Es schien ihm eine Ewigkeit zu dauern.

„Mussten Sie heute weit reisen, Mr. Kendal?“, fragte Lady Kingswood, um das Schweigen mit einer unbefangenen Frage zu füllen.

„Ich blieb über Nacht in einem Gasthof in Netherton“, antwortete er.

„Ein ganz ausgezeichnetes Haus, nicht wahr?“

„In der Tat“, log er, den grölenden bäuerlichen Chor der vergangenen Nacht aus seinem Gedächtnis verbannend. Gerechterweise musste er sagen, es war eine reinliche Unterkunft, und das am Morgen servierte herzhafte Frühstück hatte ihn ein wenig besänftigt.

Er nahm den Tee in der Tasse aus hauchfeinem Porzellan entgegen. Gott sei Dank war das Hausmädchen mit ein paar gemurmelten Worten an ihre Herrin hinausgegangen.

Lady Kingswood betrachtete ihn interessiert. „Sie wollten mir sagen, was Sie nach Ledbury House führt.“

Er setzte die Tasse ab. „Ganz recht.“

Wie soll ich anfangen? Auch sie hat offenbar keine Ahnung, worum es hier geht.

„Wenn Sie mich freundlicherweise anhören wollen, werde ich ein wenig mehr in die Tiefe gehen“, sagte er.

Sie ergriff ihre Tasse und trank einen Schluck Tee. „Ich versichere Ihnen, ich bin ganz Ohr, Mr. Kendal.“

Jane schmunzelte vor sich hin, als sie leichtfüßig die Treppe hinabeilte. Nun, dieses Geheimnis war gelüftet. Wer immer Miss Mariannes Besucher war, er war der ansehnlichste Mann, den Jane seit Langem gesehen hatte. Kein Wunder, dass die Hausmädchen so aufgeregt waren. Sie mussten ihn bei seiner Ankunft gesehen haben.

Man hielt Lord Kingswood allgemein für gut aussehend, und Jane war ganz begeistert gewesen, als ihre geliebte Herrin einen Mann gewählt hatte, der nicht nur Charakter hatte, sondern auch ein ansprechendes Äußeres. Doch dieser Mann hier, wer er auch sein mochte, stellte Seine Lordschaft entschieden in den Schatten.

Durchdringende graue Augen unter hoch gewölbten Brauen, perfekte Züge, hohe Wangenknochen und üppiges dunkles Haar verbanden sich zu einem Antlitz, das die großen Meister gewiss auf ihre Leinwand hätten bannen wollen.

Und er war Zoll für Zoll ein Gentleman, hatte Jane mit einem raschen Blick bemerkt. Lange muskulöse Beine, in helles Wildleder gehüllt, und dazu glänzend polierte Stiefel. Wie Jane mit Kennerblick gesehen hatte, stammte der elegante Rock, nach Schnitt und Stil zu urteilen, von dem meisterhaften Schneider Weston und brachte die sehnige Gestalt mit den breiten Schultern hervorragend zur Geltung. Ja, in der Tat ein ungemein attraktiver Mann – auf den die Hausmädchen zweifellos ein Auge geworfen hatten.

Jane fragte sich beiläufig, wer er war und in welcher Angelegenheit er nach Ledbury House gekommen war. Vielleicht wollte er um Lady Cecily freien? Das Mündel des Earls war nun siebzehn und dachte möglicherweise an Heirat.

„Tststs“, machte sie tadelnd. Ein Dienstbote sollte nie über Derartiges spekulieren. Es könnte, wie Mama sie wiederholt ermahnt hatte, zu Klatsch und Tratsch führen, und das galt es stets zu vermeiden. Außerdem sollte ich mir in meinem Stand nicht gestatten, mich zu einem männlichen Besucher hingezogen zu fühlen.

Aber genau so war es! Er hatte sie natürlich nicht bemerkt – und warum sollte er auch? Dennoch waren Janes Sinne bei dem Anblick des mysteriösen jungen Mannes einen Moment ziemlich in Unordnung geraten. Was sie von Master Henry hatte erleiden müssen, hatte zur Folge, dass sie Männern, soweit möglich, aus dem Weg ging. Doch sie war keine Nonne und wusste ein schönes Gesicht und einen gestählten männlichen Körper ebenso zu schätzen wie jedes andere Mädchen.

Nimm dich zusammen, schalt sie sich, er ist nichts für dich.

Fünf Minuten später war sie auf dem Weg zurück zum Salon, dieses Mal mit einer Auswahl verlockender Kuchen und Törtchen. Als sie eintrat, spürte sie sofort die veränderte Atmosphäre. Miss Marianne saß vorgebeugt, völlig gefesselt von dem, was der Gast sagte. Beide schienen Janes Auftauchen nicht einmal zu bemerken.

Geräuschlos und so dezent wie möglich schritt Jane zu dem Tisch neben Miss Marianne, in der Absicht, die Köstlichkeiten abzustellen und sich dann ohne weitere Störung zu entfernen, wie es einer gut geschulten Dienstbotin anstand.

„Und er gab Ihnen keinen Hinweis, warum Sie sie abholen sollen?“, fragte die Countess mit erstauntem Blick.

Der Gentleman breitet die Hände aus. „Nicht den kleinsten. Ich hoffte, Sie könnten ein wenig Licht ins Dunkel bringen, Mylady.“

Sie schüttelte den Kopf. „Es klingt alles höchst eigentümlich, Mr. Kendal. Aber können Sie mir den Namen der Frau sagen, die zu suchen man Sie herschickte?“

„Gewiss. Ihr Name ist Jane Bailey.“

3. KAPITEL

Ein Krachen! Tablett, Teller, Törtchen und Gebäck samt Besteck landeten scheppernd und klirrend weit verstreut am Boden. Jane verstand einfach nicht, warum der Besucher ihren Namen genannt hatte, doch im Augenblick war ihre Aufmerksamkeit völlig von dem schrecklichen Durcheinander gefesselt, das nun Miss Mariannes prächtigen Teppich verunzierte.

Zur Rolle eines dienstbaren Geistes gehörte es, unauffällig und unaufdringlich zu sein. Nie gesehen zu werden, außer eine Standesperson wandte sich an einen. Seit sie als Küchenmädchen angelernt worden war, hatte man ihr zu verstehen gegeben, dass, was ihr gerade passiert war, der schlimmste Fehler war, den man je machen konnte.

„Es tut mir so leid, Mylady“, murmelte sie und bückte sich, um alles aufzusammeln. Einer der kostbaren Teller aus Worcester-Porzellan war zerbrochen. Jane konnte sich kaum vorstellen, wie teuer das hauchzarte Gebilde gewesen war. Wenn einem der anderen Mädchen dieses Unglück widerfahren wäre, hätte es einen ordentlichen Rüffel bekommen, wenn nicht von Mrs. Bailey gar eine Ohrfeige.

Nur weil zufällig ihre Mutter die Haushälterin war, entließ das Jane nicht aus dieser Bestrafung. Was würde der Gentleman von ihr denken? Und von Ledbury House.

Derweilen murmelte Lady Kingswood ein paar beruhigende Worte und läutete nach einem zweiten Hausmädchen, das auch kurz darauf erschien – Sarah, an deren Ärmel immer noch ein paar verwischte Blutflecke zu sehen waren.

Jane ächzte stumm. Natürlich, wer sonst als Sarah!

Zusammen beseitigten sie rasch die verstreuten Gebäckstücke samt Scherben und Besteck, während Lady Kingswood und ihr Gast gestelzte, hohle Konversation machten.

Wären wir doch nur schon fertig! Ich halte es nicht länger hier aus! flehte Jane innerlich.

Miss Marianne würde sie für plump und ungeschickt halten. Und was, wenn sie so unzufrieden mit ihr war, dass sie Jane zur Arbeit im Dienstbotengeschoss verbannte?

Ihr Verstand sagte ihr ganz klar, dass das weder vernünftig noch wahrscheinlich war, doch ihr ständig von Ängsten geplagtes Ich war im Augenblick nicht imstande, logische Schlussfolgerungen zu ziehen.

Glücklicherweise waren sie bald so weit. Jane wollte später noch einmal zurückkommen und die Krümel auffegen, doch vorerst war zumindest das offensichtliche Malheur beseitigt. Jane richtete sich auf, knickste und ging Seite an Seite mit Sarah hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.

Während sie schweigend die hintere Treppe hinunterstiegen, konnte sie Sarahs Schadenfreude über das Missgeschick geradezu fühlen.

Oh ja, Jane war sich sehr wohl bewusst, dass die anderen Dienstboten glaubten, sie halte sich für etwas Besseres, doch das stimmte nicht – nicht in dem Sinne. Da sie Bildung und eine gute Erziehung genossen hatte, die Stellung einer Zofe innehatte und außerdem die Tochter der Haushälterin war, bedeutete das für sie, dass sie zu den Mädchen ihres eigenen Alters nie ein freundschaftliches Verhältnis hatte aufbauen können. Doch sie betrachtete sich nicht als über ihnen stehend. Sie hatte doch heute sogar den Tee serviert, um behilflich zu sein.

Es lag eher an etwas anderem: An den Gesprächen der Mädchen fand sie keinen Gefallen; sie kreisten hauptsächlich um dörfliche Skandale und familiären Tratsch – und sie waren besessen davon, mit jedem passenden Burschen des Landstrichs zu schäkern.

Und bei Vorfällen wie diesem heute bezahle ich dafür.

Sarah war sichtlich entzückt, dass Jane ein solch spektakuläres Missgeschick passiert war, nachdem sie zuvor den beiden anderen Hausmädchen das Vergnügen verdorben hatte, den hübschen Gentleman zu bedienen.

In eisernem Schweigen schritt Jane zur Küche.

Robert fühlte sich zunehmend unwohler. Da er wegen dieser wirren Mission, auf die sein Onkel ihn ausgesandt hatte, sowieso schon ein gewisses Unbehagen empfand, war dieses Gefühl noch gesteigert worden, als er erfuhr, dass Lord Kingswood abwesend war.

Von seiner Mutter und seiner Tante abgesehen – und der gelegentlichen Gesellschaft einer Geliebten oder eines leichtlebigen Mädchens – fand er sich nicht oft in Gegenwart von Frauen und hatte keine Vorstellung, wie er schalkhaften Bemerkungen, Flirtversuchen und affektiertem Betragen begegnen sollte, wie er es von den jungen Damen seiner Bekanntschaft gewohnt war.

Dankenswerterweise hatte Lady Kingswood bisher kein derartiges Verhalten gezeigt, und er hatte zu hoffen gewagt, dass er ihr seine ein wenig heikle Geschichte vermitteln könnte, ohne wie ein kompletter Narr dazustehen.

Bis das Hausmädchen völlig grundlos gestolpert war und Gebäck und Teller im Zimmer verstreut hatte.

Er hatte sie, die mit hochroten Wangen am Boden kauerte, angesehen und geistesabwesend ihre Verlegenheit wahrgenommen. Merkwürdig, es hatte ihn ein wenig erleichtert zu wissen, dass jemand hier noch aufgeregter war als er selbst.

Sie war sehr hübsch, hatte er bemerkt, ein Gedanke, der ihn selbst überraschte.

Ein zweites Mädchen war gekommen, um zu helfen, und das hatte ihm sofort aus den Augenwinkeln einen kecken Blick zugeworfen.

Robert hatte fortgeschaut.

„Ich hoffe doch, Ihr Kutscher wird gut versorgt“, meinte Lady Kingswood höflich, nachdem sie den beiden Mädchen gedämpft ein paar besänftigende Worte gesagt hatte.

„Ihr Stallknecht kam uns schon entgegen“, bestätigte er. „Zweifellos reden die beiden gerade miteinander über Pferde und heilende Kleieumschläge und Ähnliches.“

Sie lächelte. „Stallknechte und Kutscher sprechen die gleiche Sprache. Sie reiten natürlich?“

„Ja.“ Sehnsüchtig rief er sich die grünen Hügel rings um Beechmount Hall vor Augen. „Ich habe das Glück, in einer der schönsten Gegenden Englands zu leben.“

„Mein Gemahl ist ein sehr geübter Reiter.“ Lady Kingswood verbarg ihren Stolz darüber nicht. „Wie schade, dass er heute nicht hier ist.“

„So ist es.“

Erneut trat einen Moment Schweigen ein.

Gott sei Dank waren die Mädchen mit ihrer Arbeit fertig und entfernten sich, wobei das zweite abermals versuchte, Roberts Blick zu erhaschen.

Fest, und wie es die Höflichkeit gebot, schaute er jedoch nur seine Gastgeberin an.

Dann schloss sich die Tür hinter den beiden, und sofort änderte sich Lady Kingswoods Haltung. Sie legte die Hände wie bittend gegeneinander, und ihre Augen verengten sich. „Ich muss Ihnen sagen, Mr. Kendal“, erklärte sie, „Miss Bailey liegt mir sehr am Herzen, und ich würde nicht wollen, dass sie in etwas Unappetitliches verwickelt wird oder in etwas, das ihr schaden könnte.“

„Dann gibt es sie, und Sie kennen Sie!“ Als er ihre verdutzte Miene sah, erläuterte er hastig: „Mein Onkel – das heißt, Mr. Millthorpe – machte sehr klar, dass er mit Miss Bailey zu reden wünscht und dass sie keine Angst zu haben braucht. Ich denke“, fügte er nachdenklich hinzu, „dass er mich persönlich zu Ihnen geschickt hat, um, was das angeht, Miss Bailey und die, die ihre Nächsten sind, zu beruhigen.“

„Und Sie wissen, warum er mit ihr sprechen möchte?“ Lady Kingswood zog eindeutig kritisch die Brauen zusammen.

„Nein – zumindest nicht mit Sicherheit. Ich gestehe, bis zu diesem Augenblick war ich nicht einmal von der Existenz einer Miss Bailey überzeugt, noch davon, dass ich sie finden würde. Mein Onkel ist nicht mehr jung und nicht mehr völlig im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte. Übrigens handelt es sich hier entschieden nicht um einen letzten Wunsch auf dem Sterbebett – denn er erfreut sich verhältnismäßig guter Gesundheit – doch er machte deutlich, dass er Miss Bailey treffen möchte, ehe er diese Welt verlässt.“

Die Worte lösten eine Reaktion bei der Countess aus – ein leichtes Aufblitzen ihrer Augen. Eine Erkenntnis? Ein Erinnern? Doch das verging so rasch, dass er es sich auch nur eingebildet haben mochte.

Er räusperte sich höflich. „Mr. Millthorpe ist alt und, sagen wir, exzentrisch und macht mich gern seinen Wünschen gefügig.“ Er verzog das Gesicht. „Nein, das hört sich nicht nett an. Ich hege nämlich große Zuneigung zu ihm. Aber ich gestehe, dass es ihm, obwohl wir die meiste Zeit meines Lebens unter dem gleichen Dach wohnen, immer noch gelegentlich gelingt, mich zu überraschen.“

Lady Kingswood nickte höflich, glaubte aber offensichtlich, sich dazu zu äußern wäre taktlos,

„Also dürfte ich mich“, fuhr er fort, sich ein wenig vorbeugend, „näher nach Miss Jane Bailey erkundigen? Lebt sie in der Nähe? Könnten Sie mir vielleicht ihre Adresse nennen? Zugegeben, sie weckt meine Neugier. Ist sie wohl eine Frau in mittleren Jahren?“

Die Countess legte den Kopf schräg. „Ich werde die Angelegenheit überdenken, Mr. Kendal. Aber sagen Sie doch: Was brachte Sie zu der Annahme, Sie könnten hier in Ledbury House etwas über sie erfahren?“

Das war entschieden eine Abfuhr. Nun hatte er die ganze Strecke zurückgelegt und drohte jetzt zu scheitern! Er würde mit Lady Kingswood behutsam umgehen müssen. Wenn sie ihn abwies, würde er zwangsläufig unverrichteter Dinge nach Yorkshire zurückkehren müssen.

„Ah, das wenigstes weiß ich. Mein Onkel beauftragte, wie er mir sagte, einen Agenten der Bow Street, um den Aufenthaltsort Miss Baileys herauszufinden. Er war sehr stolz auf sein Vorgehen, wenn er sich auch weigerte, seine Beweggründe zu erläutern.“

„Ein Bow-Street-Runner!“ Verwirrt schüttelte sie den Kopf. „Mr. Kendal, ich will offen zu Ihnen sein. Ich habe Sie nie zuvor gesehen und bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen die Informationen anvertrauen kann, die Sie suchen. Sie haben mir gesagt, dass Ihre Aufgabe nicht nur lautet, mit Miss Baily zu sprechen oder ihr eine Nachricht zu überbringen. Sondern Sie wollen sie mehr als hundert Meilen fortbringen, ins wilde Yorkshire, und dabei wären Sie ihr einziger Begleiter.“

Wild? Es ging hier doch nicht um das tiefste Afrika! Aber Robert sah, dass sie ernstlich um Miss Baileys Sicherheit besorgt war.

Er nickte. „Ich verstehe Sie. Aber ich weiß nicht, welche weiteren Versicherungen, außer meinem Ehrenwort als Gentleman, ich Ihnen geben kann.“

Sie lächelte spöttisch. „Uns beiden, Miss Bailey und ich, ist deutlich bewusst, dass die angeblichen ‚Gentlemen‘ sich nicht immer ehrenhaft aufführen.“

Robert machte große Augen und merkte sich das für die Zukunft. Die Höflichkeit gebot ihm, keine nähere Erklärung zu erbitten.

Er überlegte angestrengt, wie er seine Rechtschaffenheit beweisen könnte. „Dann sind wir an einem toten Punkt. Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun kann, um Sie zu überzeugen. Rein praktisch gesehen könnte natürlich ein Mädchen als Reisebegleitung für Miss Bailey fungieren – vielleicht eines Ihrer Hausmädchen?“

Aus irgendeinem Grund stand ihm das hübsche Stubenmädchen mit den rosigen Wangen vor Augen. Lass das! befahl er sich streng, das ist bestimmt nicht der richtige Zeitpunkt für eine Tändelei!

Der Vorschlag schien die Countess, warum auch immer, zu amüsieren.

Sie dachte einen Moment nach, dann nickte sie. „Mr. Kendal, ich schlage Folgendes vor: Kommen Sie heute Abend zum Dinner, um halb sieben, dann besprechen wir die Sache näher. Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich Zeit zum Überlegen brauche?“

„Sicherlich, und ich bin Ihnen dankbar, weil Sie mich nicht gleich zum Teufel geschickt haben.“ Er erhob sich. „Danke, dass Sie mir Ihre Zeit schenkten, und ich werde heute Abend wiederkommen.“

Damit verbeugte er sich lächelnd und verabschiedete sich.

„O Gott!“ In einer Geste der Verzweiflung barg Jane das Gesicht in den Händen. „Es tut mir so leid, Mama.“

Miss Marianne mochte Verständnis haben, doch Mama hatte so hohe Ansprüche, dass Jane überzeugt davon war, sie hätte sie enttäuscht.

Mrs. Bailey war dabei, Haube und Schal abzulegen. „Was ist denn nur passiert, Jane? Sarah konnte gar nicht schnell genug loswerden, dass einer der Worcester-Teller zerbrochen ist und sie nicht schuld dran war.“

„Es stimmt“, sagte Jane reuig und gab ihr eine kurze Zusammenfassung des Unglücks.

„Der Gentleman hat sich noch nicht verabschiedet, aber sobald er fort ist, gehe ich zu meiner Herrin und entschuldige mich.“

„Das will ich hoffen! Aber warum warst du überhaupt dort? Und wie kamst du dazu, etwas zu zerbrechen? Du bist doch sonst nicht so ungeschickt.“

„Ah, das musst du hören! Mary hatte sich den Kopf blutig gestoßen, also entschied ich, selbst den Tee zu servieren. Und dann nannte der Gentleman meinen Namen, und das war so unerwartet, dass ich vor Schreck das Tablett fallen ließ.“

Jane, immer noch zutiefst beschämt, konnte das Unglück nicht einmal korrekt wiedergeben.

„Er nannte deinen Namen? Wovon um Himmels willen redest du? Ehrlich, Jane, manchmal redest du verblüffend wirr.“

„Entschuldige, Mama. Ich habe dir wirklich noch mehr zu erzählen. Ich hatte nicht genau hingehört, worüber die beiden sich unterhielten – du hast mich immer darin bestärkt, nicht auf Dinge zu achten, die mich nichts angehen. Dann sagte der Herr aber plötzlich ‚Ihr Name ist Jane Bailey‘.“ Sie nickte heftig. „Ja. Ich weiß! Ich bin auch ganz durcheinander. Ich zerbreche mir die ganze Zeit den Kopf, aber ich kann mir nicht vorstellen, warum er hier ist oder warum ein Herr nach mir suchen sollte.“

Während sie noch sprach, läutete die Glocke an der Wand – Janes Glocke – umgehend gefolgt von der der Haushälterin. Miss Marianne verlangte nach ihnen beiden!

Sie sahen einander an, erhoben sich wortlos und begaben sich zum Salon.

Der Gentleman war fort – so viel ließen sie sich von dem Lakaien versichern, als sie die Halle durchquerten. Merkwürdigerweise empfand Jane einen kleinen Stich – wieso nur? – bei dieser Nachricht. Aber natürlich war er fort. Weshalb sie nun zu ihrer Herrschaft bestellt wurden.

„Herein!“, rief die Countess als Antwort auf Mrs. Baileys sanftes Klopfen an der Tür. Jane war sich bewusst, dass ihr Herz ziemlich schnell schlug. Trotz all ihrer Jahre im Dienste Miss Mariannes und obwohl sie deren Güte und Loyalität kannte, hatte sie als Hausangestellte doch immer am meisten Angst davor, dass sie entlassen werden könnte.

Die Countess, die in ihrem Lieblingssessel saß, wirkte nachdenklich.

Autor

Catherine Tinley
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