Ein Croissant für zwei

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Dieser Mann sieht zwar wahnsinnig gut aus, macht aber nur Ärger! Das denkt zumindest Miriam, die Erik jeden Morgen beim Bäcker trifft. Ständig schnappt er ihr das letzte Croissant vor der Nase weg. Und nun soll ausgerechnet er bei einem Werbespot ihren Ehemann spielen ..


  • Erscheinungstag 17.08.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733786427
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Miriam

Nur meine beiden besten Freundinnen wussten, dass unter meiner modischen Kleidung ein altmodisches Herz schlug.

Schon immer gab es Tage, an denen ich mit mir und meinem Leben zufrieden war. Tage, an denen ich ausgeschlafen und bester Laune aus dem Bett sprang und während der morgendlichen Dusche die Plätze eins bis drei der aktuellen Charts sang oder zumindest versuchte, sie zu singen, denn meistens fehlte mir der Text oder die Melodie oder auch beides, was allerdings in jenen fröhlichen Minuten meiner Laune keinen Abbruch tat.

An diesen glücklichen Tagen aß ich ein gesundes Müsli mit Früchten und informierte mich dabei im Wirtschafts- und im Politikteil der Zeitung über das Tagesgeschehen, bevor ich so pünktlich aufbrach, dass ich ohne jede Hektik rechtzeitig in der Redaktion ankam.

Tage dieser Art hatten nur einen Nachteil: Sie waren leider selten. Meistens schlurfte ich morgens verschlafen und missmutig ins Bad und kreischte unter dem kühlen Strahl der Dusche entsetzt auf. Nach dem Duschen widerstand mein Haar allen Stylingbemühungen und beharrte darauf, wie eine Strohmiete nach einem wilden Sturm auszusehen. Und statt in Ruhe ein gesundes Müsli zu essen, besorgte ich mir unterwegs ein kalorien- und fettreiches, aber äußerst wohlschmeckendes Schokoladencroissant.

Womit wir bei meinen Schwächen wären. Da waren zunächst einmal, wie schon erwähnt, meine zwar von Natur aus goldblonden, aber äußerst störrischen Haare. Außerdem war ich süchtig nach Shoppingkanälen. Nicht, dass ich mir die zauberhaften Porzellanpüppchen bestellte oder in Versuchung geriete, eine Bohrmaschine zu erwerben, mit der man bei Bedarf auch den Teppich saugen und Schlagsahne schlagen konnte. Jedenfalls bestellte ich nichts mehr, seit das wunderbare, sich selbsttätig aufblasende Gästebett, auf dem in der Sendung ein Elefant ein paar höchst eindrucksvolle Kunststücke dargeboten hatte, unter meiner eher grazilen Tante Agnes sanft, aber unwiderruflich sein Leben ausgehaucht hatte. Diese Erfahrung (es hatte mich mehrere Stunden meiner kostbaren Nachtruhe gekostet, meine hysterische Tante zu beruhigen) hielt mich jedoch nicht davon ab, auch weiterhin stundenlang den Enthusiasmus und den Elan zu bewundern, mit dem die älteren Damen und Herren, die sich auf den Shoppingkanälen wohl ein Zubrot zu ihrer Rente verdienten, alles von der schlank machenden, fleischfarbenen Unterwäsche bis zum Kleiderschrank im floralen Design anpriesen.

Meine größte Schwäche waren jedoch Süßigkeiten. Ich liebte nicht nur Schokoladencroissants, sondern auch Eiscreme, Gummibärchen, Konfekt und Sahnetorten – eben alles, was süß und klebrig war. Zum Glück neigte ich nicht zum Übergewicht, das hatte ich von der mütterlichen Linie meiner Familie geerbt, aber wenn ich zwischen meinen Salatblättchen zählenden Geschlechtsgenossinnen saß und Himbeer-Mascarpone-Torte aß, kam ich mir angesichts der mitleidigen bis strafenden Blicke, die mich in solchen Situationen trafen, immer sehr einsam vor.

Eine weitere meiner Schwächen war, dass ich mit Männern nie besonders viel Glück gehabt hatte – man hätte es auch ausgesprochenes Pech nennen können. Vielleicht war ich einfach unfähig, mir den Richtigen auszusuchen. Was nicht hieß, dass ich im Laufe der Jahre nicht den einen oder anderen durchaus ansehnlichen und/oder sogar netten Mann kennengelernt hätte. Mit einigen von ihnen hatte ich sogar eine Beziehung geführt oder jedenfalls versucht, es zu tun. Doch aus den unterschiedlichsten Gründen, meistens weil ich herausfand, dass mein Herzbube bestenfalls als Spitzbube durchging, hatte keine dieser Beziehungen länger als zwei oder höchstens drei Monate gehalten. Vielleicht war ich einfach keine Frau für das spießige „Für immer und ewig“, das uns kitschige Liebesfilme als das Höchste der Gefühle verkaufen wollen. Was nicht hieß, dass ich mir solche Filme nicht ansah. Gelegentlich tat ich das durchaus, und es gab Momente, in denen ich mich danach sehnte, ein Leben lang jeden Morgen dasselbe Gesicht neben mir auf dem Kopfkissen zu sehen, ganz gleich, wie runzlig dieses Gesicht im Lauf der Jahre allmählich wurde.

Als kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag Lorenz und ich ein Paar wurden, glaubte ich, mit ihm würde mir die Sache mit dem Kopfkissen und dem Runzelgesicht gelingen. Immerhin hatten wir fast zehn Monate gebraucht, um zueinanderzufinden, nachdem wir uns bei den Aufnahmen zu einer Fernsehreportage kennengelernt hatten. Wir hatten also genügend Zeit gehabt, uns und unsere Gefühle gründlich zu prüfen. Gute Voraussetzungen für eine lang andauernde Beziehung, wie ich fand.

Am Morgen jenes Tages, an dem sich herausstellte, dass ein monatelanges Hin und Her nicht unbedingt ein gutes Omen sein muss, war ich wie üblich zu spät dran, mein Haar glich einem Hexenbesen nach stürmischem Flug um den Blocksberg, und als ich mein Auto startete, übertönte das Knurren meines Magens das Motorengeräusch.

Auf dem Weg zur Redaktion fuhr ich immer bei der Bäckerei Stemmler vorbei. In langwierigen Feldversuchen hatte ich herausgefunden, dass es bei Stemmler die besten Schokoladencroissants der Stadt gab. Hier war der Blätterteig locker, aber nicht krümelig, und das Schokoladenherz schmolz im Mund innerhalb von Sekunden und hinterließ nichts als Seligkeit. Und als wäre das alles noch nicht genug des Glücks gewesen, war der Platz im Halteverbot fast direkt vor der Ladentür nahezu immer frei.

Schwungvoll bugsierte ich meinen Smart in die Lücke unter dem blau-roten Schild, sprang aus dem Wagen und spurtete auf die Bäckerei zu, während ich schon meinte, die süß-herbe Schokolade auf der Zunge zu schmecken. Der Andrang bei Stemmler war um diese Zeit immer groß. Es hatte sich als gute Strategie erwiesen, einfach so zu tun, als würde ich die anderen Hungrigen vor der Tür und dem Tresen gar nicht sehen. Ohne nach rechts und links zu blicken, fixierte ich also den Griff der Glastür, während die hohen Absätze meiner neuen, beigefarbenen Pumps hektisch über den Asphalt klapperten.

„Au!“

Der Schmerzenslaut aus rauer Männerkehle ließ mich kurz vor Erreichen der Tür erschrocken zur Seite springen, wodurch der Urheber des Schreis auch noch Bekanntschaft mit dem Absatz meines linken Schuhs machte, der ebenso wie der rechte, den er ja bereits kannte, mit einer Metallspitze bewehrt war. Ich aber verlor das Gleichgewicht, landete mit Schwung an einer breiten Brust und sah nur noch Blau. Es war das tiefe Blau eines T-Shirts, das leicht nach Waschmittel duftete, aber auch den klaren, frischen Geruch eines stürmischen Tags am Meer verströmte.

„Tut mir leid“, murmelte ich und versuchte, aus eigener Kraft wieder senkrecht zu stehen, was mir jedoch nicht gelang, weil kräftige Arme mich immer noch fest umfingen, als hätte ihr Eigentümer nicht vor, mich in absehbarer Zeit freizugeben.

„Würden Sie mich dann bitte loslassen?“, erkundigte ich mich mit erstickter Stimme bei dem Shirt vor meiner Nase.

„Nur wenn Sie versprechen, nicht wieder herumzuhüpfen. Noch kann ich einigermaßen stehen. Das könnte sich nach einem weiteren Tritt mit Ihren gemeingefährlichen Absätzen ändern.“ Während er sprach, vibrierte sein Brustkorb leicht, was wiederum in meinem Bauch ein merkwürdiges Gefühl auslöste.

Ich hob die Arme, stieß mich mit einem energischen Schubs von den breiten Schultern ab, legte den Kopf in den Nacken und sah dem Mann, an dessen Brust ich geklebt hatte, endlich ins Gesicht. Prompt geriet ich erneut ins Taumeln und vermied in letzter Sekunde einen weiteren Tritt auf seine Turnschuhe.

Es war ein ziemlicher Schock, dass seine Augen exakt die gleiche dunkelblaue Farbe hatten wie sein T-Shirt. Überhaupt sah dieser Mann ziemlich beunruhigend aus. Beunruhigend im Sinne von „viel zu attraktiv, um zuverlässig zu sein“. Zum Glück musste ich mir über die Attraktivität meines Gegenübers jedoch keine Sorgen machen, denn in meinem Leben gab es schließlich Lorenz, der attraktiv und zuverlässig war.

„Darf ich dann jetzt mal?“, fragte ich kühl, musterte den blauäugigen Mann mit eisigem Blick und deutete gleichzeitig auf die Tür, hinter der mein Schokoladencroissant auf mich wartete.

„Natürlich.“ Mit einem Lächeln, das fast so nervenaufreibend war wie die Farbe seiner Augen, trat er beiseite und überließ mir höflich den Vortritt.

Energisch warf ich mein Haar zurück und marschierte an ihm vorbei in den Laden. Dummerweise fiel mir nach wenigen Schritten meine Tasche aus der Hand, was meinem Abgang wohl leider ein wenig von seiner Würde nahm, zumal sich auch noch die Hälfte des Tascheninhalts auf dem Boden verteilte. Hastig sammelte ich die Tamponschachtel auf und fing den herumrollenden Lippenstift ein.

„Bitte.“ Jemand hielt mir mein zerfleddertes Exemplar mit Rilke-Gedichten vor die Nase, in denen ich immer las, wenn ich irgendwo länger warten musste. Natürlich achtete ich beim Lesen peinlich darauf, dass niemand die Schrift auf dem Umschlag erkennen konnte, denn nicht einmal unter Folter hätte ich zugegeben, dass ich eine kitschig-romantische Ader besaß. Ich legte Wert darauf, als moderne junge Frau zu gelten, und nur meine besten Freundinnen Jolanthe und Sina wussten, dass unter meiner modischen Kleidung ein ziemlich altmodisches Herz schlug.

Vorsichtig hob ich den Kopf und zuckte zusammen, als ich schon wieder in die gefährlich farbintensiven Augen sah. Mein Bedarf an blauen Augen war für diesen Tag gedeckt! Warum konnte mir nicht irgendein harmloser Rentner mit wässrigem Blick beim Aufsammeln meiner Habseligkeiten helfen?

„Danke!“ Hastig riss ich Herrn Blauauge das Buch aus der Hand und hoffte inständig, dass er den Titel nicht gesehen hatte. „Ich kann das alleine! Lassen Sie sich nicht aufhalten.“

Fast war ich erstaunt, als er sich wortlos aufrichtete, zum Verkaufstresen ging und mich tatsächlich allein am Boden hocken ließ. In aller Eile stopfte ich Papiertaschentücher, Handy, ein paar klebrige Hustenbonbons und diverse Kassenbons zurück in meine Tasche, rappelte mich endlich hoch und eilte quer durch den Raum meinem Schokoladencroissant entgegen.

Zwischen mir und dem heiß ersehnten Gebäck stand aber immer noch der Mann mit den blauen Augen, der sich soeben zwei Mehrkornbrötchen einpacken ließ. Ich baute mich so hinter ihm auf, dass ich über seine Schulter hinweg die mir bestens bekannte Stelle sehen konnte, wo die Schokoladencroissants lagen – heute war es nur noch ein einziges, das sich zwischen ein paar Krümeln auf dem Tablett langweilte. Beim Anblick des knusprigen Gebäcks lief mir das Wasser im Munde zusammen, und mein Magen knurrte zornig. Zum Glück schien Herr Blauauge nichts gehört zu haben, jedenfalls wandte er sich nicht um, wie ich einen schrecklichen Moment lang befürchtet hatte. Er war wohl zu sehr damit beschäftigt, sich eine Salzbrezel auszusuchen.

„Und dann nehme ich noch das da!“, hörte ich ihn gleich darauf sagen.

„Das Schokoladencroissant?“ Die Verkäuferin strahlte ihn an. „Gerne.“

„Nein!“ Das Wort kam laut und deutlich über meine Lippen, bevor ich etwas dagegen tun konnte.

Prompt wurde ich schon wieder mit einem dunkelblauen Blick konfrontiert. „Wie bitte?“

Rasch fixierte ich anstelle seiner Augen den unteren Teil seines Gesichts, aber aus irgendeinem Grund fand ich es fast ebenso schwierig, seinen Mund zu betrachten. Seine Lippen sahen gleichzeitig weich und fest aus, eine Tatsache, die mich aus irgendeinem Grund unruhig machte. Dieser Mann war einfach zu viel für einen frühen Dienstagmorgen.

„Das Croissant – das wollte ich eigentlich haben. Es ist das letzte“, stieß ich nach einem tiefen Durchatmen hervor.

„Es war das letzte“, berichtigte er mich lächelnd.

„Hören Sie …“ Plötzlich hatte ich das Gefühl, ohne das Blätterteiggebäck nicht überleben zu können. Mein Magen war ein einziges großes Loch, das ich nur mit genau diesem Croissant füllen konnte. „Ich habe heute noch nicht gefrühstückt.“

Sein Lächeln wurde noch breiter, während er mit einer großzügigen Handbewegung auf die Glasvitrine deutete, in der Sahnetorten, Plunderteilchen und Brötchen in allen Formen und Sorten auf Käufer warteten. „Bitte, wählen Sie“, sagte er und tat, als sei dies eine äußerst großherzige Geste. „Ich habe, was ich brauche.“

„Es ist aber so, dass ich sozusagen süchtig nach Schokoladencroissants bin. Jedenfalls an Tagen wie diesem.“ Dieser Mann sah mich an, als hätte er Interesse an mir, also würde er mir doch wohl das lächerliche Croissant überlassen!

„Ich bin derjenige, der Bekanntschaft mit Ihren Absätzen gemacht hat“, erklärte mir Herr Blauauge milde. „Also bin definitiv ich es, der sich einen schweren Tag versüßen muss. Und süchtig bin ich zweifellos auch.“

„Aber ich war vor Ihnen hier drin. Also gehört es mir.“ Ich funkelte drohend die Verkäuferin an, die das Croissant mit einer Zange gepackt hatte, aber zögerte, es in die Tüte zu stecken, während sie mit halb offenem Mund unsere Unterhaltung verfolgte.

„Sie waren die Erste, weil ich Ihnen den Vortritt gelassen habe“, korrigierte mich Herr Blauauge und zwinkerte mir fröhlich zu.

Angesichts seiner Frechheit verschlug es mir die Sprache. Stumm und halb verhungert sah ich zu, wie die Verkäuferin mein Schokoladencroissant einpackte und es dem unmöglichen Kerl hinschob, der lächelnd seine Päckchen von der Glasplatte nahm, seine Einkäufe bezahlte und mit einem höflichen Gruß den Laden verließ.

„Was darf es sein?“, wandte sich die Verkäuferin an mich, nachdem sie einen Moment lang verträumt dem tiefblauen T-Shirt nachgesehen hatte.

„Sie wissen doch genau, dass ich immer ein Schokoladencroissant nehme!“, fuhr ich sie an.

„Er auch!“, erwiderte sie und lächelte fast ebenso nachsichtig wie der Mann, der mich herzlos meines Frühstücks beraubt hatte.

Wütend drehte ich mich um und klapperte über den Fliesenboden zur Tür. Natürlich hätte ich etwas anderes kaufen können, aber mir stand der Sinn weder nach Mohnbrötchen noch nach Puddingteilchen. Ich wollte ein Schokoladencroissant oder gar nichts!

Dass hinter dem Scheibenwischer meines Wagens ein Strafzettel steckte, bemerkte ich erst, als ich den Motor anließ. Das war mir in den zwei Jahren, seit ich hier regelmäßig meine Schokoladencroissants kaufte und zu diesem Zweck im Halteverbot hielt, noch nie passiert. Auch daran war zweifellos der rücksichtslose Kerl schuld, denn ohne ihn wäre ich in zwei Minuten mitsamt meinem Frühstück zurück bei meinem Auto gewesen.

Zehn Minuten später marschierte ich mit harmloser Miene zu meinem Platz in der Redaktionskonferenz. Natürlich war ich die Letzte, und Teresa Schramm, unsere Chefredakteurin, musterte mich mit jener Mischung aus Strenge und Mitleid, die mich jedes Mal innerhalb von zehn Sekunden dazu brachte, mich wie eine Fünfjährige zu fühlen, die beim verbotenen Naschen ertappt worden war.

Ich murmelte eine Entschuldigung, die kaum das Knurren meines Magens übertönte, ließ mich auf dem einzigen noch freien Platz nieder und sah mich fragend um, als wäre ich schon sehr lange da und hätte keine Ahnung, wer oder was den Fortgang der Konferenz unterbrochen hatte.

„Wie ich bereits ausgeführt habe“, fuhr Teresa schließlich fort und schickte einen weiteren mitleidig-tadelnden Blick in meine Richtung, „ist die Lage zwar ernst, aber nicht hoffnungslos. Wenn die Verkaufszahlen allerdings weiter so niedrig bleiben, wird das Erscheinen der She spätestens in sechs Monaten eingestellt.“

Die She einstellen? Als ich diese Worte hörte, erstarrte ich, und sogar mein Magen hörte vor Schreck auf zu knurren. Ich liebte meinen Job, und ich liebte die Zeitschrift, in deren Redaktion ich seit fast drei Jahren arbeitete. Natürlich gab es Tage, an denen ich keine Lust hatte, ins Büro zu gehen, es gab Themen, zu denen ich mir jedes Wort mit Mühe abringen musste, und es gab Kolleginnen, die ich nicht besonders mochte. Trotzdem war die Redaktion der She so etwas wie eine Heimat für mich geworden, erst recht, seit ich vor einem knappen halben Jahr zur Ressortleiterin Modernes Leben befördert worden war.

Ich räusperte mich. „Sechs Monate sollten genug Zeit sein, um die Verkaufszahlen in die Höhe zu treiben“, verkündete ich entschlossen, obwohl ich keine Ahnung hatte, was zu tun war, um dieses Ziel zu erreichen.

„Genau das wollte ich hören!“, lobte mich Teresa und sah mich an, als wäre ich inzwischen statt fünf mindestens fünfzehn. „Vor allem brauchen wir mehr Abonnenten. Viel mehr Abonnenten!“

Ich schluckte krampfhaft, weil ich plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund hatte. Mehr Ausgaben am Kiosk zu verkaufen konnte klappen, indem wir spannende Themen auf der Titelseite groß ankündigten. Mehr Abonnenten zu gewinnen war viel schwieriger.

„Vielleicht eine Aktion mit Prämien für jedes neu abgeschlossene Abo“, sagte Charlotte mit jener leisen Stimme, die uns alle zwang, ihr praktisch mit angehaltenem Atem zuzuhören, weil man sie sonst einfach nicht verstand.

„Dafür brauchen wir Geld, das uns nicht bewilligt werden wird.“ Teresa unterdrückte einen Seufzer. „Wir müssen so gut sein, dass unsere Leserinnen die She abonnieren, um bloß keine Ausgabe zu verpassen und um die Zeitschrift ein oder zwei Tage früher in den Händen zu halten, als wenn sie sie am Kiosk kaufen würden.“

Wir saßen um unseren großen Konferenztisch herum, sahen einander an und nickten. Wir würden gut sein! Was blieb uns schon anderes übrig? Es ging nicht nur um das Überleben der Zeitschrift, die wir gemeinsam aufgebaut hatten, es ging auch um unsere Arbeitsplätze.

„Ich erwarte, dass jedes Ressort morgen einen Plan vorlegt“, sagte Teresa im Ton einer strengen Lehrerin, die eine Klassenarbeit ankündigt. Nun waren wir alle ungefähr zwölf Jahre alt. „Themenvorschläge, Ideen für Aktionen, mit denen wir die Leserinnen an uns binden können, was immer euch einfällt.“ Sie sah über den Rand ihrer Lesebrille in die Runde.

Brav nickten wir im Takt.

„Und was die nächste Ausgabe betrifft, werdet ihr alle wie üblich Spitzentexte abliefern. Packend, lebendig geschrieben, gut recherchiert.“ Teresa klappte die Ledermappe mit ihren Unterlagen zu, stand auf und verließ mit energischen Schritten den Raum.

Wir anderen saßen noch eine Weile wie betäubt da, bevor wir ebenfalls unsere Sachen zusammensuchten und stumm an unsere Schreibtische gingen. Ich wusste nicht, was die anderen dachten und fühlten, ich jedenfalls war entschlossen, zu tun, was ich konnte, um die She zu retten.

Als das Telefon neben mir auf dem Schreibtisch klingelte, schreckte ich hoch und sah mich wie aus einem Traum erwachend um. Ich war so vertieft in die Überarbeitung meines Artikels über das Leben alleinerziehender Mütter gewesen, dass ich weder bemerkt hatte, wie sich draußen vor den Fenstern die Dämmerung herabgesenkt hatte, noch dass die meisten meiner Kolleginnen bereits gegangen waren.

Während ich mit der linken Hand meinen verspannten Nacken massierte, griff ich mit der rechten nach dem Hörer.

„Ich warte seit einer halben Stunde auf dich.“ Lorenz klang zwar freundlich, mittlerweile kannte ich ihn aber gut genug, um den unterdrückten Ärger aus seiner Stimme herauszuhören.

Ich öffnete den Mund, um mich für mein langes Ausbleiben zu entschuldigen, überlegte es mir aber anders und sagte stattdessen nur: „Es ist heute etwas später geworden, aber ich bin gleich fertig.“

„Hast du vergessen, dass wir zusammen kochen wollten?“ Nun machte Lorenz sich nicht mehr die Mühe, seine Missbilligung zu verbergen.

„Du kannst ja schon anfangen, ich bin in spätestens einer Dreiviertelstunde zu Hause“, sagte ich in harmlosem Ton. Natürlich wusste ich sehr genau, dass Lorenz keinesfalls einen Kochlöffel anfassen würde, bevor ich da war. Wir nannten es zwar gemeinsam kochen, aber in Wirklichkeit kochte ich, und er guckte zu und erzählte mir dabei von seiner aufregenden Arbeit als Fernsehregisseur. Der Form halber hielt er dabei meistens in einer Hand eine Karotte oder eine Kartoffel und in der anderen ein Messer, ohne beide jedoch miteinander in Berührung zu bringen. Als Regisseur kannte er sich mit Requisiten aus.

„Mal sehen“, antwortete er vage. „Zu zweit macht es ja doch mehr Spaß.“

Unsere Unterhaltung übers Essen erinnerte mich daran, dass ich schon wieder furchtbaren Hunger hatte. Nach dem ausgefallenen Frühstück hatte ich in der Mittagspause im Bistro an der Ecke ein dick mit Käse und Schinken belegtes Baguette gegessen, das meinen Hunger vertrieben und mir stattdessen eine leichte Übelkeit beschert hatte. Inzwischen waren aber schon wieder fast acht Stunden vergangen, und mein ganzer Körper schrie nach Nahrung. Am liebsten in Form von Zucker.

„Am meisten freue ich mich auf den Nachtisch“, sagte ich verträumt in den Hörer. „Ich habe gestern vom Einkaufen Heidelbeer-Baiser-Eis mitgebracht.“

„Dann beeil dich, ich habe Hunger“, beendete Lorenz das Gespräch.

Erst während ich einige Minuten später den Rechner herunterfuhr, fiel mir auf, dass ich mich mehr auf das Heidelbeereis freute, das in meinem Tiefkühlfach auf mich wartete, als auf Lorenz, dem ich immerhin vor zwei Wochen feierlich meinen Wohnungsschlüssel überreicht hatte. Es war wirklich zu unpraktisch gewesen, dass er immer auf der Treppe vor meiner Tür hatte hocken müssen, wenn wir uns in meiner Wohnung verabredet hatten und es in der Redaktion mal wieder später geworden war. Eigentlich wurde es bei mir in der Redaktion fast immer später, während es Lorenz trotz all seines Stresses stets gelang, pünktlich Feierabend zu machen. Wahrscheinlich war er einfach besser organisiert als ich.

Als ich nach einem guten Dutzend roter Ampeln meinen Wagen vor dem modernen Mietshaus parkte, in dessen zweiter Etage ich in einer großzügig geschnittenen Dreizimmerwohnung lebte, lief mir beim Gedanken an mein Heidelbeer-Baiser-Eis das Wasser im Munde zusammen. Ich zog sogar ernsthaft in Erwägung, die Hauptmahlzeit, und damit das Kochen, ausfallen zu lassen und mich gleich über den Nachtisch herzumachen, aber damit würde Lorenz wahrscheinlich nicht einverstanden sein.

Im Flur meiner Wohnung empfing mich lautes Freudengeschrei. Lorenz hatte den Fernseher auf volle Lautstärke gestellt und bejubelte gemeinsam mit den Massen im Stadion ein Tor, das offensichtlich gerade gefallen war.

Ich hängte meine Jacke an die Garderobe und trat ins Wohnzimmer, um den Mann zu begrüßen, der nun schon seit über einer Stunde sehnsüchtig auf mich wartete.

Lorenz lag lang ausgestreckt auf der Couch und schlug sich vor lauter Begeisterung über den Erfolg der von ihm favorisierten Mannschaft auf die Oberschenkel. „Zwei zu null!“, brüllte er. „Das muss man sich mal vorstellen!“

Lächelnd beugte ich mich über ihn, um ihn zu küssen. Zwar konnte ich nicht direkt seine Freude darüber teilen, dass einer von elf Männern gegen den Widerstand von elf weiteren Männern einen Ball in einen Kasten befördert hatte, aber ich freute mich, dass er sich freute. Fast lag mein Mund schon auf Lorenz’ Lippen, da fiel mein Blick auf den niedrigen Tisch vor der Couch. Ich erstarrte mitten in der Bewegung und richtete mich wieder auf.

Nur mit Mühe riss sich Lorenz von dem spannenden Geschehen auf dem Bildschirm los und sah mich an. „Gibt es dann bald was zu essen? Mir hängt der Magen schon in den Kniekehlen.“

Dies war der Moment, in dem die Wut über mir zusammenschlug wie eine hohe Woge. Gleichzeitig spürte ich eine eiskalte Entschlossenheit und Ruhe. Und ich verstand, dass es wieder mal so weit war.

„Du hast immer noch Hunger?“ Ich zog die Augenbrauen hoch und musterte ihn so interessiert, wie ich mir sonst die Insekten anzusehen pflegte, die sich in heißen Sommernächten durch die weit geöffneten Fenster in meine Wohnung verirrt hatten.

Er nickte eifrig. „Natürlich habe ich noch Hunger.“

Da griff ich entschlossen nach der leeren Schachtel, in der mein Heidelbeer-Baiser-Eis gewesen war, und warf sie ihm an den Kopf.

„Raus!“, brüllte ich. „Und lass dich hier nie wieder blicken!“

2. KAPITEL

ERIK

Ich glaubte nicht an Liebe auf den ersten Blick.

Wenn mich jemand nach meinem Beruf fragte, pflegte ich etwas vor mich hinzumurmeln, dem der Fragesteller je nach Fantasie alles entnehmen konnte, was es an ehrbaren Berufen zwischen Steuerberater und Anwalt gab. Gleichzeitig sah ich den Neugierigen so streng an, dass er in der Regel nicht wagte, nachzufragen. Tat er es dennoch, benahm ich mich, als unterläge meine Tätigkeit strengster Geheimhaltung, als wäre ich mindestens Doppelagent oder etwas in der Art, sodass jeder, der Näheres in Erfahrung brächte, anschließend erschossen werden müsste. Dieses Verhalten, in dem ich es nach jahrelanger Übung zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hatte, ließ in der Regel auch die wissbegierigsten meiner Bekannten verstummen.

Dass ich unter dem Pseudonym Tom Forster ziemlich erfolgreich blutrünstige Kriminalromane schrieb, sagte ich nach einigen finsteren Erfahrungen nur Menschen, bei denen ich mir sicher war, dass sie starke Nerven hatten. Und ich verriet es niemals Frauen, an denen ich ernsthaft interessiert war. Manchmal verfolgte mich der Albtraum, ich würde eines Tages die Liebe meines Lebens finden, würde sie heiraten – und nach fünf oder sechs Jahren einer zauberhaften Ehe fand sie durch Zufall heraus, womit ich mein Geld verdiente, um mich gleich darauf mit unseren beiden wunderbaren Kindern zu verlassen. Natürlich hoffte ich, dass ich durch einen Glücksfall eine Frau finden würde, der ich noch vor der Hochzeit die Wahrheit würde verraten können, ohne dass sie mit einem Messer auf mich losging oder vor Schreck nach Neuseeland floh, allerdings hatten mich meine bisherigen 33 Lebensjahre gelehrt, dass Hoffnungen oft trogen, warum also nicht auch diese?

Vorerst jedenfalls murmelte ich vor mich hin, anstatt meinen Beruf zu verraten, und wenn es gar nicht anders ging, behauptete ich, ich machte „etwas mit Steuern“. Was durchaus der Wahrheit entsprach, denn ich zahlte jede Menge Steuern.

Autor

Elaine Winter

Elaine Winter ist in Hannover geboren und studierte Anglistik und Germanistik, nachdem sie eine Ausbildung zur Hotelfachfrau absolvierte. Von frühster Kindheit an hätte sie, vor die Wahl gestellt, eine Geschichte jeder Süßigkeit vorgezogen. Bevor sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben und Übersetzen zum Beruf machte, war sie im Kunsthandel, im Verlag...

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