Gefahr für Miss Melissas Herz

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Endlich hat sie einen Gleichgesinnten gefunden! Miss Melissa Taverner will niemals heiraten, und Lord Henry Cary ist derselben Überzeugung. Mit ihm kann sie gefahrlos Zeit verbringen. Ehe sie sich‘s versieht, genießt sie mit ihm Spaziergänge und Abendveranstaltungen, sie plaudern angeregt und vertrauen einander ihre intimsten Sorgen und Wünsche an. Als in Melissas Herzen zärtliche Gefühle für Henry erwachen, sieht sie sich jedoch vor ein Problem gestellt: Wie kann sie den charmanten Lord davon überzeugen, dass die Ehe doch der richtige Weg ist? Ob ein einziger Kuss wohl ausreicht?


  • Erscheinungstag 30.12.2023
  • Bandnummer 635
  • ISBN / Artikelnummer 0811230635
  • Seitenanzahl 256

Leseprobe

1. KAPITEL

London, 10. April 1816

Lord Henry Cary lehnte sich an die Balustrade der oberen Terrasse von Lady Pernells Garten und sinnierte über die seltsamen Marotten der Londoner Gesellschaft. Seine heutige Gastgeberin beispielsweise veranstaltete nicht nur einen der ersten Bälle der Saison, sondern ließ auch noch die Türen zu den Gärten offen stehen, obwohl es erst kürzlich geschneit hatte. Auf den Hügeln um Highgate lag immer noch Schnee.

Erst vor Kurzem war er aus Wien heimgekehrt und empfand daher die Temperatur als nicht besonders frostig, aber er war ja auch keiner der weiblichen Gäste, die nur in dünne Seide und Musselin gekleidet waren. Nur sehr wenige Leute trotzten der kalten Nachtluft, obwohl auf der Terrasse Feuerschalen standen und Laternen entlang der Wege aufgestellt worden waren. Es sollte wohl den eher bescheidenen Garten aussehen lassen wie Vauxhall bei einer Festivität.

Ein paar Gäste waren dennoch draußen. Er schaute hinab auf den Pfad fünf Fuß unter ihm und heuchelte ein wenig Interesse.

„Mir ist eiskalt. Kommst du mit mir zurück ins Haus, alter Knabe?“, fragte Reggie Pomfret und warf das glühende Ende seines Zigarillos in einem Bogen in die Büsche.

„Nur noch einen Moment. Wir sehen uns gleich drinnen.“

Und hier kam auch schon seine Zielperson, die auf der unteren Ebene in seine Richtung schlenderte, während Reggie rasch auf der oberen fortmarschierte. Graf Klaus von Arten war in ein Gespräch mit einem der Attachés an der französischen Botschaft vertieft. Pierre Laverne, wenn er sich nicht irrte. Äußerst interessant.

Es mochte sein, dass Graf Klaus genau der war, der zu sein er vorgab. Laut Gothaer Adelskalender existierte ein thüringischer Adliger dieses Namens. Doch konnte man es mangels eines Thüringers, der seine Identität bezeugte, nicht sicher wissen. Der Mann war auf dem Kongress überall herumspaziert und hatte mit freundlicher Miene, aber ohne ersichtlichen Grund für seine Anwesenheit, an jeder gesellschaftlichen Veranstaltung teilgenommen.

Dies hatte als ungelöstes Rätsel ein gewisses Interesse bei Henrys Vorgesetzten erregt. Doch als er dann auch in England aufkreuzte, verschärfte sich das Augenmerk auf ihn. Der Kongress war beendet, die abschließenden Staatsverträge unterzeichnet. Frankreich, seine Kolonien, abhängigen Länder und Besitzungen waren nach dem Zusammenbruch von Napoleons Kaiserreich neu organisiert und aufgeteilt worden. Und nun sah Henry hier den liebenswürdigen Grafen in einer vertraulichen Unterhaltung mit einem untergeordneten französischen Diplomaten. Möglicherweise war nichts daran, aber es könnte auch ein Zeichen sein, wie das erste Kräuseln des Wassers über einem versteckten Riff. Ein Versuch, die gerade erst aufgebaute Konstruktion der Bündnisverträge zu untergraben, die ein neues Europa nach so vielen Jahren des Krieges zusammenhielten.

Der Franzose blieb plötzlich stehen, verneigte sich knapp und verschwand in das Gebüsch in der Mitte des Gartens. So musste von Arten allein zurück zum Ballsaal gehen. Doch er wurde langsamer, zögerte. Henry schaute nach links, um zu sehen, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein elegant gekleideter blonder Mann mit einer jungen Frau am Arm näherte sich ihm. Der Graf bewegte sich schneller und ging mit einem Kopfnicken an ihnen vorbei, kurz bevor sie unter Henrys Aussichtspunkt ankamen.

Henry wollte sich gerade abwenden und Reggie ins Haus folgen, als etwas an dem Paar ihn innehalten ließ.

„Mir ist sehr kalt.“ Die Stimme der jungen Frau klang so, als fühle sie sich sehr unwohl, ihre Stimme war ein wenig schrill.

„Drüben hinter dem Gebüsch ist ein entzückendes kleines Sommerhaus“, sagte der Mann. „Dort können wir uns in Ruhe unterhalten.“

„Aber ich dürfte gar nicht mit Ihnen allein sein. Ich muss jetzt zurückgehen.“ Ihre Stimme klang nun ängstlich, und sie versuchte sich aus dem offenbar festen Griff zu befreien, mit dem der Mann sie zurückhielt. „Au! Sie tun mir weh!“

„Sei doch keine dumme Gans.“ Seine Stimme klang zärtlich und neckend, aber Henry erkannte noch etwas anderes an der Art, wie er seine Schultern hielt und die Frau fast mit Gewalt in das dunkle Gebüsch zu zerren versuchte.

Henry legte eine Hand auf die Balustrade, setzte sich darüber hinweg und landete geschickt mit beiden Füßen unten auf dem Kiesweg, genau vor den beiden.

„Was zum …?“

Als der blonde Mann einen Schritt zurückwich, tauchte von einem kleinen Nebenpfad eine große dunkelhaarige junge Frau auf.

„Ach, da bist du ja, Belinda-Darling“, sagte sie fröhlich. „Ich dachte schon, wir würden dich nicht mehr finden. Du musst ja ganz durchgefroren sein.“ Sie warf Henry einen fragenden Blick zu, als sie den freien Arm der anderen Frau nahm, als wolle sie sich unterhaken.

„Miss Forrest geht mit mir“, sagte der Mann und verzerrte das Gesicht zu einem wütenden Grinsen.

„Meine Güte, das wäre aber ganz schön dumm von ihr, nicht wahr?“, sagte die große Frau. „Schon ein Schritt ins Gebüsch wäre so schlecht für den guten Ruf der lieben Belinda, glauben Sie nicht auch, Mr. Harlby?“

Sie zog ein wenig an Miss Forrests Arm, doch Harlby wich nicht von der Stelle.

Nun schlenderte Henry auf ihn zu, legte einen Arm um die Schultern des anderen Mannes und lächelte ihn breit an, als sei er leicht beschwipst. „Komm schon, Alter, zurück zum Ball, ja?“ Er legte Daumen und Zeigefinger an die Stelle, wo Harlbys Schlüsselbein auf das Schultergelenk traf, und drückte scharf zu.

Harlby schrie schmerzerfüllt auf und ließ Miss Forrest los. „Du Bast…“

Die große Frau drehte sich so schnell um, als hätte sie diese Bewegung einstudiert. Sie verschränkte die Arme mit denen von Miss Forrest und ging mit ihr zurück in Richtung des Ballsaals. Mit klar verständlicher Stimme sagte sie: „Ein sehr gutes Orchester, finden Sie nicht auch?“

Henry ließ seinen Arm, wo er war, und dirigierte Harlby hinter den beiden Frauen her. „Hast du einen Krampf, Alter? Dagegen hilft ein steifer Brandy.“ Er hielt die Hand erhoben, weil er sich auf einen Gegenschlag gefasst machte, aber der andere Mann kam widerstandslos mit bis zu den Glastüren zur Terrasse.

Harlby drehte sich weg. „Diese Einmischung vergesse ich dir nicht, du Teufel.“ Er drängte sich durch die Tür und verschwand im Ballsaal.

Henry folgte ihm nach drinnen. „Ich vergesse dich auch nicht, Freundchen“, murmelte er und schaute sich um nach Miss Forrest und ihrer Retterin. Sie standen auf der anderen Seite des Saals, und die dunkle Frau sprach lebhaft mit – ausgerechnet – dem Duke of Aylsham, auch bekannt als der „perfekte Duke“. Henry sah, dass er sie mit warmem Blick ansah, sich dann vor Miss Forrest verbeugte und sie zur Tanzfläche führte.

Die Retterin ging weiter zu einer Gruppe von drei Männern, von denen er nur einen kannte – den „East-End-Aristokrat“ oder auch „Freibeuter-Marquis“, der eigentlich Marquis of Cranford hieß. Alle drei Männer lächelten, schauten zur Tanzfläche, wo der Duke gerade Miss Forrest inmitten eines komplizierten Kontratanzes drehte, und nickten.

Sehr klug. Sie übergab die junge Frau dem Schutz zweier mächtiger Männer und möglicherweise noch anderer. Harlby würde es sich zweimal überlegen, bevor er Miss Forrest noch einmal belästigte. Die dunkle Frau hatte die Art und das Aussehen einer angesehenen Frau, und er fragte sich, wer sie wohl war. Die Gattin eines der beiden unbekannten Männer? Oder vielleicht Cranfords? Es war ihm zu Ohren gekommen, dass der vernarbte Marquis kürzlich geheiratet hatte.

Aus reiner Neugier ging Henry durch den Ballsaal, um sie abzufangen.

So, nun müsste die törichte Miss Forrest außer Gefahr sein. Harlby würde feststellen, dass Belinda einflussreiche Freunde hatte. Sollte er auf die Idee kommen, Gerüchte zu verbreiten, sie sei allein mit ihm draußen gewesen, würde niemand ihm glauben, denn jeder konnte ja sehen, dass sie mit einem Duke tanzte. Melissa staubte innerlich die Hände ab und machte sich zufrieden auf, um ihre Freundinnen zu suchen.

„Ma’am. Darf ich Ihnen zu Ihrer Taktik gratulieren? Ich hoffe, die andere junge Lady hat keine Schwierigkeiten mehr.“

Es war der Mann mit den blauen Augen, der über die Balustrade gesprungen war, um Belinda Forrest zu helfen. Melissa schenkte ihm ein warmes Lächeln, weil sie sofort von ihm eingenommen war. „Nein, ich glaube, sie ist nicht mehr in Gefahr. Und Will hat eine beruhigende Wirkung auf jeden. Ich muss Ihnen noch für Ihren Beistand danken.“ Sie fand seine Aktion sehr eindrucksvoll – er war kraftvoll, augenblicklich und erfolgreich eingeschritten.

Sie schaute ihn offen an. Groß, dunkelblond mit dunkleren Brauen und Wimpern, schlank, aber mit vielversprechend breiten Schultern. Und er sah sie mit einem amüsierten Blick aus blauen Augen an. Sehr attraktiv. Melissa mochte dekorative Männer.

„Melissa Taverner“, sagte sie und streckte die Hand aus. „Miss Taverner. So spießig, erst jemanden finden zu müssen, der uns einander vorstellt, finden Sie nicht auch?“

„Ich bin ganz Ihrer Meinung – immerhin haben wir schon gemeinsame Manöver durchgeführt. Lord Henry Cary zu Ihren Diensten, Miss Taverner.“

„Sie müssen der Sohn des Dukes of … of Walton sein?“

„Sohn Nummer vier“, gestand er und klang etwas abschätzig.

„Lassen Sie mich raten. Nicht die Army, auch nicht die Navy. Also bleibt nur die Kirche?“ Er sah nicht aus wie ein Geistlicher, aber es war die wahrscheinlichste Tätigkeit für einen jüngeren Sohn, der weder Soldat noch Seemann war und keine Uniform trug.

„Um Gottes willen, nein.“ Er lächelte sie entwaffnend an. „Ich würde wahrscheinlich eine neue Reformation verursachen, zumindest aber theologisches Chaos, wenn man mich auf eine Kanzel lassen würde. Nein, ich gehöre dem diplomatischen Korps an. Darf ich Ihnen etwas zu trinken besorgen?“

„Ich danke Ihnen, aber ich bin gerade auf dem Weg zu meinen Freundinnen, um ihnen vom Erfolg unserer Taktik gegen Harlby zu berichten, diesem widerlichen kleinen Scheusal.“

„Darf ich Sie vielleicht aufsuchen? Ich muss zugeben, dass ich mich besser fühlen würde, wenn ich sichergehen könnte, dass Harlby niemanden mehr belästigt.“

„Natürlich. Hier, nehmen Sie doch bitte eine meiner neuen Karten.“ Sie suchte eine aus ihrem Retikül heraus, aber dann schob sie, aus einem Impuls heraus, eine Hand unter seinen Ellenbogen und begann mit ihm gemeinsam weiterzugehen. „Kommen Sie und lernen Sie meine Freundinnen kennen, damit sie sich auch bei Ihnen bedanken können.“

Die anderen saßen immer noch wie vorher in dem Alkoven um einen kleinen Tisch herum. „Da wären wir.“ Sie zeigte mit einer Handbewegung auf ihren Fang. „Sehet meinen Komplizen im Sieg über den grässlichen Charles. Dies ist Lord Henry Cary, der vierte Sohn des Dukes of Walton. Obwohl ihr das vermutlich alle bereits wisst, da ihr ja alle viel bedeutender seid als ich. Lord Henry, dies sind die Duchess of Aylsham, die Marquise of Cranford, Lady Kendall und Lady Burnham. Sie können hier Platz nehmen.“ Sie zeigte auf einen freien Stuhl zwischen Verity, der Duchess, und Lucy, die sich noch daran gewöhnen musste, die Countess of Burnham zu sein.

„Euer Gnaden … Ladys.“ Er setzte sich.

„Lord Henry ist Diplomat, wie ihr unschwer erkennen könnt“, fügte Melissa hinzu und setzte sich auch. „Geschliffen.“

„Melissa, also ehrlich“, schalt Verity und warf Lord Henry einen entschuldigenden Blick zu.

„Aber es stimmt doch. Er hat nicht mit der Wimper gezuckt, als er sich euch allen gegenübersah. Und er war außerordentlich heldenhaft. Von der oberen Terrasse ist er heruntergesprungen, um Harlby zur Rede zu stellen. Und dann hat er den Kerl mit einem fürchterlich schmerzhaften Griff in die Zange genommen, als er unangenehm werden wollte.“

Lord Henry zuckte mit den Achseln. „Der Mann hatte sich anstößig verhalten. Sie wissen offenbar selbst nur zu genau, dass er ein Ärgernis war.“

„Ja“, sagte Lucy und vermied es, Prue anzusehen. „Er ist offenbar von der bloßen Verführung junger Ladys dazu übergegangen, sich eine reiche Frau zu suchen, um sie zu kompromittieren.“

„Zweifellos in der Hoffnung, sie zur Heirat zu zwingen. Widerwärtig.“

„Sehr. Aber er wird Belinda nicht mehr zu nahe treten“, meinte Verity. „Sie sind vor Kurzem nach London zurückgekehrt, Lord Henry?“

„Ja. Ich war in Wien auf dem Kongress und bin noch etwas länger geblieben, nachdem sich die Situation entspannt hatte. Es blieben noch kleine Details übrig, die geklärt werden mussten. Es ist mir ein Vergnügen, rechtzeitig zu Beginn der Saison zurück in England zu sein.“ Er erhob sich. „Entzückt, Sie alle kennengelernt zu haben, Ladys. Ich sehe gerade meinen ältesten Bruder, und da ich ihn seit meiner Rückkehr nach London noch nicht getroffen habe, möchte ich gern zu ihm gehen und mit ihm sprechen. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden.“ Er stand auf, verbeugte sich und bahnte sich einen Weg durch die Menge zu einem großen Mann mit sehr blondem Haar, der gerade auf die Tanzfläche zuging.

„Oh ja, das ist Viscount Morfield, der Erbe“, bemerkte Verity. „Es ist eine gutaussehende Familie. Du hast dir einen sehr ansehnlichen Verehrer angelacht, Melissa.“

„Meine Güte, er ist doch kein Verehrer, lediglich ein galanter Gentleman. Er war wirklich äußerst erfolgreich gegen den widerlichen Charles. Du hättest das kleine Schwein jaulen hören sollen, obwohl Lord Henry nichts anderes getan hat, als ihm den Arm um die Schultern zu legen. Es hätte dir im Herzen gutgetan, Prue.“

Prue, mittlerweile die Marquise von Cranford, war von Harlby verführt worden. Sie war der Schande nur entronnen, weil sie den verwitweten Marquis heiratete, der eine Mutter für seinen kleinen Sohn brauchte. Die hastig arrangierte Ehe hatte sich wunderbarerweise zu einer Liebesgeschichte entwickelt. Nun warf sie einen Blick hinüber zu ihrem Gemahl, der gerade mit einigen Freunden im Gespräch war. Er kannte den Namen des Verführers nicht, aber alle waren sich einig, dass es unbedingt dabei bleiben sollte. Niemand wollte, dass der formidable Marquess ins Exil gehen musste, weil er Harlby mit den bloßen Händen zerriss.

„Ich hatte so gehofft, er habe London für immer verlassen“, sagte Prue seufzend.

„Er musste annehmen, dass du Ross von ihm erzählen würdest, und hat wahrscheinlich Angst davor gehabt. Doch jetzt hat er anscheinend gemerkt, dass du es nicht getan hast, und fühlte sich sicher genug zurückzukehren“, sagte Jane, die Countess of Kendall. „Aber er macht offensichtlich einen großen Bogen um dich.“

„Vermutlich ist er in finanziellen Schwierigkeiten. Und jetzt hat er noch die ganze Saison vor sich, um ein Opfer zu finden, das er zur Ehe zwingen kann“, sagte Verity grimmig. „Ich finde es bezeichnend, dass er Belinda Forrest gewählt hat, denn sie ist sehr reich. Wir werden ständig aufpassen müssen, wenn wir seine Absichten durchkreuzen wollen. Nur zehn Minuten und etwas Pech, das genügt, um einen guten Ruf für immer zu zerstören.“

Prue verzog angewidert das Gesicht. „Und es wäre für ihn kein Pech, weil er es ja nun darauf anlegt, dass man ihn entdeckt. Wir müssen ihn in flagranti in einer Situation erwischen, bei der die Identität der betreffenden Frau nicht enthüllt wird, aber alle Welt erfährt, was für eine Art von Mann er ist.“

„Das ist knifflig. Ich habe alle Mütter und Begleitpersonen in meiner Bekanntschaft bereits gewarnt, sich vor ihm in Acht zu nehmen“, sagte Verity. „Aber es gibt eine Menge infrage kommender Mädchen und viel zu viele Gelegenheiten.“

Sie saßen in düsterer Stimmung beieinander, bis Melissa einem vorbeigehenden Diener ein Zeichen gab. „Wir brauchen etwas zur Aufmunterung. Eine Flasche Champagner und fünf Gläser bitte.“

„Erzähle uns von deinem neuen Haus.“ Prue saß sehr aufrecht und lächelte sogar ein wenig. „Wir hätten dich alle gestern schon aufgesucht, aber Verity hatte keine Zeit, und wir wollten alle gemeinsam kommen.“

„Wie geht es Thomas denn jetzt?“ Melissa war nicht besonders interessiert an Babys, aber der Erbe des Titels war sechs Monate alt und ein bezauberndes Kind.

„Dem Kleinen ging es gestern ziemlich schlecht, aber heute schon viel besser. Die Amme sagt, es werde ihm jetzt gut gehen, bis er wieder zahnt.“

„Dann also morgen“, sagte Melissa. „Ihr wisst natürlich alle, dass das Haus in der Half Moon Street ist. Habe ich euch eigentlich erzählt, dass Großtante Melly vor drei Monaten starb und mir etwas hinterließ? Sie war auch meine Patin. Nun, sie wollte, dass Papa das Haus erbt, aber er wusste nicht genau, wo es war. So, wie Papa nun einmal ist, mochte er es aber nicht zugeben. Also ließ ich ihn in dem Glauben, dass es eine etwas heruntergekommene Gegend sei – wenn auch respektabel – und ihm nicht viel Miete einbringen würde.“

Sie lächelte vergnügt, immer noch erstaunt, wie einfach es gewesen war. „Als er zu schnaufen und keuchen aufhörte, bestand er darauf, dass ich auf keinen Fall von zu Hause ausziehen solle, um nach London zu ziehen. Doch ich wies ihn darauf hin, dass ich völlig sicher sein würde, wenn ich eine Anstandsdame als Gesellschafterin hätte. Der arme Mann hasst es so sehr, wenn ihm jemand widerspricht – Mama tut es nie, wie ihr wisst –, dass er Ja sagte. Nur um des lieben Friedens willen.“

„Er weiß, dass du nun dein Erbteil erhalten hast, und außerdem bist du vierundzwanzig Jahre alt. Er hat sowieso keine Möglichkeit mehr, dich davon abzuhalten“, ergänzte Jane zynisch.

„Wohl wahr.“ Melissa konnte ein selbstgefälliges Gefühl nicht unterdrücken. „Und er weiß, dass er die Pflicht hat, sich um Cousine Almeria zu kümmern nach ihren missglückten Investitionen. Darum hat er nur ganz leise Einwände dagegen erhoben, dass sie meine Gesellschafterin wird. Und überhaupt hält er inzwischen alles für seine eigene Idee.“

„Irgendetwas sagt mir, dass deine Cousine Almeria entweder sehr faul oder aber stocktaub ist“, sagte Prue.

„Sagen wir mal, sie ist völlig auf ihre eigenen Interessen konzentriert“, meinte Melissa etwas vage. Sie interessierte sich nun mehr für das Geschehen auf der Tanzfläche, denn dieser nette Lord Henry hatte Miss Forrest zum Tanz aufgefordert. Das war freundlich von ihm. Er machte den Eindruck eines guten Tänzers, leichtfüßig und sogar imstande, sich dabei zu unterhalten.

„Melissa!“

„Was? Oh, tut mir leid, ich habe mich nur davon überzeugt, dass mit Miss Forrest alles in Ordnung ist.“

„Wir haben dich gerade gefragt, ob wir dich morgen vor dem Lunch besuchen können. Wir bringen Eis und andere Leckereien von Gunter’s mit.“

„Das ist eine exzellente Idee. Ich brauche euren Rat, weil ich das Haus umdekorieren und neue Möbel anschaffen möchte. Großtantchen war wirklich sehr lieb, aber ihr Geschmack war noch weit in den siebzehnhundertneunziger Jahren steckengeblieben.“

Am nächsten Tag waren die verschiedenen Eisspezialitäten und Macarons von Gunter’s das schwelgerische Ende eines ausgedehnten Mittagessens. Sie saßen beim Essen zwischen Stapeln von Stoffmustern, zwei Möbellager-Katalogen, mehreren Ausgaben der neuesten Modezeitschriften und einem kleinen Haufen Notizzetteln.

Lucy streckte sich danach auf dem Sofa aus und leckte sich sehr undamenhaft die Finger ab. „Du hast Unmengen an Ideen, aber kannst du dir das alles überhaupt leisten?“

„Das glaube ich eigentlich selbst nicht“, sagte Melissa und sah befriedigt, wie entspannt und zufrieden ihre Freundinnen in ihrem Wohnzimmer aussahen. „Aber ich nehme mir das Haus Stück für Stück vor. Etwas Farbe kann Wunder bewirken, es gibt sehr viel Stoff, den ich vielleicht wiederverwenden kann, und die schrecklichsten Möbel lasse ich zum Auktionator bringen.“

„Ich muss jetzt wirklich nach Hause. Seht nur, wie spät es schon ist, fast drei Uhr.“ Verity schaute sich um nach ihren Siebensachen, und auch die anderen setzten sich, offenbar widerstrebend, aufrecht hin.

Es klopfte an der Haustür, dann hörte man Gertrude, Melissas respekteinflößende neue Zofe, durch den Flur gehen.

„Wer kann das sein?“, fragte Lucy leicht beunruhigt. „Hast du Karten verteilt? Es ist wohl gerade der angemessene Zeitpunkt für Besucher, nehme ich an.“

„Lord Henry Cary, Miss Taverner.“

Melissa setzte sich kerzengerade auf. „Große Güte. Wollte sagen, führe ihn herein, Gertrude, und bringe Tee, bitte.“ Sie wechselte einen übertrieben nachdenklichen Blick mit den anderen und stand auf. „Lord Henry, ich begrüße Sie.“

„Guten Tag, Miss Taverner. Ich habe mir erlaubt zu kommen, in der Hoffnung, dass Sie heute Besucher empfangen.“

„Bitte, nehmen Sie Platz. Der Tee kommt gleich.“ Sie hatten leider bereits alle Macarons aufgegessen. „Meine Freundinnen sind Ihnen natürlich alle bekannt.“

„Euer Gnaden … Ladys.“ Er setzte sich auf den am nächsten stehenden Stuhl und überkreuzte seine langen Beine in den eleganten blassbraunen Kniehosen.

„Ich wollte mich erkundigen, ob es noch irgendwelche … Nachwirkungen nach dem Vorfall gestern Abend gab?“

„Nein, nichts. Aber das habe ich auch nicht erwartet“, sagte Melissa. „Harlby verfolgt anscheinend seine Zwecke, indem er sich überall anbiedert, nicht indem er Aufsehen erregt. Wahrscheinlich haben wir ihm für immer die Lust an Miss Forrest verleidet. Ah, da kommt der Tee. Danke, Gertrude.“

„Nicht für mich, Liebes. Ich wollte sowieso gerade aufbrechen.“ Verity stand auf, und auch er erhob sich. „Bitte vergeben Sie mir, Lord Henry, aber ich habe meinen kleinen Sohn schon zu lange allein gelassen.“

„Ich begleite dich.“ Auch Jane stand rasch auf.

„Auch ich muss leider gehen.“ Lucy errötete entzückend. „Ich glaube, dass Max inzwischen wieder zu Hause ist.“

„Sie sind noch nicht lange verheiratet“, hörte Melissa Prue leise zu Lord Henry sagen, als sie sich zu dritt wieder setzten. „Aber wissen Sie, ich hatte geplant, zu Wilding und Kent zu gehen, um Stickgarn zu besorgen. Das hätte ich beinahe vergessen.“ Sie sprang wieder auf. „Sie müssen mich also auch entschuldigen, Lord Henry. Melissa, soll ich Miss Staines mitteilen, dass du einen Besucher hast?“

Melissa seufzte. Ihre Freundinnen, verdammt sollten sie sein, hatten sich taktvoll verabschiedet, weil Lord Henry ein Gentleman war und sie annahmen, sie wolle vielleicht mit ihn allein sein. Nur fünf Minuten in der Gesellschaft von Cousine Almeria hatten Prue offenbar davon überzeugt, dass sie als Aufpasserin völlig ungeeignet war und nur zur Wahrung des äußeren Scheins geholt werden sollte. „Wenn du so freundlich wärst“, sagte Melissa zähneknirschend.

„Leben Sie wohl, Lord Henry. Wunderbares Mittagessen, liebste Melissa.“

Lord Henry blieb stehen, als Prue hinausging und die Tür hinter sich offen ließ. „Ich sollte jetzt auch gehen.“

Ja, das sollte er. Alleinstehende junge Ladys durften keinen einzigen Moment allein mit einem Mann sein. Es war der perfekte Vorwand, ihn fortzuschicken und sich wieder ihrer Arbeit zu widmen.

Zu ihrer eigenen Überraschung lächelte sie. „Nicht nötig. Meine Gesellschafterin wird jeden Augenblick hier sein.“

2. KAPITEL

Sie wusste selbst nicht warum, aber Melissa war sicher, dass es in der Gesellschaft dieses ihr eigentlich Fremden unterhaltsamer sein würde, als am ersten Kapitel ihres neuen Romans weiterzuarbeiten. Und auch lohnender, als für die Morning Post ihren Bericht über den Ball am vergangenen Abend fertigzustellen.

Seine Hand lag auf dem Türknauf, als Cousine Almeria hereinschlenderte. Sie hatte die Brille oben in die hochgesteckten Haare geschoben und trug ein Buch in der Hand. Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie ihn an. „Lady Cranford sagte, hier sei ein Gentleman“, sagte sie mit matter Stimme.

„Cousine Almeria, Lord Henry Cary stattet uns einen Besuch ab. Wir sitzen gerade beim Tee. Lord Henry, Miss Staines.“

„Entzückt. Gewiss“, sagte Almeria. Sie goss sich Bohea-Tee ein und schlenderte mit ihrer Tasse zum Erkertisch, wo sie sich setzte und in ihrem Buch zu lesen begann.

Lord Henry war zwar ein erfahrener Diplomat, aber offensichtlich konnte er mit Almeria nicht viel anfangen. Er warf ihr einen fragenden Blick zu und setzte sich wieder.

„Es ist in Ordnung, wenn wir uns unterhalten“, versicherte ihm Melissa. „Das wird sie nicht stören. Meine Cousine ist Expertin für Motten und hat gerade erst ein Buch zu dem Thema von einem deutschen Professor erhalten.“

Sie saßen da und rührten in ihren Tassen. Die einzigen Geräusche waren das Rascheln der Buchseiten und das Klirren von Silber auf Porzellan.

Warum ist er gekommen? Und warum hat er nicht die Gelegenheit ergriffen, sich ebenfalls zu verabschieden, als die anderen gingen?

Warum bin ich nicht gegangen, obwohl ich jeden Grund dazu hatte? Miss Taverner ist anscheinend nicht beunruhigt wegen Harlby. Sag etwas, Hohlkopf.

„Motten? Wie interessant.“

Und was für ein abgedroschener Kommentar, Henry! Was ist mit dir los?

„Ja“, sagte Miss Taverner in fröhlichem Ton. „Ich weiß nichts darüber, aber ich habe es so verstanden, dass meine Cousine gerade eine Studie über bestimmte Motten in Westminster vorbereitet. Unser kleiner Garten wird bald jede Nacht voller Mottenfallen sein. Ich mache mich auf eine hohe Rechnung für Kerzen gefasst.“

„Wohnen Sie schon lange in London?“

„Seit einer Woche. Ich war natürlich schon früher hier, aber immer nur auf Besuch. Dieses Haus gehört meinem Vater, der es kürzlich geerbt hat, und für mich ist es sehr günstig gelegen.“

„Wegen der Motten?“

„Wegen der Verleger. Oder vielmehr wegen eines Verlegers – Mr. Murray in der Albermarle Street. Ich bin Schriftstellerin, müssen Sie wissen, und ich habe den festen Vorsatz, Mr. Murray meinen neuen Roman persönlich vorzustellen, um ihn damit zu beeindrucken.“

„Haben Sie schon etwas veröffentlicht?“ Miss Taverner sah eigentlich nicht alt genug aus – vermutlich noch keine fünfundzwanzig Jahre alt –, um ein Leben als Schriftstellerin zu führen und praktisch allein in London zu leben.

„Noch keine richtigen Romane … bisher.“

Warum ist ihr Blick plötzlich so unsicher?

„Ich habe einige kleinere Sachen in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht – in Ackermann’s Repository, La Belle Assemblée und so weiter. Und momentan habe ich einen Auftrag von der Morning Post, Berichte über verschiedene gesellschaftliche Ereignisse zu verfassen. Wer anwesend war, die Kleidung der Ladys, solche Sachen.“ Sie lächelte. „Natürlich anonym.“

Henry lächelte zurück. „Natürlich. Die Zeitungsbüros sind aber alle in der Innenstadt, nicht wahr? Sie haben doch hoffentlich nicht vor, diese auch selbst aufzusuchen?“

„Aber gewiss doch. Ein Gesichtsschleier, ein stabiler Regenschirm und ein verlässlicher Droschkenkutscher, das ist alles, was man dazu braucht.“

Es ging nicht an, dass eine Lady sich in die Innenstadt wagte, außer wenn sie ihren Anwalt oder ihre Bank aufsuchte. Und immer nur in Begleitung eines männlichen Verwandten. Andererseits hatte sich Miss Taverner gestern Abend durchaus behauptet …

„Was hätten Sie eigentlich getan, wenn ich nicht zufällig gestern dort gewesen wäre? Wenn Harlby Sie vertrieben hätte?“, fragte er unvermittelt.

„Nun, ich wäre selbstverständlich geblieben. Er hätte wohl kaum etwas dagegen unternehmen können, wenn sich eine wild entschlossene alte Jungfer wie eine Klette an ihn geheftet und in höchster Lautstärke geschrien hätte. Entweder, er hätte aufgegeben und den Rückzug angetreten, oder jemand hätte mich gehört und wäre uns zu Hilfe gekommen. Dann hätte ich ihn beschuldigt, uns zu belästigen und unzüchtige Vorschläge zu machen. Oder noch Schlimmeres.“

Ich traue es ihr zu.

Wieder musste Henry bei dieser Vorstellung lächeln. „Lassen Sie mich raten. Man hätte sie beide halb ohnmächtig vorgefunden und kaum in der Lage, die schreckliche Tatsache auszusprechen, dass Harlby mit aufgeknöpfter Hose aus einem Gebüsch gesprungen kam. Wenn es nicht so unangenehm für Miss Forrest gewesen wäre, wünschte ich fast, so hätte es sich zugetragen.“

„Ich weiß, ich auch. Es hätte ihn lächerlich und ekelhaft aussehen lassen.“

„Es sieht fast so aus, als müsste ich mich für meine Einmischung entschuldigen.“

„Sie hatten die besten Absichten und konnten nicht ahnen, dass ich die Situation unter Kontrolle hatte“, sagte Miss Taverner großmütig.

Dessen war Henry sich nicht ganz so sicher. Wer außer ihm würde bei eisiger Kälte auf einem Pfad zwischen dem Gebüsch herumwandern, um ihnen zu Hilfe zu kommen? Dennoch gefiel ihm diese Vorstellung.

„Sie haben Familie in London?“, fragte er.

„Nein. Meine Eltern leben in Dorset. Sie wundern sich, warum ich hier wohne? Ich habe eine Erbschaft gemacht, die es mir ermöglicht, unabhängig zu leben und meinen Traum zu verwirklichen, Bücher zu schreiben. Meine Eltern sind zwar nicht ganz damit einverstanden, aber sie wissen, wann Widerstand zwecklos ist.“ Sie lächelte, und er lächelte zurück. „Von mir zu erwarten, als ehrbare junge Lady sanftmütig zu Hause zu sitzen und Harfe zu spielen, bis zufällig ein passender Verehrer vorbeikommt, ist jedenfalls verlorene Liebesmüh.“

Lächerlich.“

Beide drehten sich um und blickten hinüber zu der Gesellschaftsdame. Diese schaute jedoch nicht zu Miss Taverner, wie Henry erwartet hatte, sondern in ihr Buch. „Er hat ja keine Ahnung von den Futterpflanzen für Raupen dieser Spezies“, murmelte sie und blätterte um.

Henry räusperte sich. „Äh … durchaus.“ Miss Taverner war ihm ein Rätsel. Sie war ganz offensichtlich eine Lady, ihre Freundinnen waren verheiratet mit Aristokraten, und ihr Haus stand in einer sehr angesehenen Londoner Gegend. Doch wohnte sie hier nur in Gesellschaft einer ungeeigneten Anstandsdame, redete leichthin davon, sie sei eine alte Jungfer, schien völlig unbeeindruckt von der drohenden unsittlichen Entblößung eines Wüstlings zu sein und plante sogar dessen peinliche Niederlage. Henry hatte überhaupt keine Ahnung, was er von ihr halten sollte, außer dass er am liebsten laut gelacht hätte.

Von jungen Gentlemen im diplomatischen Dienst wurde erwartet, dass sie nicht laut lachten, ermahnte er sich. Er hörte eine Uhr schlagen.

„Ich muss jetzt leider gehen. Vielen Dank für den Tee, Miss Taverner. Miss Staines, entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

Statt nach dem Hausmädchen zu läuten, erhob sich Miss Taverner ebenfalls und ging mit ihm hinaus. Als sie an der Haustür waren, gab sie ihm seinen Hut und den Spazierstock. „Danke für Ihr Kommen, Lord Henry. Abgesehen von meinen Freundinnen, sind Sie mein erster Besucher. Bitte beehren Sie mich wieder.“

Da er nichts versprechen wollte, sagte er nur: „Ich wünsche Ihnen viel Freude in Ihrem neuen Heim.“

Sie öffnete die Tür, und er trat hinaus in die Half Moon Street. Er fühlte sich beinahe angenehm irritiert. Der Kongress war erquicklich gewesen, die weibliche Gesellschaft elegant und amüsant. Und doch fand er die selbstbewusste Miss Taverner irgendwie faszinierender.

Henry ging einige Schritte die Straße hinunter, dann blieb er stehen, und ohne sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen, drehte er sich um und ging zurück.

Miss Taverner öffnete ihm selbst die Tür. „Lord Henry? Haben Sie etwas vergessen?“

„Ich vergaß, Sie zu fragen, ob Sie wohl manchmal morgens im Park spazieren gehen. Und wenn ja, ob Sie gern gelegentlich Begleitung hätten.“

„Ich denke schon. Immerhin habe ich keine Entschuldigung, mich nicht zu bewegen, da der Green Park praktisch am Ende der Straße ist. Und ja, ich hätte nichts gegen Ihre Begleitung. Doch ich muss Sie warnen. Ich bin Frühaufsteherin. Wenn Sie vor dem Frühstück im Park sind, könnten wir uns treffen.“

Melissa beobachtete, wie die elegante Gestalt in Richtung Piccadilly spazierte, dann schloss sie die Tür und ging zurück ins Wohnzimmer.

Almeria schaute von ihrem Buch auf. „Wer war das?“

„Noch einmal Lord Henry, der mich fragte, ob ich manchmal morgens durch den Park spaziere.“

„Ach ja. Ich fand, er war ein interessanter junger Mann.“

„Du warst also gar nicht so in dein Buch vertieft, wie es aussah.“ Melissa fragte sich, ob sie vielleicht ihre Cousine unterschätzt hatte.

„Ich kann selektiv hören und passe nur so lange auf, bis ich sicher bin, dass ein Mann sich gut benehmen wird. Wenn ich auf ihn den Eindruck mache, nur in mein Buch vertieft zu sein, könnte es ein unangemessenes Verhalten ermutigen, und das sollte man am besten schon recht früh unterbinden, nicht wahr?“ Almeria nahm die Brille von der Nase und lächelte ironisch. „Immerhin habe ich hier eine sehr bequeme Wohnung in einer guten Londoner Lage, was Bibliotheken und Vorträge angeht. Ich sollte also wenigstens versuchen, die Rolle zu spielen, für die ich diese Vorzüge genieße.“

„Lord Henry wirbt aber gar nicht um mich“, sagte Melissa. „Ganz sicher nicht.“ Eigentlich hatte sie überhaupt keine Erfahrung mit so etwas. Sie brachte nicht genügend Geduld auf, um zu flirten, und ihre direkte Art schien Gentlemen auf Distanz zu halten. Das kam ihr sehr entgegen.

„Vielleicht möchte er sich ja mit dir anfreunden“, überlegte ihre Cousine. „Ich habe selbst mehrere männliche Freunde, die mein Interesse an Entomologie teilen.“

„Hat dir je einer von ihnen einen Heiratsantrag gemacht?“ Melissa war sich bewusst, dass ihre Frage etwas indiskret war. Almeria war Mitte vierzig und wurde wohl von den meisten als eher unscheinbar eingeschätzt. Doch sie hatte eine gute, wenn auch etwas rundliche Figur, ihre dunklen Haare glänzten, obwohl sie schon ein wenig weiß durchzogen waren, und sie hatte ein charmantes Lächeln.

„Gelegentlich überlegt sich einer der Witwer, dass ein Leben mit Ehefrau vielleicht bequemer wäre als ohne, und macht mir einen Antrag“, sagte ihre Cousine. „Aber solche Männer kommen sehr schnell wieder zur Besinnung, wenn ich ihnen klarmache, dass auf Dauer eine gute Haushälterin weniger kostet als eine Ehefrau.“

Almeria widmete sich wieder ihrem Buch, und Melissa machte es sich mit ihrem Notizbuch auf dem Sofa gemütlich. Möchte ich denn einen männlichen Freund? Wofür? Freundinnen konnte man sich anvertrauen, mit ihnen Erfahrungen austauschen und gemeinsam etwas unternehmen. Man tröstete sich gegenseitig und konnte gut zusammen feiern. Sie verstanden die Probleme, Schwierigkeiten aber auch Erfolge einer anderen Frau.

Männer waren anders. Melissa runzelte die Nase über solch eine selbstverständliche Schlussfolgerung. Und doch, überlegte sie, waren Verity, Jane, Lucy und Prue offenbar auch die Freundinnen ihrer Ehemänner. Bei ihren Eltern war dies ganz gewiss nicht der Fall, ebenso wenig bei den meisten der ihr bekannten verheirateten jungen Ladys.

Vielleicht brauchte man außer gemeinsamen Interessen auch Anteilnahme, einen ähnlichen Humor und grundsätzlich eine gewisse Zuneigung für den anderen. Vermutlich musste man, wenn man nicht mit demjenigen verheiratet war, auch über die körperliche Anziehung nachdenken. Wenn man sich gegenseitig nicht begehrte und die ganze leidige Angelegenheit einer Hochzeit nicht zur Debatte stand, dann, ja dann war es vielleicht möglich, mit einem Mann befreundet zu sein. Lord Henry hatte gewiss einen anderen Blickwinkel auf viele Dinge. Morgen wollte sie im Park spazieren gehen und sehen, was geschehen würde.

Henry lief die Stufen hinauf zu seiner Wohnung in der Ryder Street, die er mit seinem Freund und Kollegen James Herbert teilte. Es war eine geräumige Wohnung über zwei Etagen hinweg. Jeder von ihnen hatte seinen eigenen kleinen Salon, aber gewöhnlich zog es sie in das große, etwas abgewohnte vordere Zimmer im ersten Stock, von wo aus man die Straße überblicken konnte.

James saß wie gewöhnlich inmitten von verstreuten Papierstreifen und mehreren fremdsprachlichen Wörterbüchern. An die Wand gelehnt, stand eine Tafel, die mit Symbolen vollgekritzelt war.

„Ein neuer Code?“, fragte Henry. James war Kryptograph und beschäftigte sich mit der Entschlüsselung geheimer Codes. Er lebte in seiner eigenen Welt voller komplexer Formeln und Berechnungen. Henry versuchte es nicht einmal zu verstehen, weil er nur Nachrichten codieren oder decodieren konnte, wenn er den passenden Schlüssel hatte.

„Ich halte es für eine Variante.“ James schaute auf, ein Stift rutschte ihm aus den Haaren und landete auf dem Zettel vor ihm. „Und noch dazu auf Russisch, was noch schwieriger ist. Und du warst unten im Amt?“

Dieses war in Whitehall, nur einen kurzen Fußweg entfernt. „Sie haben noch nicht entschieden, wohin sie mich als Nächstes schicken werden. Philps sagte etwas über Konstantinopel. Es sähe ihm ähnlich, mich in ein Land zu schicken, dessen Sprache ich nicht spreche. Er hat die fixe Idee, dass die Russen Absichten auf das Osmanische Reich haben, und ist besorgt um die Sicherheit der indischen Grenzen, seit der Zar sich nicht mehr wegen der Franzosen Sorgen machen muss.“

„Also hast du wohl im Moment Freizeit, aber keine Lust, Türkisch zu lernen“, sagte James. „Aha!“ Er sprang auf, kritzelte etwas auf die Tafel, setzte sich davor und starrte darauf.

„Ich muss unseren Freund Klaus von Arten im Auge behalten. Meine Vorgesetzten können sich nicht entscheiden, ob er Freund oder Feind ist oder nur eine unwichtige Person, die sich gern auf Partys amüsiert. Gestern Abend habe ich ihn gesehen, als er sich angeregt mit einem Angestellten der französischen Botschaft unterhielt. Philps’ Nase zuckte, als ich ihm davon berichtete. Meine Befehle lauten nun herauszufinden, ob er etwas plant, und wenn, was es ist.“

„Also sind für dich jeden Abend Partys angesagt“, meinte James.

„Hmm. Schon möglich“, sagte Henry unbestimmt. Er ließ sich in einen der beiden abgenutzten Sessel am Kamin fallen und dachte über die kommenden Tage nach.

„Was?“ James warf den Stift zur Seite. „Ich kann mich nicht konzentrieren. Du denkst so laut.“

„Habe gestern jemand kennengelernt. Ungewöhnliche Frau. Ich weiß nicht genau, was ich von ihr halten soll.“

„Eine Frau? Erzähle mir mehr. Aufregend? Schön? Reich? Möglicherweise geeignet als Mätresse oder Ehefrau?“

„Interessant, intelligent, eher hübsch als schön. Unkonventionell. Eine Lady. Alle ihre Freundinnen sind verheiratet. Wahrscheinlich weder Mätresse noch Ehefrau. Mehr ein Rätsel.“

„Erzähle mir mehr.“

„Das werde ich, wenn ich es selbst gelöst habe.“

Hatte sie eigentlich wirklich erwartet, ihn um sieben Uhr morgens hier zu sehen? Melissa wusste es selbst nicht so genau. Aber Lord Henry war sicherlich kein Phantom, obwohl er dunkel und geheimnisvoll aussah. Die letzten Nebelfäden waberten um seine Gestalt. Mit einer Schulter lehnte er sich an einen Baum neben dem Tor gegenüber der Clarges Street.

Er stellte sich aufrecht hin, als er sie sah, und als sie bei ihm ankam, hielt er seinen Hut in der Hand. Jetzt verstand sie auch, warum er so schwarz-weiß ausgesehen hatte – er trug Abendkleidung.

„Mylord, waren Sie etwa die ganze Nacht auf?“ Seine Augenlider sahen schwer aus, aber sie kannte ihn nicht gut genug, um zu wissen, wie er so eine Bemerkung hinnehmen würde.

„So ist es.“ Er setzte sich den Hut wieder auf, wobei er unterdrückt gähnte. „Ein Hauskonzert, zwei Bälle, ein Diplomatenempfang in der französischen Botschaft, ein Kartenspiel bei White’s und ein weiteres in irgendeiner ekelhaften Spielhölle am Pickering Place.“

Sie spazierten schräg auf The Queen’s House zu, obwohl keiner von ihnen ein Ziel genannt hatte.

Lord Henry runzelte die Stirn. „Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, wenn ich darüber nachdenke. Ein Abendessen irgendwo war auch noch dabei.“

„Sind Sie betrunken, Mylord?“

Er machte eine schaukelnde Bewegung mit der rechten Hand. „So lala … Jedenfalls nüchtern genug, um eine Lady zu begleiten.“

„Die Bewegung an der frischen Luft wird Ihnen bestimmt guttun“, sagte Melissa und versuchte vorwurfsvoll zu klingen. Die streng schwarz-weiße Kleidung stand ihm gut. Sogar der morgendliche Bartschatten und die müden blauen Augen verliehen seinem Aussehen einen gewissen dekadenten Glamour.

Sie überlegte, ob sie ihn zum Vorbild für den charmanten Nichtsnutz in ihrem geplanten ernsten Roman nehmen sollte, obwohl sie in Versuchung war, ihn zum schneidigen Helden in einer reißerischen Geschichte bei Minerva Press zu machen. Dort waren bereits zwei ihrer Schauerromane erschienen. Doch inzwischen hatte Mr. Newman den Verlag von dem verstorbenen William Lane übernommen, und sie hatte den Verdacht, dass er von den Sensationsgeschichten Abstand nehmen wollte. Nun war es schwierig abzuschätzen, was sie am besten tun sollte.

Inzwischen war sie vorsichtig geworden, wem sie von ihren Sensationsromanen erzählte, weil sie befürchtete, man würde sonst ihre ehrgeizigen Ziele nicht ernst nehmen. Es war ihr bewusst, dass sie ausweichend mit Lord Henry über ihre schriftstellerische Tätigkeit gesprochen hatte, aber sie hoffte, er würde es nie herausfinden.

„Sie strahlen Ruhe aus zu dieser Tageszeit“, stellte Lord Henry fest. Erstaunt bemerkte Melissa, dass sie den Park bereits zur Hälfte durchquert hatten.

„Ist das ein höflicher Vorwurf wegen meines Schweigens, Lord Henry?“

„Es soll meine ehrliche Dankbarkeit ausdrücken“, sagte er. „Schauen Sie, dort ist eine Bank. Wollen wir uns eine Weile setzen?“

„Wenn Sie möchten.“ Melissa setzte sich und nutzte die Gelegenheit, ihm jetzt voll ins Gesicht zu sehen. „Sie sehen jetzt ein wenig wacher aus, Mylord.“

„Henry“, sagte er und setzte sich neben sie.

„Wollen Sie damit andeuten, ich solle Ihnen gestatten, mich Melissa zu nennen?“

„Darf ich?“ Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Gestern habe ich gedacht, wir könnten vielleicht Freunde werden.“

„Ach, wirklich? Seltsamerweise hatte ich auch diesen Gedanken.“

„Es muss so sein, glauben Sie nicht? Ich habe es gewagt, in Ihrer Gegenwart die Augen zuzumachen, und Sie haben mich nicht mit Ihrem hübschen Schirm wegen meiner Impertinenz geschlagen.“

„Wir kennen einander doch kaum.“

„Freunde auf den ersten Blick.“ Er öffnete die leicht blutunterlaufenen Augen und lächelte sie an.

„Man sagt, es gäbe Liebe auf den ersten Blick“, sagte sie mit zweifelnder Stimme. „Aber ich weiß nicht, ob das ebenso auf Freundschaft zutrifft.“

„Ich weiß immer sofort, ob ich mich bei einer Person wohlfühle, du nicht auch?“

„Ich weiß, ob ich demjenigen vertraue, und auch, ob ich mich bei ihm wohlfühle. Aber es ist nicht einfach für einen Mann und eine Frau, Freunde zu werden, denke ich.“

„Wahrscheinlich wegen der Erwartungen anderer“, vermutete Henry. „Ich fürchte, dass ich deinen Verehrern einen falschen Eindruck vermitteln könnte. Also werde ich diskret sein müssen, um sie nicht zu vertreiben.“

„Wenn jemand dich diskret herumschleichen sehen würde, wäre es genug, um die fürchterlichsten Vermutungen über unsere Beziehung hervorzurufen“, protestierte Melissa und lachte, als er lachte. „Im Übrigen habe ich keine Verehrer und will auch keine. Ich habe die Absicht, unverheiratet zu bleiben.“

„Warum?“ Henry setzte sich gerade, runzelte die Stirn und nahm dann den Hut wieder ab, als wäre es so einfacher für sie, ihn zu studieren.

„Warum bist du denn nicht verheiratet?“, gab sie zurück. „Du bist älter als ich.“ Sieben- oder achtundzwanzig, schätzte sie. Sie war vierundzwanzig.

„Ich habe weder Aussicht auf einen Titel noch auf irgendwelche Ländereien, also bin ich nicht verpflichtet, einen Erben zu produzieren. Als vierter Sohn werde ich nie erben, außer bei einem großen Unglücksfall. Meine berufliche Stellung verlangt von mir viele Reisen“, zählte Henry auf. Er hatte die Augen wieder geschlossen.

Melissa stupste ihn ein wenig in die Rippen. „Aufwachen, wir gehen weiter.“

Als er wieder auf den Beinen war, hakte sie sich bei ihm unter. Es fühlte sich erstaunlich bequem und richtig an. „Ich dachte, Botschafter müssten immer verheiratet sein.“

Henry schnaubte. „Von diesem Rang bin ich noch weit entfernt.“

„Im Moment.“

„Im Moment mache ich mich eher nützlich, indem ich auf ehrbare Weise mit den Gattinnen anderer Männer flirte und bei ihnen möglichst viele Informationen sammle.“

„Ehrbar? Wirklich? Gibt es denn keine gefährlichen, glamourösen Spioninnen, die du verführen solltest?“

3. KAPITEL

Melissas Frage rief erneutes Schnauben bei Henry hervor. „Gefährliche, glamouröse Spioninnen? Davon träumen alle jungen Männer im diplomatischen Korps. Bisher ist mir aber noch keine unter die Augen gekommen. Und nun erzähle mir, aus welchem Grund du unverheiratet bleiben willst.“

„Frauen werden unterdrückt“, sagte Melissa und machte ein ernstes Gesicht. „Wir sind abhängig von unseren Vätern und später unseren Ehemännern und können nicht einmal unsere eigenen Besitztümer und Tätigkeiten selbst kontrollieren. Der einzige Ausweg ist, unverheiratet zu bleiben. Oder, falls es sich nicht vermeiden lässt, bald Witwe zu werden. Das kommt mir allerdings sehr drastisch vor.“

Henry lächelte. „Außerordentlich drastisch. Sind die glücklichen Ehen deiner Freundinnen nicht ein ermutigendes Beispiel? Sie machen alle vier einen sehr zufriedenen Eindruck.“

„Diese vier Ladys hatten alle außerordentliches Glück. Aber es ist solch ein Risiko. Selbst wenn Ehemänner sich nicht als Tyrannen oder Spieler entpuppen oder ein ausschweifendes Leben führen, reagieren die meisten von ihnen gekränkt, wenn ihre Frauen intelligent und erfolgreich sind. Ich liebe meine Eltern von ganzem Herzen, aber Papa ist ein echter Haustyrann, und Mama – obwohl ich sie für viel intelligenter halte als ihn – stimmt allem zu, was er sagt. Ihr ständiges Motto ist: Dein Vater weiß es am besten. Und das sogar, wenn ganz offensichtlich ist, dass er es nicht weiß!“ 

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