Historical Saison Band 76

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EINE GEHEIMNISVOLLE GOUVERNANTE von DIANE GASTON

Diese bernsteinfarbenen Augen, dieses betörende Lächeln! Die hübsche Claire weckt vom ersten Moment an Lord Brookmores Begehren. Doch nicht nur als Gouvernante seiner beiden Nichten ist sie tabu für ihn - er ist auch längst mit einer standesgemäßen Adligen verlobt! Noch ahnt er nicht, was Claire vor ihm verbirgt …

SINNLICHER AUFRUHR IM HERRENHAUS von LUCY ASHFORD

Isobels Gefühle geraten in Aufruhr: Ihr Jugendschwarm Connor ist zurück aus London und hat das Herrenhaus ihrer verarmten Familie gekauft! Sofort fühlt sie sich wieder zu ihm hingezogen. Aber was empfindet er? Nach dem ersten zärtlichen Kuss stößt er sie zurück. Hat er sie nur aus Rache an ihrem skrupellosen Vater verführt?


  • Erscheinungstag 22.09.2020
  • Bandnummer 76
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749682
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Diane Gaston, Lucy Ashford

HISTORICAL SAISON BAND 76

1. KAPITEL

Juni 1816

Lady Rebecca Pierce folgte dem Matrosen, der ihr Gepäck geschultert hatte, und der sauertöpfisch blickenden Anstandsdame, die sie auf dieser unerwünschten Reise begleitete. Sie war auf dem Weg über die Irische See nach England, wo sie einen Mann heiraten sollte, den sie verabscheute.

Der Matrose ging ihnen voran an Deck und führte sie an anderen Passagieren vorbei hinunter zu den Kabinen. Dort atmete Rebecca die abgestandene Luft ein und fragte sich, ob Nolan, die Anstandsdame, die ihr Halbbruder, der Earl of Keneagle, als ihre Begleitung engagiert hatte, ihr wenigstens erlauben würde, ein wenig Zeit an Deck zu verbringen. Sie liebte es, am Bug eines Schiffes zu stehen, sich die frische Meeresluft um die Nase wehen zu lassen und zuzusehen, wie das Schiff sich seinen Weg durch das tiefblaue Wasser bahnte.

Sie ging ein wenig langsamer, einzig und allein, um Nolan zu ärgern. Deren Aufgabe war es, darüber zu wachen, dass Rebecca die Ehe vollzog, die ihr Bruder für sie arrangiert – nein, ihr aufgezwungen – hatte, aber das bedeutete ja noch lange nicht, dass Nolan jeden ihrer Schritte kontrollieren konnte.

Rebecca blickte sich um. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Selbst wenn sie das kurze Stück bis an Land schwamm … ihr Bruder hatte sichergestellt, dass sie mittellos dastehen würde, sollte sie Lord Stonecroft nicht heiraten.

„Lady Rebecca!“, erklang eine strenge Stimme. Die von Nolan natürlich. „Beeilen Sie sich. Ihre Kabine ist fertig.“

Rebecca biss sich auf die Unterlippe und blieb stehen.

„Lady Rebecca!“ Nolan kam zurück, um sie zu holen.

Widerstrebend – und langsam – folgte Rebecca ihr zur Kabine.

In ihrer Kabine saß Rebecca mit ihrer Anstandsdame an dem kleinen Tisch, der genau wie die Stühle fest mit dem Boden verschraubt war. Durch das kleine Bullauge sahen sie zu, wie das Schiff den Hafen verließ. Es herrschte guter Wind, sodass sie England wohl am Morgen erreichen würden.

Kaum waren sie auf offener See, nahm der Wellengang zu, und das Schiff wurde hin und her geschaukelt.

„Oh“, stöhnte Nolan und hielt sich den Magen. „Mir wird schlecht.“

Nicht in meiner Kabine, dachte Rebecca. „Kommen Sie.“ Sie half Nolan auf. „Ich bringe Sie in Ihre Kabine. Dort können Sie sich hinlegen.“

„Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?“, fragte Rebecca, nachdem sie der älteren Frau ins Bett geholfen hatte. „Essen hilft gegen Seekrankheit.“

Nolan stöhnte abermals. „Kein Essen. Lassen Sie mich allein.“

Rebecca stellte ihr noch einen Eimer ans Bett. „Hier, falls Sie ihn brauchen sollten. Ich schaue später noch einmal nach Ihnen.“

„Nein“, jammerte Nolan. „Lassen Sie mich allein.“

Aber gerne doch, dachte Rebecca.

Trotzdem würde Sie nach Nolan sehen. Sie selbst war nie seekrank, aber auf den Überfahrten während ihrer Schulzeit in England hatte sie häufig Menschen erlebt, die darunter litten.

Sie schritt den Gang entlang und hatte das Gefühl, als wäre ihr eine Last von den Schultern gefallen. Sie war, zumindest im Moment und hier auf dem Schiff, frei. Das war doch schon mal etwas. Also konnte sie an Deck gehen und die Reise genießen.

Die Luke wurde geöffnet, und eine junge Frau stieg die Treppe hinunter. Sie trug ein Cape mit Kapuze, das feucht war und nach Meer roch.

Weil auf der Treppe nur Platz für eine Person war, wartete Rebecca.

Als die Frau mit gesenktem Kopf an ihr vorbeigegangen war, trat Rebecca zur Treppe.

„Wollen Sie an Deck, Miss?“, fragte die Frau. „Man hat mich wieder runtergeschickt.“

Rebecca drehte sich um.

Die Frau zog sich die Kapuze vom Kopf. „Rauer See…“ Sie riss die Augen auf.

Auch Rebecca schnappte nach Luft.

Die Frau hatte dieselben bernsteinfarbenen Augen wie Rebecca, die gleiche Nase, den gleichen Mund und ebenso braunes Haar wie sie. Sie waren ungefähr von gleicher Statur und im selben Alter.

Es kam Rebecca vor, als würde sie in den Spiegel schauen. Nur dass ihr Spiegelbild das Haar zu einem schlichten Knoten geschlungen hatte und ein unscheinbares braunes Kleid unter dem Cape trug.

Fassungslos schüttelte Rebecca den Kopf. „Sie sehen aus wie ich!“ Sie traute ihren Augen nicht und blinzelte, doch das Spiegelbild blieb unverändert.

Die andere Frau lachte beklommen. „Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Ich auch nicht.“ Was sagte man zu seinem Ebenbild?

„Das ist ja unheimlich.“ Die junge Frau richtete sich auf. „Aber entschuldigen Sie meine schlechten Manieren. Ich bin Miss Tilson. Eine Gouvernante.“

Rebecca streckte die Hand aus. „Lady Rebecca Pierce. Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen.“ Fast hätte sie gelacht. „Mich kennenzulernen.“

Miss Tilson schüttelte ihr die Hand.

Die Luke wurde geöffnet, und ein Gentleman kam herunter.

Als er an ihnen vorbeiging, meinte er: „Die Damen sollten lieber in den Kabinen bleiben. Es herrscht starker Seegang. Aber keine Sorge, ich bringe Ihnen nachher das Essen.“

Hatte er die Ähnlichkeit zwischen ihnen bemerkt?

Rebecca und Miss Tilson schwiegen, bis er in einer Kabine am Ende des Ganges verschwunden war.

„Wir sollten auf ihn hören.“ Miss Tilson öffnete die Tür zu einer Kabine, die genauso winzig war wie Nolans. „Ich bin hier untergebracht.“

„Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten“, sagte Rebecca schnell. „Ich bin allein. Meine Begleiterin leidet unter Seekrankheit. Kommen Sie doch einfach mit in meine Kabine.“

Miss Tilson stimmte zu, und als die beiden Frauen wenig später an dem kleinen Tisch saßen, verkniff Rebecca es sich, mit der Frage Warum sehen Sie aus wie ich? herauszuplatzen. Stattdessen sagte sie: „Wohin geht Ihre Reise, Miss Tilson?“

„Zu einer Familie im Lake District. Das heißt, es ist keine richtige Familie. Ich soll zwei kleine Mädchen betreuen, deren Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen sind. Sie sind jetzt in der Obhut ihres Onkels, dem neuen Viscount Brookmore.“

„Wie tragisch.“ Rebecca war immerhin fast erwachsen gewesen, als sie ihre Eltern verloren hatte.

„Und Sie, Lady Rebecca? Wohin wollen Sie?“ Miss Tilson sprach, wie Rebecca feststellte, nicht den typischen irischen Dialekt. Ihr selbst war der auf dem Pensionat in Reading ausgetrieben worden.

„Nach London.“

„London!“ Miss Tilson lächelte. „Wie aufregend. Ich war einmal dort. Es war so … belebend.“

„Belebend? Mag sein.“ Trotzdem wollte Rebecca nicht dorthin. Für sie stellte London ein Gefängnis dar.

„Das klingt so, als wollten Sie nicht nach London.“

„Stimmt. Ich reise dorthin, um zu heiraten.“

„Heiraten?“

Rebecca winkte ab. „Es ist eine arrangierte Ehe. Auf Betreiben meines Bruders.“

„Und Sie möchten diesen Mann nicht heiraten?“

„Nein.“ Sie strich sich das Haar zurück. Die Heirat mit Stonecroft war das Letzte, worüber sie reden wollte. „Können wir das Thema wechseln?“

Miss Tilson blinzelte. „Entschuldigen Sie. Ich wollte nicht neugierig sein.“

Rebecca zuckte mit den Schultern. „Vielleicht erzähle ich Ihnen die ganze Geschichte später.“ Sie beugte sich vor. „Aber jetzt habe ich so viele andere Fragen. Wieso sehen wir uns so ähnlich? Wie kann das angehen? Sind wir irgendwie verwandt?“

Sie tauschten sich über ihre Stammbäume und Familien aus, doch nichts ließ auf eine Verbindung schließen. Miss Tilsons Familie kam aus dem niederen Adel. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, und ihr trauernder Vater hatte sie in die Obhut von Nannys und Gouvernanten gegeben, ehe sie schließlich auf eine Schule in Bristol gekommen war, als ihr Vater starb. Von da an war sie auf sich gestellt gewesen. Sie war als Gouvernante nach Irland gekommen und war jetzt auf dem Weg zu ihrer neuen Stelle.

Rebecca dagegen war die Tochter eines englischen Earls, dessen Güter sich in Irland befanden. Doch den Großteil ihres Lebens hatte sie in England verbracht, vor allem in dem Pensionat in Reading.

„Wie kann das nur sein?“, fragte Rebecca schließlich. „Wir sind nicht verwandt …“

„... sehen aber gleich aus“, beendete Miss Tilson den Satz für sie. „Ist das einfach nur ein unglaublicher Zufall?“

An der Wand hing ein Spiegel. Sie standen auf und musterten sich darin.

„Wir sind nicht identisch“, meinte Miss Tilson. „Schauen Sie.“

Rebeccas Vorderzähne standen etwas weiter vor, ihre Augenbrauen waren geschwungener, die Augen ein wenig größer.

„Niemand würde es bemerken, solange wir nicht nebeneinanderstehen“, fügte Miss Tilson hinzu.

„Unsere Kleidung unterscheidet uns. Das auf jeden Fall.“ Rebecca wandte sich zu Miss Tilson um. „Mit meinen Sachen würde man Sie für mich halten.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, etwas so Schönes zu tragen.“ Rebeccas Ebenbild seufzte.

„Dann müssen Sie sie unbedingt anziehen“, sagte Rebecca impulsiv. „Lassen Sie uns während der Reise die Kleidung und die Rollen tauschen. Das wird ein großer Spaß. Mal sehen, ob es jemandem auffällt.“

Miss Tilson schüttelte den Kopf. „Ihre Kleider sind zu fein für mich. Meine sind so einfach.“

„Genau. Aber ich glaube, dass die Leute mehr auf die Kleidung als auf sonst irgendetwas achten. Vielleicht sogar mehr als auf den Charakter eines Menschen. Wie auch immer, ich finde, es ist nichts dabei, ein schlichtes Kleid zu tragen.“

Die andere Frau berührte den feinen Wollstoff von Rebeccas Reisekleid. „Ich muss gestehen, dass ich schon gern einmal ein solches Kleid tragen würde.“

„Dann sollen Sie das auch!“ Rebecca wirbelte herum. „Knöpfen Sie es auf.“

Nachdem die Frauen die Kleider getauscht hatten, band Miss Tilson Rebeccas Haar zu einem schlichten Knoten im Nacken zusammen, während Rebecca das Haar der anderen Frau frisierte.

Gerade als sie sich lachend wieder im Spiegel begutachteten, klopfte es.

Rebecca grinste. „Machen Sie auf und tun Sie so, als wären Sie ich.“

„Das geht doch nicht!“

Rebecca gab ihr einen kleinen Schubs. „Natürlich geht das.“

Miss Tilson richtete sich auf und öffnete die Tür, während Rebecca sich an den Tisch setzte.

Der Gentleman von vorhin stand, ein Tablett in der Hand balancierend, vor der Tür. „Erfrischungen, Mylady“, sagte er zu Miss Tilson.

Die reckte das Kinn. „Vielen Dank.“

Rebecca warf dem Mann einen verstohlenen Blick zu, ehe sie sich wieder abwandte.

Miss Tilson deutete auf Rebecca. „Miss Tilson leistet mir Gesellschaft. Bringen Sie doch bitte auch ihr Essen in meine Kabine.“

„Sehr gern, Mylady.“ Er stellte das Tablett ab und kam kurz darauf mit zwei weiteren Tabletts zurück. „Ihre Begleiterin, Miss?“

Miss Tilson blickte hastig zu Rebecca, die gänzlich ungerührt tat. Schließlich antwortete die Gouvernante: „Meine … meine Begleiterin hat sich hingelegt. Warum lassen Sie nicht einfach ihr Tablett hier? Wir kümmern uns um sie.“

Der Mann verneigte sich. „Natürlich, Miss.“ Er stellte die Tabletts auf den Tisch.

Nachdem er gegangen war, blickten die beiden Frauen sich mit großen Augen an.

„Ich hatte Angst, er würde sehen, wie sehr wir uns ähneln“, sagte Rebecca. „Er muss mich doch gesehen haben.“

Miss Tilson schüttelte den Kopf. „Eine Gouvernante ist nicht wichtig genug, um beachtet zu werden, Mylady.“

Während des Essens unterhielten sich die Frauen weiter, und es kam Rebecca vor, als würden sie sich schon ewig kennen. „Ich finde, wir sollten uns mit unserem Vornamen anreden“, sagte sie daher. „Es erscheint mir viel zu förmlich, wenn ich mein Spiegelbild anders anrede.“

Miss Tilson sah sie verlegen an. „Wenn Sie es wünschen … Rebecca. Ich bin Claire.“

„Claire!“ Rebecca hatte das Gefühl, unverhofft eine Schwester bekommen zu haben.

Claire schien es ähnlich zu gehen. „Wollen Sie mir jetzt nicht erzählen, warum Sie nicht heiraten wollen?“

Rebecca starrte in ihr Ale, das in einem Krug vor ihr stand. Wie sollte sie das erklären? „Eine Frau gibt alles auf, wenn sie heiratet“, begann sie. „Jeglichen Besitz, der ihr vielleicht gehört. Jegliches Recht, das zu tun, was sie tun möchte. Wenn ich schon alles aufgeben muss, dann sollte es zumindest für einen Mann sein, der mich liebt, der mich respektiert und mich nicht einschränkt.“

Claire hob die Augenbrauen. „Und dieser Mann?“

Rebecca verzog das Gesicht. „Ich habe ihn nur einmal getroffen. Er wollte sich davon überzeugen, dass ich ihm einen Erben liefern kann.“

Claire fand das nicht verwunderlich. „Natürlich will er einen Erben. Vor allem, wenn er einen Titel und Güter hat.“

„Hat er.“

„Ist der Herr reich genug, um für Sie zu sorgen?“, hakte Claire nach.

„Es heißt, dass er reich ist“, erwiderte sie. „Muss er wohl sein, denn er ist willig, mich zu heiraten, obwohl ich nur eine kleine Mitgift mitbringe.“

Claire nickte. „Verraten Sie mir, wer es ist?“

„Lord Stonecroft.“

Claire sah sie fragend an.

„Baron Stonecroft of Gillford.“

„Ah.“ Claire sah sie verständnisvoll an. „Sie hatten sich einen höheren Titel erhofft. Ich meine, Sie haben doch gesagt, Sie seien die Tochter eines Earls.“

Rebecca wehrte ab. „Nein, das ist mir egal.“

Überrascht fuhr Claire fort: „Schien er Ihnen denn grausam zu sein? Haben Sie deshalb Bedenken?“

Nicht grausam.

Gleichgültig.

Rebecca seufzte. „Ich glaube, es gibt in Wahrheit nichts, was wirklich gegen ihn spricht. Ich will ihn einfach nur nicht heiraten.“

„Dann weigern Sie sich doch“, meinte Claire herausfordernd.

Das würde Rebecca zu gern. „Mein Bruder, nein, mein Halbbruder, sagt, ich wäre eine zu große Last für ihn. Er wollte nicht länger warten, bis ich einen Ehemann finde, der mir genehm ist. Ich habe bisher all die Männer abgelehnt, die er für mich ausgesucht hat. Jetzt hat er erklärt, dass ich ohne einen Penny dastehe, wenn ich Lord Stonecroft nicht heirate.“ Röte stieg ihr in die Wangen, als sie an die Auseinandersetzung mit ihrem Bruder dachte. „Ich zweifle nicht daran, dass er es ernst meint.“ Noch immer suchte sie händeringend nach einem Ausweg aus dieser Ehe, sah aber keinen.

„Wie traurig. Man sollte doch meinen, ein Bruder hätte Verständnis. Die Familie sollte einen doch verstehen, oder?“

Rebecca musterte sie neugierig. „Haben Sie Geschwister? Andere Verwandte?“

Claire schüttelte den Kopf. „Ich bin allein.“

Ein weiterer Grund, um eine Art Seelenverwandtschaft mit ihr zu verspüren. „Meine Eltern sind tot“, erzählte Rebecca. „Und für meinen Bruder bin ich auch gestorben. Er hat ausdrücklich erklärt, dass er mich nie wiedersehen will.“

Ihr Bruder hatte immer etwas gegen sie gehabt. Auch gegen ihre Mutter. Vermutlich weil ihr Vater ihre Mutter mehr als seinen Sohn und seine Tochter geliebt hatte.

Nach einem kurzen Schweigen sagte Claire: „Ich denke, Sie können sich wegen der Heirat glücklich schätzen, Lady Rebecca … Rebecca. Sie haben kaum Geld, oder? Sie können dadurch doch nur gewinnen. Sie bekommen einen eigenen Haushalt. Eigene Kinder. Komfort und Sicherheit. Sogar einen gewissen Status in der Gesellschaft.“

Rebecca senkte den Blick.

All das stimmte. Aber Lord Stonecroft war es nur wichtig gewesen, dass sie jung und gesund genug war, um ihm einen Erben zu schenken. Er hatte keine Anstalten gemacht, sie kennenzulernen. Wie sollte sie das Leben mit solch einem Mann aushalten? Ein Leben, das einer emotionalen Wüste glich?

Claire schien Rebeccas Verzweiflung zu spüren. „Vielleicht wird es gar nicht so schrecklich, Lady Stonecroft zu sein“, tröstete sie sie.

„Vielleicht nicht.“ Rebecca zwang sich zu einem Lächeln.

In stillschweigendem Einvernehmen begannen sie und Claire über andere Themen zu sprechen. Hin und wieder sah Claire, als Rebecca verkleidet, nach Nolan, die an ihrer Identität, sehr zu Rebeccas Freude, nicht zu zweifeln schien.

Schließlich, als es dunkel geworden war, stand Claire auf. „Ich sollte in meine Kabine zurückkehren, damit Sie etwas Schlaf bekommen. Ich helfe Ihnen beim Ausziehen, wenn Sie mir aus diesem bezaubernden Kleid helfen.“

Rebecca stand auf und ließ sich von ihrer Doppelgängerin die Bänder des schlichten Kleides lösen. Wie schade. Sie hatte es genossen, einmal nicht sie selbst zu sein, sondern eine Frau zu spielen, deren Leben so viel einfacher zu sein schien, so viel selbstbestimmter.

Sie drehte sich zu Claire um. „Wollen wir ausprobieren, wie weit wir diese Maskerade treiben können? Sie können heute Nacht ich sein. Schlafen Sie in meinem Nachthemd, in diesem Bett. Und ich bleibe weiterhin Sie.“

Die junge Frau sah sie erschrocken an. „Ich kann nicht zulassen, dass Sie sich in das winzige Bett zwängen, das man mir zugewiesen hat!“

„Warum nicht? Für mich ist es ein Abenteuer. Und Sie bekommen diese gemütliche Kabine. Wenn Nolan morgen früh hereinkommt, werden wir sehen, ob sie immer noch glaubt, dass Sie ich sind.“

Rebecca holte ihr Nachthemd, geschneidert aus zartem Musselin. „Hier.“

Claire strich über den weichen Stoff. „Wenn Sie es wirklich wünschen.“

„Aber ja doch“, beharrte Rebecca.

Am Morgen wurde es noch stürmischer, und am Himmel türmten sich immer dunklere Wolken auf. Rebecca überzeugte Claire, die Scharade fortzuführen, und weder Nolan, die weiterhin seekrank im Bett lag, noch einer der Matrosen, die ihnen das Essen brachten, schöpften Verdacht.

Allerdings sahen die Matrosen besorgt aus und verkündeten, dass sich ein gewaltiger Sturm zusammenbraue. Die Damen sollten unbedingt unter Deck bleiben.

Am späten Nachmittag war es dann so weit, der Sturm brach mit aller Härte über sie herein und schüttelte das Schiff noch mehr durch.

„Wir müssten uns eigentlich schon der Küste nähern“, meinte Rebecca.

„Wenn das Schiff überhaupt bei diesem Seegang noch vorwärtskommt.“ Claires Gesicht – ihr Ebenbild – wurde bleich vor Angst.

Plötzlich erklangen über ihnen laute Rufe und polternde Schritte, ehe es einen ohrenbetäubenden Krach und ein heftiges Gepolter gab. Die beiden Frauen fassten sich an den Händen. Ihre Maskerade wurde unwichtig, als der Wind und die Wellen das Schiff wie ein Spielzeug hin und her warfen.

Der Gentleman vom Vortag riss, ohne anzuklopfen, die Tür auf. „Kommen Sie sofort an Deck“, befahl er. „Wir müssen das Schiff verlassen. Nehmen Sie nichts mit.“

Rebecca missachtete seinen Befehl und griff nach ihrem Retikül, in dem sich ihr gesamtes Geld befand. Als sie an die Treppe kamen, drückte sie das Retikül Claire in die Hand. „Hier. Nehmen Sie das. Ich komme sofort. Ich hole nur noch Nolan.“

Claire hängte sich das Retikül ums Handgelenk.

„Miss!“, rief der Gentleman. „Wir müssen rauf.“

„Ich komme sofort“, antwortete sie über die Schulter, bevor sie in Nolans Kabine eilte. Ein Matrose stand bereits an ihrer Tür. „Sie weigert sich mitzukommen!“, rief der Mann Rebecca zu. „Beeilung! Wir müssen an Deck.“

Rebecca rannte an ihm vorbei. „Nolan! Kommen Sie.“

Die ältere Frau zuckte zurück. „Nein. Ich will nicht. Lassen Sie mich allein.“

„Kommen Sie, Miss!“, rief der Matrose. „Wir dürfen keine Zeit mehr verschwenden.“

„Ich kann sie doch nicht hierlassen!“

Er zog sie von Nolans Tür weg und trug sie fast die schmale Treppe hinauf.

Der Wind peitschte ihr den Regen ins Gesicht, doch sie konnte erkennen, dass der Mast zerbrochen war und wie ein gefällter Baum an Deck lag.

„Zu den Booten!“, schrie der Matrose und lief voran.

Schlingernd folgte sie ihm und entdeckte Claire und den Gentleman an der Reling. Im selben Moment neigte das Schiff sich zur Seite, und eine Welle krachte übers Deck. In letzter Sekunde gelang es Rebecca, nach einem Seil zu greifen, sonst wäre sie von Bord gespült worden. Als der Wellengang kurz abebbte, blickte sie auf. Von Miss Tilson und dem Gentleman war nichts mehr zu sehen.

Der Matrose packte sie am Arm. „Kommen Sie, Miss. Uns bleibt keine Zeit mehr.“

Er zog sie mit sich zur Reling, wo andere Passagiere und die Mannschaft bereits in ein Ruderboot kletterten. Claire war nicht unter ihnen. Rebecca schaute hinaus aufs Meer, doch Claire war verschwunden. Nolan, Claire und der Gentleman waren verloren.

Ihr blieb keine Zeit für Trauer. Man half ihr über die Reling, während das Ruderboot unter ihr von den Wellen hin und her geworfen wurde.

Schnell füllte sich das Boot. Rebecca kauerte neben einer Frau, die ihre beiden Kinder an sich drückte. Zu ihren Füßen sammelte sich das Wasser, doch irgendwie gelang es den Matrosen, das Boot vom Schiff weg zu manövrieren. Trotz des heftigen Regens entdeckte Rebecca die Küste und ließ sie nicht mehr aus den Augen. Langsam kam sie immer näher, in scheinbar greifbare Nähe.

Hinter ihr schrie eine Frau auf.

Rebecca wirbelte herum und sah, wie das Schiff gegen die Felsen geschleudert wurde. Im gleichen Moment rammte das Ruderboot etwas und kippte zur Seite.

Rebecca tauchte ins eiskalte Wasser ein.

2. KAPITEL

Garret Brookmore, der neue Viscount Brookmore, hörte die Nachricht vom Schiffsunglück, während er in einem Gasthof in Holyhead wartete. Es handelte sich um das Schiff, mit dem die neue Gouvernante hätte eintreffen sollen. Man erzählte ihm, dass es Überlebende gegeben habe, und Garret fühlte sich verpflichtet, nach Moelfre zu reiten, um zu hören, ob Miss Claire Tilson eine von ihnen war.

Das alles war total neu für ihn. Vor einem Jahr war er mit seinem Regiment in Brüssel stationiert gewesen und hatte auf den Kampf gewartet, der als Schlacht von Waterloo in die Geschichte eingehen sollte. Zehn Jahre lang hatte er gegen die Franzosen gekämpft. Dann kam die Nachricht, dass sein Bruder und dessen Frau bei einem Kutschenunfall ums Leben gekommen waren. Folglich war er sofort nach England zurückgekehrt, um den Titel seines Bruders sowie die dazugehörigen Verpflichtungen zu erben, auf die er nie vorbereitet worden war. Seinen älteren Bruder hatte man von Geburt an darauf gedrillt, der nächste Viscount zu werden. Zudem war John stets der Liebling gewesen, der in den Augen ihres Vaters nichts hatte falsch machen können. Von Garret dagegen hatte man nicht viel erwartet. Sein Leben in der Armee war genauso vorherbestimmt gewesen.

Jetzt musste der Sohn, von dem man nichts erwartet hatte, die Güter verwalten, seinen Sitz im Oberhaus einnehmen und sich um seine beiden verwaisten Nichten kümmern. Pamela und Ellen, die eine neun, die andere sieben Jahre alt, hatten sich in der Obhut einer Gouvernante befunden, die schon lange in der Familie war. Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit den Mädchen. Auch die Gouvernante war gestorben.

Was mussten die beiden kleinen Mädchen denn noch ertragen? Vater und Mutter. Die Gouvernante. Nun blieb ihnen nur ein fremder Onkel, dessen Herz noch bei seinem Regiment war. Garret war schon häufig dem Tod begegnet, doch diese Todesfälle schienen ihm am grausamsten.

Als er die Nachricht bekam, dass die Gouvernante seiner Nichten gestorben war, hatte Garret sich in London aufgehalten, um seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen als Viscount nachzukommen. Er beauftragte eine Agentur, eine neue Gouvernante zu finden, und machte sich auf den Weg zurück nach Westmorland, wo die Güter der Familie lagen. Kaum war er angekommen, schrieb die Agentur, dass die neue Gouvernante aus Irland anreisen würde.

Was war, wenn Miss Tilson bei diesem Schiffunglück ums Leben gekommen war? Was sollte er seinen Nichten erzählen? Dass der nächste Mensch, der sich um sie kümmern sollte, gestorben war?

Er ritt nach Moelfre und erkundigte sich, wo er wohl Überlebende des Schiffsunglücks finden könne. Man schickte ihn zum Pheasant Inn.

„Ich suche nach Überlebenden des Schiffsunglücks“, sagte Garret, nachdem der Wirt ihn begrüßt hatte.

Der Mann schüttelte den Kopf. „Solch eine Tragödie. Fast vierzig Menschen haben ihr Leben verloren. Nur elf haben es überlebt.“

Das klang nicht gut. „Ich suche Miss Claire Tilson.“

Der Wirt begann zu strahlen. „Ah, Miss Tilson! Ja, ja, sie ist hier.“

Erleichtert hakte Garret nach: „Kann ich sie sehen?“

„Natürlich.“ Der Wirt bedeutete ihm zu folgen. „Sie hatte hohes Fieber. Sie wurde aus dem Wasser gezogen, hat man uns gesagt. Aber heute geht es ihr wohl schon ein wenig besser. Vielleicht ist sie aber auch nicht wach.“

„Ich verstehe.“

Der Wirt klopft. „Hier ist ein Besucher für Miss Tilson.“

Ein Dienstmädchen öffnete die Tür. Weder sie noch der Wirt fragten nach, wer er war.

Garret ging zum Bett und war überrascht. Er hatte eine ältere Frau erwartet, doch Miss Tilson sah aus, als wäre sie selbst kaum dem Klassenzimmer entwachsen. Ihre Haut war glatt und rein; ihre Gesichtszüge jedoch nicht zart, sondern markant. Ihr rotbraunes Haar lag ausgebreitet auf dem weißen Kopfkissen. Ob sie wirklich so charakterstark war, wie ihr Gesicht versprach? Auf jeden Fall war er fasziniert.

„Ich brauche ein Zimmer“, sagte er zum Wirt.

„Ja, Sir, kein Problem. Möchten Sie gleich mitkommen? Ich zeige es Ihnen.“

Es widerstrebte Garret, Miss Tilson zu verlassen. „Ich bleibe, bis sie aufgewacht ist. Damit sie weiß, dass ich hier bin.“

Der Wirt griff nach Garrets Gepäck. „Ich bringe das in Ihr Zimmer und gebe Ihnen dann den Schlüssel, wenn es Ihnen recht ist.“

Garret nickte.

„Darf ich kurz gehen, Sir?“, fragte das Dienstmädchen. „Ich bin hungrig und würde gern etwas essen.“

Der Wirt blickte zu Garret.

„Ich habe keine Einwände.“ Und so saß er im nächsten Moment allein am Bett einer Schönheit, die er nicht kannte, aber für die er jetzt verantwortlich war.

Er hing seinen Gedanken nach, als Miss Tilson auf einmal langsam die Augen aufschlug.

„Wo?“, fragte sie mit krächzender Stimme.

Er schenkte ihr ein Glas Wasser ein. „Sie sind in Sicherheit, Miss Tilson“, erklärte er ihr. „Sie sind in einem Gasthaus in Moelfre.“

Sie zog verwirrt die Brauen zusammen. „Miss Tilson“, flüsterte sie. „Claire.“

Er half ihr, sich aufzusetzen und hielt das Glas, während sie trank. „Ich bin Lord Brookmore.“ Der Titel war noch immer ungewohnt. Sein Vater war erst Lord Brookmore gewesen, dann sein Bruder. „Ihr Arbeitgeber.“

Sie starrte ihn eine Weile einfach nur an, und er hatte das Gefühl, als würden sich die unterschiedlichsten Emotionen in ihren Augen spiegeln. Verwirrung, Entsetzen, Trauer und schließlich Verstehen.

Rebecca schlug das Herz bis zum Hals. Das hier war keine weitere Fieberfantasie, sondern ein echter Mann, der sie berührte, der ihr beim Trinken half. Nachdem sie ihren schrecklichen Durst halbwegs gestillt hatte, wurde ihr bewusst, dass sie nichts weiter als ein dünnes Nachthemd trug. Wem gehörte es? Waren sogar die Kleider, die sie getragen hatte – Claire Tilsons Kleider – verloren? Ihr schnürte sich die Kehle zu, doch diesmal aus Trauer. Claire. Nolan. All diese armen Menschen.

Sie zuckte vor dem Mann zurück, und er setzte sich wieder auf den Stuhl.

Er sei Claires neuer Arbeitgeber, hatte er gesagt, und er glaubte, sie wäre die arme Gouvernante, die von einer tödlichen Welle davongeschwemmt worden war. Er sah nicht aus wie ein Mann, der eine Gouvernante einstellte. Seine rauen Gesichtszüge und sein kräftiger Körperbau ließen ihn ziemlich wild aussehen. Seine stechend blauen Augen verbargen kaum, dass er bereits schmerzhafte Erfahrungen gemacht hatte. Das dunkle Haar, länger als die Mode erlaubte, sah genauso zerzaust aus wie bei einem Mann, der mit einem wilden Hengst über die Felder galoppiert war. Die Bartstoppeln auf seinem kräftigen Kinn ließen ihn verwegen aussehen.

Sie ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Warum war der Mann mit ihr allein? Noch nie war sie in ihrem Schlafzimmer allein mit einem Mann gewesen – noch dazu nur im Nachthemd.

„Warum …?“ Das Sprechen fiel ihr schwer. „Warum sind Sie hier?“

Er richtete seine blauen Augen auf sie. „Ich hatte in Holyhead gewartet, als ich von dem Schiffsunglück hörte. Also bin ich hierhergeritten, um zu sehen, ob Sie … überlebt haben.“

Das Schiffsunglück. Wieder hatte sie die Welle vor Augen, von der Claire mitgerissen worden war. Wieder spürte sie, wie das Ruderboot auf einen Stein krachte, und sie ins Wasser fiel.

Die Erinnerung ließ sie zittern, und er stand wieder auf, um ihr eine Decke um die Schultern zu legen. Unter seiner Berührung wurde ihr ganz warm.

„Wie … wie viele haben überlebt?“

„Elf, hat der Wirt gesagt.“

Nur zehn weitere? Was war mit der Frau und den Kindern? Waren sie genauso wie Claire und der Gentleman ins Meer gespült worden? Rebeccas Augen brannten.

„Oh, mein Gott.“ Sie barg das Gesicht in den Händen und schluchzte.

Sie spürte, dass er sie anstarrte, obwohl er sich still und ruhig verhielt. Wie beschämend, vor einem Fremden so zusammenzubrechen. Es passte so gar nicht zu ihr.

Schließlich versuchte sie, sich zu beruhigen, hob den Kopf und atmete tief durch.

Wortlos holte er ein Taschentuch aus der Tasche und reichte es ihr.

Es war noch warm von seinem Körper. Sie wischte sich die Augen. „Danke.“ Sie wollte ihm gerade das Tuch reichen, zog dann aber die Hand zurück und lachte unsicher. „Ich … ich lasse es waschen.“

Wie albern. Sie hatte gar nicht die Möglichkeit, etwas waschen zu lassen. Sie besaß kein Geld mehr. Keine Kleidung. Nichts.

Natürlich könnte sie ihre Identität preisgeben. Könnte nach London, an Lord Stonecroft schreiben und von ihrer Lage berichten. Aber warum sollte sie um Hilfe bitten, wenn sie ihm entkommen wollte? Seine Zuchtstute zu werden klang fast schlimmer als Ertrinken.

Lord Brookmore lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

Sie sollte ihm sagen, dass sie nicht Claire Tilson war, dass sie gesehen hatte, wie Claire über Bord gegangen war.

Ach, warum nur war Claire ertrunken und nicht sie? Claire war unabhängig gewesen. Sie hatte Arbeit gehabt, mit der sie ihr eigenes Geld verdiente, und die Hoffnung, irgendwann einen Mann zu finden, der sie liebte. Claire wäre so viel besser zurechtgekommen als Rebecca, auf die nichts weiter als das Gefängnis einer Ehe wartete.

Noch einmal blickte sie verstohlen zu Lord Brookmore, und ihr Herz schlug schneller.

Er glaubte, sie wäre Claire. Vielleicht war sie die Einzige, die wusste, dass sie in Wahrheit Lady Rebecca Pierce war. Sie hatte zwar nicht anstelle von Claire ertrinken können, aber sie konnte jetzt deren Leben leben.

Und ihrem eigenen Leben entfliehen.

Lord Stonecroft würde nicht um sie trauern; es würde ihn nur ärgern, dass er sich eine neue Zuchtstute zum Heiraten suchen musste. Auch ihr Bruder würde ihr keine Träne nachweinen, sondern sich freuen, dass er ihre Mitgift behalten konnte. Und sie könnte zu Claire werden.

Doch sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie würde diesen gut aussehenden Mann betrügen. Keine nette Art, seine Freundlichkeit zu vergelten.

Doch er brauchte ja eine Gouvernante. Wie schwer konnte es schon sein, Gouvernante zu sein? Damit half sie ihm doch, oder?

„Ich … ich hatte Fieber, glaube ich“, sagte sie. „Ich erinnere mich nicht mehr an viel, außer …“ Außer dass sie ins kalte Wasser gestürzt war und geglaubt hatte zu sterben. „Außer dem Schiffsunglück.“

„Ich weiß leider auch nur, dass Sie gerettet wurden und seitdem krank waren.“

„Wollen Sie mich immer noch als Gouvernante für Ihre Nichten einstellen?“ Akzeptierte er sie als Claire, das war die eigentliche Frage.

„Wenn Sie sich der Aufgabe gewachsen fühlen, ja.“ Seine Stimme klang ernst und förmlich und war so tief, dass sie sie fast spüren konnte. „Wenn Sie eine längere Genesungsphase brauchen …“

„Mir geht es schon wieder ganz gut.“ Sie setzte sich auf, um es zu beweisen.

„Gut.“ Er erhob sich. „Ich schicke nach dem Dienstmädchen, damit es Ihnen etwas zu essen bringt, wenn Sie hungrig sind.“

Sie wusste nicht, ob sie hungrig war, aber die Erwähnung von Essen ließ ihren Magen knurren. „Danke, Sir.“

Er nickte. „Wir könnten schon morgen nach Brookmore House reisen, wenn Sie dazu in der Lage sind.“

Es war besser, schnell abzureisen, obwohl von den zehn Überlebenden wohl kaum jemand erkennen würde, dass sie nicht Claire war. Jemand hatte sie schließlich schon als Claire identifiziert.

„Dann bin ich morgen früh reisefertig.“

Er nickte. „Sehr gut. Wenn Sie etwas brauchen, Miss Tilson, sagen Sie es bitte. Ich werde dafür sorgen, dass Sie es bekommen.“

Sie blickte an sich hinab. Sie brauchte alles! Lady Rebecca hätte nicht gezögert, jedes einzelne Teil aufzulisten, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Claire so etwas getan hätte.

„Vielen Dank, Sir“, murmelte sie stattdessen.

„Dann verlasse ich Sie jetzt.“ Er neigte den Kopf. „Miss Tilson.“

„Mylord.“

Sobald er das Zimmer verlassen hatte, stand Rebecca von Unruhe gepackt auf. Der Fußboden unter ihren Füßen war kalt, und ihre Beine noch schwach. Sie ging zum Fenster und blickte hinaus auf die Dorfstraße. Karren und Kutschen rumpelten entlang, und die Einwohner eilten ihrem Ziel entgegen, als wäre es ein Tag wie jeder andere.

Doch ihre Tage würden nie mehr dieselben sein. Beklommenheit macht sich in ihr breit. Sie war dabei, ein ganz neuer Mensch zu werden.

Als sie sich die Arme rieb, nahm sie noch immer den schwachen Geruch von Salzwasser auf ihrer Haut wahr. Sie wollte nicht mehr nach Meer riechen. Sie wollte diese Erinnerungen verbannen.

Daher bat sie das Dienstmädchen, das ihr ein Tablett mit Essen brachte, darum, ihr ein Bad einzulassen.

„Gern, Miss. Sonst noch irgendetwas? Der Gentleman hat mir ein paar Münzen gegeben, damit ich Ihnen besorgen kann, was Sie brauchen.“

„Ich bräuchte neue Kleidung.“

Am nächsten Morgen war Rebecca nicht nur sauber und erfrischt, sondern trug auch neue Sachen.

Betty, das Dienstmädchen, hatte ihr geholfen, in das schlichte Kleid samt Korsett zu schlüpfen. Die Strümpfe sahen neu aus, und die Schuhe, eingetragene halbhohe Stiefel, waren nur ein wenig zu groß. Außerdem hatte sie eine neue Bürste und einen Kamm sowie Haarspangen mitgebracht.

Als Rebecca in den Spiegel schaute, war sie wirklich zu Claire Tilson geworden, eine Tatsache, die ihr Tränen in die Augen trieb.

Entschlossen blinzelte sie dagegen an.

„Ich teile Seiner Lordschaft mit, dass Sie angezogen sind“, sagte Betty, und kurz darauf betrat Lord Brookmore das Zimmer.

„Guten Morgen, Sir.“ Rebecca erinnerte sich daran, ehrerbietig zu knicksen. Er war schließlich ihr Arbeitgeber. Seine Anwesenheit raubte ihr ein wenig den Atem, aber das war bestimmt nur die Aufregung, weil sie ihn belog. Es lag bestimmt nicht daran, dass er sehr groß und sehr männlich war.

„Miss Tilson“, sagte er und reichte ihr ein in Papier eingewickeltes Paket. „Ich habe mir erlaubt, ein paar Dinge zu kaufen, die Sie auf Ihrer Reise nach Brookmore brauchen werden.“

Sie öffnete das Paket und fand darin einen breiten Schal mit Paisley-Muster, einen Seidenhut und ein Paar Handschuhe.“

„Wie bezaubernd“, flüsterte sie. Alles war so exquisit wie die Dinge, die sie einmal besessen hatte.

Er nickte. „Wie geht es Ihnen? Wir müssen heute nicht abreisen, wenn Sie sich noch nicht richtig erholt haben.“

„Mir geht es gut!“, versicherte sie ihm. Sie war bereit für ihr neues Leben.

Claires Leben.

Sie blickte zu den Dingen in ihrer Hand. „Vielen Dank hierfür. Und danke für die anderen Sachen.“

Er zuckte mit den Schultern. „Sie brauchten ja etwas zum Anziehen.“ Er stand noch immer an der Tür, und Rebecca verspürte den Drang, ihn hereinzubitten und ihm Tee anzubieten, so wie sie es zu Hause in Irland getan hätte. Wie albern! Sie hatte keine Möglichkeit, Tee zu bestellen, und ob eine Gouvernante einen Lord bat, sich zu setzen, war mehr als zweifelhaft.

Es würde noch einige Mühen erfordern, sich von Lady Rebecca zu befreien.

Er wirkte ein wenig unbeholfen und schaute ihr nicht in die Augen. „Dann lasse ich die Kutsche vorfahren, wenn Sie sicher sind, dass wir aufbrechen können.“

„Ich bin bereit.“

Schnell ging sie durchs Zimmer, um sein Taschentuch zu holen. Sie hatte es gewaschen und vor dem Feuer getrocknet. Es war zwar nicht geplättet, aber das war das Beste, was sie hatte tun können.

Sie reichte es ihm. „Es ist wieder sauber, Sir.“

Als er danach griff, ruhte sein Blick auf ihr. Ihre Finger berührten sich, und Rebecca spürte, wie ihre Haut erglühte. Hastig trat sie zurück.

Lord Brookmore räusperte sich. „Ich kümmere mich um die Kutsche.“

3. KAPITEL

Die Kutsche, die Lord Brookmore gemietet hatte, war zwar einigermaßen bequem, doch so klein, dass Rebecca froh war, dass der Viscount neben ihr her ritt, sonst wären sie sich körperlich doch sehr nahe gekommen. Leider bedeutete es aber auch, dass sie keine Gesellschaft hatte.

Unglücklicherweise wand sich der Weg an der Küste entlang, sodass sie ständig das Meer im Blick hatte und immer wieder an das entsetzliche Schiffsunglück denken musste.

Hin und wieder lenkte Lord Brookmore sein Pferd direkt neben die Kutsche und fragte, wie es ihr gehe. Sie erwiderte stets, dass alles bestens sei. Die Wahrheit wäre schwer zu erklären gewesen. Ansonsten sprachen sie nicht viel, auch nicht während der kurzen Aufenthalte, wenn sie die Pferde wechseln mussten oder etwas aßen.

Endlich jedoch verschwand das Meer aus ihrem Blickfeld, und stattdessen kamen sie an Höfen, Feldern und kleinen Dörfern vorbei. Hier roch es nach Dingen, die wuchsen, nach Leben, nicht nach Tod im Wasser.

Es war Nachmittag, als Lord Brookmore, der auf dem Rücken des Pferdes noch beeindruckender aussah, verkündete: „Wir nähern uns Chester. Dort werden wir übernachten.“

In dem Gasthof in Chester stieg Garret ab und übergab das Pferd dem Stallburschen. Die Kutsche fuhr direkt nach ihm auf den Hof, und einer der Kutscher sprang herab, um Miss Tilson herauszuhelfen. Sein Gepäck in der Hand, stand Garret da und wartete auf sie.

In der schwindenden Sonne sah sie noch blasser aus als am Morgen. Er vermutete, dass sie sich doch noch nicht wieder völlig erholt hatte. Er hätte noch einen Tag länger mit der Abreise warten sollen. Doch er war ungeduldig, wollte nach Brookmore House zurückkehren, damit sie sich dort einleben und sich um seine Nichten kümmern konnte. Damit endlich alles wieder halbwegs normal verlief. Brookmore House fühlte sich für ihn noch immer an wie das Haus seines Bruders, nicht sein eigenes, obwohl auch er dort aufgewachsen war. Allerdings war er schon als Kind permanent daran erinnert worden, dass sein Bruder der Erbe und spätere Besitzer der Güter sein würde.

Er selbst würde nach London zurückkehren müssen, obwohl er nicht so erpicht darauf war, wie er hätte sein sollen. Die Ereignisse in London hatten ihn mitgerissen, doch Garret kam es vor, als würde er einem anderen Mann dabei zusehen, wie der sich in der Gesellschaft bewegte und versuchte, den Erwartungen zu entsprechen. Manchmal erkannte er sich selbst nicht wieder.

Aber es war das, was von ihm verlangt wurde. Bekannte seines Bruders und Vaters hatten ihn in die Zeremonien, die Sitten und die Politik des Oberhauses eingewiesen und ihm erklärt, was ein Viscount zu tun hatte.

Er musste sein Erbe sichern, darauf hatten sie bestanden. Seine Familie würde alles an einen entfernten Verwandten verlieren, wenn er sein Erbe nicht antrat. Also hatte Garret seine Pflicht erfüllt. Hatte sich auf dem Heiratsmarkt umgesehen und sich schließlich sogar verlobt.

Lady Agnes sei die perfekte Wahl, das hatten ihm seine Ratgeber versichert. Sie war nicht nur die Tochter des Earl of Trowbridge, sondern auch elegant, nett, kultiviert und hübsch. Sie wäre eine perfekte Gastgeberin. Es gab wirklich absolut nichts, was gegen Lady Agnes sprach.

Nur dass Miss Tilson mehr Gefühle in ihm wachrief, als Lady Agnes es je vermocht hatte.

Er trat zu der Gouvernante und griff nach ihrer Tasche. „Sie sehen müde aus. Ich besorge Ihnen ein Zimmer und lassen Ihnen etwas zu essen hinaufschicken.“

Sie warf ihm einen entsetzten Blick zu, den er nicht zu deuten vermochte, doch er nahm die Tasche und betrat den Gasthof. Rebecca folgte ihm.

Der Wirt begrüßte sie. „Ein Zimmer für Sie, Sir?“

„Zwei Zimmer“, erwiderte Garret. „Die Dame benötigt außerdem ein Dienstmädchen und eine Mahlzeit auf dem Zimmer.“

„Sehr gern, Sir.“ Der Wirt verbeugte sich.

„Nein!“, warf Miss Tilson mit scharfer Stimme ein, bevor sie etwas sanfter fortfuhr: „Nein, bitte. Ich würde lieber im Gastraum essen.“

Der Wirt zog die Augenbrauen hoch, genau wie Garret. Sie wollte sich in einer öffentlichen Schankwirtschaft aufhalten? Was war das denn für eine Gouvernante?

„Wie Sie wünschen“, meinte Garret zögernd.

Der Wirt räusperte sich. „Darf ich Ihnen die Zimmer zeigen?“ Er führte sie nach oben, wies auf zwei gegenüberliegende Türen und reichte ihnen die Schlüssel, ehe er wieder verschwand.

In seinem Zimmer stellte Garret bei offener Tür seine Tasche ab und legte Hut und Handschuhe auf den Tisch, doch er blieb an der Tür stehen.

Genau wie Miss Tilson.

Sie hob das Kinn. „Lord Brookmore, mir scheint, es missfällt Ihnen, dass ich nicht auf meinem Zimmer essen möchte. Wenn Sie es wünschen, werde ich es natürlich tun.“

„Diese öffentlichen Schankräume sind nicht der richtige Ort für Damen ohne Begleitung, Miss Tilson.“

Sie senkte den Blick. „Daran habe ich nicht gedacht. Ich wollte nur gern Menschen um mich haben, um nicht allein zu sein“, erklärte sie mit zitternder Stimme. „Denn dann kommt die Erinnerung an das Schiffsunglück zurück.“

Das Schiffsunglück. Natürlich verfolgte es sie noch. Bis gestern war sie zu krank gewesen, um sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen.

„Könnten Sie mich in die Gastwirtschaft begleiten?“, fragte sie. „Sie müssen sich auch nicht mit mir unterhalten. Ich möchte nur gern unter Menschen sein, um mich abzulenken.“

Wie oft hatte er selbst nach einem Gefecht die Gesellschaft der anderen Offiziere gesucht? Wenn man allein mit seinen Gedanken blieb, wurde alles nur noch schmerzhafter. Gesellschaft und Alkohol hielten die Erinnerungen in Schach. Er hätte wissen müssen, dass es der jungen Frau ähnlich erging.

Doch wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er versuchte, nicht so eingehend über sie nachzudenken.

Sie biss sich auf die Unterlippe. „Verzeihen Sie. Es war falsch von mir, Sie darum zu bitten.“ Sie wandte sich um, um in ihr Zimmer zu gehen. „Bitte lassen Sie mein Essen heraufschicken.“

Er trat zu ihr und griff nach ihrem Arm, nur um ihn sofort loszulassen, als sie sich erschrocken umdrehte.

„Wenn Sie nicht allein essen möchten, dann müssen Sie das auch nicht. Ich werde nach einem Privatsalon fragen, und dann sind Sie mein Gast.“

Erleichtert lächelte sie ihn an. „Oh, vielen Dank, Sir.“

Er schloss die Tür zu seinem Zimmer. „Ich kümmere mich sofort darum.“

Dieses Mal war sie es, die seinen Arm berührte. „Darf ich mit Ihnen gehen?“

Ihr Bedürfnis nach Gesellschaft war so stark? Er nickte. „In dem Fall, geben Sie mir ein paar Minuten, um mich frisch zu machen, und danach können wir gleich essen.“

Im Schankraum war es so, wie Garret befürchtet hatte. Laut und voll. Es roch nach Hopfen, Essen und Schweiß. Männer aller Klassen tranken Ale aus großen Krügen, während die Dienstmädchen sich einen Weg durch die Menge bahnten.

Garret trat zum Wirt. „Wir brauchen einen Privatsalon!“, rief er.

Der Wirt nickte. „Hier entlang, Sir!“

Garret nahm Miss Tilson beim Arm, als er dem Wirt durch die Schänke folgte. Die Männer starrten die Gouvernante an, einige neugierig, andere lüstern. Besorgt zog Garret sie ein wenig näher zu sich. Hatte er ein derartiges Bedürfnis zu beschützen jemals bei Agnes verspürt?

Der Vergleich hinkte. Er hatte Lady Agnes niemals durch eine laute Schänke begleitet und konnte sich auch nicht vorstellen, es jemals zu tun.

Er spürte, wie Miss Tilson unter seiner Berührung erzitterte.

Im Privatsalon ließ er sie sofort los und hoffte, dass sie ihn nicht als zu aufdringlich empfunden hatte. Er hatte sie nur beschützen wollen, nichts weiter.

„Was möchten Sie trinken?“, fragte der Wirt, während er zwei Lampen anzündete.

„Für mich ein Ale“, erwiderte Garret. Es war nicht gerade das Getränk für einen Viscount, aber er war durstig. „Miss Tilson?“

„Rotwein?“, fragte sie unsicher.

„Einen Krug Rotwein für die Dame.“

Der Mann rieb sich die Hände. „Und Essen? Wir haben Saibling oder Hammelragout, Taube …“

„Keinen Fisch!“, rief Miss Tilson.

Der Wirt sah sie überrascht an.

Garret drehte sich zu ihr herum. „Also das Ragout?“

Sie nickte.

Er wandte sich wieder an den Wirt. „Wir nehmen beide das Ragout. Und bringen Sie auch Brot und Käse.“

„In Ordnung, Sir.“ Der Mann verbeugte sich und verließ den Raum.

Als er die Tür hinter sich schloss, ließ Miss Tilson sich auf einen Stuhl sinken und atmete angestrengt aus.

Garret deutete mit dem Kopf zur Tür. „Verstehen Sie jetzt, warum Sie nicht allein dort essen können?“

Sie atmete noch einmal tief durch und presste sich eine Hand gegen die Brust. „Es war so merkwürdig. Die Stimmen. All die Männer. Ich war auf einmal wieder an Deck des Schiffes. Ich sah es richtig vor mir.“ Kopfschüttelnd schaute sie ihn an. „Jetzt halten Sie mich sicherlich für verrückt. Ich fühle mich ja selbst verwirrt.“

Er setzte sich ihr gegenüber. „Manche Soldaten haben nach einem Gefecht auch solche Visionen. Als wären sie wieder dort.“

„Wie meinen Sie das?“

„Sie hören den Lärm des Gefechtes. Denken sogar, sie sehen den Kampf.“

Hoffnungsvoll fragte sie: „Glauben Sie, es ist bei mir dasselbe?“

„Könnte sein.“ Er sah zu Boden und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

Ihr so nahe zu sein und in diese grün-braunen, faszinierenden Augen zu blicken, weckte in Garret ein Gefühl der Sehnsucht. Vielleicht lag es an den wechselnden Gefühlen, die sich in diesen Augen spiegelten. Vielleicht fühlte er sich zu ihr hingezogen, weil sie gelitten hatte, und weil sie genau wie er wusste, wie es sich anfühlte, wenn man überlebt hatte, während viele andere gestorben waren.

Aber er durfte sie nicht begehren. Sie war eine Gouvernante. Bei ihm angestellt. Und er war jetzt ein Viscount. Eine Gouvernante war nicht standesgemäß für ihn.

Einmal ganz davon abgesehen, dass er verlobt war.

Er biss die Zähne zusammen und hatte auf einmal das Gefühl, in der Falle zu stecken.

„Habe ich Sie verärgert?“

Das war definitiv nicht das Problem. Leider war er kurz davor gewesen zu vergessen, wer er war, und zu glauben, er wäre wieder Soldat.

„Überhaupt nicht.“

Sie verschränkte die Finger in ihrem Schoß und senkte den Blick. Es kam ihm vor, als würde sie sich zurückhalten, und er fragte sich, was er wohl zu sehen bekäme, wenn sie ihre Zurückhaltung aufgab? Er musste insgeheim lachen. Anscheinend waren sie beide gefangen, beide unfähig, der oder die zu sein, die sie eigentlich waren.

Aber diese Art von Seelenverwandtschaft schürte das unerklärliche Verlangen in ihm noch mehr, und das brauchte er definitiv nicht. Es war kein körperliches Verlangen – oder, besser gesagt, nicht nur das.

Wie seltsam, dass ihr Aussehen ihn so faszinierte, obwohl es nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprach.

Im Gegensatz zu Lady Agnes.

Miss Tilson war zu groß, hatte zu ausgeprägte Gesichtszüge, doch sie war ausdruckstark. Es fiel ihm schwer, den Blick von ihrem Gesicht zu lösen, in dessen Mienenspiel sich die verschiedensten Gefühle zeigten.

Sie holte tief Luft, als wollte sie die unangenehmen Gedanken abschütteln. „Sie waren also beim Militär?“

„Ich war der jüngere Sohn, bis mein Bruder gestorben ist.“ Er blinzelte seine eigenen unerwünschten Erinnerungen fort.

„Waren Sie in Waterloo dabei?“, hakte sie nach.

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“

Natürlich hätte er in Belgien bei seinem Regiment bleiben können, als er den Titel geerbt hatte. Er hatte geahnt, dass die entscheidende Schlacht unmittelbar bevorstand. Aber er hatte nicht das Risiko eingehen wollen, getötet zu werden. Denn dann hätte man seine Nichten irgendwelchen entfernten Verwandten anvertrauen müssen.

Es hatte ihn geschmerzt, nicht an der Schlacht in Waterloo teilnehmen zu können. Viele seiner Männer waren dort umgekommen. Er hätte sie anführen, sie beschützen sollen.

Miss Tilson zog die Augenbrauen zusammen. „Und es gibt Soldaten, die die Schlachten hinterher noch einmal durchleben, so wie ich jetzt immer wieder den Schiffsuntergang durchlebe?“

„Ja, viele. Ich denke, wenn ich jetzt Kanonenfeuer hören würde, wäre ich auch wieder mitten in einer Schlacht.“

„Tatsächlich?“

Es klopfte, und ein Dienstmädchen brachte ihnen das Essen und die Getränke. Nachdem Garret einen großen Schluck Ale getrunken hatte, machte er sich hungrig über das Ragout her.

Miss Tilson dagegen knabberte nur gedankenverloren an einem Stück Brot.

Er fühlte mit ihr mit. „Reden Sie darüber.“

Sie schaute auf. „Worüber?“

„Über das Schiffsunglück. Es hilft.“

Und ihm würde es helfen, auf Distanz zu dieser jungen Frau zu bleiben – der Gouvernante seiner Nichten.

Rebecca wandte den Blick ab. Sie sehnte sich wirklich danach, über all das zu sprechen, was ihr nicht aus dem Kopf ging, aber durfte sie das?

Claire Tilson hätte es abgelehnt. Sie wäre gar nicht erst mit ihrem Arbeitgeber zum Essen gegangen. Sie wäre allein auf ihrem Zimmer geblieben, selbst wenn sie es unerträglich gefunden hätte.

Nun, sie konnte später wieder wie Claire Tilson sein. Jetzt war sie Rebecca Pierce, die auf gleicher Stufe stand wie dieser Mann, und sie musste reden.

„Kurz nach dem Aufwachen wurde es richtig stürmisch, und man sagte uns, dass wir in der Kabine bleiben müssten.“

„Wir?“, fragte er erstaunt.

Sie musste aufpassen, was sie sagte. „Ich … ich hatte mich mit einer anderen jungen Frau angefreundet. Wir haben den Großteil der Überfahrt zusammen verbracht.“ In der Kleidung der jeweils anderen.

Sie berichtete ihm von den Ereignissen, verschwieg aber, dass sie sich von Nolan, ihrer seekranken Begleiterin, hatte wegziehen lassen. Würde sie sich das jemals vergeben? Rebecca schlug sich die Hände vors Gesicht.

„Fahren Sie fort.“

„Ich wurde in ein Ruderboot gesetzt. Neben mir saß eine Mutter mit ihren Kindern. Wir näherten uns schon dem Ufer, als das Schiff gegen einen Felsen geschleudert wurde, und Sekunden später kenterte auch das Ruderboot.“ Sie erinnerte sich an das kalte Wasser. Daran, dass sie nicht mehr gewusst hatte, wo oben und unten war, dass sie keine Luft mehr bekommen hatte. „Mehr weiß ich eigentlich nicht mehr, bis ich dann im Gasthaus wieder aufgewacht bin.“

Was war mit der Mutter und ihren Kindern geschehen? Die Vorstellung, dass ihre toten Körper an Land gespült wurden, war schrecklich.

Sie blickte zu Lord Brookmore, der sie unverwandt anschaute.

Resigniert sagte sie: „Das war’s.“

Musterte er sie skeptisch? Sie wusste es nicht. „Eine grauenvolle Erfahrung“, sagte er eher sachlich als mitleidig.

Das war auch gut so, denn wenn er versucht hätte, ihr Trost zu spenden, wäre sie vermutlich wieder zusammengebrochen.

Er tauchte seinen Löffel in das Ragout, und auch Rebecca aß ein paar Bissen. „Ich weiß nicht, warum ich gerettet wurde. Warum ich, während so viele andere sterben mussten?“

„Solche Dinge kann man nicht erklären. In den Schlachten sterben gute Männer. Und Männer wie ich überleben. Es ergibt nicht wirklich Sinn.“

Natürlich, er wusste vermutlich mehr über das Sterben, als sie je erfahren würde. „Was meinen Sie damit? ‚Männer wie ich?‘ Sind Sie ein schlechter Mensch?“, fragte sie, um einen leichteren Ton bemüht.

Seine Miene verdüsterte sich. „Es gab Zeiten in meiner Jugend, da war mein Vater davon überzeugt.“

„Das glaube ich nicht. Zu mir waren Sie mehr als freundlich.“

Er lachte trocken. „Ich brauche eine Gouvernante für meine Nichten.“

„Ich denke nicht, dass eine Gouvernante so schwer zu finden ist. Sie hätten jemand anderen einstellen können. Sie hätten nicht kommen müssen, um nach mir zu suchen.“

„Und wie hätte ich das meinen Nichten erklären sollen? Dass ich mir, nachdem sie ihre Eltern und ihre alte Gouvernante verloren haben, nicht die Mühe gemacht habe zu sehen, ob ihre neue Gouvernante das Schiffsunglück überlebt hat?“

„Ein schlechter Mann hätte sich nicht darum gekümmert. Ich möchte nicht, dass Sie sich derart herabsetzen.“

Er wich ihrem Blick aus.

„Ist Ihnen je in den Sinn gekommen, dass Sie all diese Schlachten überlebt haben, damit Sie sich jetzt um Ihre Nichten kümmern können?“

„Es wäre viel besser gewesen, wenn mein Bruder und seine Frau statt meiner Wenigkeit am Leben geblieben wären“, erklärte er grimmig.

Seine Worte machten sie fassungslos, weil ihre Gedanken in eine ähnliche Richtung gingen. Claire hätte statt Rebecca am Leben sein sollen. Sie hätte nur gewinnen können. Rebecca hatte sich dagegen einer düsteren Zukunft in einer lieblosen Ehe gegenübergesehen.

Immerhin hatte sie jetzt noch einen guten Grund, warum sie Claires Leben führen wollte. Damit Lord Brookmore seinen Nichten nicht erzählen musste, dass auch ihre neue Gouvernante ums Leben gekommen war. Seine Mühe sollte nicht umsonst gewesen sein.

Also musste sie lernen, sich mehr wie Claire und weniger wie Rebecca zu verhalten. „Erzählen Sie mir von Ihren Nichten.“

Er zuckte mit den Schultern. „Sie sind sieben und neun Jahre alt, aber das wissen Sie ja vermutlich schon.“

Sie wusste gar nichts. „Und wie heißen sie?“

Er musterte sie. „Hat man Ihnen die Namen nicht mitgeteilt?“

Oje. Sie musste aufpassen, wenn dieser Schwindel funktionieren sollte.

„Es stand in dem Brief …“ Es hatte bestimmt einen Brief gegeben. „Aber ich fürchte, nach allem, was passiert ist, kann ich mich an Einzelheiten nicht mehr erinnern. Es tut mir leid.“

Zu ihrer Erleichterung schien er das zu akzeptieren. „Pamela ist die Ältere, Ellen die Jüngere.“

Pamela und Ellen, versuchte sie sich zu merken.

„Da ich sie bisher nur selten gesehen habe, kann ich Ihnen leider kaum etwas über die beiden erzählen.“

Rebecca widmete sich wieder ihrem Essen, obwohl sie keinen Appetit hatte, und überlegte fieberhaft, wie sich eine echte Gouvernante jetzt wohl verhalten würde.

Eine Gouvernante, so vermutete sie, würde still hier sitzen, egal, wie drückend das Schweigen war, egal, wie interessant ihr Gegenüber. Aber Rebecca hatte immer ihre Meinung kundgetan, selbst wenn es besser gewesen wäre, den Mund zu halten. Schweigen war Folter für sie.

Und schließlich wusste sie, wie man eine Unterhaltung führte. Sie war entsprechend erzogen worden. Es mochte sich für eine Gouvernante nicht ziemen, trotzdem sagte sie: „Erzählen Sie mir von dem Haus, in dem Ihre Nichten leben, Sir. Befindet es sich in einem schönen Teil des Lake Districts?“

„Alle Teile des Lake Districts sind schön.“ Er sah von seinem Essen auf. „Sind Sie noch nie dort gewesen?“

Als er ihr in die Augen blickte, begann es in ihrem Bauch zu kribbeln. Hastig blickte sie zur Seite. „Leider nein.“

Entschuldigend neigte er den Kopf. „Natürlich. Wieso sollten Sie auch?“

„Also, worauf kann ich mich freuen?“

„Auf Berge. Um diese Jahreszeit sind sie grün, doch im Herbst leuchten sie in den schönsten Rot- und Orangetönen, und im Winter sind sie weiß. Auch die Seen verändern die Farbe. Mal glitzern sie silbern, mal tiefblau oder grün.“ Er sah aus, als hätte er die Landschaft vor Augen. „Ich war an vielen Orten der Erde, aber nirgends ist es so schön wie dort.“

Seine gefühlvollen Worte trafen sie mitten ins Herz. „Ich freue mich darauf, es kennenzulernen.“

Er trank sein Ale aus und bemerkte: „Das Haus wird Ihnen nicht gefallen.“

„Warum?“, fragte sie besorgt.

„Es ist alt.“

Welche alteingesessene Familie besaß schon ein neues Haus? Sie lachte leise. „Es steht mir nicht zu, mich zu beschweren. Ein altes Haus, ein neues Haus, es ist mir egal, solange ich ein Dach über dem Kopf habe.“

Er ging auf ihren scherzhaften Ton nicht ein. „Ich hoffe, Sie finden es akzeptabel, da ich nicht möchte, dass meine Nichten eine weitere Gouvernante verlieren.“

Und Rebecca brauchte einen Ort zum Wohnen. Ein anderes Leben. Irgendwie würde sie dafür sorgen müssen, dass es sich für alle als die richtige Entscheidung entpuppte.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Machen wir uns darüber jetzt keine Sorgen, Mylord.“ Sie deutete auf sich. „Da ich nichts besitze und nirgendwo anders hin kann, hoffen wir einfach, dass ich mich als gute Gouvernante für Ihre Nichten erweisen werde und dass Sie mit mir zufrieden sind.“

Sie hob ihr Glas zum Toast.

Garret hob seinen Krug mit Ale. Die Gefühle, die sich auf Miss Tilsons Gesicht spiegelten, nahmen ihn mehr mit, als er zugeben mochte.

Er wusste, was Verlust bedeutete. Er hatte seine Eltern, seinen Bruder und seine Schwägerin verloren. Und zahllose Freunde und Kameraden auf dem Schlachtfeld. Doch für ihn blieb immer noch etwas übrig, und sei es ein Titel und ein Besitz, den er nie hatte haben wollen und den er nicht verdiente. Wie es wohl war, gar nichts mehr zu haben? Nicht einmal mehr die Kleidung, die man am Leibe trug?

Er bewunderte Miss Tilson für ihre Tapferkeit und beschloss, dafür zu sorgen, dass sie neue Kleider sowie alles andere bekam, was eine junge Frau so brauchte. Irgendwie musste er es wiedergutmachen, dass er ihr nicht mehr Zeit gelassen hatte, sich zu erholen. Er hätte wissen müssen, dass nicht nur der Körper heilen musste.

„Haben Sie eigentlich Familie, Miss Tilson? Das hätte ich schon längst fragen sollen.“ Noch eine Nachlässigkeit von ihm. „Gibt es jemanden, den Sie kontaktieren möchten?“

Sie zögerte kurz. „Es gibt niemanden. Keine Familie.“

Oh, sie hatte wirklich alles verloren. Und sie dachte zu viel nach. Er kannte diesen Gesichtsausdruck, hatte ihn häufig genug bei seinen Soldaten gesehen. Er sollte versuchen, sie von ihren düsteren Gedanken abzulenken.

„Sind Sie schon lange Gouvernante, Miss Tilson?“

Was für eine dumme Frage. Sie konnte nicht älter als zweiundzwanzig sein, doch ihm fiel nichts anderes ein, was er sie fragen konnte.

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. „Äh, nein, noch nicht lange, Sir.“

Wieso sah sie so besorgt aus? „Dann war Ihre letzte Stelle Ihre erste als Gouvernante?“

Sie wandte den Blick ab. „Ja.“ Sie holte Luft. „Meine erste richtige.“

„Und …?“ Das gestaltete sich ja ungeahnt schwierig. „Warum sind Sie gegangen?“

Sie blinzelte erschrocken. „Nicht aus irgendwelchen furchtbaren Gründen. Ich wurde nicht entlassen, wenn Sie das wissen wollten.“

Das hatte er gar nicht gemeint. „Nein, ich war einfach nur neugierig.“ Eigentlich nicht einmal das. Es war lediglich sein unbeholfener Versuch gewesen, Konversation zu betreiben. „Ich habe mich gefragt, wie Ihr Leben vorher ausgesehen hat. Bei was für einer Familie Sie waren. Wie viele Kinder Sie zu betreuen hatten. Mehr nicht.“

Sie beugte sich vor und fragte besorgt: „Zweifeln Sie, ob Sie mit mir eine gute Wahl getroffen haben? Denn ich hoffe wirklich, dass Sie mich nicht nach den letzten beiden Tagen beurteilen. Bitte geben Sie mir die Chance, Ihnen zu beweisen … dass ich es schaffen kann“, bat sie.

„Miss Tilson, ich zweifle nicht an Ihnen. Seien Sie beruhigt. Das Schiffsunglück hat Ihnen mächtig zugesetzt, das verstehe ich. Ablenkung hilft da manchmal.“

Sie lehnte sich zurück „Oh.“

Er lächelte. „Sollen wir über etwas anderes reden?“

„Vielleicht sollte ich auf mein Zimmer gehen.“

„Wie Sie wünschen.“ Er hatte das Gefühl, sie verscheucht zu haben, und das hatte er gewiss nicht beabsichtigt. Noch ein Grund, warum er Soldat hätte bleiben sollen. Sich mit seinen Kameraden zu unterhalten, war längst nicht so gefährlich.

Er stand auf und begleitete sie durch den Schankraum, in dem es noch immer laut und ungestüm zuging, nach oben.

Vor ihrem Zimmer drehte sie sich zu ihm um.

Er war sich bewusst, wie nahe er ihr stand, und wie das matte Licht im Flur ihre Haut leuchten und ihre Augen ganz dunkel erscheinen ließ.

„Ich sorge dafür, dass das Dienstmädchen Sie morgen früh rechtzeitig weckt“, sagte er.

„Vielen Dank, Sir“, erwiderte sie mit rauer Stimme. „Dass Sie mit mir zusammen gegessen haben.“

„Ich hoffe, es hat Ihnen alles ein wenig leichter gemacht.“

Ihr Blick wurde weicher. „Es war so viel angenehmer, als allein zu sein.“

Ein schwaches Lob.

Sie berührte ihn mehr, als er zugeben wollte. Am liebsten hätte er sie in die Arme gezogen. Natürlich nur, um sie zu trösten. Alles andere war absolut tabu. Obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, oder? Sie würde ihn wohl kaum abweisen. Sie hatte nichts, abgesehen von ihrer Stelle als Gouvernante, und die fiel in seinen Herrschaftsbereich.

Nein. Er würde sie nicht berühren, schließlich war er verlobt. Das hatte er einen Moment lang völlig vergessen.

Schnell trat er einen Schritt zurück. „Mein Zimmer ist gegenüber. Klopfen Sie, falls Sie mich brauchen – etwas brauchen. Ansonsten schlafen Sie gut, Miss Tilson.“

Sie senkte den Kopf und knickste. „Gute Nacht, Sir.“

Nachdem ihre Tür sich geschlossen hatte, starrte Garret noch einen Moment lang darauf, ehe er zur Treppe ging, um in der Schänke etwas Stärkeres als Ale zu trinken.

4. KAPITEL

Am nächsten Morgen stand Garret früh auf und ignorierte die stechenden Kopfschmerzen, die ihm ein Übermaß an schlechtem Brandy eingebracht hatte. Er machte sich auf die Suche nach dem Wirt und bat darum, dass man einen Mann nach Preston schickte, der eine besondere Aufgabe erledigen sollte.

Als Miss Tilson bereit war, nahmen sie das Frühstück wieder im Privatsalon ein. Die Sonne schien durch das kleine Fenster und beleuchtete die dunklen Ringe unter ihren Augen. Ihre Haut wirkte fast so blass wie bei ihrer ersten Begegnung, als sie in Moelfre im Bett gelegen hatte.

„Ich fürchte, Sie haben nicht gut geschlafen, Miss Tilson.“

Sie errötete, was ihr zumindest ein wenig Farbe verlieh. „Nicht sehr gut, nein.“

„Haben Sie schlecht geträumt?“ Auf Schlachten folgten häufig Albträume. Warum nicht auch nach Schiffsunglücken?

Erstaunt sah sie ihn an. „Ja. Ich hatte Albträume vom Wasser.“

„Sie Ärmste, aber keine Angst, irgendwann lassen die Träume nach“, versicherte er ihr.

Sie knabberte an ihrem Toast, und während er ein Stück Schinken aß, zerbrach er sich den Kopf, wie er ihr die Reise etwas angenehmer machen konnte.

„Ich könnte eine größere Kutsche mieten und mit Ihnen fahren, damit Sie nicht allein sind.“

Allerdings fragte er sich, ob es wirklich ratsam war, ihr stundenlang so nahe zu kommen.

Erschrocken blickte sie auf. „Das könnte ich Ihnen niemals zumuten, Mylord. Ich komme schon zurecht. Bitte verzichten Sie meinetwegen nicht auf das Vergnügen zu reiten.“

Es stimmte schon, er fühlte sich auf dem Pferd wirklich am wohlsten. Er blickte aus dem Fenster. „Es sieht tatsächlich nach einem schönen Tag zum Reiten aus.“

„Ja“, stimmte sie wehmütig zu.

Ihm kam eine Idee. „Reiten Sie, Miss Tilson?“

Zu seiner Überraschung leuchteten ihre Augen vor Begeisterung auf – ein faszinierender Anblick.

„Es gab einmal eine Zeit, da habe ich jede Gelegenheit dazu genutzt“, erwiderte sie verträumt. „Also weiß ich nur allzu gut, wie schön es ist, sich die Landschaft vom Rücken eines Pferdes aus anzusehen.“

Er nickte. „Wenn wir ein Reitkleid und einen Damensattel für Sie auftreiben können, würden Sie dann heute gern reiten?“

„Das ist doch sicherlich nicht zu bewerkstelligen.“

„Ich kann es versuchen.“

„Dann würde ich liebend gern reiten.“

Es kostete ihn einige Mühe – und einen erheblichen Betrag –, aber Garret schaffte es, alles Nötige für Miss Tilson zu besorgen, damit sie reiten konnte.

Allerdings würde er ihr nichts von den Kosten erzählen, denn die überstiegen ihr jährliches Gehalt und wären für sie ein Vermögen. Für ihn waren sie eine Kleinigkeit, denn er hatte ja eine ansehnliche Erbschaft angetreten.

Die Luft war frisch, und der Himmel so strahlend blau, dass es fast in den Augen wehtat. Einen schöneren Tag zum Reiten hätten sie sich nicht aussuchen können. Und nachdem sie die verstopften Straßen von Chester hinter sich gelassen hatten, konnten sie auch immer öfter nebeneinander reiten.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte Garret. „Ich kann immer noch eine Kutsche für Sie mieten, wenn es zu anstrengend wird.“

Wie er gehofft hatte, winkte sie ab. „Es ist nicht zu anstrengend“, erwiderte sie lächelnd. „Es ist wunderbar!“

Das freute Garret. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, verdiente sie ein wenig Glück.

„Sie reiten gut“, stellte er fest.

„Ich muss gestehen, dass es kaum etwas gibt, was ich lieber tue“, sagte sie strahlend. „Als kleines Mädchen bin ich ohne Sattel auf meinem Pony galoppiert. Als ich zur Schule geschickt wurde, hat mein Vater dafür gesorgt, dass ich ein Pferd bekam und richtig reiten lernte.“

„Wo war Ihre Schule?“

Ihr Lächeln schwand, und sie zögerte mit ihrer Antwort. „Bristol“, antwortete sie schließlich.

Sobald er ihr eine persönliche Frage stellte, veränderte sich ihre Miene, was ihn davon abhielt, weiter zu fragen.

Doch nachdem sie eine Weile schweigend geritten waren, fühlte er sich verpflichtet, Konversation zu machen. „Sie sollten die Ställe in Brookmore nutzen. Es gibt dort ein paar Stuten – die Pferde meiner Schwägerin –, die Sie sicherlich gut reiten können.“

Ihr Gesicht hellte sich auf. „Ich dürfte reiten? Oh, wie wunderbar!“

Der Pferdewechsel in den Wirtshäusern gab ihnen beiden die Möglichkeit, die Muskeln zu strecken. Garret war es gewohnt, viele Stunden im Sattel zu verbringen, doch Miss Tilson war sicherlich nicht so trainiert, auch wenn sie gerne ritt.

Wenn sie in den Schänken etwas zu sich nahmen, war die Unterhaltung nicht ganz so angespannt wie am Abend zuvor, doch Garret bemühte sich auch, nur über unverfängliche Themen mit ihr zu sprechen.

Und ihre Gesellschaft gefiel ihm. Miss Tilson war weder zu redselig noch stumm.

Als die Sonne sich dem Horizont näherte, erreichten sie Preston, eine große und geschäftige Stadt, in der der Verkehr fast so hektisch war wie in London. Es war nicht einfach, sich einen Weg durch das Wirrwarr zu bahnen. Doch Miss Tilson ließ sich nicht beirren.

Im Gasthaus angekommen, eilten sofort Stallburschen zu ihnen, und nachdem Garret abgestiegen war, sah er, wie auch Miss Tilson gekonnt von ihrem Pferd glitt. Ihre Blicke trafen sich, und einen Moment lang verlor er sich in den Tiefen ihrer grün-braunen Augen.

Hastig wandte er sich ab.

Es gab gute Gründe, warum er sich nicht zu ihr hingezogen fühlen durfte, doch immer wieder passierte es, dass ihm das Verlangen völlig unvorhergesehen durch den Körper schoss. So wie jetzt.

Der Stallbursche reichte ihm sein Gepäck, und Miss Tilson nahm die kleine Tasche entgegen, in der die wenigen Dinge waren, die sie jetzt ihr Eigen nannte.

Sie machte einen Schritt und verzog das Gesicht.

Garret trat zu ihr und legte einen Arm um sie. „Können Sie gehen?“

„Ich bin ganz steif, kein Wunder. Aber ich bin sicher, es geht gleich wieder.“

Er war mehr als glücklich, als sie sich an ihn lehnte, dabei war das doch genau die Art von Kontakt, die er vermeiden sollte.

Als sie das Gasthaus betraten und Garret seinen Namen genannt hatte, leuchteten die Augen des Wirtes auf.

„Lord Brookmore, Sir. Willkommen.“ Der Mann verneigte sich. „Darf ich Ihnen versichern, dass Ihre Zimmer bereit sind. Die Sachen, die Sie angefordert haben, befinden sich bereits im Zimmer der Lady.“

Miss Tilson sah ihn fragend an, doch Garret schwieg.

Der Wirt führte sie nach oben und lächelte, als er die Tür zu Miss Tilsons Zimmer öffnete.

Offensichtlich hatte der Mann, den Garret geschickt hatte, seine Aufgabe gut gemacht. Auf dem Bett lagen nicht nur Kleider und Stoffe, sondern auch sonst alles, wovon er geglaubt hatte, dass Miss Tilson es gebrauchen könnte.

Rebecca schnappte nach Luft. „Was haben Sie getan?“

Das Bett lag voller Stoffballen, dazu drei Kleider, Unterwäsche und – röcke, Handschuhe und Hüte.

Staunend trat sie ins Zimmer.

Lord Brookmore blieb in der Tür stehen. „Preston ist bekannt für seine Stoffe. Das habe ich mir einfach zunutze gemacht. Ich habe jemanden vorausgeschickt.“

„Der Stoff ist sehr schön.“ Sie deutete aufs Bett. „Und dann noch all die Kleidung.“

Der Wirt meldete sich zu Wort. „Meine Frau hat die Aufgabe übernommen, Miss. Sie hat eine Schneiderin gefunden, die noch Kleider hängen hatte, die von Kunden nicht abgeholt worden sind. Meine Frau geht Ihnen zur Hand, wann immer Sie Hilfe brauchen. Sie kennt eine Näherin, die Änderungen vornehmen kann.“

Rebecca hatte es die Stimme verschlagen. Lord Brookmore hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, um ihr etwas Gutes zu tun. Ganz anders als die Behandlung, die sie sonst von Männern in letzter Zeit erfahren hatte. Ihr Bruder hatte ihr jeden Penny missgönnt und die Heirat für sie nur arrangiert, um sie loszuwerden.

„Suchen Sie sich aus, was Ihnen gefällt, Miss Tilson“, sagte Lord Brookmore jetzt. „So viel Sie mögen. Wenn wir in Brookmore House ankommen, kann Ihnen eine Schneiderin nähen, was Sie brauchen.“

Voller Dankbarkeit lächelte sie ihn an. „Das ist wirklich großzügig von Ihnen.“

„Ich kleide lediglich die Gouvernante meiner Nichten ein. Sie brauchen etwas zum Anziehen, und ich bin in der glücklichen Lage, Sie damit ausstatten zu können“, erklärte er steif.

Sie trat zu ihm. „Ich bin unendlich dankbar.“ Sie berührte seinen Arm, und es kam ihr vor, als würde die Wärme seiner Güte durch ihren gesamten Körper strömen.

„Soll ich meine Frau bitten, Ihnen zu helfen?“, fragte der Wirt.

„Ja, gern, wann immer es ihr passt. Ich möchte mich nur ein wenig frisch machen.“

„Dann lasse ich Sie jetzt allein“, meinte Lord Brookmore. „Sagen Sie Bescheid, wann Sie essen möchten.“ Er wandte sich an den Wirt. „Können wir dafür einen Privatsalon bekommen?“

„Natürlich, Mylord.“ Der Mann verbeugte sich und ging.

„Wann möchten Sie essen, Sir?“, fragte Rebecca.

„Wann immer Sie wollen.“ Sein Ton wurde weicher. „Ich muss mich auch etwas frisch machen.“

Keiner von ihnen rührte sich. Der Blick aus seinen blauen Augen schien bis in ihr Innerstes vorzudringen und etwas von ihr zu berühren, das unglaublich verletzlich war. Vielleicht konnte er wirklich in sie hineinsehen. Auf jeden Fall hatte er ihre Wünsche erkannt und vermochte ihre Gefühle zu deuten. Welcher Mann hatte sich je die Mühe gemacht? Sie war daran gewöhnt, das, was sie wollte, zu erbitten.

Lord Brookmore senkte den Blick und trat einen Schritt zurück. „Dann lasse ich Sie jetzt allein.“

Sie sah ihm nach, bis er in seinem Zimmer verschwunden war. Erst dann schloss sie auch ihre Tür.

Kaum hatte Rebecca das Reitkleid ausgezogen und sich ein wenig gewaschen, als auch schon die Wirtin anklopfte und die Schneiderin mitbrachte.

„Ich bin Mrs. Bell, meine Liebe.“ Die Frau war klein und rund, mit einem freundlichen Gesicht. „Das ist Miss Cox. Wir haben von Ihrem Unglück gehört. Sie Ärmste!“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Schön, schön, dann wollen wir mal schauen, was wir tun können, um Sie mit dem Nötigsten zu versorgen.“

Die beiden Frauen halfen Rebecca aus dem Korsett und der Unterwäsche, die man ihr in Moelfre gegeben hatte, ehe sie mit ihr die neuen Sachen probierten. Das neue Korsett saß fast perfekt und war so viel angenehmer als das alte. Es gab ein Nachthemd, das sich bestimmt himmlisch anfühlen würde, und zwei Tageskleider, die ziemlich gut passten.

Die Schneiderin nahm einige Änderungen sofort vor und versprach, den Rest bis zum nächsten Morgen zu erledigen. Aus den Stoffen wählte Rebecca einen wollenen für ein Winterkleid und einen für ein Cape aus. Außerdem entschied sie sich für schlichten weißen Baumwollstoff, um daraus Schürzen und Hauben schneidern zu lassen, sowie einen weiteren Stoff für ein Kleid.

Diese provisorischen Kleider waren … praktisch. Aber gleichzeitig waren sie ihr teurer als all ihre vornehmen, verlorengegangenen Kleider. Weil so viel Aufmerksamkeit dahintersteckte.

Ihr Vater hatte sie zwar mit den schönsten Kleidern und dem besten Schmuck verwöhnt – all das lag jetzt auf dem Meeresgrund –, aber er hatte ihren Anblick nach dem Tod ihrer Mutter nicht mehr ertragen können. Zu sehr hatte sie ihn an seine geliebte Frau erinnert.

Nachdem Mrs. Bell und Miss Cox gegangen waren, zog Rebecca sich die Nadeln aus dem Haar und bearbeitete es mit der Bürste, die Lord Brookmore für sie gekauft hatte. Anschließend frisierte sie es zu einem schlichten Knoten im Nacken, so wie Claire es getragen hatte. Sie entschied sich für das einfache, graue Kleid, das die Schneiderin für sie geändert hatte, und als sie sich dann darin im Spiegel sah, verschlug es ihr fast den Atem.

Claire Tilson blickte ihr entgegen.

Erst als sie Handschuhe angezogen und sich den Schal, den Lord Brookmore für sie in Moelfre gekauft hatte, umgelegt hatte, fühlte sie sich ein wenig mehr wie sie selbst.

Sie ging nach nebenan und klopfte an Lord Brookmores Tür.

Er öffnete in Hemdsärmeln und sah sogar noch besser aus, als wenn er seine maßgeschneiderte Jacke samt Weste und Halstuch trug.

„Miss Tilson“, sagte er überrascht.

Oje. Das war jetzt wohl ein wenig unschicklich von ihr gewesen. „Sie meinten, ich solle Bescheid sagen, wenn ich fertig bin.“

„Ich nahm an, dass Sie jemanden schicken würden.“

Ja, aber das war ihr etwas albern vorgekommen, wenn er doch direkt nebenan logierte. Außerdem hatte sie hin und wieder auch ihren Vater oder ihren Bruder in Hemdsärmeln gesehen – wobei die definitiv nicht wie Lord Brookmore ausgesehen hatten.

Hastig zog er seine Jacke an und knöpfte sie zu.

Rebecca wandte den Blick ab. „Ich kann auch in meinem Zimmer warten, wenn Sie erst später speisen möchten.“

„Nein, nein. Ich bin so gut wie fertig.“ Er zupfte sich am Revers und schaffte es, sein Halstuch mit geübten Handgriffen zu binden.

Schließlich hob er den Blick und musterte sie. „Ist das eins der neuen Kleider? Es steht Ihnen gut.“

Sein Kompliment ließ sie erröten. Wieso reagierte sie so heftig auf solch ein einfaches Lob, wenn die Schmeicheleien von Männern sie normalerweise kalt ließen? Wer hatte ihr jemals ein Kompliment zu solch einem schlichten Kleid gemacht?

Das Abendessen verlief herrlich entspannt, und Rebecca genoss es, weder an den Schiffsuntergang noch an die Tatsache denken zu müssen, dass sie jetzt Gouvernante war.

Wenn Lord Brookmore den Blick auf sie richtete, kribbelte es in ihrem Bauch. Sie hatte schon eine Reihe gut aussehender Männer getroffen, doch er war so viel mehr wert als all die anderen. Was für eine Ironie, dass sie ihm als niedere Angestellte begegnete. Als Lady Rebecca wäre sie durchaus eine akzeptable Partie für ihn gewesen.

Nicht dass er sich eine derart impulsive, eigensinne Frau gewünscht hätte. Eine Frau, die sich gegen ihren Bruder zur Wehr gesetzt hatte, bis er sie in eine Ecke gedrängt hatte, aus der sie nicht mehr hatte entfliehen können.

Doch sie war entkommen. Allerdings war es nur durch den Tod von Claire möglich geworden, ein Gedanke, der ihr das Herz schwer werden ließ.

Als sie nach dem Essen die Treppe zu ihren Zimmern hinaufstiegen, fragte Lord Brookmore: „Möchten Sie morgen wieder reiten?“

Sie blickte ihn an. „Sehr gerne.“

„Wir werden wohl morgen Brookmore House erreichen.“

Er begleitete sie zu ihrer Tür. Von jetzt an würde sie sich wieder vollkommen in die Rolle der Gouvernante fügen und Lady Rebecca hinter sich lassen müssen. Ein freundschaftlicher Abend wie dieser stand künftig völlig außer Frage. Ein Viscount freundete sich einfach nicht mit einer Gouvernante an.

Sie schloss die Tür auf und drehte sich zu ihm um. „Das war ein sehr schöner Tag, Mylord. Wie kann ich Ihnen nur jemals für all die Freundlichkeit und Ihre Großzügigkeit danken?“

Ohne etwas zu sagen, starrte er sie an. Sie standen nahe beieinander, und sein Duft – nach Pferden, nach Zitronen und etwas sehr Maskulinem – umgab sie. Er war berauschender als der Wein, den sie zum Essen getrunken hatte.

Ein, zwei Mal war sie schon geküsst worden, unter anderem von Lord Stonecroft, der seine feuchten, fleischigen Lippen auf ihre gepresst hatte, bevor er nach London zurückgekehrt war. Ihr war dabei ganz schlecht geworden. Irgendwie hatte sie jedoch das Gefühl, dass es ihr nichts ausmachen würde, sollte Lord Brookmore es versuchen.

Was für ein schamloser Gedanke!

Autor

Lucy Ashford
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Diane Gaston
Schon immer war Diane Gaston eine große Romantikerin. Als kleines Mädchen lernte sie die Texte der beliebtesten Lovesongs auswendig. Ihr Puppen ließ sie tragische Liebesaffären mit populären TV- und Filmstars spielen. Damals war es für sie keine Frage, dass sich alle Menschen vor dem Schlafengehen Geschichten ausdachten. In ihrer Kindheit...
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